Der Weg des Kriegers - Gunnar Kunz - E-Book

Der Weg des Kriegers E-Book

Gunnar Kunz

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Beschreibung

Hat Jarik ihre Liebe verraten und ihre Eltern ermordet? Aliena glaubt es jedenfalls und hetzt Attentäter auf ihn, sogar einen der gefürchteten Skorpionmänner. Sie selbst gerät jedoch in die Fänge von Sklavenhändlern. Ihre einzige Hoffnung auf Rettung liegt in ihrer Fähigkeit, verborgene Muster aufzuspüren. Doch reicht die aus, um das schwächste Glied in der Kette ihrer Bewacher herauszufinden? Durin, der Zwerg, bildet derweil Jariks Gabe des Zweiten Gesichts aus und lehrt ihn den Weg des Kriegers. Dabei ist das wirklich das Letzte, was Jarik will. Hat er nicht schon genug Leid über andere gebracht? "Untätig sein ist keine Antwort", sagt Durin. "Man hält seine Hände nicht dadurch rein, dass man sie in die Taschen steckt."

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Seitenzahl: 474

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Gunnar Kunz

Der Weg des Kriegers

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Der Weg des Kriegers

Schlangenmann

Die Welt zerfällt in Scherben

Kreise

Unkönig

An jenem Ort, der Liebe heißt

Dramatis Personae

Glossar

Weitere Bücher von Gunnar Kunz:

Impressum neobooks

Der Weg des Kriegers

2. Band der Seelenknoten-Trilogie

von Gunnar Kunz

Impressum:

Copyright 2024 by Gunnar Kunz, Berlin

Tel. 030 695 095 76

E-Mail über www.gunnarkunz.de

Alle Rechte vorbehalten

Einbandgestaltung: Rannug

Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden. Danke, dass Sie die Arbeit des Autors respektieren!

Schlangenmann

1

Der Attentäter hinter dem Felsen dachte darüber nach, welche Waffe er für die Erledigung seines Auftrages wählen sollte. Das Schwert, mit dem er durch die Bande der Bluthochzeit verschmolzen war, die Waffe der Könige, eines Qa-Kriegers würdig? Oder doch besser die Armbrust: ein gezielter Schuss, und es war vorbei?

Er spähte um die Ecke und beobachtete den in ein Gebet vertieften Eremiten, der nicht ahnte, dass er kurz davor stand, seinen Göttern persönlich gegenüberzutreten. Sollte dies wirklich der Mann sein, vor dem man ihn gewarnt hatte? Ein ausgemergelter Jüngling von höchstens sechzehn oder siebzehn Jahren? Dessen milchige Augen noch dazu von Blindheit Zeugnis ablegten? Bei Golks Nase, es war eine Beleidigung, ihn auf die Jagd nach einem so armseligen Opfer zu schicken! Die Gerüchte über den Einsiedler – er sei ein ausgebildeter Qa-Krieger, besäße das Zweite Gesicht und habe schon manchen Attentäter überlebt – kamen ihm unglaubwürdig vor.

Es konnte trotzdem nicht schaden, vorsichtig zu sein. In aller Ruhe nahm der Attentäter seine Armbrust vom Rücken und holte einen Bolzen aus der Ledertasche an seinem Gürtel. Letzten Endes spielte es keine Rolle, auf welche Art und Weise er den Jüngling tötete. Niemand würde ihm deswegen applaudieren, aber es würde ihm auch niemand Vorhaltungen machen. Von seiner Auftraggeberin abgesehen interessierte es keinen Menschen.

Es war nicht einfach gewesen, das menschliche Wild aufzuspüren. Hier, im unwirtlichen Bergland von Faluut, gab es zahlreiche Schluchten und Höhlen, die ein geeignetes Versteck boten. Allein in unmittelbarer Nähe des Großen Kentai existierten Tausende von unerforschten Grotten. Es hätte Jahre dauern können, den Eremiten zu finden. Zu seinem Glück verehrten ihn die Bauern der umliegenden Dörfer wie einen Heiligen, seit er ein dreijähriges Kind, das hinter Ziegen hergeklettert war, vor dem Absturz bewahrt hatte. Die Kunde davon war schließlich auch an seine Ohren gedrungen. Ein Beweis für die Dummheit seines Opfers. Wer sich verbergen will, macht besser nicht auf sich aufmerksam.

Ein neuerlicher Blick um die Ecke zeigte ihm, dass der Eremit nach wie vor in sein Gebet vertieft war. Der Tod würde ihn ereilen, bevor er wusste, wie ihm geschah. Der Attentäter spannte seine Waffe. An sich bevorzugte er den Bogen. Ein Bogenschütze konnte in derselben Zeit, in der ein Krieger seine Armbrust lud, sechs Pfeile verschießen. Aber er befand sich nicht im Krieg. Auf dieser Jagd zählten andere Vorzüge. Der mit einem Widerhaken versehene Bolzen konnte auf dreihundert Schritt jedes Kettenhemd durchbohren. Keine Macht der Welt würde dieses Geschoss aufhalten, Zweites Gesicht hin oder her. Vorsichtig stützte der Mann die Waffe auf dem Felsen ab, ohne ein Geräusch zu verursachen. Angeblich hörten Blinde besser als Sehende. Er legte seinen Kopf schief und verschob die Armbrust, bis die Verlängerung des Bolzens auf das Herz des Einsiedlers zielte. Er atmete ein und hielt die Luft an, um den Schuss nicht zu verwackeln. Sein Finger krümmte sich.

Mit einer fließenden Bewegung war der Eremit auf den Beinen, und noch während der Bolzen an seiner Schulter vorbeizischte, warf er den Stein, der sich wie durch Zauberei in seiner Hand befand. Dem Attentäter gelang es nicht, dem Wurfgeschoss auszuweichen. Der Stein traf ihn mit voller Wucht zwischen die Augen. Haut platzte auf, Blut lief herab und nahm ihm die Sicht, und während er noch dabei war, sein Schwert zu ziehen, riss ihn der Jüngling bereits herum und brach ihm die Finger. Der Attentäter schrie vor Schmerz und versuchte, mit der gesunden Hand die Augen des Eremiten auszudrücken, bis ihm klar wurde, dass die Augen nicht der Schwachpunkt eines Blinden waren. Aber da war es bereits zu spät. Der Junge brach ihm auch die Finger der anderen Hand und versetzte ihm einen so brutalen Schlag in die Magengrube, dass er zusammenklappte. Mit erschütternder Klarheit wurde ihm bewusst, dass der harmlos aussehende Einsiedler keine zwei Dutzend Lidschläge gebraucht hatte, um ihn außer Gefecht zu setzen.

»Kannst du aufstehen?«

Erst beim zweiten Mal drang die Frage durch das Rauschen in seinen Ohren hindurch. Würgend kam er auf die Knie. Warum brachte ihn der Junge nicht um?

»Hast du ein Pferd in der Nähe?«

Mit einer Kopfbewegung deutete der Attentäter Richtung Felsen; sprechen konnte er nicht.

Der Junge folgte seiner Bewegung und ließ ihn allein. Nicht einmal die Waffen nahm er ihm ab. Fürchtete er keinen Hinterhalt, wenn er zurückkehrte? Der Attentäter hustete und spuckte. Der bohrende Schmerz in seinen Händen machte ihm klar, dass er für niemanden mehr eine Gefahr darstellte. Vielleicht nie wieder. Zumindest würde es eine lange Zeit dauern, bis er wieder eine Waffe benutzen konnte.

Nach einer Weile tauchte der Eremit auf, das Pferd am Zügel hinter sich herführend. Vor dem Attentäter blieb er stehen und hievte ihn ohne ein Wort hinauf. Wie einen Krüppel, dachte der Schütze.

»Soll ich dich festbinden, oder kannst du dich allein im Sattel halten?«

»Warum tust du das? Warum tötest du mich nicht?«

»Ich habe den Wert des Lebens schätzen gelernt.«

»Ich wollte dich umbringen.«

»Und vielleicht wirst du es wieder versuchen. Sag deiner Auftraggeberin, sie irrt sich.«

Der Junge wusste sogar, wer seinen Tod wünschte! »Warum will sie, dass du stirbst?« Die Frage rutschte ihm heraus. Normalerweise interessierte er sich nicht für Gründe.

»Geh! Du störst die Stille der Berge.«

Durch Schenkeldruck zwang der Attentäter sein Pferd herum. Die Hände brannten bei jeder Erschütterung. Es würde ein langer Heimweg werden.

»Qa-Krieger!«, rief der Eremit ihm nach. »Du hast einen ehrlosen Beruf. Wenn deine Hände geheilt sind, fang etwas Sinnvolles mit ihnen an.«

2

Vergebt mir, Korona ak Zanjinkaj! Jarik berührte den Boden mit seiner Stirn. Hände und Knie schmerzten von der harten Unterlage. Gut. Er suchte eine Stelle, an der das Gestein noch rauer war, und schürfte seine Knie auf, als er hinüberrutschte. Er versuchte nicht, die Erinnerungen abzuwehren, obwohl sie ihm Qualen bereiteten; es war Teil seiner Buße. Ihr Röcheln hatte ihm gegolten. Nachdem er ihren Tod tausend, zehntausend Mal nacherlebt hatte, war er sich dessen sicher. Sie hatte ihn gegen ihren Mörder um Hilfe gebeten. Gegen Faysal. Seinen Halbbruder. Und er hatte ihr die Hilfe versagt. Weil er schwach war. Weil er ein Feigling war.

