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Lore Darland und Hilde Hartung sind Stiefschwestern, die außer ihrem Alter nicht viel gemeinsam zu haben scheinen. Hilde ist schön, selbstbewusst und möchte einen wohlhabenden Mann heiraten. Sie hat auch gleich zwei Verehrer, den reichen Unternehmer Ernst Frankenberg und Richard Sundheim, einen potenziellen Erben. Lore hingegen ist eher unscheinbar, glaubt an die große Liebe und schwärmt heimlich für Richard...-
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Seitenzahl: 323
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Hedwig Courths-Mahler
Saga
Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1929, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726950410
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Lore Darland steckte ihrer schönen Stiefschwester Hilde Hartung noch eine Blume aus Silberbrokat an der Schulter fest.
,,So, Hilde, nun bist du fertig. Gefällt dir das Kleid, das ich dir gearbeitet habe?“
Hilde drehte sich, wohlgefällig ihr eigenes Bild betrachtend, vor dem Spiegel herum. Ohne auf Lores Frage zu antworten, ohne ihr ein Wort des Dankes zu sagen für die viele Arbeit, die sich Lore wieder, wie so oft, mit ihr gemacht hatte, fragte sie schliesslich, der Schwester einen koketten Blick zuwerfend:
„Bin ich schön, Lore?“
Diese seufzte ein wenig, musste aber dann doch lachen.
„Du weisst ganz genau, dass du schön bist, aber du musst kokettieren, und wenn es mit deiner Schwester ist! Ich habe dich gefragt, ob dir das Kleid gefällt?“
„Ja doch, Lore, alles, was du arbeitest, gelingt dir, es sieht wieder aus wie aus einem ersten Modeatelier, sonst würde ich es doch nicht tragen. Aber nun sag’, bin ich schön?“
„Nun ja doch, Hilde, wunder- — wunderschön, wie immer,“ erwiderte Lore aufrichtig und neidlos.
Hilde zog Lore zu sich heran und stellte sich neben sie vor den Spiegel. Lore war gewiss auch ein erfreulicher Anblick in ihrem schlichten, aber sehr vornehm wirkenden weissen Kleide, das sie sich gleichfalls selber gearbeitet hatte, wovon aber kein Mensch etwas wissen durfte. Niemand durfte ahnen, dass die Tochter des Professors Darland für sich und die Stiefschwester wie auch für die Stiefmutter alle Kleider selber anfertigte.
Hilde behauptete, sich die Augen aus dem Kopfe schämen zu müssen, wenn die Leute wüssten, dass sie selbstgeschneiderte Kleider trug. Ja, Lore war auch eine sehr hübsche und sehr vornehme Erscheinung; das weisse Kleid fiel von dem lang herabreichenden Gürtel aus in weichen Falten an ihrer jugendschönen, schlanken Gestalt herab. Ihr Gesicht hatte feine, liebliche Züge, und das nussbraune Haar eine sehr aparte. Schattierung. Auch wunderschöne, braune Augen hatte sie. Aber das alles bemerkte niemand, wenn sie neben der faszinierenden Stiefschwester stand. Da verblassten alle ihre feinen, stillen Reize. Das wusste Hilde ganz genau, und es machte ihr immer Vergnügen, die Stiefschwester gewissermassen als Folie zu benutzen, sogar, wenn sie mit ihr allein war, denn Hilde war masslos eitel.
Lore kannte die Schwester ganz genau, wusste, dass diese sich jetzt, wie so oft, daran weidete, dass sie soviel glänzender und schöner war als sie. Es kränkte sie aber nicht. Ein leichtes, überlegenes Lächeln spielte um ihren Mund.
„Nun, Hilde, hast du wieder einmal festgestellt, dass ich dir das Wasser nicht reichen kann?“
Hilde lachte.
„Ach, weisst du, Lore, heute ist es mir ganz besonders wichtig, alle andern auszustechen!“
„Warum gerade heute?“ fragte Lore mit einer leisen Unruhe, die sie verbarg.
Hilde zupft an der Brokatblume.
„Heute muss es zur Entscheidung kommen, heute muss sich Richard Sundheim endlich erklären.“
Lore wandte ihr erblasstes Gesicht schnell ab.
„Liebst du ihn denn, Hilde?“ fragte sie heiser vor unterdrückter Erregung.
Hilde lachte, ein schrilles, kaltes Lachen.
„Unsinn, ich werde nicht sterben, wenn er nicht Ernst macht. Aber er ist eine sehr vornehme, interessante Erscheinung, und alle Frauen sehen nach ihm mit begehrlichen Augen. Das reizt mich natürlich, aber selbstverständlich nur, weil er der Erbe seines reichen Onkels ist. Das gibt den Ausschlag.“
„Oh, nur darum? Wirklich nur darum?“ fragte Lore, und es klang wie ein Seufzer.
„Ja, du kleines Schäfchen, ich will hier aus der Misere heraus, will eine glänzende Partie machen, um die mich alle beneiden. Das ist alles. Aber heute muss sich Sundheim entscheiden, länger kann ich den anderen nicht hinhalten.“
„Hilde!“
Es klang wie ein Aufschrei. Hilde wandte sich der erblassten Schwester zu und lachte hart auf.
„Oh, Lore, wie entsetzt du aussiehst! Du bist wirklich ein kleines Schaf und wirft nie lernen, mit dem Leben fertig zu werden. Warum denn dies. Entsetzen?“
Mit bebender Hand strich Lore sich das Haar aus der Stirn.
„Warum nimmst du dann nicht gleich den anderen? Das ist doch Frankenstein, nicht wahr? Der ist doch schon reich, braucht nicht erst zu erben, und macht keinen Hehl daraus, dass er dich liebt.“
Hilde drehte sich wieder selbstgefällig vor dem Spiegel.
