Als die Erde zerschmettert wurde: Science Fiction Fantasy Großband 3 Romane 8/2021 - Jo Zybell - E-Book

Als die Erde zerschmettert wurde: Science Fiction Fantasy Großband 3 Romane 8/2021 E-Book

Jo Zybell

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Beschreibung

Roman von Jo Zybell bearbeitet von Mia Zorn Der Umfang dieses Buchs entspricht 141 Taschenbuchseiten. Nach einer globalen Katastrophe müssen die Menschen um ihr Überleben kämpfen. Wie es zu dem verhängnisvollen Ereignis kam, ist längst in Vergessenheit geraten. Eve Barkley bricht in das unwirtliche Gebiet auf, das früher mal unter dem Namen Deutschland bekannt war und findet Aufzeichnungen, die Aufschluss darüber geben, was in den Tagen des Weltuntergangs geschah...

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Als die Erde zerschmettert wurde: Science Fiction Fantasy Großband 3 Romane 8/2021

Jo Zybell and Mia Zorn

Published by BEKKERpublishing, 2021.

Table of Contents

Title Page

Als die Erde zerschmettert wurde: Science Fiction Fantasy Großband 3 Romane 8/2021 von Jo Zybell u

Copyright

Der kosmische Hammer: Jo Zybell's Apokalyptos Band 1

Der kosmische Hammer: Jo Zybell's Apokalyptos Band 1

Copyright

Prolog

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Nach dem Untergang der Welt: Jo Zybell's Apokalyptos Band 2

Nach dem Untergang der Welt: Jo Zybell's Apokalyptos Band 2

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Barbaren der Apokalypse: Jo Zybell’s Apokalyptos Band 3

Barbaren der Apokalypse: Jo Zybell’s Apokalyptos Band 3

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Further Reading: 30 Sternenkrieger Romane - Das 3440 Seiten Science Fiction Action Paket: Chronik der Sternenkrieger

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Als die Erde zerschmettert wurde: Science Fiction Fantasy Großband 3 Romane 8/2021

von Jo Zybell und Mia Zorn

Über diesen Band:

Dieser Band enthält die Romane:

Der kosmisce Hammer

Nach dem Untergang der Welt

Barbaren der Apokalypse

––––––––

Nach einer globalen Katastrophe müssen die Menschen um ihr Überleben kämpfen. Wie es zu dem verhängnisvollen Ereignis kam, ist längst in Vergessenheit geraten.

Eve Barkley bricht in das unwirtliche Gebiet auf, das früher mal unter dem Namen Deutschland bekannt war und findet Aufzeichnungen, die Aufschluss darüber geben, was in den Tagen des Weltuntergangs geschah...

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker (https://www.lovelybooks.de/autor/Alfred-Bekker/)

© Roman by Author /  COVER LUDGER OTTEN

© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

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Der kosmische Hammer: Jo Zybell's Apokalyptos Band 1

Jo Zybell und Mia Zorn

Der kosmische Hammer: Jo Zybell's Apokalyptos Band 1

UUID: d31aa514-3bbe-11e9-b8c3-17532927e555

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Table of Contents

UPDATE ME

Der kosmische Hammer: Jo Zybell's Apokalyptos Band 1

––––––––

Roman von Jo Zybell

bearbeitet von Mia Zorn

––––––––

Der Umfang dieses Buchs entspricht 141 Taschenbuchseiten.

––––––––

Nach einer globalen Katastrophe müssen die Menschen um ihr Überleben kämpfen. Wie es zu dem verhängnisvollen Ereignis kam, ist längst in Vergessenheit geraten.

Eve Barkley bricht in das unwirtliche Gebiet auf, das früher mal unter dem Namen Deutschland bekannt war und findet Aufzeichnungen, die Aufschluss darüber geben, was in den Tagen des Weltuntergangs geschah...

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author /COVER LUDGER OTTEN

© dieser Ausgabe 2019 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

[email protected]

Prolog

Anfang Juni, 2522

Ein Fehler auszusteigen. Ein Fehler, ein Fehler, ein Fehler ...

Er wusste es, die anderen wussten es, seine innere Stimme beharrte im Rhythmus seines Herzschlages darauf, und die monotone Kunststimme des Schleusenbutlers gab ihm Recht: „Das Bordhirn meldet Alarmstufe Rot, Ma’am, das Verlassen des Dragons kann nicht empfohlen werden. Alarmstufe Rot, das Verlassen des Dragons kann nicht empfohlen werden ...“

Die Kommandantin hatte sich entschieden. Es gab keinen Weg zurück. Er schloss seinen Helm, und sie legte erneut ihre Handfläche an den Sensor. Ein Träumer, wer etwas anderes erwartet hatte. Er jedenfalls hatte nichts anderes erwartet, er kannte sie gut genug inzwischen, die Kommandantin. Und jetzt öffnete sich die Außenluke.

„Das Bordhirn meldet feindliche Individuen in unmittelbarer Umgebung des Landesplatzes“, schnarrte der Schleusenbutler. „Vom Verlassen der Schleuse wird dringend abgeraten ...“

Grauer Himmel über Qualm, Flammen, Grasland und Kanonendonner. Nur noch ein Schritt trennte ihn von der Welt, in der seinesgleichen ohne Schutzanzug nicht überleben konnte. Die Kommandantin ging als erste. Und jetzt er. Raus! Er sprang. Hinter der Kommandantin landete er im hohen Gras.

Feuer, wohin er blickte; und zwischen Qualm, Flammen und Büschen Gestalten in erdfarbenen Lederharnischen. Sie brüllten, sie schwangen Äxte, sie schüttelten Schwerter.

Neben ihm ging der Navigator in die Knie und legte das LP-Gewehr an. Kein Gesicht in seinem schwarzen Kugelhelm, nur die Reflexe der Flammen und der gleißenden Strahlen aus dem kurzen Waffenlauf. Auch die Kommandantin schoss. Keine fünfzig Schritte entfernt blähte eine Glutkuppel sich auf, daneben wälzten sie sich brennend im Gras, die Gnadenlosen. „Sauhunde, verdammte!“, hörte er Bogoto im Helmfunk fluchen.

Er blickte nach rechts – die anderen drei kletterten eben aus dem Tank, einer aus dem Mittelsegment, zwei aus der großen Heckluke. Er blickte in die Richtung, in der man eigentlich den zweiten Dragon hätte sehen müssen, doch Feuer und Rauch verdeckten die Sicht.

Die Kommandantin rannte los. „Sturmlinie bilden!“ Ihre Stimme im Helmfunk klang kühl, klang wie immer. „Wir laufen durch den Rauch! Legen Sie eine Feuerbresche zwischen Dragon II und die Angreifer! Bogoto, Sie bleiben hier und sichern unseren Rückweg!“ Das war das letzte, was er von ihr hörte.

Wie aus dem Nichts sprangen sie vor ihr aus dem Gras – sechs, sieben oder acht dieser Kerle in ihren erdfarbenen Anzügen. Sie brachen aus dem Gestrüpp, sie sprangen aus dem Qualm, sie schwangen Äxte und Schwerter. Unbegreiflich, die Mordlust dieser Kreaturen, unbegreiflich die Todesverachtung, mit der sie auch an diesem Tag wieder angriffen. Gleich drei warfen sich auf die Kommandantin und rissen sie ins Gras herab. Er konnte nicht schießen, er hätte die Kommandantin getroffen.

