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Verfahrener könnte die Situation kaum sein! Cyriac plant eine neue Kriegsoffensive, die Mystiker verbreiten durch Selbstmordattentate Angst und Schrecken, die Gelehrten schicken die Ergebnisse grausamer Menschenversuche in den Kampf. Jarik weiß, dass er handeln muss. Er ist jetzt bereit, den Weg des Kriegers zu gehen. Aliena versucht derweil mithilfe eines Symbionten, der sich aus dem Fluss der Zeit lösen kann, die als undurchdringlich geltende Barriere zum Alten Land zu überwinden, um von dort Hilfe zu holen. Doch die Zauberin Lacrima ist ihr und ihren Gefährten auf den Fersen und hetzt Trolle und Eisriesen gegen sie auf. Damit nicht genug, enthüllt sich ihnen zu spät die entsetzliche Wahrheit über die magische Grenze.
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Seitenzahl: 444
Gunnar Kunz
Die verdeckte Fläche des Würfels
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Die verdeckte Fläche des Würfels
Die Wettspiele von Arnang
Die Bürde des Qa-Kriegers (1)
Die Bürde des Qa-Kriegers (2)
Das Nebelvolk
Kreuzwege
Nachwort
Dramatis Personae
Glossar
Weitere Bücher von Gunnar Kunz:
Impressum neobooks
3. Band der Seelenknoten-Trilogie
von Gunnar Kunz
Impressum:
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1
»Es ist nichts«, flüsterte Aliena und schlang die Arme um ihren Mann. »Nur ein Traum.«
Jarik rang darum, das Wirkliche vom Unwirklichen zu trennen.
Ein Blitz. Ein Ratschen wie zerreißender Stoff, gefolgt von einem Sturz. Eine glitzernde Oberfläche, die wie eine Mauer auf ihn zuraste. Ein Knall. Dann, schockartig, Kälte und Atemnot. Wasser, das in seine Lungen drang. Und schließlich, nach einem vergeblichen Kampf ums Überleben, wie jedes Mal am Ende: Finsternis.
Jarik kniff die Augen zusammen, um das helle Rechteck der Fensteröffnung aus dem Grau hervortreten zu lassen, das durch das Ineinanderfließen zweier Welten entstanden war, und hoffte, dass diese Welt die richtige war. »Die Todesvisionen kommen zurück.« Seine Stimme war atemlos, als wäre er zu Fuß von Golks Zuflucht nach Elleria gelaufen. »Ich werde sterben.«
Aliena drückte ihren Mann so fest an sich, dass seine Brust zusammengequetscht wurde. »Wir müssen alle sterben. Aber nicht jetzt. Nicht hier. Nicht heute.«
Das Rechteck wurde scharf. Sonnenlicht fiel in die Haupthalle der Burg und schuf einen Lichterglanz auf Alienas Haar. Jarik fröstelte. Vom Frühling war wenig zu spüren, die Luft war kalt und feucht. Er griff nach einem Wasserkrug, um den Metallgeschmack aus seinem Mund zu vertreiben, und rieb sich den schmerzenden Arm, den er sich beim Fallen gestoßen haben musste.
Das Pulsieren des Herzschlags in seinem Ohr ließ nach. Jarik saugte einen Blutfaden von seinem Finger. Blut löste die Visionen aus, das wusste er. Ein simpler Holzsplitter hatte ihm dieses Mal das Trugbild beschert. Alienas Küsse vertrieben die Angst aus seinem Körper. Sie hatte ja recht. Es war nicht wirklich. Zumindest nicht in diesem Augenblick.
»Papa!« Cymbaline krabbelte auf seinen Schoß und zupfte so lange an seinem Ärmel, bis er sie beachtete. »Papa!«
»Was ist denn, Sonnenschein?«
»Papa zählt Schichte.«
Jarik gab ihr einen Kuss. Wenn sein Glück mit Aliena noch zu steigern war, dann durch dieses Geschöpf, das mit einem Lächeln sein Herz verzaubern konnte. Seit Kurzem war seine Tochter zwei Jahre alt. Ihr Körper hatte sich gewaltig gestreckt, und der letzte ihrer Milchzähne schickte sich an durchzubrechen. Damit würden hoffentlich das Zahnfieber, die Unruhe und die Schlafstörungen vorüber sein. »Schon wieder?«, fragte Jarik mit strenger Miene.
Es war ein Spiel zwischen ihnen. Cymbaline nahm sein Gebaren auch keinen Augenblick lang ernst, sondern richtete sich an ihm auf und versuchte, mit ihren Händen die Runzeln seiner Stirn wegzureiben. »Schichte!«, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
»Eine Geschichte über Zwerge?«
»Drachen.«
»Oder Elfen?«
»Drachenschichte.«
»Habe ich dir die nicht erst gestern erzählt? Und vorgestern? Und vorvorgestern?«
Sie schüttelte den Kopf und grinste.
»Du flunkerst«, sagte er und kniff ihre Nasenspitze. Dann legte er seinen Arm um sie, räusperte sich und fing an zu erzählen. Seine Tochter konnte von den Abenteuern des Prinzen mit dem Roten Drachen nicht genug bekommen. Es bereitete ihr ungeheures Vergnügen, wenn Jarik Prinz und Drachen um die Welt fliegen ließ und Cymbaline dabei hochwarf, um sie den Flug am eigenen Leib erleben zu lassen. Spürst du die Wolken? Spürst du den Wind? Ihr begeistertes Kreischen bewies, welche Freude sie an diesem Spiel hatte.
Die Tür schlug gegen die Wand, Ramis kam hereingepoltert. »Cyriac!«, keuchte er kurzatmig. »Er bereitet irgendwas vor.«
Jarik, der immer noch die Burg führte – übergangsweise, wie er nicht müde wurde zu betonen, denn er verabscheute es nach wie vor, den Weg des Kriegers einzuschlagen –, ergriff seine Tochter um die Taille wie ein Reisigbündel, was sie zu einem Kichern veranlasste, und lud sie sich auf die Schulter. Zu dritt folgten sie dem khanoum auf den Wehrgang des südlichen Teils der Ringmauer.
Die Situation in den Sieben Königreichen wurde von Tag zu Tag komplizierter. Cyriac ak Beltar, Alienas Vetter, hatte Zanjinkaj, Teile Faluuts und weitgehend auch Alienas Heimat Ellerin fest in seiner Hand. Jarik und die Rebellen, die sich vor allem aus den Resten des faluutischen Heeres rekrutierten, hielten trotz fortwährender Angriffe die Bergfeste Golks Zuflucht und unternahmen von dort aus Überfälle auf Cyriacs Soldaten. Seit Aliena öffentlich die erzwungene Heirat mit ihrem Vetter für nichtig erklärt hatte, brodelte es auch in Ellerin. Die Ellerianer fühlten sich betrogen, Unruhen brachen aus und machten es Cyriac schwer, an neue Eroberungen zu denken.
Zusätzlich hatten sich die Mystiker, die Feinde der Gelehrsamkeit, als nicht zu unterschätzender Machtfaktor entpuppt. Mit Anschlägen verbreiteten sie Angst und Terror. Dritte Gruppe im Ringen um die Vorherrschaft waren die Gelehrten, die jede Art von Zauberei auszurotten gedachten. Überall im Land flammten Scheiterhaufen auf, wurden Zwerge und Elfen verbrannt. Ihre Hauptanhänger fanden die Gelehrten in den Städten Berions.
Zu allem Überfluss kursierten Gerüchte über eine Armee aus ghilan, den gefürchteten Gestaltwandlern, die Cyriac angeblich aufstellte. Niemand mochte so recht daran glauben, aber es gab Zeugen, die die Monster mit eigenen Augen gesehen hatten. Und als wäre dies noch nicht genug, kämpfte in Alganda, Jariks Heimat, jeder gegen jeden, shejds, die sich mit Cyriac verbündet hatten, gegen shejds, die ihm Widerstand leisteten, und Sklavenjäger wie Sardyk für sich selbst. Das einzige Reich, das vom Krieg und seinen Folgen verschont geblieben war – wenn man davon absah, dass Cyriac die Krönung Myotos vereitelt, ihn dadurch zum Unkönig und sein Land für ein weiteres Jahr führerlos gemacht hatte –, war Menehuac.
Die Rebellen waren indes keineswegs müßig. Neben der Streitmacht, die sie in Golks Zuflucht sammelten, warben sie unter den Völkern um Unterstützung. Es gab Verschwörergruppen in Elleria, die Cyriac das Leben schwer machten, und sogar in Beltar, der Heimat des Usurpators. Zaudec, die einzige Stadt Berions, die sich nicht auf die Seite Cyriacs geschlagen hatte, zögerte, sich den Aufständischen anzuschließen. Stattdessen betrieb ihr Gouverneur eine gefährliche Schaukelpolitik und versuchte, sich aus allem herauszuhalten.