Er drückte sein Gesicht in den Staub. Vergebt mir meine Schwäche! Jetzt, wo er nicht länger Cyriacs Einfluss unterlag, war er bereit, sich die unschönen Tatsachen einzugestehen. Er hatte sich von den Worten des Königs verführen lassen und an furchtbaren Verbrechen teilgehabt. Er hatte geglaubt, wie vermutlich jeder der Jungen und Mädchen, die darauf brannten, in die Gemeinschaft der Feuerreiter aufgenommen zu werden, dass Cyriac ak Beltar ihn vor allen anderen erwählt hatte, um eine heldenhafte Mission zu erfüllen. Er hatte geglaubt, den Sieben Königreichen zu dienen, indem er ihm dabei half zu lügen und zu betrügen, zu manipulieren und zu morden. Es gab keine Entschuldigung dafür. Er hatte einfach nicht sehen wollen, was offensichtlich war. Er war in jeder Hinsicht blind gewesen.

Der Rabe, dessen Davonflattern ihn vorhin auf die Gefahr aufmerksam gemacht hatte, kehrte krächzend zurück. Schutzpatron der Diebe. Jarik warf ihm einen Brocken Fladenbrot hin. Es war der fünfte Meuchelmörder, den Aliena ihm nachsandte. Der Mann hatte Aurakisch mit berionischem Akzent gesprochen. Die Königin von Ellerin holte sich ihre Attentäter offensichtlich von überall her, ohne Kosten und Mühe zu scheuen. Er hatte Verständnis für ihren Hass. Sie machte ihn für den Tod ihrer Eltern verantwortlich. Sie glaubte, er habe ihre Liebe verraten. Sie fühlte sich benutzt. Hass war etwas, woran sie sich klammern konnte. Etwas Greifbares, das sie vor dem Absturz in die Verzweiflung bewahrte. Er verstand es. Er hatte das alles selbst durchgemacht.

Seine Zunge fühlte sich immer noch pelzig an, aber die Kopfschmerzen gingen zurück. Was bedeutete, dass sich seine Gabe nicht länger aufrecht erhalten ließ. Der Kampf hatte sie zu sehr beansprucht. Der Raum um ihn herum schrumpfte zusammen und platzte wie eine Wasserblase. Er war wieder ein einfacher blinder Mann. Bis jetzt hatte ihm das Zweite Gesicht gegen die Jäger beigestanden, wenn er auch das vorletzte Attentat nur knapp überlebt hatte. Aber seine Gabe kam und ging nach eigenen Gesetzen, und eines Tages würde er den Tod nicht rechtzeitig spüren. Es kümmerte ihn wenig. Er betrachtete es als gerechte Strafe. Eine Sühne für die Tode von Korona ak Zanjinkaj und Alienas Eltern, die er zwar nicht an seinen Händen, wohl aber auf dem Gewissen hatte.

Seine Knie fingen an zu bluten. Er suchte die Stelle, die am meisten wehtat, und verlagerte sein Gewicht darauf. Dieb, Lügner, Mörder – wie hatte es nur dazu kommen können, dass all das aus ihm wurde? Mit schmerzhafter Deutlichkeit erinnerte er sich an den Hirtenjungen, der er einmal gewesen war. Jung. Voller Möglichkeiten. Durchdrungen von dem Glauben an Werte, für die einzusetzen sich lohnte. Jarik wollte diesem Jungen sagen, dass es falsch war, einer anderen Stimme als dem eigenen Herzen zu gehorchen. Er wollte ihm die Kreuzwege zeigen, an denen er falsch abgebogen war. Er wollte ihn packen und durchschütteln und ihm zuschreien: Geh nicht den einfachen Weg! Hör genau hin, verschließ dich nicht den Tatsachen! Aber es war zu spät. Als er sich Cyriac anvertraute, hatte er sich selbst aufgegeben. Und jetzt, nachdem er auch seinen Schutzherrn verraten hatte, war er, was er immer gewesen war: Nada. Ein Niemand.

Er drückte sein Gesicht auf die Steine. Ich bereue. Ich kann meine Verfehlungen nicht ungeschehen machen, aber ich bin bereit zu sühnen. Vergebt mir, Korona ak Zanjinkaj! Er horchte in sich hinein, aber da war nur anklagende Stille. Er hatte nichts anderes erwartet. So leicht erlangte man keine Vergebung.

Es fing an zu tröpfeln. Mit steifen Gliedern erhob sich Jarik und lauschte in die Dunkelheit hinter seinen Augen. Regen schuf Konturen und enthüllte die Fülle der Welt, wo vorher Leere gewesen war. Wie ein Vorhang zog er den Schleier fort, hinter dem ein Blinder lebte, hob Umrisse hervor und machte durch unterschiedliche Tonhöhen, durch Klopfen und Trommeln, durch Plätschern und Murmeln die umgebende Landschaft sichtbar. Als ihm das Wasser aus den Haaren perlte, zog sich Jarik in die Höhle zurück, die ihm bei schlechtem Wetter als Schutz diente, wickelte sich in eine Decke und bemühte sich, den qualvollen Erinnerungen durch Schlaf zu entkommen.

Jemand schüttelte im Höhleneingang ein Stück Stoff aus. Jarik war auf den Beinen und stand in der Verteidigungsgrundhaltung der Qa-Krieger, noch bevor sein Verstand richtig wach war.

»Guten Morgen«, sagte eine Stimme in Aurakisch. Sanft, wie ein Windhauch. Jung, vielleicht zwölf Jahre alt. Mitten im Stimmbruch. »Verzeih, wenn ich dich erschreckt habe. Ich wollte dich gestern Nacht nicht wecken, aber wegen des Regens habe ich mir gestattet, mich zu dir in die Höhle zu flüchten.«

Jarik standen die Haare zu Berge. Der Fremde war stundenlang in seiner Nähe gewesen, und weder seine Ohren noch seine Gabe hatten ihn gewarnt! Er rief die Sinneseindrücke herbei, die mit dem Zweiten Gesicht einhergingen, das Kribbeln, das Dröhnen in den Ohren, den Geruch nach Ingwer, den metallischen Geschmack auf der Zunge, aber nichts tat sich. Kein Energiefeld baute sich in der verborgenen Kammer in seinem Herzen auf, die das Zentrum seiner Gabe bewahrte, kein Luftzug riss ihn aus Zeit und Raum und dehnte seine Wahrnehmung, bis er eine Vorstellung von der Umgebung erhielt. Die Gabe ließ ihn im Stich.

»Es muss unbequem sein, so dazustehen.«

Jarik machte sich klar, wie töricht es war, die Verteidigungsstellung aufrechtzuerhalten. Wenn der Fremde ihn töten wollte, hätte er dazu ausreichend Gelegenheit gehabt. Er löste seine angespannten Muskeln. »Ich bitte um Verzeihung. Ich fürchte, hier draußen sind meine Umgangsformen etwas rau geworden.«

Ein helles Lachen war die Antwort. »Golk erhalte dich.«

Der Junge hielt ihm die Hand hin. Jarik merkte es am erwartungsvollen Klang der Stimme. Er griff aufs Geratewohl in die Luft und fand weiche, fast feminine Finger. »Wasser und Schatten.«

»Ah, du stammst aus Alganda?«

»Ja.«

»Ich komme aus Menehuac. Mein Name ist Myoto.«

»Jarik. Was machst du hier, fern der Heimat?«

»Ich befinde mich auf meiner Seelenreise.«

»Seelenreise?«

»Ich pilgere durch die Sieben Königreiche.«

»Zu welchem Zweck?«

»Es ist bei uns so Brauch. Jeder künftige Regent muss sich vor seinem Amtsantritt auf eine Seelenreise begeben und sehen, wie die Menschen anderswo leben. Und dabei auf die Träume achten, die ihn heimsuchen.«

»Regent? Du meinst, du bist …?«

»Der künftige Oberste Heiler meines Landes, ja.«

»Wo ist deine Eskorte?«

»Es gibt keine.«

»Du bist allein?«

»In einer lärmenden Menge kann man die Stille nicht hören.«

»Es ist gefährlich, ohne Schutz zu reisen. Erst vor drei Monaten verschwand ein Bauer aus einem der umliegenden Dörfer. Vor ein paar Wochen kehrte ein ghul an seiner Stelle zurück und richtete ein Blutbad an.«

»Du bist ebenfalls allein.«

Mir ist ja auch egal, ob ich lebe oder sterbe, dachte Jarik. »Nimm Platz. Ich habe getrocknetes Obst und Mandeln, und hinter den Felsen befindet sich ein Bach.«

»Zunächst möchte ich den neuen Tag begrüßen, wenn du nichts dagegen hast.«

Schritte entfernten sich nach draußen. Jarik nutzte die Gelegenheit und versuchte erneut, seine Gabe herbeizurufen. Diesmal überschritt er die Schwelle problemlos; er nahm die Berge wahr, die Höhle und seinen Besucher. Myoto war wie ein kühler Fleck unter dem Kinn. Die obligatorischen Kopfschmerzen, die mit dem Gebrauch des Zweiten Gesichtes einhergingen, stellten sich ein.