„Ja, ja, Frankenstein habe ich sicher am Bändchen für den Fall, dass Sundheim nicht endlich Ernst macht. Ich brauche nur zu wollen, das weiss ich. Aber Frankenstein ist mir widerwärtig. Sundheim gefällt mir, und um ihn werden sie mich alle beneiden. Wähle ich Frankenstein, dann beneiden sie mich auch, aber nur um seinen Reichtum, nicht um seine Person. Deshalb ist mir Sundheim Lieber, wenn er auch erst seinen reichen Onkel beerben muss. Wir werden aber auch vorher in Gorin ein sehr glänzendes Leben führen, bis der Alte mal tot ist. Sundheim sieht fabelhaft aus und ist vornehm bis in die Fingerspitzen. Aber er zögert mir zu lange, wohl weil er sich nach seinem Onkel richten muss. Wenn der Alte doch tot wäre.“ Lore sah die Stiefschwester mit grossen, entsetzten Augen an.
„Wie kannst du so reden, Hilde, wie kannst du den Tod eines Menschen wünschen?“
Hart lachte Hilde auf.
„Davon stirbt er ja nicht! Der Alte ist doch ganz überflüssig. Heute wird er übrigens zum Eintrachtsball kommen. Richard Sundheim hat es mir gesagt, und ich glaube, es geschieht meinetwegen. Der Alte will mich wahrscheinlich kennenlernen. Soviel ich aus Richards Anspielungen entnehme, hat er seinem Onkel bereits gestanden, dass er mich liebt und mich heiraten will, und nun wird der Alte mich erst sehen wollen, ehe er seinen Segen gibt. Und siehst du, deshalb will ich heute besonders schön sein. Halt mir also den Daumen, Lore, heute wird es sich entscheiden, ob ich Frau Sundheim oder Frau Frankenstein werden soll. Man muss eben wenigstens zwei Eisen im Feuer haben, das musst du dir merken.“
Lore sanken die Arme schlaff herab, sie hätte bittere Tränen weinen mögen — um Richard Sundheim, der sicher unglücklich werden musste an Hildes Seite. Aber — er sah in Hilde das Glück seines Lebens, das wusste die arme Lore.
Jetzt trat, ehe Lore noch etwas erwidern konnte, Frau Professor Darland ein, Hildes Mutter und Lores Stiefmutter.
„Seid ihr fertig?“ fragte sie.
„Ja, Mama, Vater auch schon?“ fragte Lore.
„Ja, ja, er wartet schon, schnell, nehmt eure Mäntel um.“
„Sieh mich erst an, Mama, bin ich schön?“ fragte Hilde, sich vor der Mutter drehend.
Ein stolzer Blick aus den Augen ihrer Mutter flog über, sie hin. „Ja, Hilde. Das Kleid ist reizend, und dies lichte Blau hebt deine blonde Schönheit.“
Befriedigt nahm Hilde den blauen Samtmantel um, den ihr Lore ebenfalls gearbeitet hatte, er passte in der Farbe zum Kleide. Frau Professor Darland sah nun mit pflichtgemäss prüfendem Blich auch über Lore hin. „Mein Gott, Lore, willst du nicht wenigstens eine farbige Blume anstecken, du siehst so blass aus, und dies eintönige Weiss! Du wirkst gar so farblos, irgend etwas Buntes müsstest du zum Aufmuntern haben. Jetzt sind doch nur satte Farben modern.“
„Lass nur, Mama, auf mich achtet ja doch niemand.“
„Daran bist du aber selbst schuld, Lore. Du bist doch ein hübsches Mädchen, hast so etwas Apartes und Vornehmes. Wenn du auch neben Hilde nicht aufkommen kannst, so könntest du doch mehr Erfolg bei den Herren haben, wenn du nur ein wenig liebenswürdiger und entgegenkommender sein wolltest.“
Lores Mund zog sich herb zusammen.
„Nein, Mama, das Entgegenkommen liegt mir nicht,“ sagte sie ruhig.
„Mein Gott, das hat aber heutzutage jedes Mädchen nötig, wenn es nicht eine alte Jungfer werden will. Mit Hilde darfst du dich nun mal nicht vergleichen, die hat nun mal etwas so Faszinierendes, das die Männer anlockt, und braucht nichts dazu zu tun. Aber du musst schon etwas tun, wenn du einen Mann bekommen willst.“
Lores Gesicht bekam einen gequälten Zug. Solche Ermahnungen ihrer Stiefmutter hatten etwas unsagbar Peinliches für sie. „Es eilt mir nicht, Mama,“ sagte sie ein wenig schroff.
„Ich bitte dich, Lore, mit zweiundzwanzig Jahren hat man nicht mehr viel Zeit zu verlieren.“
Lore erwiderte nichts, und die Stiefmutter ging, gefolgt vor Hilde, aus dem Zimmer. Lore warf schnell ihren dunklen Mantel um und trat mit hinaus auf den schmalen Korridor. Da stand ihr Vater wartend. Er sah sehr müde und abgearbeitet aus, aber das merkte niemand als Lore.
„Seid ihr endlich fertig? Der Wagen wartet schon eine Ewigkeit. Das kostet unnötig viel Geld.“
„O weh, Papa hat wie gewöhnlich, wenn er mit uns ausgehen soll, schlechte Laune,“ spottete Hilde.
Lore legte aber ihre Hand auf des Vaters Arm.
„Verzeih, lieber Vater, dass wir dich warten liessen. Du siehst so müde aus und hast sicherlich bis zur letzten Minute gearbeitet.“
Professor Darland sah etwas beruhigt auf seine Tochter herab. Er hatte nach dem Tode von Lores Mutter ein zweites Mal geheiratet. Seine zweite Frau war Witwe gewesen und hatte ein kleines Töchterchen, aber sonst nichts mit in die Ehe gebracht. Hilde war im gleichen Alter mit seiner Tochter. Lore stellte sich von Anfang an gut mit Stiefmutter und Stiefschwester, sie war kaum zwölf Jahre damals. Um dem Vater den häuslichen Frieden zu erhalten, kam sie den beiden freundlich entgegen, aber niemand ahnte, wie das tief veranlagte, feinfühlige Geschöpf unter der kalten Oberflächlichkeit von Hilde und ihrer Mutter litt. Sie sprach nie darüber, am wenigsten mit dem Vater, den sie sehr liebhatte.