Cyriac sah ein, dass er nicht weiterkam, wenn er überall zugleich kämpfte, und wandte sich erneut gegen Golks Zuflucht, das Zentrum des Widerstands. Er hatte gar nicht erst den Versuch gemacht, schweres Belagerungsgerät zur Burg hinaufzuschaffen, sondern schnitt den Verteidigern jeden Kontakt zur Außenwelt ab und ließ sie ansonsten in Ruhe. Er schien auf irgendetwas zu warten. Was immer es war, die Wartezeit war offenbar vorüber.
Auf halber Höhe des Pfades, der sich in serpentinenartigen Windungen die Berghöhe hinaufschlängelte, außerhalb der Reichweite ihrer Pfeile, hatten Cyriacs Krieger einen stählernen Pfahl in die Erde gerammt. An seinem oberen Ende war eine Querstange befestigt, die drei Schalen, ebenfalls aus Stahl, hielt. Ein vielfarbiges Leuchten umgab die Konstruktion.
»Was hat er vor?«, fragte Ramis nervös.
Jarik antwortete nicht sofort. Er zog an der Lederschnur um seinen Hals und holte den Kompass hervor, der den Standort der Elementkristalle anzeigte. Ein flüchtiger Blick auf den Nadelkranz verriet ihm, was er wissen wollte. Alle Nadeln wiesen auf einen Punkt: Golks Zuflucht.
»Er wird sie doch nicht einsetzen wollen?«, fragte Aliena. »Nicht, solange sie unvollständig sind.«
»Er hat schon oft herumexperimentiert.«
»Das ist Wahnsinn.«
Eine grazile Gestalt mit blonden Haaren machte sich an dem Gerüst zu schaffen, Lacrima ta Zyanne, die Zauberin. Die Kristalle reagierten auf sie. Selbst aus der Ferne konnten die Verteidiger erkennen, wie ein blauer Lichtbogen aus der linken Schale und ein weißer Lichtbogen aus der rechten Schale den rot glühenden Kristall in der Mitte einhüllten.
»Sie verschmilzt die Energien von Wasser, Luft und Feuer«, murmelte Jarik. »Unmöglich, eine solche Macht zu beherrschen.«
Den Soldaten Cyriacs schien das Ganze ebenfalls nicht geheuer; sie zogen sich in respektvolle Entfernung zurück. Lacrima reckte die Arme gen Himmel und warf den Kopf in den Nacken. Fetzen eines beschwörenden Gesangs drangen zu den Menschen auf dem Wehrgang herüber. Der Himmel verdüsterte sich so rasch, als jage ein Sturm heran. Die Seitenarme des Myrdus, die sich unten in der Ebene durch die Felder schlängelten, schäumten und traten über die Ufer.
Dann, urplötzlich, zuckte ein Blitzschlag aus der mittleren Schale und setzte sich im Bruchteil eines Atemzuges Richtung Golks Zuflucht fort. Es schien, als hätte Lacrima Schwierigkeiten, die Energie zu lenken, denn der Blitz taumelte wie ein Irrlicht hierhin und dorthin und streifte schließlich mit einem Fauchen das äußerste Ende der Ringmauer. Ein Teil eines vorragenden Turmes wurde abgesprengt. Steine rasten, zusammen mit dem Blitz, wie Geschosse über die Burg hinweg.
Der Rückschlag war jedoch verheerender. Mit einem Donnern, als entlade sich ein Gewitter, erzitterte der Berg. Das rote Licht spaltete den Fels zwischen den zurückweichenden Soldaten Cyriacs. Ein Riss tat sich auf und verschlang Dutzende von Männern und Frauen. Ihre Todesschreie gingen im Krachen der Elemente unter.
Ein Zischen, wie Wasser, das ins Feuer gegossen wird, dann war es schlagartig still. Das Licht löste sich auf. Entsetzt sahen die Verteidiger das kopfgroße Loch, das die Naturgewalten in den Turm gerissen hatten. Die halbe Südmauer war schwarz, wie verrußt. Es roch versengt. Cymbaline weinte und klammerte sich an Jariks Hals. Er flüsterte ihr beruhigende Worte ins Ohr.
Cyriacs Soldaten versuchten derweil, ihren in die Spalte gestürzten Kameraden zu helfen, doch offensichtlich gab es nichts mehr zu retten, denn nach kurzer Zeit erhoben sie sich und wichen vom Krater zurück. Trotz des furchtbaren Resultats traf die Zauberin Vorbereitungen, den Vorgang zu wiederholen. Cyriac ließ seine Soldaten zum Fuß des Hügels zurückmarschieren und jedes Aufbegehren durch seine Feuerreiter im Keim ersticken.
»Bei Golks Nase, sie ist tatsächlich übergeschnappt«, stieß Ramis hervor. »Wir werden alle draufgehen.«
»Wenn sie es schafft, die Mauer zu sprengen, sind wir verloren.«
Irgendwie musste man die Wucht des Schlages auffangen. Oder ablenken. Jarik ließ Cymbaline in Alienas Armen zurück und jagte die Treppe hinunter. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, aber er musste sich beeilen! Mit langen Schritten lief er in den Keller des Wohngebäudes, in dem der Erdkristall in seiner Schale ruhte. Der Stein pulsierte, als er ihn in die Hände nahm. Wohin jetzt? Nach oben, wo sich keine Hindernisse zwischen den Kristallen befanden! So schnell er konnte spurtete Jarik die Treppe des Bergfrieds hinauf. Seine Augen suchten den höchsten Punkt des Turmes. Ohne sich zu bedenken, stieg er auf den Zinnenkranz und kletterte von da auf das Dach des Vorbaues über dem Treppenaufgang. In halsbrecherischer Höhe balancierte er auf den Schieferschindeln, riss sich seine Schärpe vom Burnus und befestigte den Kristall damit an der Fahnenstange.
Jetzt erst gestattete er sich, einen Blick auf den Feind zu werfen. Lacrima hatte ihren beschwörenden Gesang wiederaufgenommen. Jarik konnte sehen, wie Wasser- und Luftkristall sich über Lichtbögen mit dem Feuerkristall verbanden. Der Himmel, der zwischendurch aufgerissen war, verfinsterte sich erneut. Die Flüsse warfen sich in ihrem Bett hin und her wie gefangene Drachen. Zweifelnd betrachtete Jarik seine behelfsmäßige Konstruktion. Es hieß, die vier Kristalle bewahrten das Gleichgewicht der Welt, also sollte der Erdkristall in der Lage sein, die Wirkung der anderen auszugleichen. Oder? Wenn er sich irrte … spielte es keine Rolle mehr. Einen direkten Treffer aus dem Feuerkristall würde niemand überleben.
Lacrimas Gesang erreichte ihren Höhepunkt. Obwohl Jarik ihre Worte nicht verstand, wusste er, an welcher Stelle der Beschwörung die Kräfte freigesetzt wurden. Der Feuerkristall glühte auf und schien in reines Licht zu zerspringen. Wie zuvor flackerte der Blitz unkontrolliert auf die Festung zu, allerdings schien Lacrima ihn diesmal besser in der Gewalt zu haben, denn am Ende zielte er auf das Zentrum der Burgmauer. Doch plötzlich machte er einen Knick, als würde er durch etwas abgelenkt. Das Kraftfeld des Erdkristalls schien das Feuer anzuziehen. Jarik erstarrte, als der Blitz auf ihn zuzischte. In der Ferne hörte er Aliena aufschreien, dann knisterte es um ihn herum, und die Luft wurde unerträglich heiß. Krachend berührte der Lichtstrahl den Erdkristall und setzte sich ungehindert in den Himmel fort, wo er eine Wolkendecke zersprengte und harmlos in der Ferne verwehte.
Der Knall machte Jarik taub. Er sah seine Kameraden auf den Wehrgängen umherspringen und ihm zujubeln, doch er hörte keinen Laut. Er schloss die Augen und hielt sich an der Fahnenstange fest, bis der Druck auf seinen Ohren nachließ. Dann erst kletterte er vom Dach, ging die Treppe hinunter und begab sich zur Ringmauer. Seine Freunde empfingen ihn begeistert. »… ist … sinnig … orden … o … ahr … ingen«, verstand er. Er warf einen Blick über die Mauer.
Lacrima tobte vor Wut, schrie und sprang wie ein Irrwisch umher. Cyriac lieferte sich ein Wortgefecht mit ihr. Am Ende behielt er die Oberhand und traf Vorbereitungen, mit seinen Truppen abzuziehen. Er sah wohl ein, dass er hier nichts weiter ausrichten konnte. Gift und Galle spuckend holte Lacrima die Kristalle herunter. Die Gefahr war vorüber.