Myoto stimmte einen Gesang an, der Jarik berührte. Die Boten des Tages: feuchter Morgendunst, frische, vom Regen gereinigte Luft, Sonnenstrahlen, die seine Haut erwärmten, fanden Eingang in die Melodie. Jarik kniete sich neben Myoto und ließ die Musik und den beginnenden Tag durch sich hindurchfließen. Der pochende Kopfschmerz sank zu einem dumpfen Druck herab. Als der Gesang endete, fühlte er sich erfrischt wie lange nicht mehr.

Gemeinsam gingen sie zum Bach und spülten den Rest des Schlafes von ihren Körpern. Anschließend nahmen sie ein bescheidenes Mahl ein. Jarik stellte fest, dass er die Gesellschaft genoss. Myoto beherrschte die Kunst des Schweigens, der stillen Zwiesprache mit der Welt, eine Kunst, die Jarik während des letzten halben Jahres in der Einöde des Berglandes von Faluut selbst erlernt hatte.

Erst, als sie satt waren, richtete Myoto wieder das Wort an ihn. »Erlaubst du mir eine Frage, die deine Privatsphäre berührt?«

Die rücksichtsvolle Bitte entlockte Jarik ein Lächeln. »Nur zu.«

»Deine Augen … Warum lässt du sie, wie sie sind? Hat es etwas mit deinem Glauben zu tun?«

»Ich verstehe nicht. Was meinst du?«

»Warum lässt du sie nicht heilen?«

»Ich wurde geblendet. Sie können nicht geheilt werden.«

»Hat man dir das eingeredet?«

»Die Hitze hat die Augenflüssigkeit zu einem Teig gebacken. Das Gewebe ist zerstört.« Jarik merkte, wie er wütend wurde.

»Vielleicht weißt du es nicht, aber die Königswürde in Menehuac ist nicht erblich. Sie geht immer auf den erfahrensten Heiler über.«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich würde gern deine Gastfreundschaft vergelten. Ich habe schon weitaus schwierigere Dinge geheilt. Soll ich dir helfen oder wünschst du, deine Augen in diesem Zustand zu belassen?«

Jarik war nicht sicher, ob sich Myoto nur einen grausamen Scherz mit ihm erlaubte. Es stimmte, er hatte nie einen Heiler aufgesucht, weil er immer davon ausgegangen war, dass sich eine derart gravierende Zerstörung nicht rückgängig machen ließ. Alle behaupteten es. Leute auf der Straße. Entos. Cyriac. Lacrima. »Du kannst mich heilen?«

»Wenn du es wünschst.«

Jarik betastete die Narben seiner Lider. Wieder sehen zu können – sollte das tatsächlich möglich sein? Er fürchtete sich davor, eine Hoffnung zuzulassen, die anschließend enttäuscht wurde. Andererseits … Die Menehuacaner waren bekannt für ihre Heiler. »Was wäre nötig, um mir mein Augenlicht zurückzugeben?«

»Ein paar Kräuter. Zeit. Glaube. Magie.«

»Wann …?«

»Wann immer du bereit bist. Ich trage eine Auswahl der wichtigsten Kräuter bei mir. Es wird wehtun, und ich fürchte, den Rest des Tages wirst du ohne Schlafmohn nicht ertragen. Morgen früh kehrt dein Sehvermögen zurück, und in zwei, drei Tagen bist du wiederhergestellt.«

Schlafmohn … Das bedeutete hilfloses Dahindämmern. Ein Trick, um ihn leichter zu überwältigen? Unsinn, dazu hätte Myoto mehr als genug Möglichkeiten gehabt. »Ich habe Feinde.«

»Ich werde deinen Schlaf bewachen, wenn du willst.«

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass eine Heilung möglich ist. Das kommt so unerwartet für mich.«

»Es sind nur deine Augen, die ich behandeln kann. Deine Seele musst du selbst heilen.«

»Es gibt Dinge, die nicht heilbar sind.«

»Warum bist du dann hier? Das Herz ist ein Heiler, sagt man bei uns. Dein Herz hat dir mitgeteilt, dass Stille heilt. Singen heilt ebenfalls. Begrüß den Tag mit einem Gesang, und du wirst sehen, welchen Unterschied es macht. Jeder Mensch trägt ein Lied in seiner Brust. Leben bedeutet, das Lied seines Lebens zu singen.«

»So einfach sind die Dinge nicht.«

»Ich kann dir nur meine Hilfe anbieten. Was du damit machst, ob du sie annimmst oder nicht, ob du den Weg der Heilung oder der Zerstörung gehst, ob du Freude erfahren oder leiden willst, es liegt bei dir.«

Myoto ließ ihn allein. Er schien zu spüren, dass Jarik im Begriff stand, von seinen Gefühlen überwältigt zu werden. Wieder sehen zu können … Was würde er dafür geben!

Das Klappern eines Kupferkessels, der ausgewaschen wurde, drang herüber, dann das Entzünden eines Feuers. Nach einer Weile durchzogen aromatische Düfte die Luft.

Jarik gesellte sich wieder zu Myoto und wärmte sich am Feuer. »Warum sind eure Könige Heiler?«

»Wir glauben, dass jemand, der Menschen heilt, auch ein Land gesunden lässt. Wem das Leben heilig ist, dem liegt das Wohlergehen seines Volkes am Herzen.«

Es klang wie ein guter Brauch. Jarik dachte an Rurik, an Entos, an Cyriac. Vermutlich sogar ein sehr guter Brauch.

»Trink das!« Myoto hielt ihm eine dampfende Schale unter die Nase.

»Was ist das?«

»In der Hauptsache Wasser und zu Pulver zermahlene Drachenzähne. Außerdem Schlafmohnextrakt. Es wird dich schläfrig machen und die Heilwirkung unterstützen.«

Jarik setzte die Schale an seinen Mund und trank sie in einem Zug leer. Sobald er auf seiner Decke lag, stellte er fest, dass der Sud zu wirken begann. Er fühlte sich leicht und entspannt. Myoto machte irgendetwas mit den Händen, etwas, das seinen Körper erwärmte.

»Ich schüttele deine Aura auf«, erklärte der Menehuacaner. »Bevor ich dir helfen kann, muss der Stau in deinem Inneren beseitigt werden, damit die Energieströme wieder fließen.«

Ein Ton, voll und tief.

»Das ist eine Klangschale. Der Ton stimuliert deinen Körper mitzuschwingen.«

Wieder schlug Myoto gegen den Rand der Schale. Ein Summen war die Folge, ein brummender Unterton mit anschwellenden Obertönen. Die Schwingungen breiteten sich in Jarik aus wie eine Massage. Sein Körper füllte sich mit Klang. Je öfter Myoto anschlug, desto ruhiger wurde Jarik.

Zwei Hände legten sich um seine Schläfen und massierten die Ränder der Augenhöhlen. Er konnte fühlen, wie Myotos heilende Energie in ihn hineinfloss. Etwas löste sich, dann flutete Wärme wie durch einen geöffneten Kanal hinter seine Augen und von dort durch den Kopf. Myoto stimmte einen Gesang an, der im Gegensatz zur Morgenbegrüßung dunkel und kräftig klang und Jariks Körper vibrieren ließ. Das Krächzen des Raben vermischte sich auf geheimnisvolle Weise mit dem Lied. Jarik wurde träger und träger.

Kurz bevor er einschlummerte, schossen feurige Wellen hinter seinen Augäpfeln entlang und durchbohrten die Pupillen, als werde er ein zweites Mal geblendet. Weißglühende Nadeln prickelten auf seiner Haut. Das Bohren und Reißen drohte seinen Kopf zu sprengen. Er wünschte, eine Ohnmacht würde ihn erlösen, aber dann dachte er, dass Koronas letzte Atemzüge schlimmer gewesen sein mussten, also nahm er die Schmerzen an. Es war eine neue Möglichkeit, Buße zu tun. Ich bitte um Vergebung, Korona ak Zanjinkaj!

3

Das Kitzeln der Sonnenstrahlen weckte Jarik. Myoto hatte nicht übertrieben: Die Schmerzen waren furchtbar. Ohne den Trank hätte er keinen Herzschlag lang geschlafen. Jarik richtete sich auf und hielt die Augen geschlossen. Er fürchtete sich davor, dass alles vergeblich gewesen war. Zögernd strich er über die vernarbte Haut seiner Augenlider. Sie fühlte sich weicher an als gestern. Er wollte die Fühler seiner Gabe aussenden, aber das Feuer in seinem Kopf verhinderte jegliche Konzentration, und trotz mehrfacher Versuche gelang es ihm nicht, das Energiefeld in seinem Herzen aufzubauen.

Unbeholfen kam er auf die Füße. Es war warm, beinahe frühlingshaft, obwohl der Frühling noch zwei Monate auf sich warten lassen würde. Eine leichte Brise spielte mit seinem Haar.