„Sauhunde! Mörderpack!“ Bogotos Stimme brüllte im Helmfunk. Überall zischten nadelfeine Strahlen ins Gras, in Büsche, in Qualmwolken, in erdfarbene Leiber.

„Es hat keinen Sinn!“, schrie er, rannte trotzdem in den Qualm hinein, schoss überall dorthin, wo eine Klinge das Feuer reflektierte, wo eine erdfarbene Gestalt sich zeigte. Bis einer direkt vor ihm aus dem Gestrüpp aufstand. Sein Helm zersplitterte unter der Wucht eines Axthiebs, der zweite Hieb traf ihn an der rechten Flanke. Er stürzte ins Gras, verlor das Bewusstsein, verlor das LP-Gewehr.

Länger als ein paar Sekunden konnte er nicht ohnmächtig gewesen sein, denn um sich herum hörte er noch immer das Kampfgeschrei der verfluchten Mörderbande. Aus dem Helmfunk stöhnte eine Männerstimme – der Navigator? – seine rechte Niere brannte wie Feuer, er spürte, wie das Blut warm über seinen Schädel strömte; und überall Rauch, überall Flammen.

Vorbei; es war vorbei.

Trotzdem kroch er los, er wusste selbst nicht, warum. Er kroch durchs hohe Gras, kroch am Dragon vorbei, dachte an den laufenden Countdown der Autoeliminierung, kroch schneller, kroch, bis er aufs Neue das Bewusstsein verlor.

Er kam zu sich, weil jemand zu ihm sprach. Das Geschrei der verfluchten Mörderbande klang jetzt wie von fern, ja, wirklich, der zu ihm sprach aber, der klang ganz nah. Er blinzelte, da schwebte ein verschwommenes Gesicht über ihm – ein Barbar? Er blinzelte noch einmal, das Gesicht nahm kantige Konturen an, er sah kurzes Blondhaar. Ein sonnengebräunter Mann ohne sichtbare Mutationen im Gesichtsschädel. „Weg ... Sie ... Sie müssen ... weg ... die Dragons ...“, flüsterte er.

Lächerlich in dieser Wildnis Mitteleuropas einen Mann auf Englisch anzusprechen, nur weil er eine gesunde Hautfarbe, normale Ohren, und eine gesunde Nase statt Hautlappen im Gesicht trug. Was war das überhaupt für ein Kleidungsstück, in dem der Mann da steckte? O Gott! Der Autoeleminierungs-Countdown! Es musste doch bald soweit sein!

„Weg ... Sie müssen ... sich ... in Sicherheit ...“ Wie viel Atem für wie viele Worte würde ihm noch bleiben?

Der Fremde schnitt eine erschrockene Miene. Hatte er ihn am Ende doch noch verstanden? Er schob die kräftigen Hände unter seinen Körper, hob ihn hoch, trug ihn davon. Eine Schmerzwelle durchwogte ihn, ihm wurde schlecht, er wollte schreien, brachte nur ein Röcheln zustande, versank wieder in schwarzem, gnädigem Nichts.

Grelles Licht weckte ihn das nächste Mal. Die Erde zitterte, der Detonationslärm erfüllte den Wald. Neben ihm im Unterholz lag der Blonde. Er keuchte und fluchte; er fluchte auf Englisch. Ein Orkan raste durch den Wald, die Druckwelle – die Dragons waren explodiert. Es kam ihm vor wie ein Witz, dass er noch lebte. Jetzt waren alle tot. Alle? Die Kommandantin! Hatten die Barbaren sie getötet? Oder hatten sie sie verschleppt, um ...

Dann wieder die kräftigen Hände des Blonden, wieder die Schmerzwelle, wieder schwarzes Nichts.

Als er die Augen zum vorletzten Mal öffnete, schleiften sie ihn von einem Floß, eine Flussböschung hinauf und durch Gras; der Blonde und eine Frau. Seltsam – der Schmerz pochte nur noch dumpf im Hintergrund seines Bewusstseins. Wie ein Räuber, der für einen Augenblick von seiner Beute abließ; weil er sich ihrer sicher war; und kurz bevor er sie verschlang. Das Gras war kühl, wunderbar kühl. Er wünschte, diese Kühle würde in seinen Körper kriechen, ihn ganz ausfüllen und endgültig ins Nichts begleiten.

Sie legten ihn ins Gras. Die Frau war halbnackt und hatte langes, verfilztes Haar, blauschwarz. Eine Barbarin. Dennoch: Eine schöne Frau. Er schloss die Augen. Das Bild der Frau füllte sein Bewusstsein aus; die schöne Frau und die wohltuende Kühle. Mehr wollte er nicht mehr sehen, nicht mehr fühlen. Bald war es geschafft, bald, bald ...

Neben sich hörte er den Blonden keuchen und stöhnen. Der Mann schien am Ende seiner Kraft zu sein. Irgendwann spürte er dessen Finger an seiner Brust und seinem Hals. Der Fremde löste den zerbrochenen Helm vom Schutzanzug, zog ihn behutsam über den Kopf und untersuchte seine Wunden.

Er öffnete die Augen zum letzten Mal und betrachtete seinen Retter. In dessen Miene spiegelten sich Sorge, Schrecken und Neugier. Warum trug der Mann eigentlich keinen Schutzanzug? Und wo hatte er diese Art von olivgrüner Kombination schon einmal gesehen? Über der Brusttasche stand ein Name, er versuchte ihn zu entziffern. Der Blonde untersuchte die Wunde in seiner rechten Nierengegend. Seine Miene versteinerte sich.

„Danke ...“ Das Atmen fiel ihm so unglaublich schwer. „... aber ... es ... ist ... sinnlos ...“ Die paar Worte kosteten ihn seine letzte Kraft; es war, als würde seine Stimme noch vor ihm sterben.

„Wer sind Sie?“ Das Englisch des Blonden klang fremdartig, antik irgendwie. Wo nur hatte er schon einen derartigen Dialekt gehört? In irgendeiner Datenbank zur Geschichte des Vereinigten Königreichs vor dem Weltuntergang vielleicht?

Er schnappte nach Luft, um dem Mann zu sagen, wer er war, doch mehr als ein Röcheln brachte er nicht zustande. Der Blonde beugte sich über ihn und legte zwei Finger an seinen Kehlkopf. Jetzt konnte er seinen Namen lesen: Commander Thomas Cadman. Diese Greifenschwingen, diese blau gerahmten weißen und roten Streifen – wo nur hatte er dieses Emblem schon gesehen? Der Mann namens Cadman beugte sein Ohr über seinen nach Atem schnappenden Mund. „Wer sind Sie?“, rief er.

Er nannte seinen Rang, seinen Namen und seine Heimat-Society; jedenfalls dachte er seinen Rang, seinen Namen und seine Society; er wusste anschließend nicht genau, ob seine Zunge und Lippen die Worte wirklich geformt hatten. Irgendwie war es ihm auch gleichgültig.