Die Verteidiger der Burg besahen sich den Schaden und stellten fest, dass sie glimpflich davongekommen waren. Bis auf den abgesprengten Teil des Turms und die schwarzen Verfärbungen an den Wänden, die wie Brandflecken aussahen, war alles in Ordnung.
Am Abend trafen sie sich zu einer Beratung in der Haupthalle: Jarik, Aliena, Ramis, Bediol und eine Handvoll khanoums, darunter auch Lorina.
»Wir müssen etwas unternehmen«, verlangte einer der Krieger. »Wer weiß, was sich dieser Verrückte als Nächstes ausdenkt.«
Jarik, der seine Hörkraft noch nicht vollständig zurückerlangt hatte und sich anstrengen musste, die anderen zu verstehen, war geneigt, ihm beizupflichten. »Solange er die drei Kristalle besitzt, ist er eine Bedrohung. Außerdem sitzen wir hier fest.«
»Er kann ein Königreich nach dem anderen erobern und sich uns zum Nachtisch aufheben«, nickte Lorina.
»Er will den Kristall. Ich glaube nicht, dass er uns in Ruhe lässt«, sagte Bediol.
Aliena widersprach. »Geduld ist seine Stärke. Er hat einen langen Atem.«
»Im Gegensatz zu uns.«
»Wenn er die anderen Länder erst in die Knie gezwungen hat, braucht er den Kristall nicht mehr«, gab Ramis zu bedenken.
»Mit der Macht der Vier Elemente wäre er unangreifbar. Er könnte den magischen Schutzwall des Xyx niederreißen und Urth einnehmen. Es wären ihm keine Grenzen gesetzt.«
Die Versammelten verfielen in Schweigen. Ramis trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Das wochenlange Eingeschlossensein machte ihn wie alle nervös. »Was ist mit den Gerüchten über eine Armee aus ghilan? Ist da was dran?«
»Das weiß niemand.«
»So kommen wir nicht weiter«, sagte Jarik. »Was wir brauchen, sind Verbündete.«
Ramis hob resigniert die Hände. »Woher nehmen? Beltar und Zanjinkaj können wir vergessen, die haben genug mit sich selbst zu tun. Berion? Verweichlichte Pfeffersäcke. Menehuac? Wir wissen alle, dass die Menehuacaner nicht kämpfen. Alganda? Da müsste es uns schon gelingen, die shejds zu überzeugen, dass es besser ist, sich gegen Cyriac zusammenzuschließen, statt sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen.«
»Ich glaube, es gibt einen fünften Kristall«, sagte Aliena.
»Was?«
»Quinta essentia. Die Fünfte Essenz. Eine Substanz, die Möglichkeiten in den Dingen zum Vorschein bringt.«
»Möglichkeiten?«
»Ich behaupte nicht, dass ich es verstehe. Aber es muss eine gewaltige Macht sein.«
»Woher weißt du davon?«, fragte eine khanoum.
»Ich habe es gelesen. In einem alten Buch, den Aufzeichnungen eines Weggefährten Golks.«
»Ich kenne ein Dutzend solcher Bücher. Alles Fälschungen.«
»Das dachte ich zuerst auch. Inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher. Der Bericht klang authentisch. Es war ein Plan dabei. Ich glaube, ich weiß, wo der Kristall sich befindet.«
»Wo?«
»In Urth.«
»Wozu reden wir dann überhaupt darüber?«, ärgerte sich Lorina. »Es gibt keinen Weg nach drüben, das weißt du doch.«
»In diesem Buch war von einem Volk die Rede, das in den Wäldern des Grenzlandes lebt, den Aion. Sie wissen, wie man die Grenze durchdringt. Golk ist mit ihrer Hilfe nach drüben gegangen. Vielleicht gibt es Nachkommen. Man müsste nach ihnen suchen. Es wäre einen Versuch wert.«
»Blanker Irrsinn! Man gründet keinen Schlachtplan auf Legenden. Wollen wir unser Leben von einem Mythos abhängig machen?«
»Was haben wir für Alternativen?«
»Was sagst du, Jarik?«
»Durin hat mit mir über die Fünfte Essenz gesprochen. Das Fundament aller Möglichkeiten, hat er sie genannt. Aber er hat auch gesagt, dass sie keine Waffe im üblichen Sinne ist. Eher eine geistige Kraft. Ich weiß nicht, ob sie uns gegen Cyriac helfen kann.«
»Ihr redet alle, als hätten wir diesen Kristall bereits in der Hand«, meinte Lorina. »Selbst wenn das Unwahrscheinliche eintrifft und wir die Aion finden und sie uns, noch unwahrscheinlicher, durch die magische Grenze helfen, gibt es da immer noch Oger und Eisriesen und brennendes Eis und Wer-weiß-was-für-Schrecken im Alten Land.«
»Vielleicht kann man die Riesen überzeugen, uns zu helfen«, überlegte Aliena. »Cyriac ist auch für sie eine Bedrohung. Es liegt in ihrem eigenen Interesse, den König von Beltar aufzuhalten.«
Ramis schlug seine Faust in die geöffnete Handfläche. »Ich gehe. Alles ist besser, als untätig herumzusitzen und auf das Ende zu warten.«
»Hast du dir das gut überlegt?«, fragte Lorina. »Es klingt nicht, als wären die Erfolgsaussichten sonderlich groß.«
»Die Aussichten hier sind auch nicht besser.«
»Außerdem geht Ramis nicht allein«, sagte Bediol. »Ich begleite ihn.«
Der Faluuter sah sie verblüfft an.
»Es wird gefährlich werden«, sagte Aliena, »und ich meine nicht nur Oger und Eisriesen. Golks Weggefährte warnte davor, dass man drüben anfängt, sein altes Leben zu vergessen. Aber die Verbindung zwischen mir und Jarik ist stark und sollte uns davor bewahren.«
»Nein«, rief Jarik, »nicht du!«
Gerade sie. Sie hatte geschworen, Zanjinkaj nicht seinem Schicksal zu überlassen. Das war sie Liguri, ihrem ersten Mann, schuldig. »Ich bin die Einzige, die das Buch von Golks Weggefährten kennt. Außerdem wissen wir nicht, was uns drüben erwartet oder wie wir uns verständigen sollen, deshalb ist meine Gabe, Muster zu erkennen, unentbehrlich.«
»Ich lasse es nicht zu.«
»Ohne den fünften Kristall ist es nur eine Frage der Zeit, bis Cyriac die Sieben Königreiche beherrscht, das weißt du so gut wie ich. Vielleicht können wir ihn noch jahrelang hinhalten, aber eines Tages werden wir unterliegen. Und was für Jahre werden das sein! Kriegsjahre! Jemand muss ihn aufhalten.«
»Ich komme mit.«
Aliena schüttelte den Kopf. »Der Kampf wird weitergehen, während wir in Urth sind. Du bist Qa-Krieger. Du kennst Cyriac und Lacrima und ihre Schwächen. Wir brauchen dich hier, Jarik. Du musst uns Zeit verschaffen. Und ich kann Cymbaline nicht mitnehmen.« Ihre Stimme zitterte. Es würden ja nur ein paar Wochen sein, höchstens zwei, drei Monate.
»Ich kann dich nicht gehen lassen. Ich habe dich doch gerade erst wiedergefunden! Und … und Durin hat etwas gesagt, eine Warnung … Etwas in der Art, dass die Kräfte der Vier Elemente Urth aus dem Gefüge seiner Umwelt herausgerissen haben.«
»Was soll das bedeuten?«
»Ich weiß nicht. Er wollte nicht darüber sprechen. Ich hatte den Eindruck, dass er es auch nicht genau wusste.« Jarik griff in seinen Burnus und holte den Bachkiesel hervor, Durins Seelenstein. »Es gibt noch einen Grund, weshalb ich mitkommen muss. Ich bin es Durin schuldig, seinen Seelenstein zum Tempel der Ahnen zu bringen.«
»Gib ihn mir.«
»Er kann nicht gegen den Willen seines Besitzers genommen werden.«
»Durin hat ihn dir überlassen. Du kannst ihn weitergeben.«
»Nein, ich …«
Aliena hielt ihre Hand auf.
Jarik sah verzweifelt von einem zum anderen. Nirgendwo fand er Unterstützung. Widerstrebend ließ er schließlich den Stein in Alienas Hand fallen.
2
Bis zum jenseitigen Ende des Grenzlandes, das sich von der Westküste Faluuts zur Ostküste Ellerins spannte, brauchten sie zwei volle Tage, weil sie gezwungen waren, den größten Teil des Weges zu Fuß zurückzulegen. Je näher sie dem Xyx kamen, desto stärker versuchte der Wald, sie mithilfe von Büschen und Schlingpflanzen am Weitergehen zu hindern. Ramis brauchte all seine Kraft, um eine Schneise in das Gestrüpp zu schlagen. Er war vollkommen erledigt, als sie endlich auf der anderen Seite durchbrachen und unter sich den Grenzfluss sahen.