Langsam öffnete Jarik die Augen. Eine Flut von Licht ergoss sich auf seine Netzhaut und verstärkte die Kopfschmerzen. Gleißendes Weiß wurde zu Gelb und löste sich in Silhouetten auf, die sich nach und nach in körperliche Formen verwandelten. Zu seinen Füßen lag seine Schaffelldecke. Sie war blau mit hellen Stellen vom Abrieb durch den Untergrund. Er hatte immer angenommen, sie sei weiß. Auf einem Felsen hockte sein gefiederter Freund und blickte neugierig zu ihm herüber. Am Horizont erhob sich eine Bergkette, die Grenze zu Urth, dem Land aus Feuer und Eis. Aus abergläubischer Furcht hielt Jarik die Augen offen, bis sie tränten, weil er fürchtete, der Anblick werde verschwinden, sobald er zwinkerte.

Eine warme Flüssigkeit lief seine Wangen hinab. Er konnte wieder sehen! Ein unverständlicher Laut entrang sich seiner Kehle, schluchzend sank er auf die Knie. Das stumme Dankgebet, das er zum Himmel sandte, bestand nur aus unzusammenhängenden Gedankenfetzen.

Eine Pfütze zeigte ihm ein unbekanntes Gesicht. Die kindlichen Züge, an die er sich erinnerte, waren verschwunden und hatten einer Härte Platz gemacht, die ihn im ersten Augenblick erschreckte. Der Pferdeschwanz, zu dem er seine langen Haare band, die kantigen Knochen, die Brandnarben, alles war ihm fremd. Nur die deformierte Nase schien vage vertraut. Und seine Augen waren immer noch olivgrün und dunkelbraun, vielleicht eine Nuance blasser als früher. Aber sie besaßen noch den Blick, den sein Stiefvater so hasste. Vielleicht konnte er sich an dieses Gesicht gewöhnen. Vielleicht konnte er Frieden schließen mit diesem Unbekannten.

Jarik kam auf die Beine und atmete tief ein und aus. Die Schönheit des Berglandes von Faluut war überwältigend. Er berührte einen Felsen, dessen Oberfläche im Licht der Sonne farbig schimmerte. Er ließ Erde durch seine Finger rinnen und betrachtete die Linien und Furchen in seiner Hand, als sähe er sie zum ersten Mal. Wie gern hätte er Myoto für dieses Geschenk gedankt, aber der Ledersack des Heilers war verschwunden. Der Menehuacaner war ohne Abschied gegangen. Jarik glaubte zu wissen, warum. In einem Augenblick wie diesem wollte ein Mensch keine Zuschauer, und Myoto war einfühlsam genug, dies zu respektieren.

Als Jarik am Nachmittag ein frugales Mahl zu sich nahm, dachte er darüber nach, was er mit seinem neuen Leben anfangen sollte. Alles war jetzt anders. Alle Möglichkeiten standen ihm offen. Wenn er wollte, konnte er weiter als Eremit leben. Er konnte aber auch irgendwohin ziehen, wo ihn niemand kannte, und wieder ein Schafhirte werden, ein Söldner, ein Kaufmann, ein Fischer. Er konnte die Sieben Königreiche durchwandern, eine Seelenreise machen und sich von Gelegenheitsarbeiten ernähren. Ich kann alles aus meinem Leben machen, was ich will! Die Sterne schenkten ihm zum zweiten Mal die Welt!

Er würde fortgehen. Nicht heute, aber bald. Die vergangenen drei Jahre hatten ihm gezeigt, wie begrenzt sein Blickwinkel als Nomade in Alganda gewesen war. Er wollte sehen, was es noch alles gab, wovon er keine Ahnung hatte. Und Bücher! Er wollte wieder Bücher lesen. Er wollte lernen, was man nur lernen konnte auf dieser Welt.

Der Wind trug fernen Singsang an seine Ohren. Jarik war schon im Begriff, einen erneuten fruchtlosen Versuch zu unternehmen, seine Gabe herbeizurufen, als ihm einfiel, dass er wieder sehen konnte. Das anstrengende Anzapfen des Zweiten Gesichts war gar nicht nötig. Er brauchte einfach nur an den Rand des Bergmassivs zu treten und über das Land zu blicken. Die schiere Möglichkeit einer so schlichten Handlung machte ihn fassungslos. Behutsam, als traute er seinen Augen dergleichen noch nicht zu, begab er sich zu dem Felsen, der ihm die Sicht versperrte, und streckte seinen Kopf um die Ecke.

Unter ihm, noch in weiter Ferne, marschierte eine Gruppe Männer und Frauen in weißen Kutten, deren Kapuzen bei jedem Schritt grotesk wippten. Sechzehn Mystiker, aufgereiht wie Perlen an einer Kette, schritten durch die Schluchten und verkürzten sich den Weg mit monotonem Gesang. Als sie näherkamen, konnte Jarik erkennen, dass sie einen Gefangenen mit sich führten, einen großen Mann mit langem Haar, das er wie Jarik zu einem Pferdeschwanz gebunden trug. Er mochte etwa vierzig oder fünfzig Jahre alt sein, das ließ sich auf die Entfernung schwer schätzen. Sein Körper zeigte Spuren von Misshandlungen, trotzdem erweckte er nicht den Eindruck eines gebrochenen Menschen. Im Gegenteil, er gab sich alle Mühe, Gesang und Marschtritt durch arhythmische Einwürfe und Bewegungen durcheinanderzubringen, was ihm jedes Mal, wenn es ihm gelang, Prügel eintrug.

Der Mut des Mannes gefiel Jarik. In sicherem Abstand folgte er der Prozession, um zu sehen, wohin sie den Gefangenen brachten und was sie mit ihm vorhatten. Immer wieder war er gezwungen, hinter Felsen und in Erdspalten Deckung zu suchen oder einen Umweg zu machen, um offenes Gelände zu vermeiden. Mehrere Stunden lang ging das so, bis sie endlich das Ziel der Reise erreichten. Am Ende einer Schlucht hielten die Mystiker an. Zwei Männer räumten Felsen und Gestrüpp beiseite und legten den getarnten Eingang einer Höhle frei. Vom Gipfel eines Höhenzuges aus beobachtete Jarik, wie die Menschen in der Felsspalte verschwanden.

Sobald niemand mehr zu sehen war, kletterte er in die Schlucht hinab, schlich an den Höhleneingang heran und spähte um die Ecke. Sie hatten keinen Wachtposten aufgestellt, vermutlich fühlten sie sich sicher. Jarik betrat das mannsgroße Loch. Der natürliche Felsspalt war künstlich vergrößert worden und führte nach nur wenigen Schritten zu einem kreisrunden Raum von vierzig oder fünfzig Fuß Durchmesser. Die Felsdecke wies zahlreiche Löcher auf, durch die Tageslicht hereinfiel. In der Mitte war ein Altar errichtet worden, indem man einen Steinblock von entsprechender Größe zurechtgehauen hatte. Die Vertiefung in der Mitte mit der seitlich gelegenen Abflussrinne diente sicher keinem guten Zweck.

Der Fremde wurde auf dem Altar festgebunden. In den Fels gehauene Kettenringe bewiesen, dass dies kein einmaliger Vorgang war. Trotz seiner Lage hörte der Mann nicht auf, sich über seine Peiniger lustig zu machen, der Galgenhumor eines Menschen, der weiß, dass er nichts zu verlieren hat. Auf ein Zeichen des Anführers, von dessen Gesicht nur die Augen durch Löcher in der Kapuze zu sehen waren, begannen die Mystiker wieder ihren monotonen Gesang, um die Stimme des Spotts zu übertönen. Der Oberpriester stellte sich hinter den Altar und zog ein reich verziertes Buch aus seiner Kutte. War das der Großmeister, mit dem Cyriac heimlich verhandelt hatte? Jarik wusste es nicht. Selbst wenn er in der Lage gewesen wäre, seine Gabe zu Hilfe zu rufen, hätte er es nicht gewusst. Er hatte nie Gelegenheit gehabt, dem Mann gegenüberzustehen und seine Aura zu ertasten.

Endlich verstummte der Gesang. »Brüder und Schwestern«, begann der Priester in akzentfreiem Aurakisch, »die Welt steht am Abgrund. Vor uns liegen schwere Zeiten, wie sie in den Prophezeiungen des Heiligen Buches beschrieben sind.« Er schlug eine Seite auf, während sich gespannte Erwartung der Menge bemächtigte. »Es wird kommen die Zeit, da jene, die dem Götzen des Verstandes huldigen, die Macht erlangen, und es wird ein Heulen und Zähneklappern in der Welt sein, und die Herzen der Menschen werden zu Eis werden, denn der Gott des Verstandes ist ein kalter Gott. So heißt es in der Verkündung. Wer Augen hat zu sehen, der kann die Zeichen erkennen. Naturkatastrophen. Hungersnöte. Missgeburten. Epidemien.«

»Pickel. Darmverschluss. Furunkel am Arsch«, rief der Gefangene und imitierte dabei den verzückten Tonfall.

Drei Mystiker stürzten nach vorn und brachten ihn mit Faustschlägen zum Schweigen.

Der Großmeister sprach weiter, als habe es keine Unterbrechung gegeben. »Die Gelehrten sind die Geißel der Menschheit. Sie öffnen Leichname, die Tempel der Seelen, um Knochen zu zählen und Organe zu wiegen. Sie entwerfen abartige Maschinen, welche die Bewegungen der Sterne imitieren. Sie erschaffen Tiere mit artfremden Gliedmaßen. Verblendung! Ein Hohn auf die Götter!«

Zorniges Raunen.