Wie so viele, hatte auch Professor Darland in der Inflation sein Vermögen verloren, das seine zweite Frau verlockt hatte, ihn zu heiraten, und seither galt er für Mutter und Tochter nicht eben viel, trotzdem er mit Anspannung seiner Kräfte für sie sorgte. Er war jetzt nur auf sein Gehalt als Gymnasialprofessor angewiesen, und da er schon achtundfünfzig Jahre zählte, stand ihm eine baldige Pensionierung mit vermindertem Einkommen bevor. Das machte ihm siele Sorgen, denn seine Frau und seine Stieftochter waren nicht gerade anspruchslos. Er suchte durch das Schreiben von wissenschaftlichen Artikeln, die er unter einem Pseudonym herausgab, sich ein Nebeneinkommen zu verschaffen, aber da er dabei keine seiner Pflichten vernachlässigen wollte, musste er sich über Gebühr anstrengen. Lore sorgte sich sehr um ihn und suchte ihm zu helfen, wo sie nur immer konnte.
Lore hatte vor zwei Jahren von einer Schwester ihrer Mutter, die sich nach Holland verheiratet hatte und keine Kinder hinterliess, eine kleine Erbschaft gemacht. Fünfundzwanzigtausend Gulden, also ungefähr vierzigtausend Mark, hatte sie geerbt. Wenn sie den Vater in Sorge wusste, bot sie ihm immer wieder von diesem Gelde an. Aber der Professor lehnte jedesmal entschieden ab.
„Das ist für dich, Lore, und ich bin so froh, dass du diesen Notgroschen hast. Vielleicht brauchst du das Geld einmal sehr nötig, denn heutzutage ist es für ein Mädchen schwer, einen Mann zu bekommen, der für sie sorgt. Ich würde es als eine Sünde ansehen, wenn ich von diesem Gelde auch nur einen Pfennig annehmen würde. Du hilfst mir ja schon dadurch, dass du die Zinsen dieses Geldes benutzest, um alle deine Bedürfnisse, deine Garderobe und dergleichen zu bestreiten. Ich bin somit der Sorge um dich enthoben und brauche nur noch für Mama und Hilde alles Nötige herbeizuschaffen — obwohl du ein grösseres Unrecht daran hättest als Hilde, die doch nur meine Stieftochter ist.“
So musste Lore darauf verzichten, dem Vater auf diese Weise zu helfen, und musste mit ansehen, wie er sich plagte, um Hildes und der Mutter Ansprüche zu befriedigen. Deshalb benutzte sie ihr grosses Talent, die reizendsten Kleider nach der neuesten Mode anzufertigen, um dem Vater eine Sorge abzunehmen. Sie arbeitete nicht nur alle Kleider für sich, sondern auch für Hilde und ihre Mutter, ohne freilich viel Dank dafür zu ernten. Ausserdem schrieb sie die Manuskripte ihres Vaters auf der Schreibmaschine ab und half ihm, wo sie nur immer konnte. Sie sorgte gemissenhaft dafür, dass er über der Arbeit Essen und Trinken nicht vergass. So waren ihre Tage reichlich mit Arbeiten aller Art ausgefüllt, zumal sie auch im Haushalt tüchtig mit zugriff, während ihre Stiefmutter und Hilde ziemlich träge waren und Lore immer noch mehr aufbürdeten, statt ihr etwas abzunehmen. Liebevoll führte sie nun den Vater nach dem unten harrenden Wagen, in dem Frau Professor Darland mit ihrer Tochter schon Platz genommen hatte.
Der Wagen hielt nach einiger Zeit vor dem Klubgebäude der „Eintracht“. Von dessen Portal aus war über den Fusssteig ein breites, rotes Velarium ausgespannt. Der „Eintracht“ gehörten alle guten Familien der Stadt an, und der grosse Ball, den die „Eintracht“ neben verschiedenen anderen Festlichkeiten jedes Jahr veranstaltete, war unbedingt das glänzendste gesellschaftliche Ereignis des Winters. Man musste einfach dabeigewesen sein, wenn man etwas auf sich hielt.
Die breite, nach den Garderoberäumen führende Marmortreppe war schon sehr belebt, und als Professor Darland mit seinen Damen abgelegt hatte und mit ihnen in die grosse Vorhalle trat, wurde Hilde gleich von einer Anzahl junger Herren mit Beschlag belegt. Unter diesen zeigte sich am interessiertesten ein grosser, starker Herr von etwa vierzig Jahren, mit einem roten, etwas gewöhnlichen Gesicht und einem etwas lärmend jovialen Wesen. Das war der reiche Fabrikant Ernst Frankenstein, der am Stadtpark die schöne Sandsteinvilla besass, nur im eigenen Auto fuhr und eine der begehrtesten Partien der Stadt war. Bisher war es noch keiner Dame gelungen, seine Freiheit ernstlich zu gefährden; das war Hilde Hartung vorbehalten gewesen.
Lore blieb in dem Trubel ziemlich unbeachtet. Sie blieb an der Seite ihres Vaters und sah ruhig zu, wie Hilde umworben wurde. Richard Sundheim war noch nicht unter den Verehrern Hildes zu sehen, Hilde wusste, dass er erst später, nach der grossen Tafel, die dem Ball vorangehen sollte, mit seinem Onkel eintreffen würde. Der alte Herr Sundheim, der reiche Grossgrundbesitzer, war ein wenig Sonderling, ging nie in grosse Gesellschaft und hatte sich auch bei seinem Neffen ausbedungen, dass er nur nach der Tafel kommen würde und dann nur oben auf dem Balkon sitzen wollte, wo sich wenig Menschen aufzuhalten pflegten. Er hatte nicht Luft, sich in dem Festtrubel zu langweilen.
Lore hätte es nur von einem weh getan, wenn sie gesehen hätte, dass er sich in Hildes Nähe drängte, und dieser eine war Richard Sundheim. Aber sie wusste, dass ihr das nicht erspart werden würde, wenn auch dieser junge Herr erst nach der Tafel eintraf.