Aliena, Bediol und Ramis verharrten einen Augenblick und betrachteten die graue Gebirgskette auf der anderen Seite, die mehr zu ahnen als zu sehen war, weil sie in dichtem, beinahe schwarzem Nebel verborgen lag. Nur dann und wann ragte ein Gipfel aus dem Dunst hervor, sonderbar verschwommen. Dort drüben begann das Reich der alten Völker, das seit jeher die Fantasie der Menschen anregte. Legenden berichteten von Feuer, das einen erfrieren ließ, und von Eis, das einen verbrannte. Von Zwergen, die mit Spitzhacken und Meißeln Nebel bearbeiteten wie Stein, von Elfen, die ausschweifende Orgien feierten, von Trollen, die Steine aßen und Felsbrocken quetschten, bis Blut herauslief, und ach! von einem Haufen sagenhafter Dinge mehr. Wie viel davon war wirklich, wie viel erfunden?
Die drei Reisenden machten sich an den Abstieg. Es war später Nachmittag, als sie das Ufer des Xyx erreichten. Aliena blickte in das pechschwarze Wasser und schauderte. Schon von oben hatte es bedrohlich ausgesehen, von hier unten erschien es einem wie das Tor zur Finsternis. Ihr Verstand sagte ihr, dass der Eindruck lediglich vom Nebel hervorgerufen wurde, der sich auf der Wasseroberfläche spiegelte und dunkle Schatten auf den Grenzfluss warf, aber die beklemmende Illusion, dass hier das Reich der Nacht begann, war stärker als jede Erklärung. Sie erinnerte sich an Legenden, die man sich über den Fluss erzählte, an Geschichten über einen Fährmann, der die Toten abholte und mit der Strömung ins Jenseits brachte, an schuppige Wassergeister, die manch unvorsichtigen Wanderer zu sich in die Tiefe gezogen haben sollten, und dergleichen mehr. Das schwarze Wasser des Xyx zu trinken, brachte den Tod, hieß es.
»Das ist keine Legende«, meinte Bediol. »Zwar bringt es nicht den Tod, wohl aber ewiges Vergessen. Es raubt einem die Erinnerung. Wer vom Wasser trinkt, fällt zurück auf die Stufe eines Tieres. Tiefer sogar, denn ein Tier erinnert sich an sein Nest, seine Höhle. Entlang des Ufers soll es Menschen geben, die keinen Gedanken im Kopf behalten können.«
Fröstelnd machte sich Aliena daran, Feuerholz zu suchen. Gegen ihren Willen blickte sie immer wieder auf die Oberfläche des Flusses, die matt schimmerte und zähflüssig wirkte, wie Sirup. Der Schutzzauber über dem Fluss brachte jedes Boot, das sich darauf wagte, zum Kentern, hieß es. Die zerschmetterten Überreste tauchten niemals wieder auf.
»Im Meer schwindet die Magie allmählich«, sagte Bediol. »Die Maelströme haben längst nicht mehr die vernichtende Macht von früher. Aber im Xyx und an der Mündung, wo sich der Fluss mit den Ozeanen mischt, ist die Wirkung ungebrochen.«
»Woher nehmen wir unser Trinkwasser?«
»Wir suchen uns eine Quelle. Und wenn wir keine finden, müssen wir uns gedulden. Wie durstig ihr auch seid – trinkt niemals aus dem Xyx!«
Aliena hatte gehört, dass es möglich war, einen Schlauch mit Flusswasser zu füllen. Angeblich verlor die Magie nach einer Weile ihre Kraft, und das Wasser war trinkbar. Aber nach Bediols Warnung war sie nicht geneigt, es auszuprobieren.
Bedrückt warf sie Feuerholz in den Steinkreis, den Ramis errichtet hatte, und legte ihr Schwert beiseite. Faysals Schwert. Jarik hatte darauf bestanden, dass sie es mitnahm. Sie vertraute lieber auf ihren Bogen, aber es mochte zu Nahkämpfen mit Riesen kommen, und immerhin war es eine der besten Waffen der Panja Rajaz.
Jarik … Erst zwei Tage waren sie getrennt, und sie vermisste ihn schon. Ihn und Cymbaline. Ihr Lachen, ihre Energie, sogar ihr Geschrei, wenn sie zornig war. Sehnsucht zog sie nach Süden, eine Sehnsucht, von der sie wusste, dass sie erwidert wurde. Der Seelenknoten, der sie mit ihrer Familie verband. Trotz seiner Zweifel, trotz seiner Angst um sie, hatte Jarik sie gehen lassen. Sie wollte ihm sagen, wie viel ihr sein Vertrauen bedeutete, nach allem, was sie ihm angetan hatte. Sie würde es nachholen. Sobald sie zurück war.
Das Feuer brannte. Ramis und Bediol saßen in vertrautem Schweigen beieinander und reichten sich gegenseitig Feigen und Nüsse. Aliena fühlt sich überflüssig. Sie erhob sich mit einer gemurmelten Entschuldigung und machte sich daran, die Umgebung zu erkunden. Wie von selbst führten sie ihre Schritte ans Ufer des Xyx. Von Nahem war der Fluss nicht gar so finster; man konnte hineinsehen. Nirgendwo schwamm ein Fisch. Nicht einmal ein Krebs, ein Wasserfloh oder sonst irgendein Getier war zu entdecken. Es gab kein Leben im Xyx, Aliena wusste es. Aber davon zu hören und das tote Gewässer mit eigenen Augen zu sehen, war zweierlei.
Die Aion, Wesen mit löwenartigen Köpfen – gab es sie wirklich? Gewöhnlich besaßen Legenden einen wahren Kern. Trotzdem, es klang weit hergeholt. Und wie sollte es ihnen möglich sein, einen so mächtigen Schutzzauber zu überwinden? Nicht einmal Durin hatte das vermocht. Über welche Fähigkeiten konnten die Aion verfügen, dass sie sogar den Zauberern des Nebelvolkes überlegen waren? Konnte all das überhaupt mehr sein als eine Sage, aufgezeichnet von Fälschern, die mit dem Verkauf seltener Bücher Geschäfte machten? Die Zuversicht, die Aliena während der Beratung in Golks Zuflucht an den Tag gelegt hatte, verschwand so rasch wie die Wärme der sinkenden Sonne.
Bediol rief zum Essen. Mit steifen Gliedern erhob sich Aliena und stakste zum Lagerfeuer, von dem ein würziger Geruch herüberwehte. Am Rande des Waldes gewahrte sie eine Bewegung. Aliena beschleunigte ihre Schritte und griff nach ihrem Bogen.
Ihre Vorsichtsmaßnahme erwies sich als überflüssig. Was da auf sie zuschlich, war gewiss nicht gefährlich. Es handelte sich um einen Gnom, Óri nicht unähnlich, wenngleich zierlicher. Gnome waren aus menschlicher Sicht noch hässlicher als Kobolde, und im Gegensatz zu diesen zogen sie Wälder und Höhlen einem Leben in Häusern vor. Erst beim Näherkommen erkannte Aliena, dass das, was sie für Zierlichkeit gehalten hatte, das Resultat von Hunger und Entbehrung war. Der kleine Kerl war bis auf die Knochen abgemagert. Mitleidig ließ Aliena ihren Bogen sinken und winkte ihn heran. Immer noch wachsam näherte er sich und blieb drei, vier Schritte vom Feuer entfernt stehen, bereit, jederzeit die Flucht zu ergreifen. Ramis nahm eine Handvoll Nüsse und warf sie ihm zu. Flink bückte er sich danach, ohne die beiden Menschen und die Elfe aus den Augen zu lassen, und stopfte sie sich in den Mund.
»Sprichst du unsere Sprache?«, fragte Aliena, erst auf Ellerianisch, dann auf Faluutisch.
Beim Klang ihrer Stimme wich der Gnom einen Schritt zurück. Nach einer Weile fasste er Mut und kam dichter ans Feuer. Aliena versuchte es mit allen Sprachen, die sie beherrschte, aber der Gnom reagierte nicht. Mit einer einladenden Geste deutete Bediol auf den Platz neben sich und stellte dort eine Schale mit dampfendem Eintopf ab. Zögernd umschlich er das Gefäß. Die Gefährten taten desinteressiert und beschäftigten sich mit ihrem eigenen Essen. Mit einem Satz riss der Gnom die Schale an sich und flüchtete zum Waldrand, wo er den Inhalt hastig herunterschlang.