»Bücher sind der Kern allen Übels. Bücher verbreiten die widernatürlichen Gedanken der Gelehrten wie eine Krankheit und verderben den Geist der Jugend. Es gibt nur ein Buch, das zur Erlösung führt, das Heilige Buch.« Er schlug eine andere Seite auf. »Die Zeit größten Leides wird zugleich die Zeit der Hoffnung sein, denn siehe, es werden sich versammeln Menschen, die der Weisheit natürlichen Empfindens vertrauen und die Kräfte der Magie befreien, und sie werden Mystiker geheißen werden. In der Tat, Brüder und Schwestern, ein Gutes hat der Schrecken: Die Spreu trennt sich vom Weizen. Die Ungläubigen, die Stubengelehrsamkeit über Seelentiefe stellen und sich der Wahrheit verschließen, werden in Feuer und Blut untergehen. Diejenigen jedoch, die bereit sind, den Versuchungen des Verstandes abzuschwören, werden das Himmelsreich gewinnen. Der Heilige Krieg steht bevor. Uns haben die Götter bestimmt, die Welt zu erretten.« Er hob die Arme in die Höhe. »Denn wir sind die Erwählten. Die Gotteskrieger.«

»Wir sind die Erwählten. Die Gotteskrieger«, murmelten die Mystiker.

»Braucht es eines deutlicheren Beweises für die Gunst der Götter als die Tatsache, dass uns einer unserer ärgsten Feinde in die Hände gefallen ist?«

Während die Männer und Frauen in ekstatische Begeisterungsrufe ausbrachen, zückte der Oberste Priester einen gebogenen Dolch und hielt die Klinge in einen durch die Decke fallenden Lichtstrahl. Jarik hatte genug gesehen. Schon immer hatte er die Mystiker mit Misstrauen betrachtet, trotz Hamatas Versuche, ihn für die Sekte zu begeistern. Was er hier sah und hörte, bestätigte sein Unbehagen.

Er griff in seine Gürteltasche, in der er all die nützlichen Utensilien mit sich herumtrug, die Teil seiner Ausbildung zum Qa-Krieger gewesen waren. Unter anderem befand sich eine schwarze Substanz darin, die, in Wasser aufgelöst, schwarzen Rauch entwickelte. Cyriac nannte es Wolkenpulver. Die Hälfte der feinkörnigen Masse schüttete Jarik auf den Boden und übergoss sie mit einigen Tropfen aus seinem Wasserschlauch. Ablenkung ist das A und O, hatte Calyx, der Herr der Diebe, ihm beigebracht. Wie es aussah, konnte er von jedem seiner Lehrer das eine oder andere gebrauchen.

Zischend schäumte das Pulver auf und verwandelte sich im Nu in dichten Qualm, der Richtung Altar zog. Die Mystiker vermuteten den Ausbruch eines Feuers und rannten durcheinander. Jarik schloss die Augen und verließ sich auf jene Sinne, die er die letzten beiden Jahre über trainiert hatte. Mit raschen Sprüngen war er beim Großmeister, entriss ihm den Dolch, schnitt die Fesseln des Gefangenen durch und drückte diesem die Waffe in die Hand.

»Haltet sie!«, schrie der Priester.

Jarik machte rücksichtslos von seinen Erfahrungen als Qa-Krieger Gebrauch, und auch der Fremde schlug sich tapfer. Zu zweit kämpften sie sich zum Ausgang der Höhle vor. Sobald sie wieder sehen konnten, packte Jarik den Befreiten am Arm und zog ihn einen Hang hinauf. Hustende Mystiker taumelten aus den schwarzen Wolken und drehten sich orientierungslos im Kreis. Sie entdeckten die Flüchtenden und kletterten ihnen nach. Jarik dämpfte ihren Eifer, indem er eine Steinlawine auslöste, die zwei von ihnen mitriss und die anderen veranlasste, vorsichtiger zu sein.

Oben wandte sich Jarik einer schluchtartigen Einkerbung im Felsmassiv zu, die sie vor ihren Verfolgern verbarg, und rannte zwischen den Gebirgswänden hindurch. Das Keuchen des Fremden erinnerte ihn daran, dass der Mann misshandelt worden war und keine Gewaltmärsche verkraften würde. Sobald sie sich weit genug von der Höhle entfernt hatten, hielt Jarik daher an und gab ihm Gelegenheit zu verschnaufen, während er auf etwaige Geräusche ihrer Verfolger lauschte. Es war nichts zu hören. Vermutlich hatten die Mystiker genug mit sich selbst und ihren Verwundeten zu tun.

»Khalid«, schnaufte der Fremde mit dem letzten Rest seines Atems, und erst, als er ihm die Hand hinstreckte, begriff Jarik, dass der Mann seinen Namen genannt haben musste.

»Jarik.«

»Habt Dank für die Rettung! Ihr kämpft wie ein Qa-Krieger.«

»Warum sind die Mystiker hinter Euch her?«

»Einige meiner Geschichten haben sie wohl verärgert.«

»Geschichten?«

»Ihr findet sie in einem Buch mit dem Titel Unter der weißen Kutte.«

Jarik kannte das Buch. »Der Khalid seid Ihr? Khalid, der Geschichtenerzähler?« Er starrte den Mann an wie eine Fata Morgana. »Einst werden wir uns wieder treffen, an jenem verwunschenen Ort, der Liebe heißt.«

»Sehr schmeichelhaft. Eigentlich verdankt Ihr diese Verse einem Mönch, dessen Gastfreundschaft ich einst mit jenen Geschichten vergalt. Er muss sie aufgeschrieben haben. Ich war ziemlich erstaunt, als ich das erste Mal eine Abschrift davon sah, auf dem Basar von Aranzerbad. Wie ich hörte, sind mittlerweile viele Kopien im Umlauf.«

Khalid hatte sich erholt, deshalb drängte Jarik zum Aufbruch. Solange sie sich in der Nähe der Fanatiker befanden, waren sie nicht sicher. Auf Umwegen führte er den Geschichtenerzähler zu seiner Höhle und achtete darauf, ihre Spuren zu verwischen. Dann schlich er zurück und überzeugte sich davon, dass die Mystiker ihre Fährte verloren hatten, während Khalid seine Wunden auswusch. Anschließend holte Jarik zwei Schaffelle aus der Höhle, auf denen sie sich niederließen. Ein Feuer anzuzünden kam nicht infrage, der Schein wäre weithin zu sehen gewesen. Deshalb teilte Jarik getrocknete Früchte mit seinem Gast.

Satt und zufrieden, lehnte sich Khalid schließlich zurück. »Ihr habt mir das Leben gerettet und Eure Gastfreundschaft geschenkt. Ich möchte mich dafür mit ein oder zwei Geschichten bedanken.«

»Aber es müssen wahre Geschichten sein!«

»Wahre Geschichten? Wie amüsant! Es gibt nichts Langweiligeres als wahre Geschichten.«

»An Lügen bin ich nicht interessiert.« Jarik dachte an Yábe, das offizielle Gedächtnis der Panja Rajaz, und seine Verdrehung der Wirklichkeit. Eine Verdrehung, die sich im Bewusstsein der anderen festsetzte und in ihren Köpfen einen Jarik erschuf, der den wirklichen Jarik nach und nach verdrängte.

»Meine Geschichten sind weder wahr noch gelogen.«

»Sondern?«

»Wahrhaftig. Sinnbilder, die in engerem Sinne unwahr sein mögen, dafür aber die Seele der Dinge enthüllen. Wie die Geschichte vom Großen Kamel, das die Wüste und seine Bewohner schuf und alles Überflüssige entfernte. Eine Fabel. Und doch enthält sie mehr Wahrhaftigkeit als jeder Versuch, die Entstehung der Wüste mit Verwitterung und Erosion zu erklären.«

Darauf wusste Jarik nichts zu erwidern, und so erzählte Khalid. Er erweckte alte Legenden zum Leben, wie die vom Prinzen, der dem Roten Drachen das Leben rettete und zum Dank dafür von diesem das Fliegen beigebracht bekam.

Jarik saß da und lauschte, während die hereinbrechende Nacht die Welt um sie herum verhüllte und an ihrer Stelle die Konturen der Menschen und Tiere aus den Erzählungen aufleuchten ließ. Die Augen fielen ihm zu, aber er wollte nicht, dass Khalid zu reden aufhörte. Er wollte nicht, dass die Geschichten jemals endeten. Der Schmerz hinter seinen Augen war schon vor einer Weile zu einem dumpfen Brummen herabgesunken, ohne dass es ihm aufgefallen wäre. Er merkte nicht, wie er einschlief, denn die Gestalten aus Khalids Geschichten begleiteten ihn hinüber ins Land der Träume.

4

Jarik konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so gut geschlafen hatte. Er hatte vom Roten Drachen und dem Flug des Prinzen über die Meere geträumt. Koronas Tod hatte seine Träume nur ein- oder zweimal heimgesucht, dafür war er mehr als dankbar. Khalid war schon auf und saß vor dem Höhleneingang, um den neuen Tag zu begrüßen. Er erinnerte Jarik an Myoto. Beide wirkten zufrieden. Als hätten sie ihren Platz im Leben gefunden.