Sie liebte Richard Sundheim, seit sie ihn zum erstenmal gesehen hatte, mit der ganzen starken Innerlichkeit ihres Wesens. Aber kein Mensch ahnte etwas von dieser Liebe, sie verschloss sie tief in ihrem Herzen. Am wenigsten hätte Richard Sundheim selbst etwas davon ahnen können, denn er beachtete Lore kaum neben ihrer schönen Schwester, für die ihn eine starke leidenschaftliche Liebe erfüllte.
Hildes Verehrer suchten von ihr die Erlaubnis zu erhalten, sie zu Tisch führen zu dürfen, aber Hilde warf Herrn Frankenstein einen koketten Blick zu.
„Soviel ich mich erinnere, meine Herren, habe ich das schon Herrn Frankenstein zugesagt,“ sagte sie.
Es war zwar nicht der Fall gewesen, aber Ernst Frankenstein war nicht der Mann, eine solche Chance ungenützt zu lassen. Stolz blickte er um sich, wie ein Sieger.
„Freilich, freilich — Fräulein Hartung hat mir diese Ehre bereits zugesagt,“ erklärte er eifrig.
Hilde gab sich den Anschein, als glaube sie wirklich, dies Versprechen gegeben zu haben; das verpflichtete noch zu nichts; aber sie konnte während der Tafel ihre Netze ungestört nach Ernst Frankenstein auswerfen, da Richard Sundheim erst nach der Tafel kam. Sie blieb ihrem Grundsatz, immer zwei Eisen im Feuer zu halten, damit treu. Nach der Tafel konnte sie sich um so ungestörter Richard Sundheim widmen, ohne dass sich Frankenstein über Vernachlässigung beklagen konnte. Einer von beiden musste heute zur Strecke gebracht werden. Ihre anderen Verehrer kamen nicht in Frage. Von ihnen war keiner reich genug, um ihr begehrenswert zu scheinen. Hilde benutzte sie nur als wirkungsvolle Staffage.
Während Hilde bei der Tafel Ernst Frankenstein durch ihre Koketterie halb um den Verstand brachte, ohne sich dabei nur im geringsten zu binden, fass Lore still und blass auf ihrem Platz, unterhielt sich freundlich, aber ziemlich geistesabwesend mit einem jungen Ingenieur, der sie zu Tisch geführt hatte, und sah abwechselnd unruhig nach Hilde und nach der Eingangstür zu dem Festsaal, durch die endlich, kurz vor Schluss der Tafel, Richard Sundheim mit seinem Onkel trat. Sie wurden nicht beachtet, nur Hilde und Lore sahen sie kommen und bemerkten, dass Richard Sundheim seinen Onkel sogleich nach der neben dem Eingang befindlichen, zu dem Balkon führenden Treppe geleitete. Der alte Herr stützte sich auf einen Stock, und sein Neffe war ihm behilflich.
Lore klopfte das Herz bis zum Halse hinauf, aber niemand merkte ihr die geringste Erregung an.
Während die Tafel aufgehoben und der Festsaal für den Ball von vielen flinken Dienerhänden gerichtet wurde, trat Richard Sundheim auf Hilde Hartung zu. Mit strahlenden Augen kam er ihr entgegen. Lore sah es, sah, dass Hilde ihn ebenso anstrahlte und dass sie dann seinen Arm nahm, um sich von ihm in einen der Nebenräume führen zu lassen. Unweit von Lore stand Ernst Frankenstein, der das auch gesehen hatte und der nun aus allen Himmeln gestürzt schien.
Lore musste, fühlte, dass Richard Sundheim jetzt das entscheidende Wort zu Hilde sprechen würde; ihr schwer und bang klopfendes Herz verriet es ihr. Sie brauchte alle Kraft, um ruhig zu scheinen, um mit einigen gleichgültigen Menschen sprechen zu können.
* * *
Durch den Festsaal glitten die Paare zu den Klängen der Musik im Tanz dahin. Rings um den Saal auf erhöhten Sitzen hatten die Mütter und einige Väter ihren Platz, um der Jugend beim Tanze zuzusehen. Auch die Nebenräume hatten sich gefüllt, nur oben auf dem Balkon blieb es leer, nur ab und zu kam einmal jemand herauf, um einen Blick in den Saal zu werfen.
Der alte Herr Sundheim wurde also wenig gestört. Er konnte mit Musse das Leben und Treiben unten im Saal beobachten. Aber seine Augen hefteten sich immer wieder auf ein sehr interessantes junges Paar, hauptsächlich auf die Tänzerin. Das war die schöne Hilde Hartung, und der interessant und vornehm wirkende Herr, der sie führte, war Richard Sundheim, sein Neffe, der ein so glückstrahlendes Gesicht zeigte, dass der alte Herr da oben ironisch auf ihn herabsah.
Er war längst über das Alter hinaus, wo einem Mann eine Frau noch gefährlich werden konnte. Sehr gefährlich waren ihm die Frauen niemals gewesen, vielleicht, weil er nie viel Glück bei ihnen gehabt hatte. Sein krankhaft gelbliches Gesicht zuckte zuweilen nervös, er stützte sich auch beim Sitzen auf seinen Stock und machte den Eindruck eines unfrohen, verknöcherten Menschen.
Er liess seinen Blick nicht von dem interessanten jungen Paar, das auch von vielen anderen Festteilnehmern beobachtet wurde. Dabei merkte er sehr wohl, dass Hilde Hartung auch für andere junge Herren kokette Blicke und ein ebensolches Lächeln hatte. Eine grimmige Genugtuung lag auf dem Gesicht des alten Herrn. Der eingekniffene Mund presste sich noch mehr zusammen.
Drüben an der Tür zu einem der Nebenräume stand Ernst Frankenstein und beobachtete ebenfalls Richard Sundheim und seine Tänzerin, und eine wütende Eifersucht frass an seinem Herzen. Es tröstete ihn nicht, dass ihm Hilde zuweilen einen verführerischen Blick zuwarf, er merkte doch, dass Richard Sundheim mehr Chancen hatte als er. Und sein Blick flog hinauf zu dem alten Herrn, den er mit Richard Sundheim hatte kommen sehen.