Als er fertig war und niemand den Versuch gemacht hatte, ihn einzufangen oder ihm etwas wegzunehmen, schien sein Vertrauen gewachsen, denn er kehrte in kleinen, hopsenden Schritten zum Feuer zurück und reichte Bediol die Schale. Mit einer Verbeugung nahm die Elfe sie an und füllte sie erneut. Dabei deutete sie wieder einladend auf den Platz neben sich. Was immer den Umschwung bewirkte, der Gnom ließ sich an der angewiesenen Stelle zu Boden fallen, schnalzte mit der Zunge und schnatterte drauflos.
»Was sagt er?«, erkundigte sich Ramis.
Aliena schüttelte den Kopf und versuchte, den Lauten zu folgen. Es dauerte eine Weile, bis sie einzelne Worte unterscheiden konnte. »Es klingt wie eine Mischung aus Aurakisch, Ellerianisch und ein bisschen Faluutisch. Und doch ist es ganz anders.« Sie versuchte vergeblich dahinterzukommen, was ihr daran merkwürdig vorkam.
»An den Ufern des Xyx lebt ein Mischvolk ohne Vergangenheit, heißt es«, sagte Bediol. »Sie haben vom Wasser des Flusses getrunken und ihr Leben vergessen. Ihre Herkunft, ihre Kultur und sicher einen guten Teil ihrer Sprache.«
»Das ist es nicht. Dass sich Sprachen mischen und eine neue Sprache mit einfacher Struktur dabei herauskommt, verstehe ich. Aber dieses Muster ist erschreckend.«
»Erschreckend?«
»Wie Pusteln auf samtener Haut.« Sie wandte sich an den Gnom und mischte die Sprachen, bis sie dem Muster glichen, das er verwendete. »Hast du einen Namen?«
Das zottige Wesen guckte sie fragend an.
Plötzlich erkannte Aliena, was sie beunruhigte. »Er kann weder Vergangenheit noch Zukunft bilden.« Um ihre Theorie zu überprüfen, fragte sie ihn nach dem gestrigen Wetter, seinem Zuhause, seinen Plänen für den nächsten Tag.
Die einzige Reaktion war ein verständnisloser Blick.
»Weißt du noch, wie du als kleiner Gnom im Wald gespielt hast? Erinnerst du dich an deinen Vater und deine Mutter?« Es war aussichtslos.
Der Gnom hüpfte zum Fluss, um seinen Durst zu stillen.
»Nicht!« Aliena sprang auf und rannte hinter ihm her. »Das Wasser ist gefährlich. Giftig.«
Er starrte von ihr zum Fluss und wieder zurück, und sein Gesicht nahm einen fragenden Ausdruck an. »Gif-tik?«
»Es macht deinen Kopf krank. Am Lagerfeuer ist gutes Wasser.«
Widerspruchslos kam der Gnom mit ihr zurück und trank aus dem Wasserschlauch.
»Ich fürchte, es macht keinen Unterschied«, sagte Bediol. »Wenn der Zauber einmal das Gehirn zerstört hat, ändert es nichts, ob du weiter aus dem Xyx trinkst oder nicht.«
»Du meinst, es ist unwiderruflich?«
»Ja. Zu Anfang mag es noch eine Rolle spielen, ob du nur ein paar Tropfen geschluckt oder deinen Durst gelöscht hast, aber irgendwann hast du die Fähigkeit verloren, einen Gedanken länger als zwei, drei Atemzüge festzuhalten.«
»Das ist ein grausamer Zauber.«
»Unsere Ahnen waren nicht für ihre Sanftmut bekannt.«
Aliena versuchte, sich vorzustellen, wie es sein musste, sich an nichts zu erinnern, nicht einmal an etwas, das man gerade eben gesehen oder gehört hatte. Wie fühlte es sich an, kein Bewusstsein für Zeit zu haben und ausschließlich im Augenblick zu leben? Keine Erkenntnisse gewinnen und nicht aus seinen Fehlern lernen zu können? Einzig aufgrund des Instinktes zu überleben, und selbst das nur mit viel Glück? Wie sollte man sich ohne Gedächtnis schließlich daran erinnern, dass der Uferrand an dieser Stelle brüchig war oder die Früchte jenes Baumes schon manchen Artgenossen das Leben gekostet hatten? Jeder Tag musste aufs Neue mühsam entdeckt werden. Wenn es regnete, suchte man Unterschlupf, aber sobald die Sonne schien, war die Notwendigkeit, sich ein Dach über dem Kopf zu besorgen, vergessen, und so wurde nie eine Hütte gebaut. Ohne Erfahrungen, auf die man zurückgreifen konnte, waren Freund und Feind nicht zu unterscheiden.
Das Muster verursachte Aliena Übelkeit. Eine Existenz ohne Vergangenheit, ohne ein Gefühl der Identität, bedeutet, nicht zu wissen, was einem Freude macht und wovor man Angst hat. Ob man gern singt oder ein Talent für die Kräuterzucht besitzt. Welche Geschichten man mag. Dass man sich von anderen dadurch unterscheidet, dass einem beim Anblick der ersten Schlüsselblume das Herz aufgeht oder dass man Spaß daran hat, Purzelbäume im Regen zu schlagen. Die Person, die man einmal war, war ausgelöscht. Es gab keinen Augenblick, den man bis an sein Lebensende wie einen kostbaren Schatz in seinem Herzen hütete. Cymbalines Lächeln, ihre ersten Schritte, die Begeisterung, mit der sie die Geschichte vom roten Drachen nachspielte – alles in einem bodenlosen Loch verschwunden! Ebenso die schmerzhafte Erinnerung an Schuld, die einen Menschen wachsen und reifen ließ. Lust wurde so direkt befriedigt wie Hunger, ohne tiefer gehende Gefühle. Niemand würde sich hinterher an ein zärtliches Wort erinnern oder an den Augenblick der Verschmelzung. Aliena wurde sich plötzlich bewusst, dass Erinnerungen zum Kostbarsten gehörten, was ein Mensch besaß. Denn es war die eigene Geschichte, die einen formte. Ohne die Fähigkeit, sich zu erinnern, gab es keine Liebe.
Bediol stieß sie an. »Wir sollten weitergehen.«
Sie packten ihre Reiseutensilien zusammen. Der Gnom hüpfte fröhlich an ihrer Seite und schien ihre Gesellschaft zu genießen. Er summte ein paar unzusammenhängende Töne, weil er sich an kein Lied erinnerte, und imitierte den Ruf eines Vogels. Dann sprang er zum Fluss, beugte sich über das Wasser und trank. Aliena wollte ihn zurückreißen, aber sie sah die Sinnlosigkeit ihres Tuns ein. Er konnte einen Gedanken nur für kurze Zeit im Kopf behalten, etwa so lange, wie ein Wasserschlauch brauchte, um auszulaufen. Er hatte ihre Warnung einfach vergessen.
Trotz allem wirkte der Gnom nicht unglücklich. Aliena beobachtete ihn, wie er vor ihnen hersprang und an jeder Blume roch. Er war wie ein leeres Pergament. Unbeschwert konnte er sich immer wieder von Neuem freuen und lebte ganz im Augenblick, auch das war die Wahrheit. Aber sie hätte diese Unbeschwertheit trotzdem nicht gegen ihre Erinnerungen eingetauscht, nicht für alle Freude der Welt. Auch nicht die schmerzhaften, wie den Tod ihrer Eltern oder das, was sie Rhaigh angetan hatte. Ihre Erinnerungen waren ein Teil von ihr, hatten sie geprägt und ihre Persönlichkeit geformt. Ohne ihre Erinnerungen war sie nichts.
Der Gnom drehte sich zu ihnen um und erstarrte. Sein Gesicht nahm einen furchtsamen Ausdruck an, dann flüchtete er ins nächste Gebüsch. Aliena brauchte eine Weile, ehe sie begriff. Er hatte sie ein paar Herzschläge lang nicht gesehen und schlicht vergessen. Vergessen, wer sie waren, vergessen, dass sie ein Mahl und Gesellschaft geteilt hatten. Es war, als hätte es die letzte Stunde nicht gegeben. Als hätten Lachen und Blicke und Berührungen nie existiert. Aliena starrte über die schwarze Oberfläche des Xyx. Der Zauber, den das Wasser beherbergte, war der finsterste, den sie je zu Gesicht bekommen hatte.
3
»Hier hat es sich ereignet«, sagte Tahiru und deutete auf eine Höhle.
Jarik stieg von seinem Pferd, ohne Cymbaline loszulassen. Sie hatte darauf bestanden, vor ihm im Sattel zu sitzen statt im Tragetuch auf seinem Rücken, und sich kein bisschen gefürchtet, aber jetzt war sie zum Umfallen müde und kuschelte sich sofort an ihn, sobald er sie auf den Arm nahm. Sie vermisste ihre Mutter schrecklich, doch zu seiner Freude hing sie ebenso sehr an ihm wie er an ihr. Sanft schob er ein paar widerspenstige Locken aus ihrer Stirn.