Das Gesicht des Blonden verschwamm wieder. Der Name seiner Society füllte aber sein Bewusstsein aus, hallte durch die Windungen seines Hirns, wie ein Orgelakkord durch ein Labyrinth: London, London, London ... O herrlicher Ort! O süße Heimat! Nie wieder, nie wieder!

Auf einmal rotierte sein Bewusstsein in einem kühlen, schwarzen Strudel. „Was sagen Sie?“ Von weit weg rief jemand. „London? Was ist in London?“ Jemand sprach mit ihm, jemand aus einer anderen Welt. Der Blonde wahrscheinlich, dieser Cadman. Egal.

„Was ist das für eine Society?“ Ein Rufender in einem steigenden Ballon; sollte er doch fliegen, wohin er wollte. „Gibt es noch Zivilisation in London?“ Der schwarze, kühle Strudel zog ihn weg von der vagen Stimme, von seinen Schmerzen; zog ihn weg aus der Welt, zog ihn tiefer und tiefer hinab ins Nichts ...

1

Die Kommandantin

Ende Dezember, 2521

Über ihnen funkelten Sterne. Am Horizont strahlte eine Galaxis in Gelb und Rot und Orange. Eine Violine zauberte Wehmut und Sehnsucht unter den Sternenhimmel. Die nackten Körper ineinander verschränkt lagen sie auf einem mit weißer Kunstseide überzogenem Bett. David schlief. Eve streichelte seine Hand auf ihrer Brust. Ihre Gedanken schwammen noch auf den Wogen des Glücks und der Leichtigkeit, die einen gestillten Körper durchpulsen, der gerade geliebt hat. Sie lauschte der Musik – der Partitur eines gewissen Mr. Bachs – sie verlor sich im Anblick des Spiralnebels: Andromeda.

Manchmal in solchen Augenblicken fragte sie sich, wie weit die Menschheit gekommen wäre, wenn die Entwicklung ihrer Zivilisation ungestört verlaufen wäre, ohne die Katastrophe. Hätte sie die mehr als zwei Millionen Lichtjahre zum Andromedanebel bereits übersprungen? Oder wäre sie erst bis zum Rand der eigenen Milchstraße vorgestoßen? Oder gar nur zu den benachbarten Sonnensystemen? Zu Sirius etwa, oder zu Alpha Centauri?

Wie weit auch immer – Eve Barkley wäre dabei gewesen.

Sie sprach nicht über derartige Träumereien, mit niemandem. Um so lieber gab sie sich ihnen hin, heimlich, wenn sie allein war oder glücklich. Ja, in solchen Momenten hegte sie nicht den geringsten Zweifel: Ohne die Katastrophe vor einem halben Jahrtausend würde sie jetzt ein Raumschiff kommandieren. Ohne „Apokalyptos“ flöge sie jetzt zwischen diesen Sternen herum; ohne den verdammten Asteroiden könnte sie jetzt tun, was die Sehnsucht ihr zu tun gebot, seit sie ein kleines Mädchen war: aufbrechen, weggehen, Neues entdecken, wegfliegen, weit, weit weg.

Behutsam löste sie sich aus Davids Umarmung. Er knurrte behaglich, drehte sich auf den Rücken, streckte die Glieder von sich, und schlief weiter. Sie schob sich von der Matratze, stand auf und blickte auf den Geliebten hinunter. Sie hatte sich vorgenommen, heute mit ihm zu sprechen. Gleich nach seiner Ankunft hatte sie es tun wollen. Doch die ersten beiden Stunden waren sie nicht allein gewesen. Und als dann die Luke ihrer Privatkuppel sich hinter ihnen schloss, landeten sie schneller im Bett, als Eve denken konnte. Es war immer das Gleiche, wenn sie einander besuchten. Nachher aber, wenn er wach war, dann würde sie das Thema ansprechen. Sie versuchte sich vorzustellen, was er antworten würde. Ihr Herz schlug schneller.

Sie beugte sich zu ihm hinunter und hauchte einen Kuss auf seinen Bauch. Das Weiß der Seidendecke war nur um eine Nuance heller als Davids Haut. Violette Adern schlängelten sich unter ihr – an den Leisten, unter den Schlüsselbeinen, am Hals, an den Schläfen, an den Hand- und Fußrücken, an den Innenseiten der Schenkel und Oberarme. Breit die Schultern, schmal die Hüften, kantig das Gesicht, mit vollen, blutroten Lippen, hoher Stirn und hervorspringenden Wangenknochen. Ein Adonis; ein bleicher, haarloser Adonis.

Sicher – auch deswegen begehrte Eve diesen Mann. Abzüglich aller Orden, Ränge und Erfolge war auch sie nur eine Frau. Wofür sie ihn aber liebte – und das sah man dem Schlafenden nicht unbedingt an – war seine schier grenzenlose Zuversicht, die Entschlossenheit, mit der er die Dinge anpackte, die zu tun waren, und die Energie, mit der die Projekte der Societies vorantrieb. Wer unter David Emerson arbeitete, zweifelte nicht daran, dass man eines Tages wieder ohne Schutzanzug die unterirdischen Bunkerstädte verlassen würde; wer zum großen Freundeskreis David Emersons zählte, glaubte sogar an die verrückten Pläne William des Fünften, des Prinzen von Kent und des Königs der Society London.

William V. beabsichtigte eine Kunstglaskuppel über dem Zentrum der Ruinen Londons zu errichten und die City darunter gemäß den in den Datenbanken überlieferten Originalbauplänen zu restaurieren.

Mochte Eve Barkley sich von Zeit zu Zeit auch gern ihren Träumen hingeben, und war sie auch seit gut einem Jahr bis über beide Ohren verliebt, so blieb sie dennoch eine ziemlich nüchterne Person: Willensstark, extrem belastbar, kühlen Verstandes; so konnte man es in ihrem Personaldossier nachlesen. Eve stand den königlichen Plänen skeptisch gegenüber. Sie glaubte nicht, dass ihre Generation noch ein Leben an der Erdoberfläche ohne Schutzanzüge erleben würde. Die übernächste vielleicht, ihre noch ungeborenen Kinder; ja, vielleicht. Dafür jedenfalls arbeitete sie.

Seufzend wandte sie sich vom Bett ab, ihr nackter Fuß berührte etwas Weiches. Eine grauhaarige Perücke aus unzähligen Zöpfchen. Davids Perücke. In London stand man auf solchen Schnickschnack. In Salisbury trugen nur ein paar exaltierte Frauen Kunsthaar; und der eine oder andere Mann, der sich für einen Künstler hielt. Sie bückte sich nach der Zopfperücke und legte sie auf den Bettrand.

„Die Dusche, Celinda.“ Eve ging auf die Sterne zu, eine hochgewachsene, schlanke Frau mit schneeweißer Haut und schmalem, vollkommen haarlosem Kopf.