„Der Erbonkel also,“ sagte er grimmig vor sich hin. Und plötzlich zuckte es in seinen Augen auf wie ein böser Entschluss. Hilde hatte ihm bei der Tafel lächelnd erzählt, dass der alte Sundheim, der Herr von Gorin, heute abend hier sein würde und dass Richard Sundheim sie gebeten habe, sie seinem Onkel vorstellen zu dürfen. Das hatte sie ganz leichthin gesagt, aber Frankenstein wusste, was es für sie zu bedeuten hatte, wusste, dass er nicht eher Hoffnung auf ihren Besitz haben würde, als bis Richard Sundheim als Nebenbuhler unschädlich gemacht worden war. Und er war fest entschlossen, ihn unschädlich zu machen, denn er war wahnsinnig in die schöne Hilde verliebt, so verliebt, dass er ihr seine so lange gehütete Freiheit opfern wollte.
Es war offenes Geheimnis in der Stadt, dass Richard Sundheim der einzige Erbe seines Onkels sein würde und dass er ganz abhängig von ihm war. Dank seiner Aussichten war er eine glänzende Partie, der einzige in der Stadt, der es mit ihm aufnehmen konnte, denn er wusste, dass Hilde sich nur teuer verkaufen würde. Das beeinträchtigte aber seine Liebe durchaus nicht, er war selbst eine so wenig feinfühlige und delikate Natur, als dass er es nicht hätte verstehen können, dass dieses schöne Mädchen sich nach einem glänzenden Rahmen für ihre Schönheit umsah. Und diesen Rahmen konnten ihr hier am Orte nur er und Richard Sundheim bieten, letzterer allerdings nur, wenn er seinen Onkel beerbte.
Wenn!
Dieses Wenn stand plötzlich vor ihm wie eine Erleuchtung, wie eine Eingebung. Ein Plan war blitzschnell in ihm aufgetaucht, wie er seinen Nebenbuhler unschädlich machen könnte. Er war dem alten Sundheim ganz unbekannt, sah ihn heute zum ersten Male — und auch dieser kannte ihn nicht, und darauf baute er seinen Plan.
Ohne langes Überlegen ging er unauffällig durch den Saal nach der Treppe, die zu dem Balkon hinaufführte, und setzte sich wie von ungefähr in dieselbe Loge, in der Heinrich Sundheim sass, hinter diesen, so dass er von unten nicht gesehen werden konnte.
Heinrich Sundheim sah sich mit nicht gerade liebenswürdiger Miene nach dem Störer seiner Einsamkeit um. Frankenstein verneigte sich und murmelte undeutlich irgendeinen Namen und fuhr in der liebenswürdigsten Weise fort:
„Sie gestatten, dass auch ich hier Platz nehme und dem Tanze zuschaue.“
Der alte Herr rückte etwas beiseite.
„Bitte, diese Loge steht jedem frei — ebenso wie alle anderen,“ sagte er grämlich und dachte bei sich, dass dieser Herr ebensogut anderswo hätte Plag nehmen können.
Ernst Frankenstein machte ein harmlos-freundliches Gesicht.
„Ist ja hundeleer hier oben, deshalb habe ich mir erlaubt, neben Ihnen Platz zu nehmen, man will doch ein Wort sprechen, wenn man zuschaut.“
Heinrich Sundheim brummte etwas Unverständliches in seinen Bart. Er war nicht hier, um sich mit einem wildfremden Menschen zu unterhalten, sondern nur, um sich dies Fräulein Hilde Hartung einmal anzusehen, von der ihm sein Neffe eine begeisterte Schilderung gemacht hatte. Er sollte sie ihm im Laufe des Abends dann auch vorstellen, wenn er sie erst eine Weile beobachtet hatte. Richard hatte ihm gesagt, welche Tänze er mit Hilde zu tanzen gedenke, und dass sie ein blaues Kleid tragen würde.
Frankensteins Plan hatte bereits ganz feste Gestalt angenommen, und deshalb liess er sich durchaus nicht durch die unfreundliche Art des alten Herrn abschrecken.
„Man kann von hier oben dem Tanze viel besser zuschauen als von unten, mein Herr.“
„Sie sind doch noch zu jung, um sich mit dein Zuschauen zu begnügen.“
„Aber doch schon alt genug, um nicht unbedingt dabei sein zu müssen. Ich sehe viel lieber zu, zumal wenn gut getanzt wird, und einige Paare tanzen vorzüglich.“
,,Ach, diese moderne Tanzerei ist doch nicht etwa schön? In meiner Jugend tanzte man anders,“ stiess der alte Herr ärgerlich hervor.
Frankenstein lachte scheinbar harmlos.
„Ich ziehe allerdings auch einen Walzer vor, aber zuweilen ist es doch ein Genuss, einem der Paare zuzusehen. Bitte, betrachten Sie mal zum Beispiel das schöne junge Paar da unten, die Dame trägt ein blaues Kleid mit einer silbernen Blume an der Schulter. Der Herr ist schlank und vornehm und ein vorzüglicher Tänzer. Ein schönes Paar, nicht wahr, und sie tanzen vorzüglich, finden Sie nicht auch?“
„Hm, ja, sehr schön,“ brummte der alte Herr, ohne zu verraten, dass dieser schlanke, vornehme Tänzer sein Neffe war und die Dame ein Fräulein Hartung, die sein Neffe heiraten wollte.
Frankenstein hatte das nicht anders erwartet, es wäre ihm ein Strich durch die Rechnung gewesen, wenn sich ihm der alte Herr zu erkennen gegeben hätte. Scheinbar harmlos fuhr er fort:
„Ist überhaupt ein sehr interessantes Paar. Sie möchten gern heiraten, aber da lebt noch ein greulicher alter Erbonkel des jungen Mannes, auf dessen Tod die beiden jungen Leute schmerzlich warten.“
Heinrich Sundheim zuckte leise zusammen, und wenn er vorgehabt hätte, zuzugeben, dass der junge Herr da unten sein Neffe war, so behielt er es nun erst recht für sich. Sein Gesicht bekam einen seltsam gespannten Ausdruck und sah noch verkniffener aus, aber er sagte scheinbar harmlos:
„So, so, ein alter Erbonkel ist da im Wege?“
Frankenstein bemerkte befriedigt, dass der Alte die Ohren spitzte.