Tahiru zu finden, war nicht schwer gewesen. Aliena hatte ihm beschrieben, wo Skavaerrs einstiger Handelspartner wohnte, aber auch ohne ihre Hinweise hätte er das Haus nicht verfehlen können. Tahiru war so etwas wie der stille khanoum in Lyras Sand. Viel schlimmer war die Reise von Ghoun nach Onea gewesen, über das Südmeer. Jeden Augenblick hatte Jarik gefürchtet, dass sich seine Todesvision erfüllte. Trotzdem musste er herkommen. Er konnte nicht daheim bleiben, die Decke über den Kopf ziehen und tun, als ginge ihn die Welt nichts an. Tahiru begegnete seiner Ankunft zunächst mit dem Misstrauen eines Menschen, den bittere Erfahrungen vorsichtig gemacht hatten, doch sobald er seinen Namen hörte, wich dieses Misstrauen verhaltenem Respekt. Die Eroberung von Golks Zuflucht hatte sich herumgesprochen.
Jarik betrat die Höhle. Wie vermutet gab es nicht viel zu sehen. Ein Steinblock, der wohl als behelfsmäßiger Altar gedient haben mochte. Reste eines Feuers. Abgerissene Lederfetzen, die vom Aufenthalt vieler Menschen kündeten. Obwohl Tahiru ihn vor zu vielen Hoffnungen gewarnt hatte, war Jarik enttäuscht. Er machte sich bittere Vorwürfe, dass er nicht früher nach Onea geritten war. Erst spät hatte er durch Aliena vom Überfall der Mystiker und der Verschleppung seines Vaters erfahren. Dann war die Belagerung durch Cyriacs Truppen dazwischengekommen. Und jetzt war es zu spät. Viel zu spät.
»Sobald die Nachricht von Skavaerrs Sklavin meinem Ohr zugetragen wurde, eilte ich mit einigen Helfern zum Ort des Überfalls. Von dort haben wir die Spuren der Mystiker bis hierher verfolgt. Aber die Drachen waren bereits geschlüpft.«
Drachen? Ach so. An die merkwürdigen Redensarten der Oneaner musste sich Jarik erst gewöhnen. Er ging in die Knie, ohne den Griff um seine Tochter zu lockern, die herzhaft gähnte und ihre Wollpuppe an sich drückte, und ließ die Krümel eines von Stiefelabsätzen zertretenen Steines durch seine Finger rinnen. Es gab nichts zu entdecken. Und wohin sich die Fanatiker gewandt hatten – wer mochte das sagen? In jeder Stadt lebten Mitglieder der Sekte, die sie verbergen würden. Möglicherweise hatten sie Khalid nach Shambola geschafft, in ihr neues Machtzentrum. Er musste dorthin, vielleicht konnte er seinen Vater noch retten. Und wenn Khalid nicht mehr am Leben war, würde er zumindest dafür sorgen, dass seine Mörder den Tag bereuten, an dem sie ihn umbrachten.
Er zeichnete einen Kreis in den Staub. Es war nicht gut, sich von Rachegefühlen leiten zu lassen. Zorn ist ein schlechter Ratgeber, hatte schon Mendur gewusst. Er musste einen kühlen Kopf bewahren.
Der oneanische Kaufmann verfolgte sein Mienenspiel. »Steht der Schlangenmann Eurem Herzen nahe?«
»Er ist mein Vater.« Jarik wischte sich die Hand an seinem Burnus ab, während sein Geist auf Reisen ging, zurück zu einem Lager im Bergland von Faluut, zu Geschichten, wahrhaftigen Geschichten, zu Erinnerungen, die sie miteinander geteilt hatten. Kostbare Erinnerungen. Aus irgendeinem Grund ließ ihn dieser Gedanke schaudern, so als … als würden diese Erinnerungen ins Nichts entschlüpfen, wenn er nicht Acht gab. Als könnten sie auslaufen wie ein Wasserschlauch, wenn es ihm nicht gelang, sie festzuhalten. Hastig richtete er sich auf. »Ich werde ihn suchen.«
»Wartet!« Tahiru rang mit sich. Man konnte den Augenblick erkennen, in dem er sich einen Ruck gab. »Euer Vater ist vom Angelhaken geschnellt.«
»Wisst Ihr das genau?«
»Wir ergriffen zwei Mystiker, ehe sie die Insel verließen. Wir haben ihre Lippen bewegt.«
Jarik wollte gar nicht wissen, auf welche Weise die Befragung vonstattengegangen war. »Und?«
»Der Schlangenmann entfloh während des Kampfes. Ein Fischer setzte ihn nach Menehuac über. Später wurde meinen Ohren zugetragen, er sei nach Boroli-Undur gegangen und erzähle dort schon wieder Geschichten.«
Vor Erleichterung wurden Jariks Knie weich. »Warum habt Ihr mir das verschwiegen?«
»Der vertrauensselige Hase landet in der Pfanne. Ihr hättet ein Mystiker sein können.«
»Das könnte ich immer noch.«
»Gewiss. Aber Gram lügt nicht.«
Jarik richtete sich auf und streckte ihm die Hand hin. »Ich danke Euch. Es gehört viel Mut dazu, sich den Mystikern in den Weg zu stellen.«
»Die Oneaner sind einfache Menschen, doch sie wissen, wie man einem Oger die Hauer feilt.« Tahiru befeuchtete seine Lippen mit der Zunge. »Ihr seid wirklich Jarik, der Nomade? Der Eroberer von Golks Zuflucht?«
Der Nomade. Sein Vater nannte ihn so. Jarik nickte.
»Meinen Ohren wurde zugetragen, Ihr stellt ein Heer gegen Cyriac ak Beltar auf?«
»Heer ist übertrieben. Versprengte Krieger aus den Sieben Königreichen, die sich nicht damit abfinden wollen, dass der Kampf verloren sein soll.«
»Schon zweimal kamen die Werber des Usurpators und pressten unsere Männer und Frauen zu seiner Armee. Was meine Lippen Euch mitteilen wollen … Wir würden uns Euch gern anschließen.«
Jariks Gesicht hellte sich auf. Vielleicht war der Weg hierher nicht umsonst gewesen. »Ich wäre glücklich, Euch zu unseren Verbündeten zählen zu dürfen. Wollt Ihr mich nach Golks Zuflucht begleiten?«
Tahiru ergriff seine Hand und schüttelte sie. »Später. Zunächst muss ich noch Geschäfte abschließen. Wie wir sagen: Binde erst dein Pferd an, ehe du nach den Sternen greifst.«
4
Da ihn sein Rückweg ohnehin an Arnang vorüberführte, beschloss Jarik, etwas zu tun, das er seit Jahren aufschob, nämlich Calyx aufzusuchen, den Herrn der Diebe, seinen einstigen Lehrmeister in der Kunst des Stehlens. In seiner Verkleidung als harmloser Bauer und mit dem Bart, den er sich auf der Reise nach Onea hatte stehen lassen, fühlte er sich einigermaßen sicher.
Die Stadttore wurden schärfer bewacht, als er in Erinnerung hatte, aber das mochte daran liegen, dass nächste Woche die jährlichen Wettkämpfe stattfanden und Arnang vor Fremden aus allen Nähten platzte. Zumindest erwies sich Cymbalines Anwesenheit als Vorteil; einem Mann mit Kind wurde wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ein Vater machte keinen Ärger.
Der Marktplatz samt angrenzenden Häusern war nach der Brandkatastrophe erneuert worden. Wachen patrouillierten zwischen den Ständen auf und ab. Mitten auf dem Platz stand eine überlebensgroße Statue von Cyriac. Eine Handvoll Kaufleute kniete davor und pries die Großmut des Königs von Beltar. Mantis, die Gouverneurin von Sin-Tai und Arnang, hatte sich und ihre Städte unter seine Oberhoheit gestellt, hieß es. Jarik argwöhnte, dass es eine geheime Abmachung zwischen den beiden gab, die sicher nicht das Wohl des Volkes im Auge hatte. Er ließ Cymbaline auf dem Pferd und nahm die Statue in Augenschein. Der Größenwahn musste Cyriac gepackt haben, anders ließ sich diese Verschwendung von Rohstoffen und Arbeitskräften nicht erklären.
Jemand stieß ihm unsanft mit dem hölzernen Ende eines Speeres in den Rücken. »He, du da! Kannst du nicht lesen?«
Er drehte sich um und sah sich dem feindseligen Gesicht eines Feuerreiters gegenüber, der auf eine Tafel zu Füßen des Standbildes deutete, die Jarik bislang entgangen war. Die Inschrift darauf befahl jedem, einen Kniefall vor der Statue zu machen, und drohte bei Missachtung drakonische Strafen an. Jarik zuckte die Achseln und tat, als sei er des Lesens unkundig.