Auf der Fläche eines Quadrats von etwa zwei Metern Seitenlänge verblassten die Sterne in der Kuppelwand. Auf einmal stand da eine Lady mittleren Alters in schwarzem Rock, schwarzer Bluse und weißem Schürzchen. In ihrem grauen Haar trug sie ein weißes Spitzenhäubchen. „Sehr wohl, Ma’am.“ Sie warf einen Blick auf den nackten Mann in Eves Bett. „Sie sollten ihn zudecken, Ma’am. Die Temperatur in ihrer Wohnkuppel beträgt unter zwanzig Grad. Nicht, dass er sich eine Erkältung holt.“

„David ist genauso unempfindlich gegen Kälte wie ich, Celinda. Nett von Dir, dass du daran denkst, aber mach dir keine Sorgen.“

„Wie Sie meinen, Ma’am.“ Das Bild verblasste, in der Kuppelwand tat sich eine Luke auf, aus ihr fiel violettes Licht in den Kuppelraum. Eve betrat die helle Grotte und in ihr eine muschelförmige Nische. Im selben Augenblick regnete es warm auf sie herab.

Später, vor der geöffneten Kleidermulde, ging sie nachdenklich auf und ab, holte diesen Anzug heraus, legte jenes Kleid an ihren Körper, schlüpfte in den einen oder anderen Umhang, prüfte sich vor einem großen, runden Spiegel neben der Kleidermulde, und entschied sich schließlich für ein pinkfarbenes Faltenkleid und eine silberfarbene Stola; ein Geschenk Davids.

Persönlich bevorzugte sie eher den schlichten militärisch angehauchten Stil, wie er in Salisbury seit Menschengedenken üblich war: einen Freizeitoverall, einen einteiligen Hosenanzug oder eine Freizeituniform. Doch die Londoner liebten antike oder barocke Mode; und Eve wollte David gefallen.

Sie sah zum Bett, während sie die Stola kunstvoll über ihre Schultern warf. Er schlief noch immer. Zeit zum Aufstehen, fand Eve. „Einen Morgen an der Küste bitte, Celinda. Und Musik für David.“

„Sehr wohl, Ma’am.“ Am Sternenhimmel erschien wieder das Monitorquadrat und in ihm die Zofe. Sie hob die Brauen und musterte Eves Garderobe. „Wie interessant, Ma’am! Hat denn der Prime heute Geburtstag?“ Der Geburtstag James Edinburghers war einer der wenigen Anlässe im Jahr, zu denen man sich auch in Salisbury in Festgarderobe hüllte.

„Nein, Celinda, es wird auch kein neues Regierungsmitglied in sein Amt eingeführt, der König von London heiratet kein zweites Mal, und gestorben ist auch niemand.“ Vor den skeptischen Augen der E-Zofe drehte sie sich einmal um sich selbst. „Ich hatte einfach Lust dazu. Es gefällt dir also?“

„Doch, ja ...“ Celindas Blicke flogen zwischen dem schlafenden Adonis und der Frau in Faltenkleid und Toga hin und her. „Der Morgen an der Küste also. Und Major Emersons Lieblingsmusik. Wie Sie wünschen, Ma’am. “ Der Monitor erlosch, Sterne funkelten an seiner Stelle.

Eve ging zu einer Konsole, die auf der anderen Seite des etwa fünfundzwanzig Meter durchmessenden Kuppelraumes aus der Wand ragte. Hinter ihr schloss sich die Kleidermulde, über ihr verblassten die Sterne, und Andromeda verwandelte sich in einen rötlichen Fleck knapp über dem Boden und unter einem schwarzblauen Himmel. Statt der Violine ertönten Piano, Saxophon und Kontrabass.

Auf der blauen Kunstglaskonsole wölbte sich hinter einer schmalen Tastatur eine Halbkugel von etwa zwanzig Zentimetern Durchmesser. Sie war durchsichtig, und in ihr schwebte eine Spirale in einer leicht gelblichen, aber dennoch klaren Flüssigkeit: Eves persönliches Rechen-Terminal. Über diese Schnittstelle des zentralen DNS-Rechners – die übrigens jedem Offizier und Octoyan zustand – hatte sie jederzeit Zugriff auf das Zentralhirn.

An der rechten Kuppelwand, an der Stelle, wo Sekunden zuvor noch Andromeda glitzerte, hatte sich inzwischen die Sonne zwei Handbreit weit aus dem Meereshorizont geschoben. Darüber loderte in prächtigem Farbenspiel das Morgenrot, und nur ein paar Schritte von Eves Computerkonsole entfernt warf sich die Brandung auf einen Sandstrand. In ihr Rauschen mischte sich das Geschrei von Möwen. An der linken Wand, hinter dem Bett mit dem schlafenden David, erhoben sich Dünen. Ein Schimmel stand auf einem der Hügel, mit gespitzten Ohren schien er den Schlafenden zu beäugen. Allmählich wurde es hell über seinem Bett. Dünengras bog sich in einer Morgenbrise.

Eve beobachtete, wie David sich räkelte und streckte. Was für ein herrlicher Mann! Ein warmer Schauer durchfuhr sie von den Haarwurzeln bis in die Zehenspitzen – Glück.

Sie lächelte, tastete nach dem Energieschalter am Rundfuß der Konsole und drückte ihn. Die Spirale glühte auf, die Flüssigkeit, in der sie schwamm, begann zu leuchten. „Die Johanna-Dateien, bitte.“ Hinter der Konsole erschien in Augenhöhe eine etwa achtzig Zentimeter hohe Vertikale. Diese verbreiterte sich rasch – erst zu einem Balken, dann zu einem Quadrat, schließlich zu einem Rechteck.

Ein paar Sekunden lang sah man weiter nichts als endloses Meer und einen dicht über den Wellen segelnden Albatros auf dem Monitor – Eves persönlicher Bildschirmhintergrund. Dann erschien das Deckblatt der uralten Datei – das Foto einer blonden Frau. Ihr Mund war breit, ihre Lippen schmal, die blauen Augen blickten ernst. Ein skeptischer Zug lag auf dem schönen Gesicht.

Seit Eve im schier unendlichen Datenuniversum der Zentralhelix auf dieses Dokument gestoßen war, erkannte sie Mund und Augen und vor allem den skeptischen Zug in ihrem eigenen Gesicht wieder, wenn sie in den Spiegel sah.

Tagebuch 2009 bis 2054, war über dem Foto zu lesen, und darunter: Johanna Barkley, 1968 – 2055. Hinter sich hörte Eve Schritte.