„Ja, ja, der junge Herr, ein Herr Sundheim, mit dem ich bekannt bin, hat es mir selbst gesagt. Sein Onkel ist ein alter Trottel, ein alter Tyrann und Nörgler, der reine Menschenfeind, der seinen armen Neffen scheusslich unter Druck hält. Richard Sundheim seufzt unter der Tyrannei des Alten, und man kann es ihm nicht verdenken, dass er seinen Tod herbeisehnt, zumal er wohl erst dann die schöne junge Dame heimführen kann, wenn der Alte tot ist. Sie wird sich wohl dafür bedanken, ebenfalls unter die Tyrannei des alten Menschenfeindes zu geraten, sie will, selbst Herrin des grossen Gutes sein, das jetzt noch dem Alten gehört. Dieser soll auch ein grosses Barvermögen besitzen, aber seinen Neffen hält er schensslich knapp. Na ja, das haben alte Erbonkels so an sich, die sitzen auf ihren Geldsäcken, bis ihre Erben schwarz werden. Zum Glück ist der Erbonkel immer leidend, und sie hoffen, dass er es nicht mehr lange macht. Man kann es Richard Sundheim wirklich nicht verdenken, wenn er den Tod seines Onkels herbeisehnt, der seinem Glücke doch nur im Wege steht.“
In den Augen Heinrich Sundheims flackerte es unheimlich. Er beschloss, den fremden Herrn noch mehr auszuforschen, um hinter die ganze Niedertracht seines Neffen zu kommen.
„Ist es nicht ein wenig herzlos von diesem jungen Herrn, den Tod seines alten Onkels herbeizusehnen?“
Befriedigt merkte Ernst Frankenstein, dass der Fisch an der Angel zappelte. Nun galt es, den Groll des alten Herrn noch zu schüren.
„Was wollen Sie, wenn man verliebt ist, und wenn man zu wählen hat zwischen einer schönen jungen Dame und einem alten, widerwärtigen Onkel. Ich kann es verstehen. Er möchte gerne bald heiraten und seine junge Frau nicht in Gefahr bringen, mit ihm zusammen unter die Tyrannei seines Onkels zu geraten.“
„So, so, und das hat Ihnen dieser Herr Richard Sundheim alles anvertraut?“
„Selbstverständlich nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Ich hätte eigentlich nicht davon sprechen sollen, hm — ja! Aber Sie sind ja ein Fremder in dieser Stadt, sonst würde ich Sie kennen, wir kennen uns ja hier alle untereinander. Und Bekannte scheinen Sie auch nicht hier zu haben, sonst sässen Sie nicht so allein hier oben.“
„Ganz recht, ich bin nur auf der Durchreise hier, wohne im Hotel nebenan und wollte bloss eine Weile hier zusehen.“
Frankenstein triumphierte innerlich.
„Etwas Ähnliches dachte ich mir. Sie müssen nun nichts Schlechtes von dem jungen Sundheim denken, es ist sonst ein sehr charmanter junger Mann, aber dass er seinen Onkel hasst, kann man verstehen, er hat es ja danach getrieben. Und wenn man jemanden von ganzem Herzen hasst, sehnt man auch seinen Tod herbei. So ist es eben in der Welt, die Alten stehen den Jungen im Wege. Und unser modernes Zeitalter weiss nicht viel mit den Alten anzufangen.“
Es zuckte unheimlich in dem Gesicht des alten Herrn.
,,Also der tyrannische Erbonkel, dessen Tod von diesem jungen Paar so heiss gewünscht wird, ist vollkommen überflüssig?“ fragte er mit beissender Ironie.
Frankenstein lachte scheinbar harmlos.
„Vollständig, er kann nichts. Besseres tun, als recht bald abzufahren und seinem Neffen all sein Hab und Gut zu hinterlassen. Dazu sind ja alte Erbonkels schliesslich nur da.“
Ein finsterer Blick zuckte aus den Augen des alten Herrn zu Frankenstein hinüber.
„Vergessen Sie nicht, dass Sie auch einmal alt werden und dann vielleicht auch ein Erbonkel sind.“
„Ausgeschlossen, ich werde dafür sorgen, dass ich Kinder habe, denen ich mein Vermögen hinterlassen kann.“
Während die beiden Herren so immer eifriger und erregter miteinander gesprochen hatten, bemerkten sie nicht, dass eine schlanke, weissgekleidete, junge Dame die Treppe heraufgekommen war und erstaunt Ernst Frankenstein neben Heinrich Sundheim sitzen sah. Es war Lore Darland. Mit Frankenstein hier oben zusammenzutreffen, war ihr unangenehm, denn er war ihr sehr unsympathisch. Deshalb wandte sie sich sogleich wieder um und ging wieder hinab in den Saal. Lore gehörte nicht zu den jungen Damen, die als Tänzerin eifrig begehrt wurden. Ihr stilles und sehr zurückhaltendes Wesen ermutigte die jungen Herren nicht. Und ihr lag auch nichts daran, sich mit irgendeinem gleichgültigen Menschen im Tanze zu drehen. Sie war es längst gewohnt, immer hinter ihrer schönen, glänzenden Schwester zurückstehen zu müssen. Sie war hinaufgegangen auf den Balkon, weil sie annahm, dass da oben nur wenige Menschen sitzen würden, die gleich ihr nicht tanzen wollten. Sie sehnte sich nach einem stillen, ungestörten Plätzchen, wo sie ihren traurigen Gedanken nachhängen konnte. Ihr armes Herz war so schwer. Sie hatte mitansehen müssen, wie Richard Sundheim Hilde mit heissen, strahlenden Augen angesehen, wie er ihr glückstrunken die Hand geküsst hatte. Er liebte Hilde — grosser Gott, wie sehr liebte er sie; und sie? Sie liess es sich gnädig gefallen, ohne diese Liebe zu erwidern. Kalt und herzlos, nur in ihrer Eitelkeit geschmeichelt, stand sie ihm gegenüber und spielte noch jetzt mit dem Gedanken, ob sie sich ihm oder Frankenstein zu eigen geben sollte.