»In den Staub mit dir, Trottel!«, sagte der Krieger und stieß ihn in den Rücken, dass er zu Boden ging.
Gehorsam beugte Jarik den Kopf, um keine weitere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Der Wächter schien zufrieden, denn er entfernte sich, um seinen Kameraden gegen zwei junge Krieger aus Faluut beizustehen, die sich weigerten, dem Befehl nachzukommen. Ein Trupp Feuerreiter marschierte durch die Menge. Jarik zog sich zwischen die Zuschauer zurück und verbarg sein Gesicht, als er Ghaal unter ihnen erkannte. Er war ihr Anführer und schlug einem der Faluuter ohne Vorwarnung mit der Reitgerte über das Gesicht. Vor Wut heulend zog der Beleidigte sein Schwert, doch gegen Ghaal hatte er keine Chance. Ohne Gnade stach der Qa-Kämpfer ihn nieder und ließ den anderen Faluuter, der seinem Kameraden zu Hilfe eilen wollte, an den Haaren Richtung Gefängnis schleifen. Mit einer aufreizend beiläufigen Geste schob er sein Schwert in die Scheide zurück und entfernte sich schlendernd. Der Leichnam des Getöteten blieb achtlos im Staub liegen.
Hastig wandten sich die Menschen ihrer Arbeit zu. Keiner kommentierte das Geschehen, keiner blickte auch nur in die Richtung des Toten. In ihren Gesichtern standen Furcht und Resignation. Jarik hatte einen Vorgeschmack auf das bekommen, was den Sieben Königreichen blühte, sollte Cyriac jemals alle Elementkristalle in seine Hände bekommen. Seine Blicke folgten Ghaal, der mit arroganter Kopfhaltung an den Ständen entlangschritt und, wo es ihn gerade danach gelüstete, ein paar Oliven oder einen Krug Wein von den Tischen nahm, ohne zu bezahlen. Niemand beschwerte sich darüber.
»Cymbaline essen«, sagte seine Tochter, als er zum Pferd zurückkehrte. Wenn der Ausbruch von Gewalt sie beunruhigt hatte, war es ihr jedenfalls nicht anzumerken. Vielleicht hatten sie auch die Hundewelpen abgelenkt, die am Stand zu ihrer Rechten feilgeboten wurden.
Jarik kaufte ihr ein Stück Melone und versuchte, unauffällig zu wirken. Ein harmloser Bauer, der sich die Wettkämpfe ansehen wollte. Trotzdem waren seine Reflexe nach wie vor gut, und so packte er die Hand des Diebes, ehe der sie noch halb aus seiner Tasche ziehen konnte. »Das trifft sich gut«, sagte Jarik. »Jemanden wie dich habe ich gesucht.«
Der Dieb erwies sich als blasses Mädchen mit verfilztem blonden Haar. Sie konnte nicht älter als elf oder zwölf sein; Calyx suchte sich seine Lehrlinge also immer noch unter den Jüngsten aus. »Ich wollte Euch nicht bestehlen«, behauptete sie dreist. »Es war ein Versehen. Das Gedränge …«
Jarik lachte. »Dafür hast du dir eigentlich ein paar Ohrfeigen verdient, aber ich nehme an, die wird Calyx dir selbst verabreichen.«
»Ihr kennt …?« Zu spät biss sie sich auf die Lippen, als sie merkte, dass sie sich verraten hatte.
»Hat er dir nicht beigebracht, deine Opfer sorgfältiger auszuwählen? Einen Zunftgenossen zu bestehlen, hat nicht viel Aussicht auf Erfolg.«
Jetzt war ihr Staunen echt. »Ihr … Ihr seid …?«
»Bei Calyx in die Lehre gegangen. Und wie es der Zufall will, bin ich hier, um ihn zu sehen. Also, vorwärts, führ mich zu ihm, das erspart mir mühsame Sucherei.«
Sie wurde misstrauisch. Jarik konnte förmlich sehen, wie sie in ihrem kleinen Kopf einen Plan ausheckte, um ihn in die Irre zu leiten. »Ich bin kein Spion«, sagte er. »Aber ich verstehe, dass du Angst hast. Ich mache dir einen Vorschlag: Gibt es die klagende Sirene noch?«
Sie nickte.
»Ich erwarte ihn dort. Sag Calyx, dass Jarik nach ihm gefragt hat.« Damit ließ er das Mädchen los. Sie tauchte so schnell in der Menge unter, dass er sie schon zwei Herzschläge später nicht mehr sehen konnte. Erst da stellte er fest, dass sie seine Geldbörse mitgenommen hatte.
Er lachte immer noch, als er das Wirtshaus erreichte. Cymbaline verstand zwar den Grund für seine Heiterkeit nicht, kicherte aber los, wann immer sich sein Gesicht aufs Neue verzog. Jarik band das Pferd an und hob seine Tochter herunter. Die klagende Sirene war sicher nicht der beste Aufenthaltsort für Cymbaline, aber es gab schlimmere. Das Gefängnis von Arnang, zum Beispiel.
Der Außenputz der Spelunke war seit damals, als er in der Stadt gelebt hatte, nicht ausgebessert worden. Der rote Ocker war zu schmierigem Graugelb verblasst, und das Haselgeflecht schimmerte überall durch die Wände. Jarik öffnete die Tür und betrat mit seiner Tochter den Schankraum. Wie früher polterten die Klappläden im Durchzug hin und her. Auch am schummrigen Halbdunkel und dem Geruch nach Schweiß und Alkohol hatte sich nicht viel geändert. Sogar die Rubinkatze mit dem zerbissenen Ohr streifte noch zwischen den Stühlen umher, wenngleich merklich langsamer als früher.
Jarik ließ sich mit seiner Tochter an einem Tisch nieder. Cymbaline rückte nah an ihn heran. Fremde Orte machten ihr Angst.
Azzrak, der Wirt, kam herbei und fragte nach seiner Bestellung.
»Ihr müsst Euch noch ein Weilchen gedulden«, sagte Jarik, »erst muss mir Calyx die Börse wiederbringen, die sein Lehrling gestohlen hat.«
Ein klimpernder Beutel fiel vor ihm auf den Tisch. »Verdient hast du es nicht«, sagte eine grollende Stimme. »Wer sich von Anka reinlegen lässt, obwohl er meine Ausbildung genossen hat, sollte sich schämen.«
Jarik drehte sich um. Da stand Calyx und neben ihm das Mädchen mit geröteter Wange. Der Herr der Diebe glaubte also immer noch an Ohrfeigen als probates Mittel der Erziehung. Aber er war alt geworden. Seine Haut wirkte grau und eingefallen und war voller Sorgenfalten, dicke Tränensäcke hingen unter seinen Augen, und ein Teil seines rechten Ohres fehlte, vermutlich infolge einer gewaltsamen Auseinandersetzung. Seine Hände zitterten, obwohl er es zu verbergen suchte. Und die Stoffklappe über seinem linken Auge war schmutzig wie seine Kleidung. Calyx ließ sich gehen.
»Wer ist das?«, fragte Azzrak verwirrt.
»Erkennst du unseren Jarik nicht mehr?«
»Jarik? Der mir meine Bediol verführt hat? Jarik, die Rubinkatze? Jarik, der Nomade?«
Auch hier kannten sie also die Geschichten seines Vaters. »Das hier ist meine Tochter Cymbaline.«
»Bediol?«, erkundigte sich Calyx, um sogleich den Kopf zu schütteln. »Ich vergaß. Natürlich die Königin von Ellerin. Bist hübsch aufgestiegen in der Welt, seit ich dich auf dem Basar einfing.«
Es war Jarik unangenehm, dass alle Welt sein Leben bis in die intimsten Einzelheiten zu kennen schien. »Bediol lebt mit Ramis zusammen, einem ehemaligen khanoum von Brodwin ak Faluut.«
»Dann geht es ihr also gut? Warte, erzähl der Reihe nach! Doch vorher bring uns einen großen Krug Tollwurzelmet, Azzrak, aber nicht von deinem gepanschten Zeug.« Er setzte sich Jarik gegenüber an den Tisch, während der Wirt Richtung Küche verschwand, und scheuchte Anka zurück an die Arbeit. »Ein talentiertes Ding«, sagte er, ihr nachblickend. »Nicht so vielversprechend wie du damals, aber …« Dann ergriff er Jariks Hand mit einem Griff, der bewies, dass immer noch Kraft in dem alten Mann war. »Ich bin froh, dass du gekommen bist. Jetzt erzähl von Bediol. Und von deiner Prinzessin. Wie kommt es, dass so eine Frau sich in einen Nichtsnutz wie dich verguckt?«
Jarik erzählte – zum wievielten Mal? – sein Leben, und als er sah, wie seine Tochter jedes Wort aufsaugte, verfiel er in den Tonfall des Geschichtenerzählers. Zwischendurch kam Azzrak zurück und brachte die Getränke und einen Teller mit Fladenbrot, Schafskäse und Tomaten für Cymbaline. Jarik zerkleinerte alles in mundgerechte Stücke, ohne seine Erzählung zu unterbrechen, und sah seiner Tochter dabei zu, wie sie aß. Cymbaline hob den schweren Kelch, der vor ihr stand, und nippte an ihrem Blutliliennektar. Sie bekam große Augen, leckte sich mit ihrer Zunge über die Lippen und nahm einen neuen Schluck.