„Danke für den Jazz, meine Sonne“ Von hinten schlang David seine Arme um ihre Schultern. „Wer ist diese Frau? Sie sieht dir ähnlich. Probiere einmal eine blonde Kurzhaarperücke an, dann wirst du es auch finden ...“

Eve drehte sich um und küsste ihn. „Ich finde es auch ohne Perücke. Und es ist kein Wunder.“ Sie drehte sich nach dem Foto auf dem Monitor um. „Ich bin mit ihr verwandt. Willst du duschen?“

„Ich werde doch deinen Duft nicht von meiner Haut spülen!“ Er machte sich von Eve los und betrachtete das Bild im Morgenhimmel. „Johanna Barkley“, las er. „Neunzehnhundertachtundsechzig bis ... du betreibst Ahnenforschung?“

Eve war unterwegs zur gegenüberliegenden Kuppelwand, wo die Kleidermulde sich geöffnet hatte. „So könnte man es nennen.“

Sie griff zwischen die Kleider und holte einen Bügel mit einem roten Kimono heraus. „Eigentlich wollte ich nur meine Kenntnisse der Vorgeschichte unserer Societies auffrischen, da stieß ich auf eine Quelle, die wir einer meiner Urgroßmütter verdanken.“ Zurück bei David half sie ihm in den Kimono und verknotete den Gürtel an seiner Hüfte. „Johanna Barkley hat vor Apokalyptos praktisch den ganzen Globus bereist. Ich bin noch nicht dahinter gekommen, warum. Vor allem aber hat sie Aufzeichnungen aus den ersten Jahrzehnten nach der Katastrophe hinterlassen.“

„Aus der Epoche der Dunkelheit?“ David Emerson pfiff durch die Zähne. „Es gibt wenige persönliche Aufzeichnungen aus dieser Zeit.“ Er ließ sich auf einem der blauen Kunstledersessel der Sitzgruppe in der Mitte des Raumes nieder. „Komm, Sonne. Lies mir ein paar Seiten daraus vor.“

„Gern, David. Aber vorher muss ich mit dir reden.“ Ihm gegenüber setzte sie sich an den großen, runden Kunstglastisch. „Ich habe mit Flowers und dem Prime über uns gesprochen.“ Emma Flowers war Octoyana für Soziales und damit auch für alle Angelegenheiten, die Frauen, Kinder und Fortpflanzung betrafen.

„So?“ David griff nach dem dunkelblauen Kunstglaskrug auf dem Tisch und schenkte Wasser in eines der Gläser ein, die neben der Blumenvase auf einem Silbertablett standen. „Und was sagen sie?“

„Wenn wir beide uns einig sind, werden sie dich hier in Salisbury willkommen heißen. Wir erhalten einen Privatbereich mit zwei Wohnkuppeln und können Kinder zeugen und aufziehen.“ Sie beobachtete Davids Mienenspiel, während er trank. Es war undurchschaubar. Er setzte das Glas ab. Über die Rose hinweg sah er sie an. Äußerlich blieb sie vollkommen gelassen, geradezu kühl. Nur wer Eve Barkley sehr gut kannte, ahnte, dass hinter dieser stoischen Fassade ein Vulkan brodeln konnte. „Wir sind uns doch einig, oder?“, fragte sie, und selbstverständlich zitterte ihre Stimme nicht.

„O ja, meine Sonne.“ David langte über den Tisch, griff nach ihrer Hand und küsste sie. „Ich liebe dich.“ Er lächelte. „Kinder zeugen? Jetzt weiß ich, warum du Ahnenforschung betreibst – du hast Angst, mit dir könnte das Geschlecht der Barkleys aussterben.“

„Du kommst also zu mir nach Salisbury?“ So unkompliziert hatte sie sich das Gespräch nicht vorgestellt. Ihr angeborenes Misstrauen regte sich.

David stand auf und begann zwischen Rechnerkonsole und Sitzgruppe auf und ab zu laufen. „So einfach ist das nicht, Eve.“

„Warum nicht? Hast du mit der McAllister gesprochen?“ Rose McAllister gehörte zum Londoner Octoyat. Frauen, Kinder und Fortpflanzung in der Bunkerstadt an der Themse gehörten in ihren Verantwortungsbereich. „Ist sie dagegen?“

„Die McAllister? Was sollte sie in unserer Sache zu melden haben – du bist eine Eins und ich eine Zwei. Wir können frei wählen.“

David spielte auf die genetischen Gutachten an, die für jedes Society-Mitglied kurz nach dessen Geburt erstellt wurden. Diese Expertisen teilte man seit Ende des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts in fünf QualitätsEmmagorien ein. Wer der Emmagorie eins oder zwei angehörte, durfte sich ohne komplizierte Antragsverfahren paaren und fortpflanzen.

„Der General aber wird toben, wenn der König mir die Umsiedlung bewilligt. Ich bin einer seiner erfahrensten Dragon-Piloten. Und dann ...“ Er zuckte mit den Schultern, wandte sich ab und betrachtete das Foto von Eves Urahnin in der Kuppelwand. „Und dann habe ich viele Freunde in London. Sehr gute Freunde.“

Eve betrachtete die Rose in der schlanken Vase. Er hätte einfach sagen können: „Ja, ich komme.“ Aber das Leben funktionierte nicht so; nein, so einfach funktionierte es nicht. Hinter ihrem Brustbein brannte Enttäuschung. Die Rose, eine der neusten Züchtungen aus dem Society-Gewächshaus in London und ein Geschenk Davids, war dunkelblau, fast schwarz; ihr langer Stiel, ihre Blüte waren so schön, dass man sie für künstlich hätte halten können, wenn man es nicht besser wusste. Die Sonne stand inzwischen so hoch über dem Meereshorizont, dass ihr rötliches Licht den Kuppelraum tränkte. Die Rose kam Eve plötzlich einsam vor.

Auch David betrachtete die Blüte. „Komm doch du zu mir nach London.“

Er hätte einfach sagen können: „Ja, ich komme.“ Aber sie liebten ihn in London. Seine Mutter, seine Großeltern und Urgroßeltern, seine Schwestern und seine Freunde. Und Spencer vor allem. Sie waren zusammen aufgewachsen, sie waren gemeinsam ausgebildet worden, ihre Väter waren am gleichen Tag ums Leben gekommen, sie hatten zusammen unter Commander Ashbone den Süden der irischen Inseln erforscht und die Festlandküste des ehemaligen Frankreichs.

London aufgeben hieße für David, einen Teil seines Lebens aufgeben.

„Hörst du, was ich sage?“ Er kam zu ihr, kniete vor ihrem Sessel nieder, nahm ihre Hand. „Komm zu mir nach London.“

„Das geht nicht, und du weißt, dass es nicht geht.“ Zorn mischte sich in ihre Enttäuschung. Hundert Mal hatten sie schon darüber diskutiert. „Ich bin Commander der Pionier-Einheit von Salisbury, David. Ich habe mich vor meiner letzten Beförderung schriftlich dazu verpflichtet, die Dragon-Flotte der Society zu leiten und weiter aufzubauen, und die geplanten Expeditionen ins schottische Hochland vorzubereiten und durchzuführen. Ich müsste wortbrüchig werden, um nach London zu kommen. Das ...“ Sie legte den Kopf in den Nacken, hob wie flehend beide Arme. „Das kann ich einfach nicht! Warum willst du das nicht einsehen?“

Er stand auf, setzte sich neben sie in den Sessel, und zog sie an sich. So saßen sie eine Zeitlang, jeder hing seinen Gedanken nach. „Bitte, David. Wir sind noch jung, wir sind Anfang fünfzig – das ganze Leben liegt noch vor uns. Und seiner großen Liebe begegnet man nicht allzu oft. Ich weiß, was du verlässt, wenn du deine Society verlässt. Ich bitte dich trotzdem: Tu es für mich. Tu es für unsere Liebe. Ich werde es dir tausendfach zurückerstatten.“

„Lass mir ein bisschen Zeit, meine Sonne.“ Er lächelte, und sie schöpfte Hoffnung. „Ich brauche Zeit zum Nachdenken, okay?“

2

Die Fotografin

Aus den Johanna-Dateien

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19. 12. 2020

Der Auftrag kam von Reuters. Ich hatte schon so etwas erwartet, als ich gestern Abend die Bilder im Fernsehen sah: Qualmwolken über einem sinkenden US-Kreuzer, Flüchtlingsströme in der arabischen Wüste, Helikopter über dem Golf von Aden. Diese Region kommt nie zur Ruhe.