Das bedrückte Lore unsagbar. Ruhig hätte sie der Schwester das grosse Glück an Richard Sundheims Seite gegönnt, wenn sie ihn wirklich geliebt hätte. Hätte ihr das Herz dabei auch noch so weh getan, sie hätte sich mit dem Gedanken getröstet, dass Hilde Sundheim glücklich machen würde. Nur glücklich sollte er werden. Und das wurde er bestimmt nicht an Hildes Seite, so viel kannte sie ihn. Hilde war so masslos eigennützig, liebte nur sich selbst, sah alle Dinge nur daraufhin an, ob sie ihr Nutzen brachten, und war kaltherzig und frivol. Richard Sundheim musste das eines Tages erkennen und würde dann sehr unglücklich werden, das wusste Lore gewiss. Und es machte ihr das Herz schwer, weil sie ihn nicht vor diesem Unglück bewahren konnte.
Sie dachte nicht darüber nach, was Ernst Frankenstein wohl so eifrig mit Richard Sundheims Onkel zu debattieren gehabt hatte, sie war nur schnell wieder davongegangen, weil sie fürchten musste, dass Frankenstein sie ansprechen und wohl gar mit dem alten Herrn Sundheim bekannt machen würde. Und das hätte Hilde sicher übelgenommen.
So war sie froh, dass sie ungesehen von den beiden Herren wieder entwischen konnte. Sie begab sich wieder zu ihrer Stiefmutter, die zum Glück in eine eifrige Unterhaltung mit einigen anderen älteren Damen vertieft war und ihr somit nicht immer wieder peinliche Ratschläge geben konnte, wie sie Tänzer heranzuziehen vermöge. Ihre Augen suchten Hilde und Richard Sundheim. Sie gingen jetzt, nachdem der Tanz beendet war, Arm in Arm durch den Saal und hatten anscheinend einander viel zu sagen.
Jetzt begann ein neuer Tanz, und Lore sah, wie Frankenstein jetzt plötzlich neben den beiden auftauchte und Hilde um diesen Tanz bat, den sie ihm wohl vorher schon versprochen hatte. Lächelnd verabschiedete sich Hilde von Richard und tanzte mit Frankenstein. Dieser hatte, nachdem er sein Gift in die Ohren des alten Herrn geträufelt hatte, diesen verlassen mit dem Bemerken, dass er jetzt einen Pflichttanz absolvieren müsse.
Lore versuchte Richard Sundhem mit den Augen zu verfolgen, aber er verschmand in der Menge. Plötzlich aber stand er dann vor Lore und bat sie um diesen Tanz. Sie zuckte leicht zusammen, erhob sich aber dann mit ruhiger Freundlichkeit. Sie wusste ganz genau, dass er sie nur engagierte, weil sie Hildes Schwester war, sonst hätte er sie wohl kaum beachtet. Ein wehes Lächeln umspielte ihren Mund, und Richard sah dieses Lächeln und blickte zum erstenmal etwas genauer in Lores Gesicht. Unbewusst hatte er sie schon immer als eine sympathische Persönlichkeit empfunden, aber seine Liebe zu Hilde liess ihm keine Zeit, sich länger als Augenblicke mit einem anderen weiblichen Wesen zu beschäftigen. Gleichwohl war es ihm ein angenehmer. Gedanke, eine so sympathische Schwägerin zu bekommen, und es drängte ihn plötzlich, ihr anzuvertrauen, was sein Herz jetzt bewegte.
„Ihr Herr Onkel ist mit Ihnen gekommen, Herr Sundheim? Ich sah Sie wenigstens mit einem alten Herrn ankommen und vermute, dass es Ihr Herr Onkel ist, man sieht ja den alten Herrn sonst nie in der Stadt,“ sagte Lore, sich zu einem unbefangenen Thema zwingend.
„Ja, mein gnädiges Fräulein, es ist mir endlich einmal gelungen, ihn aus seinem Bau herauszulocken. Ihnen will ich kein Geheimnis daraus machen, dass ich damit einen bestimmten Zweck verfolgte. Ich habe meinem Onkel gesagt, dass ich Ihre Schwester Hilde liebe und sie zu meiner Frau machen möchte. Da ich aber von meinem Onkel abhängig bin, wollte ich mich nicht eher öffentlich verloben, bis mein Onkel meine zukünftige Frau nicht wenigstens einmal gesehen hätte und ich sie ihm vorstellen konnte. Ich werde ja später mit meiner jungen Frau auf Gorin leben, also im Hause meines Onkels, und so war ich ihm schon soviel Rücksicht schuldig.“
„Das ist zu verstehen,“ sagte Lore, sich zur Ruhe zwingend.
„Nicht wahr? Ich habe nun heute Hildes Jawort erhalten und bin sehr glücklich. Nach diesem Tanze, den sie Herrn Frankenstein versprochen hatte, will ich sie zu meinem Onkel hinaufführen und sie ihm als meine Braut vorstellen. Mein Onkel sitzt oben auf dem Balkon, er kann sich nicht entschliessen, sich in den Festtrubel zu mischen, er ist fast immer ein wenig leidend und lebt sehr zurückgezogen, so hat er mir ein grosses Opfer damit gebracht, mich hierher zu begleiten.“
„Ich glaube, dass ihm das ein Opfer war; für alte Herrschaften ist so ein Ball mehr oder weniger eine Strapaze; mein Vater bringt uns auch ein Opfer, wenn er uns begleitet.“
„So werden Sie auch meinen Onkel verstehen. Er ist ein wenig Sonderling geworden, aber ich bin ihm vielen Dank schuldig, er hat mir schon viele Wohltaten erwiesen. Es tut mir um ihn leid, dass er so menschenscheut und verbittert ist. Leider kann ich ihm gar nicht helfen.“
„Der alte Herr ist sehr zu bedauern, dass er trotz all seines Reichtums so wenig Freude am Leben hat,“ sagte Lore mit ihrer weichen, dunklen Stimme.