»Stimmt das mit deiner, äh, Gabe?«, wollte Calyx wissen. »Khalid hat erzählt …« Er beendete den Satz nicht, spuckte aber vorsorglich aus zur Abwehr des Bösen.
Jarik hatte vergessen, dass der Herr der Diebe Zauberei verabscheute. »Ich hoffe, du bist kein Anhänger der Gelehrten geworden?«
»Wofür hältst du mich? Nachdem Bediol beinahe auf dem Scheiterhaufen verbrannt wäre?«
Also erzählte er auch von diesem Aspekt seines Lebens. Als Calyx’ Neugier endlich befriedigt war, war es an Jarik, Fragen zu stellen. Er deutete auf die Schankgäste, die in kleinen Gruppen beieinander saßen, sich mit gedämpften Stimmen unterhielten und dabei von Zeit zu Zeit verstohlene Blicke umherwarfen. »Arnang ist ein deprimierender Anblick«, sagte er. »Ich habe kein fröhliches Gesicht gesehen, seit ich hier bin.«
»Da hast du verdammt recht, mein Junge. Wir haben keinen guten Tausch gemacht, als dieser Lump aus Beltar die Stadt übernahm. Trotzdem bin ich froh, dass du es diesem Schwein Entos gezeigt hast. Bediol unter den Augen der Wachen zu befreien, das war ein Meisterstück! Meine Diebe und ich waren auf dem Weg zum Basar, aber wir wären zu spät gekommen. Zu viele Soldaten in den Gassen.«
»Nicht halb so viele wie jetzt. Es gibt mehr Feuerreiter auf dem Markt als Kauflustige. Überall herrscht Angst.«
»Mehr als du ahnst.« Calyx sah sich um, ob auch niemand zuhörte. »Es verschwinden immer noch Menschen auf Nimmerwiedersehen, und ihre Zahl nimmt täglich zu.«
»Cyriacs Soldaten?«
Der Herr der Diebe schüttelte den Kopf. »In den Kerkern sitzen nur die üblichen Galgenvögel. Nein, da geht etwas anderes vor. Die Leute verrammeln des Nachts ihre Türen und beten, dass sie am nächsten Morgen noch da sind. Und es spielt keine Rolle, ob jemand reich ist oder arm, für oder gegen Cyriac. Selbst von meinen Leuten ist schon so mancher verschwunden. Nerio zum Beispiel, du kennst ihn doch noch?«
»Wie könnte ich ihn vergessen? Er war es, der mich verraten hat.«
»Pest und Dämonenbrut!«
»Ich glaube nicht, dass er es freiwillig getan hat. Aber sag, was ist mit den Feuerreitern? Warum sind sie hier?«
»Wegen der Wettkämpfe. Cyriac ist gestern eingetroffen.«
»Er wohnt den Spielen bei?«
»Es sind die ersten Kämpfe unter seiner Federführung, und er ist fest entschlossen, sie zu einem triumphalen Höhepunkt zu machen. Er will der Welt seine Macht zeigen. Wichtige Leute aus allen Sieben Königreichen sind eingeladen. Die neue Arena wird eingeweiht. Hast du sie schon gesehen?«
Jarik schüttelte den Kopf.
»Na, ich verrate dir nichts. Sieh’s dir selber an. Ein protziges Ding, das zahllose Sklaven das Leben gekostet hat. Und die Feuerreiter benehmen sich, als hätten sie die Wettkämpfe bereits gewonnen. Die Spiele dienen nur noch zum Beweis für ihre Überlegenheit.«
»Man müsste ihnen und den Völkern zeigen, dass sie nicht unbesiegbar sind«, sagte Jarik versonnen. »Ein Hoffnungssignal setzen, das die Leute aufrüttelt.«
»Wie meinst du das?«
»Jemand anderes müsste die Spiele gewinnen. Sie demütigen. Cyriac da treffen, wo es am meisten wehtut.«
»Die Feuerreiter sind allen überlegen, so ungern ich das zugebe.«
Jarik rieb sich das Kinn. »Ein Mensch, der seinen Verstand gebraucht, kann eine Armee besiegen«, zitierte er Durin.
»Worauf willst du hinaus?«
»Zeigst du mir, wo ich mich für die Wettkämpfe anmelden kann?«
5
Wenn Cyriac das Volk mit der neuen Arena beeindrucken wollte, war ihm das gelungen. Er hatte Häuser und sogar einen Teil der Westmauer abreißen lassen, um das Areal zu vergrößern. Das Feld, das einen Durchmesser von fünfzig Steinwürfen besaß, schloss nicht nur die üblichen Schießplätze und Gräben ein, an denen Burgeroberungen nachgestellt wurden, sondern auch künstlich geschaffene Landschaften wie etwa schroffe Felsformationen und einen Sumpf. Es war fantastisch. Selbst Jarik konnte sich der Faszination des Ortes nicht entziehen. Cyriacs Rechnung würde unzweifelhaft aufgehen. Brot und Spiele, das alte Lied. Solange die Menschen zu essen hatten und für Zerstreuung gesorgt war, nahmen sie auch Feuerreiter und Scheiterhaufen hin.
Die Ränge waren bereits zur Hälfte besetzt, dabei dauerte es noch Stunden bis zum Beginn der Wettkämpfe. Wenn man sich die Zuschauer ansah, konnte man glauben, nichts hätte sich in den letzten Jahren verändert. Da waren Fischer aus Ellerin, Handwerker aus Faluut, Händler aus Alganda, Mönche aus Menehuac, und alle schrien begeistert und amüsierten sich, als gäbe es keinen Krieg, keine Mystiker, keine Gelehrten. Für die Dauer der Spiele war in den Sieben Königreichen Frieden ausgerufen und allen Besuchern freies Geleit versprochen worden. Jarik verließ sich nicht darauf. Er glaubte keinen Augenblick, dass Cyriac ihn gehen lassen würde, sollte er ihm in die Hände fallen.
Als Kämpfer an den Spielen zugelassen zu werden, erwies sich als einfacher, als Jarik vermutet hatte. Seit sich die Panja Rajaz teils den beltarischen Soldaten, teils den Rebellen angeschlossen hatten, beanspruchte niemand mehr ihren Platz, und so genügte es, dass er sich als ihr Favorit eintragen ließ. Er benötigte nicht einmal eine Legitimation. Vorsichtshalber gab er einen falschen Namen an, falls jemand auf die Idee kam, einen Blick auf die Liste zu werfen. Darüber, dass er erkannt werden könnte, machte er sich wenig Gedanken. Er hatte sich von Azzrak das Haar stutzen lassen, und der Bart verbarg einen großen Teil seines Gesichts.
Als er unter dem Klang der kodoks die Arena betrat und sich zu den anderen Kriegern gesellte, schlug sein Herz wie rasend. Als Junge hatte er immer von diesem Augenblick geträumt. Dass er jetzt hier stand, überwältigte ihn. Doch nicht einmal in seinen kühnsten Fantasien hätte er sich ausmalen können, dass seine Teilnahme an den Wettkämpfen unter derartigen Umständen stattfinden und dabei so viel auf dem Spiel stehen würde.
Tat er wirklich das Richtige? Sein Leben aufs Spiel zu setzen, vielleicht sogar Cymbaline zu gefährden, die er Azzraks Obhut anvertraut hatte? Aber in Golks Zuflucht, belagert von Cyriacs Armee, war sie auch nicht sicherer. Und er wollte, er musste ein Fanal gegen die Hoffnungslosigkeit setzen, die sie alle lähmte. Es wurde Zeit, dass die Völker der Sieben Königreiche aus ihrer Apathie erwachten und erkannten, dass Cyriac nicht allmächtig war. Sollten die Feuerreiter erneut die Siegestrophäe erringen, wäre es das neunte Jahr in Folge. Sie benahmen sich bereits, als hätten sie einen Anspruch darauf. Die Menschen konnten sich kaum noch vorstellen, dass jemand anderes gewann. Wenn Jarik hier und heute den Sieg davontrug, erreichte er auf einen Schlag mehr als mit zehn siegreichen Schlachten zusammen.