„Ich muss in den Jemen“, eröffnete ich Louis, als er am Nachmittag zwischen zwei Sitzungen kurz zu Hause vorbeischaute. „Wann?“ Ich sagte es ihm, er nickte, und zum Abschied gab es den üblichen Pseudokuss und die üblichen Floskeln: „Viel Erfolg, und pass auf dich auf.“

Stuart zog nicht mal die Brauen hoch, als ich ihm nach der Schule den Einkaufszettel für die nächsten acht Tage vorlegte und ihm erklärte, dass ich vorübergehend verreise; beruflich. Nun gut, was will ich von einem Achtzehnjährigen erwarten? Dass er sich an mein Jackett hängt, heult und mich anfleht, ihn niemals nicht zu verlassen? Nein, Stuart wollte nur wissen, ob Mrs. Baker zu den üblichen Zeiten kochen und saubermachen würde. „Natürlich“, sagte ich, und mir war klar, wo die Feste seiner Clique in den nächsten Wochen stattfinden würden.

Am Spätnachmittag rief Mary-Lou von der Universität aus an. Ich sagte ihr, wohin ich fliegen würde, und sie rief: „Gott, Mom – da ist doch Krieg!“

Ich: „Deswegen fliege ich ja hin.“

Sie: „O Scheiße! Und Weihnachten bist du auch weg?

Ich: „Ja, leider.“

Sie: „Wann wirst du endlich mit diesem Scheißjob aufhören!“

Ich: „Wenn du mir ein Gebiss in den Mund schieben und mir die Windeln wechseln musst, damit ich salonfähig bin.“

Sie: „Du bist gemein! Ich hab Angst, Mom. Bitte sei vorsichtig! Ich brauch dich noch!“

Nach diesem Telefonat schöpfte ich Hoffnung. Offenbar gibt es doch noch so etwas wie Liebe in unserer Familie.

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21. 12 .2020

Gegen Mittag Ortszeit in Sanaa gelandet. Es ist heiß, viel heißer, als ich beim Start aus dem britischen Springs befürchtet hatte. Im Hotel einchecken, drei Stunden schlafen, ein wenig essen, viel Tee trinken. Bei Einbruch der Dunkelheit dann mit einer Patrouille der Regierungstruppen in Richtung Kampfgebiet. Ein paar US-Marines begleiten uns.

Von der Wüste sah ich nur, was die Scheinwerfer des Jeeps der Nacht entrissen: Die Piste, ein paar Schilder, ein paar Dünen. Nach drei Stunden – Mitternacht war schon vorbei – Lichtschein am Südhimmel. Ich hielt es anfangs tatsächlich für Wetterleuchten!

Der amerikanische Kontaktoffizier sprach von einem „hübschen Feuerwerk“. Die Art, wie er das sagte – gut gelaunt und grinsend – verriet mir, was Sache war: Die Bombenangriffe der US-Marine und der jemenitischen Armee hatten begonnen. „Jetzt heizen wir der verfluchten Terrorbande ein“, sagte der Mann. „Wenn sie wieder einen Religionskrieg wollen, können sie ihn haben!“

Truppen aus Somalia waren an der Südostküste des Jemens gelandet und hatten sich mit starken Verbänden der Rebellen vereinigt. Die Regierungstruppen und die US-Marine griffen sie aus der Luft und mit Panzerverbänden an.

Bald hörte man den Detonationslärm der Bombeneinschläge. Von massiven Kampfhandlungen war die Rede. Wir hielten vor einer Straßensperre. Ich erkannte saudische Soldaten, saudische Panzer, saudische Mannschaftswagen und zwei US-Panzer. Weiterfahrt erst nach Ende der Kämpfe, hieß es. Sie überließen mir einen Jeep als Nachtlager.

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31. 12. 2022

Seit zwei Tagen im Kampfgebiet: Drei menschenleere Dörfer an der Küste, niedergebrannt. Planierraupen, die Massengräber in den Feldern ausheben. Ein Flüchtlingslager am Gebirgsrand, sechsundvierzig Meilen nordöstlich von Aden, etwa zwölftausend Menschen, viele Kinder, wenige Männer. Große, fragende Augen verfolgen mich. Ein alter Mann erzählt Geschichten und schneidet Grimassen, um die Kinder aufzuheitern. Eine Frau spuckt mich an und schlägt mit einem toten Huhn nach mir, weil ich die Szene fotografiere. Meine Eskorte von der US-Army beruhigt sie.

Zwischen den verbrannten Dörfern und dem Flüchtlingslager eine Piste von etwa sechzig Meilen, und auf der Straße ein Konvoi von gut einer Meile Länge: Panzer, Lastwagen, Raketenwerfer, Jeeps, dazwischen einige zivile PKWs und Vans. Alle verkohlt und ausgebrannt und zerbeult, viele umgestürzt, einige aufgerissen wie mit Dynamit geöffnete Konservendosen.

Es ist die Hölle, und ich versuche mich hinter meiner Kamera vor ihr zu verstecken.

Ich sehe verkohlte Menschen aus zerbrochenen Windschutzscheiben hängen, ich sehe verkohlte Armstümpfe aus Seitenfenstern ragen, ich sehe Regierungssoldaten Leichensäcke von der Piste in den Wüstensand schleifen.

Ein Todeskonvoi, ein Massengrab aus Blech, Eisen, Gummi und Fleisch. Ich stelle mein Hirn ab, ich fotografiere, ich wechsle Film um Film.

Etwas abseits und hinter der Brandschrottkarawane ein paar US-Panzer. Sie hätten dem Rebellenkonvoi aufgelauert und ihn angegriffen, sagt mein Kontaktoffizier und deutet in den Himmel, aus dem US Marineflieger drei Tage zuvor Raketen und Bomben auf Konvoi und Panzerverband gefeuert hatten. „Friendly fire.“ Mein Begleiter zuckt mit den Schultern und macht eine betretene Miene.

Zwischen den Panzern tote US-Soldaten. Wollten sie fliehen? Mein Begleiter zuckt wieder mit den Schultern. Die Luke eines ausgebrannten Panzers steht offen, ein verkohlter Leichnam hängt halb heraus. Auf dem Geschützrohr hocken drei Geier. Ich wechsle den Film ...

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18. 2. 2021

Gestern zurück aus dem Jemen. Stuart hat mich in seinem Mini vom Flughafen abgeholt. Geile Bilder hätte ich geschossen, sogar in der Schule würden sie darüber sprechen. Er will mich ausfragen, gibt aber schnell auf, als er merkt, dass ich ihm nur Stichworte hinwerfe. Ich frage nach seiner Schwester und seinem Vater. Louis hat er seit Tagen nicht gesehen – Kabinettssitzungen und Unterhausdebatten über eine Gesetzesvorlage des Innenministeriums. Interessant, wie gut der Junge informiert ist. Ich erfahre, dass Mary-Lou einen festen Freund hat.