»An die Geschichte mit dem Prinzen erinnere ich mich«, sagte Jarik anstelle einer Begrüßung. »Meine Mutter hat sie mir oft erzählt. Ich war noch klein, als sie starb, doch diese Geschichte habe ich nicht vergessen. Vielleicht hört Ihr es nicht gern, aber Euren Worten wohnt Magie inne.«

»Es ist nicht die Magie, die ich verabscheue, sondern der Fanatismus der Mystiker.«

Gemeinsam gingen sie zum Bach, um sich zu erfrischen. Jarik sprang schon ins Wasser, während Khalid noch damit beschäftigt war, seinen Hemdrock auszuziehen. Die Wunden erschwerten ihm jede Bewegung. Testweise öffnete Jarik die verborgene Kammer in seinem Herzen und registrierte befriedigt das Kribbeln seiner Gabe. Sobald er sich mit ihrer Hilfe versichert hatte, dass ihnen keine Gefahr drohte, rief er seine Fühler zurück. Von nun an konnte er sich wieder wie ein normaler Mensch auf Augen und Ohren verlassen und musste nicht ständig das kräftezehrende Energiefeld aufrecht erhalten.

Er begab sich ans Ufer und stieg aus dem Wasser. Vielleicht konnten sie es heute wagen, ein Feuer zu entzünden. Jarik kletterte ein Stück den Berg hinab, um Holz zu suchen. Seine Haut trocknete dabei im Wind. Nachdem er einen Stoß Zweige zusammengetragen hatte, setzte er ihn in Brand. Das Feuer knisterte bereits, als Khalid sich dazugesellte.

Jarik stieß einen Schrei aus.

»Was ist?«

»Euer Rücken!«

Von den Schulterblättern bis zum Steißbein füllte eine Tätowierung die Haut des Geschichtenerzählers. Schlangen. Große grüne Schlangen, die umeinander wimmelten und sich gegenseitig in die Schwänze bissen. Dazwischen kleine rote, die sich einen Weg hindurch bahnten.

Khalid zuckte die Achseln, während er sich trocken rieb. »Ach, das! Es ist eine Kopie des Bildes, das mein Vater auf seinem Rücken trug, und vor ihm sein Vater und so weiter. Vermutlich hat die Zeichnung irgendwann einmal eine Bedeutung gehabt, aber im Laufe der Jahrhunderte ist sie verloren gegangen. Ich habe schon daran gedacht, eine Geschichte daraus zu machen. Aber bis jetzt ist mir kein rechter Schluss eingefallen.«

»Schlangenmann …« Jariks Stimme war nur mehr ein Flüstern.

»So nennen mich die Leute. Klingt irgendwie mehr nach einem Fakir, finde ich.«

»Vor vielen Jahren seid Ihr in Alganda bei den Panja Rajaz gewesen.«

Khalids Züge wurden verschlossen.

»Dort habt Ihr eine Frau kennengelernt, Jacintha …«

»Was wisst Ihr darüber?«

Jarik antwortete nicht. Wie sollte er das Ungeheuerliche in Worte fassen?

»Ich hörte, dass sie wenige Jahre später gestorben ist«, hakte Khalid nach.

»Ihr Mann hat ihr das Leben vergällt … wegen eines Kindes, das nicht von ihm war.«

»Rurik, ja. Ein harter, selbstgerechter Mann. Ich wünschte …« Er ließ den Satz in der Luft hängen. »Moment mal! Ein Kind? Sie hat ein Kind bekommen? Und nicht von ihm? Wollt Ihr damit sagen …«

»Einen Jungen.«

»Wie könnt Ihr sicher sein, dass Rurik nicht der Vater ist?«

»Glaubt Ihr, er hätte mich auch nur einen Tag lang vergessen lassen, dass ich ein Bastard bin?«

Khalids Augen weiteten sich. Sein Mund öffnete sich zu einer Erwiderung, aber außer Atemgeräuschen kam nichts heraus.

»Ich habe versucht zu verstehen, warum mein Stiefvater mich verabscheut, aber ich bin nie wirklich dahintergekommen. Warum hasst Rurik Euch so sehr? Weil er durch Euch sein Gesicht verloren hat? Oder steckt mehr dahinter? Erzählt mir eine Geschichte! Eine wahre Geschichte.«

Khalid schloss den Mund. Machte ihn wieder auf. »Ich … nehme an, Ihr … du hast ein Recht darauf.« Er blickte in die Flammen. Lange. Als er zu erzählen anfing, sprach er Algandisch. »Ich stamme aus einem Dorf in Berion, aber ich habe schon früh angefangen, als Geschichtenerzähler durch die Sieben Königreiche zu reisen. Mein Vater war Algander, und so wollte ich schließlich auch seine Heimat kennenlernen. Ich ging von Clan zu Clan und tauschte Geschichten gegen Gastfreundschaft. Dann begegnete ich den Panja Rajaz. Deine Mutter fiel mir sofort auf. Sie saugte jedes Wort von mir in sich hinein. Ich glaube, sie war unglücklich.«

Ja, dachte Jarik, das musste sie wohl gewesen sein, gefesselt an einen fantasielosen Mann wie Rurik. Khalids Geschichten hatten sicher einen unwiderstehlichen Zauber auf sie ausgeübt. Die Macht des Wortes konnte gewaltig sein. Vielleicht war das der Ursprung von Ruriks Hass. Weil Khalids Worte ihm einen Augenblick lang vor Augen geführt hatten, was er war.

»Sie nahm mein Herz gefangen, vom ersten Augenblick an. Ich erzählte von Liebe, von Leidenschaft. Für sie. Ich richtete meine Geschichten an das Dorf, gleichzeitig sagte ich zwischen den Worten Dinge, die nur für sie bestimmt waren. Und sie verstand. Es war ein Augenblick voller Magie.« Er nahm einen Stock und stocherte im Feuer herum. »Wir trafen uns heimlich. Einmal, zweimal, dreimal. Es war Wahnsinn. Ich bat sie, mit mir zu kommen. Sie wollte nicht. Ich gehöre hierher, sagte sie, dies ist mein Clan, dies ist mein Leben. Sie bat mich zu gehen.«

Khalid rieb sich die Schläfen, als wollte er einen Kopfschmerz vertreiben. »Ich respektierte ihren Wunsch. Oft dachte ich daran zurückzukehren. Ich war sicher, dass sie sich anders entscheiden würde, wenn ich sie noch einmal fragte. Ein Vogel, der die Freiheit gekostet hat, findet Gitterstäbe hinterher doppelt unerträglich. Frag mich nicht, warum ich es nicht tat. Stolz, nehme ich an. Sie hatte meine Liebe zurückgewiesen.«

Er seufzte. »Man trifft im Leben so viele Entscheidungen, die man hinterher bereut. Die Seelenknoten waren meine Botschaft an sie. Ich erzählte die Geschichten, wo immer ich hinkam, in der törichten Hoffnung, sie würde sie eines Tages hören und verstehen. Als ich von ihrem Tod erfuhr … Ich wünschte, ich wäre zurückgegangen. Auch auf die Gefahr hin, dass sie mich noch einmal zurückgewiesen hätte.«

Er blickte auf. »Ich habe nicht gewusst, dass sie schwanger war. Hätte ich nur eine Ahnung gehabt, wäre ich nicht fortgegangen. Sie hat behauptet, sie kann keine Kinder mehr bekommen.« Er beugte den Kopf. »Vergib mir«, sagte er. »Kannst du das?«

»Wie ist dein Sippenname?«

»Mein Vater hat mir keinen hinterlassen. Er war heimatlos wie ich.«

Jarik schloss die Augen. Er würde immer Nada bleiben.

»Was ist das für ein Schmerz, den du mit dir herumschleppst?«, fragte Khalid. »Willst du mir nicht deine Geschichte erzählen?«

Jarik schüttelte den Kopf.

»Die Geschichte deines Lebens zu erzählen, besitzt Heilkraft. Magie steckt darin. Im Erzählen kannst du deinem Leben einen neuen Sinn geben. Eine Perspektive. Du bist an nichts gebunden. Das Einzige, was dich einschränkt, sind die Grenzen deiner Fantasie und deines Mutes.«

Gegen seinen Willen fing Jarik an zu reden. Er erzählte von seinem Stiefvater und seinem Halbbruder. Von Yábes Lügen. Vom Fluch seiner Gabe. Von seiner ersten, unerwiderten Liebe zu Mehadjie, ihrem Tod und seiner Verbannung. Von seinem Leben als Dieb, das damit endete, dass er geblendet wurde, und davon, wie leicht er sich von Cyriac ak Beltar, der die Sieben Königreiche in seine Gewalt bringen wollte, auf die dunkle Seite ziehen ließ. Von Korona ak Zanjinkaj, die grausam getötet wurde, weil er zu feige gewesen war einzugreifen. Von Aliena ak Ellerin, die ihm die Schuld am Tod ihrer Eltern gab und Attentäter nach ihm ausschickte. Und die er immer noch liebte. Weil sie seine Seelengefährtin war, sie und keine andere. Und während er erzählte, spürte er, dass ihm leichter zumute wurde, als sei jedes Wort ein Gewicht, das von ihm abfiel.

»Es wäre einfach gewesen, den Umständen die Schuld zu geben oder denjenigen, die dich getäuscht haben«, sagte Khalid nach langem Schweigen. »Ich bin stolz auf dich.«

Jarik vergrub das Gesicht in seinen Armen und schluchzte.