Der Klang dieser Stimme wirkte seltsam beruhigend und wohltätig auf Richard Sundheim, der doch ein wenig nervös war, weil heute die Entscheidung über sein Lebensglück fallen sollte.
„Sie haben recht, er ist ein sehr bedauernswerter Mensch. Irgendwelche schwere Ereignisse in seiner Jugend haben sein Leben verdüstert. Aber ich hoffe sehr, dass er nun etwas aufleben wird, wenn Hilde erst mit mir in Gorin lebt. Ihrem Zauber kann doch kein Mensch widerstehen, sie ist ein so warmherziges, entzückendes Geschöpf und so heiter und lebensfroh. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie meinen Onkel zu einem ganz anderen Menschen machen wird, sie wird ihm von ihrem Liebesreichtum ein wenig abgeben, und dem wird er nicht widerstehen können.“
Lore wurde das Herz immer schwerer, sie wusste, dass Richard Sundheim sehr, sehr bald von Hildes Charakter enttäuscht sein würde. Jetzt spielte sie ihm eine reizende Komödie vor, wie immer, wenn sie einen Menschen gefangennehmen wollte, aber bald würde sie diese Komödie als überflüssig und anstrengend beiseite lassen.
„Hoffentlich wird Hilde alle Ihre Wünsche erfüllen,“ sagte sie nur.
„Oh, davon bin ich fest überzeugt. Im Anfang wird sich ja mein Onkel noch sehr zurückhalten. Wir, Hilde und ich, werden im Seitengebäude des Herrenhauses von Gorin wohnen. Es ist sehr gross und geräumig. Mein Onkel bleibt im Mittelbau für sich, und wir werden uns nur sehen, wenn er es will. Es ist vielleicht so am angenehmsten für Hilde, sie muss nicht das Gefühl haben, dass sie von Onkels Laune abhängig ist. Und sie ist auch mit allem einverstanden. Ein wenig fürchtet sie sich anscheinend vor meinem Onkel, aber das wird sich verlieren, wenn sie erst merkt, dass er nur scheu und verbittert ist, aber durchaus kein böser, schlechter Mensch. Ich verdanke ihm unendlich viel. Er nahm sich, als ich verwaiste, meiner grossmütig an und hat mich sogar zu seinem Erben eingesetzt. Das wird es Hilde leicht machen, ein wenig Geduld mit ihm zu haben. Schon mir zuliebe wird es ihr leicht werden, meinen Sie nicht auch?“
Lore hielt einen Seufzer zurück. Sie wusste, wie wenig Geduld Hilde mit anderen Menschen hatte.
,,Sicherlich wird Hilde vernünftig sein, Herr Sundheim,“ sagte sie leise, um ihn nicht betrüben zu müssen.
Und doch hatte sie das Gefühl, als betrüge sie ihn, als müsse sie ihn warnen, als begehe sie ein Unrecht, dass sie ihm nicht die Augen öffnete über Hildes wirklichen Charakter.
Aber durfte sie das tun? Würde sie damit nicht verraten, wie es um sie selber stand? Nein — kein Wort sollte über ihre Lippen kommen, das ihn aus seinem Glückshimmel riss. Sie musste ruhig zusehen, wie der Mann, dem ihre ganze Seele gehörte, unerhört belogen und betrogen wurde.
Der Tanz war zu Ende, und Richard Sundheim führte Lore wieder zu ihrer Mutter zurück. Sie trafen mit Hilde und Frankenstein zusammen. Frankenstein hatte Hilde wieder mit Feuereifer den Hof gemacht und war ziemlich deutlich geworden. Aber obwohl Hilde schon Richard Sundheim ihr Jawort gegeben hatte, liess sie sich das gefallen. Sie hielt es immer noch für ratsam, das zweite Eisen im Feuer zu halten, denn man konnte nicht wissen, wie sich der alte Herr da oben ihr gegenüber verhielt, wenn Richard sie ihm vorstellte. Keineswegs war sie gesonnen, sich irgendwelche Tyrannei von ihm gefallen zu lassen. Erst müsste sie wissen, ob es ihr genehm sein würde, unter einem Dache mit Heinrich Sundheim zu leben, ehe sie Frankenstein vor den Kopf stiess.
Mit einem fast mehr als verheissungsvollen Lächeln verabschiedete sie Frankenstein, als sie bei ihrer Mutter angelangt waren. Er ging scheinbar ruhig von dannen, obwohl er sich fieberhaft erregt fühlte bei dem Gedanken daran, wie das in das Ohr des älteren Sundheim geträufelte Gift wirken würde.
Nachdem sich Richard Sundheim dankend vor Lore verneigt hatte, trat er auf Hilde zu.
„Wilst du jetzt mit mir hinaufkommen zu meinem Onkel, Hilde?“ fragte er sie mit leiser Stimme, weil noch niemand hören sollte, dass er sie du nannte.
Hilde seufzte ein wenig, sah Richard aber mit einem betörenden Blick an.
„Nun ja, einmal muss es doch sein, Richard.“
„Du musst nicht so bange sein, Hilde. Lass dich nicht beirren von Onkels Art, wenn er auch nicht sehr freundlich und liebenswürdig ist, so meint er es doch nicht böse. Vergiss nicht, dass er unsere ganze Zukunft in seinen Händen hat, und sei recht nett zu ihm.“
Das war gar nicht nach Hildes Sinn. Hatte sie es nötig, einen alten Griesgram zu umschmeicheln? Frankenstein war bestimmt ebenso reich wie der alte Sundheim, und sie brauchte nur zuzugreifen, dann lag ihr Frankenstein mit all seinem Reichtum zu Füssen. Sie brachte Richard wahrlich schon ein unerhörtes Opfer, weil er eben eine viel vornehmere, interessantere Erscheinung war als der andere.