Louis hat sich den Abend freigenommen und fährt mit mir zum Essen zu Turner’s in die Walton Street; immerhin. Geduldig hört er sich an, was ich zu erzählen habe. Zurück zu Hause zeigt er mir die Zeitungen mit meinen Fotos. Er hat sie aufgehoben; immerhin.

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29. 4. 2021

Warum ich das mache, haben sie mich heute gefragt. All die Reisen, all die gefährlichen Orte, all die schrecklichen Dinge. Viola Heath fing damit an, die Frau des Sicherheitsberaters. Die Sektparty in der deutschen Botschaft gähnte dem ersten Tiefpunkt entgegen, und wir standen zu siebt auf der Terrasse.

Die Bilder seien ja sehr schön – sehr schön!, ich zitiere wörtlich – und ich würde ja nun auch einen Preis bekommen, aber das muss doch schrecklich sein für eine kultivierte Frau, all die Zerstörung, all die Toten, und dann die hungernden Kinder und der viele Dreck vor allem. Die Schauspielerin, die in der Serie „Doktor Forster“ die Rechtsanwältin spielt, sagte das; ich hab ihren Namen vergessen. Ein Glück.

„O, Sie bekommen einen Preis?“, flötete Sandy McAllister von der BBC. „Welchen denn?“

„Vielleicht den World Press Photo Award“, half ihr Frank Springs auf die Sprünge. „Möglicherweise hat Joan das weltbeste Pressefoto des Jahres 2020 geschossen.“

Bei der TIMES wusste man schon mehr als ich, und alle gratulierten mir, dabei war mein Foto erst nominiert und noch lange nicht ausgezeichnet worden. Aber ich hatte keine Lust, die Sache klar zu stellen – wenigstens hatten sie die bescheuerte Frage der Heath vergessen.

Dachte ich. Aber ich hatte Wanda Cox nicht auf der Rechnung, Louis’ Stellvertreterin ist bekannt für ihre Penetranz und Humorlosigkeit. Jeden beschissenen Small Talk behandelt sie wie eine geheime Unterredung mit dem Premierminister. Sie sagte also: „Was ist jetzt, Joan – verraten Sie uns, warum Sie diesen Risikojob machen?“

Ich hätte ihr in den Hintern treten können. Oder nein: Ich trat ihr in den Hintern, ich lächelte nämlich so ausgesucht freundlich, wie man es von der Gattin eines Staatssekretärs erwartet und sagte: „Es gibt nicht viele interessante Menschen. In diesen Kriegsgebieten und Flüchtlingslagern aber trifft man hin und wieder einen.“

Keine weiteren Fragen. Unsere kleine Gesellschaft auf der Terrasse der deutschen Botschaft zerstreute sich sehr rasch. Den Rest des Abends hatte ich Ruhe vor Heath, Cox und Konsorten. Bis zum Morgen tanzte ich mit Springs, seinen Politikredakteuren und fast allen Beamten des Innenministeriums. Einmal sogar mit meinem eigenen Mann ...

3

Der Auftrag

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Anfang Januar, 2522

Vier Tage später: Jahreswechsel mit den üblichen Feierlichkeiten. Am Tag darauf fuhr David zurück nach London – ohne eine Entscheidung getroffen zu haben. Das bedrückte Eve mehr, als sie sich eingestehen wollte. Sie schlief schlecht in dieser ersten Woche des Jahres.

Sieben Tage nach Davids Abreise saß sie in der Octoyatskuppel dem Prime, dem Botschafter und der Militär-Octoyana gegenüber. „Ein glückliches Jahr 2522 wünsche ich dir“, sagte Sir Lester Galahad. Eve sah ihn zum ersten Mal im neuen Jahr. Sie bedankte sich und wünschte ihm ebenfalls Glück.

Sattgrüne Hügel umgaben den Raum, auf den Weiden graste Vieh, und zwischen zwei Hügelketten schlängelte sich ein Flüsschen hindurch

„Es gibt da eine Aufgabe, die erledigt werden muss“, sagte der Mann, der derartige Panoramen bevorzugte. „Eine möglicherweise schwierige, in jedem Fall aber sehr verantwortungsvolle Aufgabe.“ Sir James Edinburgher neigte den Kopf auf die Schulter und musterte Eve aus schmalen Augen. Das tat er immer, wenn er entschlossen war, seinem Gegenüber eine ausgesucht harte Nuss zu servieren. „Wir dachten an Sie, Commander Barkley.“

Am Morgen, während einer Planungskonferenz für die Schottland-Expedition, hatte General Emily Proud sie gebeten, am Abend in der Octoyats-Kuppel zu erscheinen. Proud war Octoyana für Militärisches. Es ginge um ein Projekt, das der Prime und sie ihr persönlich vorstellen wollten. Danach war General Proud sofort zur Tagesordnung übergegangen, und Eve wusste, dass der Abend eine Überraschung bereithielt.

„Ich höre, Sir“, sagte sie.

„Es geht um unseren östlichen Außenposten an der Weißen Elster.“ Er schnippte mit den Fingern. „Die Karte, Winston!“

Im Monitor auf einem der Grashügel erschien ein rundlicher, junger Bursche mit altertümlichem Stahlhelm und in fleckigem Kampfanzug. „Aye, Sir! Von welcher Karte genau sprechen Sie, Sir?“

„Pardon, Winston. Mitteleuropa natürlich.“ Edinburgher – Prime der Society Salisbury – redete schnell und mit ungewöhnlich hoher Stimme. Die glattrasierte Haut seines Gesichts sah aus wie zerknautschtes, gelbliches Leder. Der Prime war klein und von drahtiger Gestalt. Angeblich lag das in der Familie. Wie üblich trug er einen schwarzen Umhang über seinem dunkelgrünen Overall. Gleichgültig zu welcher Tages- oder Nachtzeit man ihm begegnete – immer blickten seine grauen Augen hellwach, immer wirkte er straff und voller Kraft. Dabei hatte er mit seinen hundertdreiundsiebzig Jahren die durchschnittliche Lebenserwartung der Escaper von Salisbury bereits seit zwei Jahren überschritten.

Eve liebte ihren Prime nicht, aber sie hatte großen Respekt vor ihm.

In Edinburghers geliebten Grashügeln tat sich ein weiterer Monitor auf. Er zeigte die Topografie einer aktuellen Landkarte von Europa: Küstenlinien, Flussläufe, Waldflächen, Ruinengebiete und, als rote Punkte, die wenigen bekannten menschlichen Ansiedlungen. Dazwischen grau unterlegte Flächen – Gebiete, die noch nicht erforscht und deswegen nach Vorlagen von Karten aus dem zwanzigsten Jahrhundert und den Jahren vor „Apokalyptos“ gezeichnet waren. Genau genommen bestand die Karte zu mehr als achtzig Prozent aus grau unterlegten Flächen.

Der Prime drehte sich nach dem Bildschirm um. „Es geht konkret um eine Expedition von hier nach da.“

Während er auf die Karte deutete, blinkte erst die roséfarbene Fläche der Ruinen Londons und dann, jenseits des Kanals und etwa fünfhundertfünfzig Meilen weiter östlich, ein roter Punkt auf. Eve identifizierte ihn sofort als eine Großstadt des ehemaligen Deutschlands: Leipzig.