»Weder deine Gabe noch deine Herkunft sind ein Makel. Es gibt keinen Grund zu hassen, was du bist.«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich bin!«, rief Jarik aus. »Ich weiß ja nicht einmal, wessen Sohn ich bin! Dessen, der mich gezeugt, oder dessen, der mich aufgezogen hat? Ich habe bloß einen halben Namen. Ich bin ein Nada.«

»Brauchst du einen Namen, um ein ganzer Mensch zu sein?«

»Es genügt nicht zu sagen: Ich bin Jarik. Solange ich diesen Namen nicht mit etwas füllen kann, ist er nur ein Wort. Und womit soll ich ihn füllen? Was macht mich aus? Die Weite der Wüste lebt in mir, aber das tut sie auch in Faysal. Er und ich, wir sind von derselben Mutter geboren und haben dasselbe Nomadenleben geführt. Was unterscheidet mich von meinem Halbbruder? Bin ich nicht wie er? Habe ich mich nicht wie er für den dunklen Weg entschieden?«

»Du stellst Fragen. Du hast gefehlt, aber du nimmst die Last der Verantwortung auf deine Schultern. Wir sind mehr als die Summe unserer Erfahrungen, Jarik. Wir sind, was wir daraus machen.«

»Ich weiß nicht, wo ich hingehöre. Faysal weiß es. Er hat ein Zuhause und ein Ziel, er ist Panja Rajaz und Feuerreiter. Mendur, der shejd der Fahiddin Fahd, weiß es. Er hat ein Zuhause, und seine Bestimmung ist es, seinen Clan wohlbehalten durch alle Fährnisse zu führen. Du weißt es. Deine Heimat ist die ganze Welt, und du findest den Sinn deines Lebens in den Geschichten, die du erzählst. Worin liegt der Sinn in meinem Leben? Wo liegen meine Wurzeln?«

»Finde es heraus. Es ist in Ordnung zu hadern. Nicht die Ungewissheit musst du fürchten, nur die Angst, die dich an der Suche hindert.«

Erschöpft ließ Jarik den Kopf in seine Hände sinken. »Woran kann man sich halten, wenn Zukunft und Vergangenheit gleichermaßen unklar sind? Manche Entscheidungen sind so schwer zu treffen …«

»Was für Entscheidungen?«

»Ich habe geholfen, die Waage des Schicksals zu Cyriacs Gunsten zu verschieben. An mir ist es, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Aber ich kenne meine Schwächen. Werde ich wieder versagen, wenn ich an einem Kreuzweg der Entscheidung stehe, wie ich schon so oft versagt habe? Werde ich wieder anderen Menschen Unglück bringen?«

»Das kannst du nur herausfinden, wenn du es versuchst.«

Jarik ergriff den Ast, den Khalid beiseite gelegt hatte, und stocherte nun seinerseits im Feuer. »Begleitest du mich?«, fragte er, ohne seinen Vater dabei anzusehen.

»Ich tauge nicht für den Kampf. Nicht für die Art jedenfalls. Meine Gabe ist das Erzählen von Geschichten. Meine Waffe ist das Wort. Aber ich könnte auf meine Weise dazu beitragen, dass das Gleichgewicht wiederhergestellt wird.«

»Wie?«

»Indem ich durch die Sieben Königreiche wandere und deine Geschichte erzähle. Deine wahrhaftige Geschichte. Wenn du es mir erlaubst.«

Jarik dachte an Yábe, der Lügen über ihn verbreitete. An Aliena, die ihn fälschlich für den Mörder ihrer Eltern hielt. Und an Korona, der er mehr als jedem anderen Menschen die Wahrheit schuldete. Und so nickte er.

Die Welt zerfällt in Scherben

1

Aliena ließ sich vom Rauschen der Weidenzweige einlullen, während sie ihr Kind stillte. Anderthalb Wochen war Cymbaline alt, ein kräftiges, gesundes Mädchen. Aliena strich ihr über den Kopf. Zwei schwarze Augen suchten ihren Blick. Cymbalines Mund war groß mit vollen Lippen. Jariks Mund.

Wieder rauschten die Zweige im Frühlingswind. Das Mädchen reagierte darauf und drehte den Kopf, um herauszufinden, woher die Geräusche kamen. Aliena hatte schon festgestellt, dass ihre Tochter ein feines Gehör besaß. »Das ist der Wind«, erklärte sie. Cymbaline lauschte der Stimme, als ob sie alles verstünde, und suchte wieder nach der Brustwarze. Gierig saugte sie, bis sie einen Schluckauf bekam. »Du willst auch immer alles und sofort, hm?« Ihre Tochter hickste ein paarmal, ließ sich jedoch nicht beim Trinken stören.

Endlich war sie satt und blinzelte schläfrig. Aliena schloss den Chiton über ihren Brüsten und legte Cymbaline an eine Schulter, damit sie aufstoßen konnte. In wiegenden Schritten ging sie im Burggarten auf und ab. Cymbaline nieste dreimal, sobald sie den Schatten der Weide verließen und die Sonne ihre Nase kitzelte. Aliena wanderte die Kräuterbeete entlang. Die Hecken und Büsche mussten dringend gestutzt werden. Und das Stück Land, das als Burgfriedhof diente –

Sie blieb stehen.

Rhaigh, der khanoum der Burg, kniete vor einem schlichten Holzpfahl, das Gesicht in den Händen vergraben. Auch ohne näherzugehen wusste Aliena, wessen Name in das Holz geritzt war. Fast neun Monate lagen die grauenvollen Ereignisse zurück, die ihrer aller Leben so unumkehrbar verändert hatten, und Rhaigh trauerte immer noch um Kerima.

Alienas Lippen zitterten unmerklich. Es lag in ihrer Hand, seiner Qual ein Ende zu bereiten. Sie brauchte nur zu ihm hinüberzugehen und ihm zu verraten, dass sie es war, die er geliebt hatte. Sie brauchte ihm nur von dem Wechselbalgzauber zu erzählen, den Lacrima über sie und ihre Dienerin gewoben hatte.

Alienas Züge verhärteten sich. Sentimentalitäten! Es war besser so, wie es war. Rhaigh hatte einen Ort, an dem er trauern konnte, und sie musste sich nicht mit einer belastenden Vergangenheit herumschlagen, die alles noch mehr komplizierte. Sie wandte sich ab und nahm einen anderen Weg, fort von den Gräbern.

Im Innenhof begegnete sie Rhaigh doch noch. Seine Augen waren gerötet. Aliena sah an ihm vorbei, nickte ihm lediglich mit verkniffenen Lippen zu.

Er hielt sie auf. »Eine weitere Karawane mit Lebensmitteln aus Faluut ist überfallen und ausgeraubt worden, Königin.«

»Cyriac?«

Er zuckte die Achseln.

»Was ist mit den Schiffen aus Menehuac?«

»Sind sicher eingetroffen, aber ihre Ladung ist ein Tropfen auf dem heißen Stein. Menehuac hat selbst nicht viel.«

»Ich weiß.« Sie musste unbedingt mit Quebe reden. Niemand wusste so viel über die Zustände in den Sieben Königreichen wie ihr Oberster Ratgeber.

»Ich habe Unterhändler mit der Bitte um Unterstützung ausgesandt, wie Ihr befohlen habt, aber ich fürchte, sie werden nicht viel Erfolg haben.«

Sie nahm seinen vertrauten Geruch wahr und rückte einen Schritt von ihm ab. »Wie ich höre, gebt Ihr den Männern private Aufträge mit. Die Boten sind nicht zu Eurem Vergnügen da, khanoum.«

Rhaighs Miene wurde verschlossen. »Die Ohren offenzuhalten und sich nach Durin ep Bláinn umzuhören, während sie in einem Gasthaus rasten, kostet sie keinen Lidschlag zusätzliche Zeit.«

»Es ist ein sinnloser Auftrag. Sie ist tot, findet Euch damit ab.« Sie sah, wieviel Kraft es Rhaigh kostete, Gleichmut zu bewahren. Für einen Augenblick dachte sie, er würde sie schlagen.

»Ein gegebenes Versprechen ist eine Verpflichtung, die mit dem Tod nicht endet. Ich gebe mein Wort nicht leichtfertig, und ich breche es auch nicht leichtfertig.«

War das eine Anspielung? Unmöglich. Er trauerte um Kerima, also konnte er nicht wissen, dass sie … »Ihr solltet lernen, ihren Tod zu akzeptieren.« Alienas Stimme klang, als würde sie jeden Augenblick brechen. Warum ließ sie sich von seinen Gefühlen beeinflussen? Wenn er so dumm war, an die Illusion der Liebe zu glauben, war das sein Problem.

»Ist das ein Befehl?«

Ein halbes Dutzend Antworten ging Aliena durch den Kopf, eine unsinniger als die andere. »Tut, was Ihr für richtig haltet«, sagte sie und ließ ihn stehen. Seine Dickköpfigkeit machte sie wütend. Er betrachtete Kerimas Hilferuf – ihren Hilferuf, denn damals war sie Kerima gewesen – als Vermächtnis. Aber es war alles so entsetzlich falsch! In jenen Tagen hätte sie Durins Hilfe gebraucht, um den Wechselbalgzauber zu zerstören. Inzwischen hatte sich das Problem erledigt, sie war wieder sie selbst. Wie konnte sie ihm das nur begreiflich machen, ohne ihr Geheimnis preiszugeben?

Cymbaline war dabei einzuschlummern. Aliena brachte sie zu Bett, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und ging dann zum Audienzsaal. Am liebsten hätte sie die Besprechung mit Quebe abgesagt. Sie fühlte sich matt und verspürte nicht die geringste Lust zu weiteren Auseinandersetzungen. Aber natürlich tat sie, was getan werden musste.

»Ihr kommt spät.«

Quebe war der Einzige, der mit ihr sprach, als sei sie immer noch eine ungezogene Göre, was ihr irgendwie imponierte. Trotzdem ließ sie seinen Tonfall nicht durchgehen. »Ich habe ein Kind, falls Euch das entgangen ist.«

»Ihr habt Zehntausende von Kindern, die Eurer Fürsorge bedürfen.«

»Lassen wir das. Was steht heute an?«

»Dasselbe wie gestern. Allein könnt Ihr das Königreich nicht halten. Nur die Allianz mit einem mächtigen Verbündeten kann uns vor Cyriac schützen.«

Ob Quebe ahnte, dass sie eine Zeitlang Kerima gewesen war? Nach den dramatischen Geschehnissen vor einem dreiviertel Jahr hatte Aliena den Berater aus dem Kerker geholt, in seiner alten Funktion wieder eingesetzt und alles getan, um ihn für die Gefangenschaft zu entschädigen. Ool, der Schreiber, dessen Manipulationen ihn ins Verlies gebracht hatten, sei entlarvt worden, hatte sie behauptet, und Quebe schien es zu genügen. Er fragte nie nach Details, dazu war er viel zu wohlerzogen. Soweit es ihn betraf, saß nun der richtige Schurke hinter Schloss und Riegel, damit war die Sache erledigt.

»Also schön, ich sehe Eure Argumente ein. Was für Optionen habe ich?« Nicht, dass sie das nicht selbst wüsste. Aber es half, einen klaren Überblick zu gewinnen, wenn jemand anderes die Lage mit seinen Worten darstellte. Und Quebe war dafür prädestiniert, weil er ohne diplomatische Verrenkungen sprach, wenn es darauf ankam.

»Berion zürnt uns immer noch wegen der Schließung der Grenzen vor drei Jahren. Menehuac ist ein armes Land. Im Übrigen soll sein künftiger Regent noch ein Kind sein.«

»Leicht zu lenken«, warf Aliena ein, mehr, um Quebe zu ärgern, als aus echtem Interesse.

»Das Land ist strategisch bedeutungslos. Weiter: Die Nomaden von Alganda sind zwar hervorragende Kämpfer und wären, so gesehen, wirksame Verbündete, aber sie sind untereinander zerstritten und haben nur lokale Stammesfürsten.«

Und sie wollte verdammt sein, wenn sie je einen Mann aus Jariks Volk ehelichte.

»Zanjinkaj kann uns nichts nützen. Ein Stadtstaat in Cyriacs Machtbereich, der jederzeit von ihm zerquetscht werden kann, wenn es ihm gefällt.«

»Mit anderen Worten, Ihr plädiert für Faluut.«

»König Brodwin ist vielleicht ein bisschen ungeschliffen, aber bei Weitem der beste Kandidat. Ein Zusammenschluss von Faluut und Ellerin würde ein festes Bollwerk im Norden bilden.«

»Ich bin Liguri ak Zanjinkaj versprochen, habt Ihr das vergessen?«

»Es war von Anfang an ein dummes Versprechen, wie ich schon Eurem Vater zu erklären versuchte. Im Übrigen haben sich die Zeiten geändert. Eure Eltern sind tot. König Liguri ist ein verständiger Mann, er wird Eure Entscheidung verstehen.«

»Ein gegebenes Versprechen ist eine Verpflichtung, die mit dem Tod nicht endet.« Sie sagte es einfach so dahin, weil sie Quebe aus Prinzip widersprach. Erst anschließend kam ihr zu Bewusstsein, dass sie Rhaighs Worte wiederholte.

Quebe schnaubte, ohne etwas zu erwidern. Wahrscheinlich erinnerte er sich noch zu gut daran, was für ein Trotzkopf sie damals gewesen war und dass kein Heiratsversprechen der Welt sie daran gehindert hätte zu tun, was sie für richtig hielt.

Aliena erhob sich und wanderte auf und ab. »Also gut«, sagte sie. »Ich verstehe Eure Einwände, aber Interessen und Machtverhältnisse können sich ändern. Ich gründe mein Schicksal und das von Ellerin nicht auf kurzsichtige Vorteile. Brodwin ist ein alter Soldat, der in strategischen Mustern denkt. Wenn es ihm opportun erscheint, wird er mir die Gurgel durchschneiden und mit Cyriac gemeinsame Sache machen. Da ist mir ein Mann mit Prinzipien lieber. Liguri ak Zanjinkaj lässt sich nicht den Mund verbieten. Obwohl er von Beltar abhängig ist, obwohl sein kleines Reich jeden Tag Gefahr läuft, von Cyriac geschluckt zu werden, kritisiert er ihn öffentlich. Das imponiert mir.«

Quebe schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Dies ist kein Wettkampf um Edelmut, Königin! Es geht ums Überleben.«

»Richtig. Deshalb möchte ich einen verlässlichen Partner, keinen, der alle zwei Tage die Meinung wechselt wie sein Hemd. Mein Entschluss steht fest: Ich werde das Heiratsversprechen nicht lösen, sondern König Liguri ehelichen.« Manchmal muss man etwas tun, auch wenn es falsch ist, einfach weil es auf eine andere Weise richtig ist.

»Wozu braucht Ihr mich überhaupt, wenn Ihr meinen Rat in den Wind schlagt?«

»Aus genau dem gleichen Grund. Weil Ihr ein Mann von Prinzipien seid. Weil Ihr mir widersprecht. Nichts wäre fataler, als sich mit Jasagern und Speichelleckern zu umgeben. Ich kann mich darauf verlassen, dass Ihr es mir wieder und wieder unter die Nase reiben werdet, sollte sich meine Entscheidung als falsch herausstellen. Sendet einen Unterhändler zu König Liguri! Schreibt ihm, dass ich die Vermählung so schnell wie möglich hinter mich bringen will. Und trefft die notwendigen Vorbereitungen.« Alienas Finger trommelten auf der Tischplatte. »Noch etwas: Wisst Ihr, wo ich einen Kopfgeldjäger auftreiben kann?«

»Einen …?« Quebe bekam den Mund nicht wieder zu. »Im Hafenviertel trifft man Gesindel dieser Art.«

»Besorgt mir einen. Den besten.«

Grußlos verließ sie den Raum.

2

Das Wissen um ihre eigene Nervosität machte Aliena reizbar. Was brauchten die Zanjinkajer so lange? Eine halbe Ewigkeit wartete sie nun schon darauf, dass die Hochzeitsdelegation das Schiff verließ. Vielleicht war ihre Entscheidung überhaupt falsch gewesen, aber jetzt war es zu spät, etwas daran ändern zu wollen.

Besorgt blickte Rhaigh auf die Menge der Schaulustigen, die sich am Hafen eingefunden hatte. »Ihr solltet Euch im Hintergrund halten, Königin.«

»Ich bleibe, wo ich bin!«, fuhr sie ihn an, obwohl sie wusste, dass seine Sorge nicht unbegründet war. Vor ein paar Wochen waren Anhänger der Mystiker in Aird und Elleria über Gelehrte hergefallen und hätten sie beinahe massakriert. Daraufhin hatte Aliena die Sekte verboten. Die Folge war so etwas wie eine Kriegserklärung. Die Mystiker riefen dazu auf, das »Reich des Bösen« mit allen Mitteln zu bekämpfen. Aliena hielt die Drohungen für bedeutungslos. Die eigentliche Gefahr lag woanders. »Sind uns Cyriacs Spione endlich einmal auf den Leim gegangen?«

Rhaigh wusste, was sie meinte. »Der König von Beltar hat dank Eurer falschen Gerüchte angenommen, dass Ihr Euch mit Brodwin ak Faluut vermählt, und die Wege dorthin im Auge gehabt. Er wird enttäuscht sein.«

»Wütend ist der treffendere Ausdruck.« Der Gedanke wärmte ihr Herz. Sie beschloss, sich über die Ankunft von Liguri zu freuen.

»Vorsicht!« Rhaigh stellte sich schützend vor sie, als die Menge durch den Druck von hinten einen Schritt auf sie zu machte.

»Ihr seid verkrampft, khanoum.« Unwillig schob Aliena ihn beiseite. Ihr Griff konnte noch immer kräftig sein. Zwei Jahre Arbeit als Wäscherin waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen.

Er warf ihr einen überraschten Blick zu, als er den Weg freigab.

Eine Planke wurde vom Schiff auf den Kai geschoben und mit Seilen gesichert. Die ersten Krieger aus Zanjinkaj gingen von Bord. Endlich tauchte auch König Liguri auf. Eine Handvoll Ellerianer applaudierte, doch die meisten glotzten nur. Das Ganze war eine eher peinliche Vorstellung.