Neben Psychologie und Philosophie hatte sie Geographie studiert – präapokalyptische Geographie, um es genau zu sagen – die Lage der urbanen Zentren aus der Zeit vor dem Asteroiden war ihr gegenwärtig. „Zu unserer neuen Forschungsstation bei Leipzig?“, fragte sie.

„So ist es, Commander Barkley.“ Edinburgher nickte. „Acht der sechzehn Besatzungsmitglieder werden im nächsten Sommer über zwei Jahre lang dort gearbeitet haben. Sie müssen abgelöst werden. Außerdem brauchen unsere Leute Proviant und Material, das Übliche eben. Und das Wichtigste: Wir brauchen die Arbeitsergebnisse der vergangenen zwölf Monate. Die Forschungsarbeiten über den Asteroiden treten seit Jahren auf der Stelle.“

Der Forschungsbunker war ein Gemeinschaftsprojekt und je zur Hälfte mit Wissenschaftlern aus London und aus Salisbury besetzt. Vor zweieinhalb Jahren, im Frühjahr 2519, hatte eine Expedition unter Commander Terrence Holden südlich von Leipzig einen verlassenen Bunker entdeckt und ausgebaut. Acht Männer und Frauen ließ er anschließend zurück, acht weitere brachte er ein Jahr später, im Juni 2520, nach Leipzig.

„Wäre London nicht an der Reihe, den Kommandanten für ein gemeinsames Unternehmen zu stellen?“ Eve beschlich das Gefühl, dass der Prime noch nicht alle Karten auf den Tisch gelegt hatte. „General Kobayashi achtet in der Regel doch streng auf Parität, was diese Dinge betrifft.“

„Kobayashi ist diesbezüglich ein wenig in Verlegenheit“, ergriff Lester Galahad das Wort. General Charles Draken Kobayashi war der Militär-Octoyan der Society London. „Selbstverständlich haben wir das bevorstehende Projekt mit ihm und dem Londoner Octoyat besprochen, Eve. Ich kam gestern erst von der Themse zurück. Mit dem Dragon übrigens, mit dem zuvor Major Emerson nach Hause zurückgekehrt war.“

Sir Lester sprach mit einer tiefen, volltönenden Stimme. Wie meist wirkte sein kantiges Gesicht hart und ernst. Stirn und Wangen waren zerfurcht, dicke tiefblaue Adern maserten seinen kahlen Schädel. Die roten Augen lagen tief in ihren Höhlen und hatten etwas Stechendes. Sein genaues Alter war unbekannt. Eve schätzte ihn auf über hundert, andere behaupteten, er sei noch nicht einmal neunzig Jahre alt. Galahad gehörte dem Octoyat von Salisbury als Berater an. Stimmrecht besaß er nicht, und Befehlsgewalt schon gar nicht. Doch die hatte in Salisbury ohnehin nur der Prime.

„Kobayashis Problem: Er verfügt über genau drei expeditionserfahrene Kommandeure. Zwei davon, Curd Ashbone und Benjamin Rudolph, brechen in Kürze mit zwei Dragons zur Society Leeds auf. Das Octoyat von Leeds hat uns um Hilfe bei der Suche nach Rohstoffen im schottischen Hochland gebeten, ein zeitaufwändiges und wegen der Newbarbarians im Norden auch nicht ungefährliches Projekt. Außerdem müssen die neusten technischen und wissenschaftlichen Daten abgeglichen werden. Und der dritte Kommandeur, Captain Kathrin Mouse, ist mit Commander Holden in Nordeuropa unterwegs, wie du weißt.“

„Wann soll es losgehen?“, fragte Eve.

„Sobald die beiden neuen Dragons aus der Londoner Werft rollen“, sagte Sir James Edinburgher. „Spätestens Ende März.“

„Neue Dragons?“ Eve runzelte die Stirn. „Und Sie wollen gleich zwei Tanks nach Osten schicken?“ Das war ungewöhnlich für eine Expedition. Einmal verfügten die Societies im Moment nur über insgesamt neunzehn dieser Erd-Wasser-Luft-Panzer – sechs davon standen in den unterirdischen Hangars von Salisbury – und zum anderen konnte jedes einzelne dieser Fahrzeuge sich in eine Festung verwandeln, deren Feuerkraft kein potentieller Gegner etwas entgegen zu setzen hatte; jedenfalls keiner der bekannten potentiellen Gegner. „Verzeihen Sie, aber das kommt mir ein wenig übertrieben vor“, sagte Eve an den Prime gewandt.

„Da mögen Sie Recht haben, Commander Barkley.“ Nun schaltete die Militär-Octoyana General Emely Proud sich ein. „Es ist nur so, dass die Londoner auf den Einsatz der neuen Geräte bestehen. Sie betrachten die Expedition als gute Gelegenheit, um Daten zu sammeln, auf deren Grundlage man das System nach der Rückkehr optimieren kann.“ Die zierliche Frau mit der blauschwarzen Kurzhaarperücke zuckte mit den Schultern. „Dagegen lässt sich nichts einwenden.“

„Was ist neu an den Tanks?“, wollte Eve wissen.

„Zum Beispiel sind die Frontkuppeln verstärkt und mit neuer Bildtechnik ausgerüstet worden“, erklärte die Generalin. „Die Teleskoplamellen zwischen den Segmenten sind elastischer und erlauben einen engeren Wendekreis. Die Laser-Sensoren-Navigation für unübersichtliches Gelände wurde entscheidend verbessert. Die Wahrscheinlichkeit von Kollisionen beträgt jetzt weniger als 0,1 Prozent. Die Titan-Carbonat-Legierung für die Außenkarosserie wurde mit einem neu entwickelten Molekurlarverdichter behandelt. Dadurch gewinnt sie an Festigkeit, und das gesamte Fahrzeug wird dennoch um eine halbe Tonne leichter. Und so einiges mehr.“

„Ein wunderbares Gerät, Eve!“, bemerkte Galahad. „Ich habe es mir zeigen lassen, als ich jetzt in London war – es ist wie eine fliegende Miniaturbunkerstadt. Jeder, der es zum ersten Mal steuern darf, kann sich jetzt schon glücklich schätzen.“

„Nun ja“, knurrte der Prime. „Unsere bisherigen Geräte sind auch nicht schlecht, möchte ich meinen.“

„Warum aber sollen gleich zwei dieser Miniaturbunker nach Leipzig schwimmen und fliegen?“ Die Ausführlichkeit, mit der man ihr die Schokoladenseite des Projekts verkaufte, sprach nach Eves Eindruck für ein besonders schmutziges Haar in der Suppe. Wie gesagt: Sie war eine misstrauische Frau.

Drei oder vier bedeutsame Sekunden lang fühlte sich keiner ihrer drei Vorgesetzten für die Antwort zuständig. Bis endlich Emily Proud das Wort ergriff. „Sie wissen, dass Commander Holden sich vor spätestens zwei Monaten hätte zurückmelden müssen.“

Terry Holden gehörte zur Society-Force von Salisbury. Außer ihm und seiner Besatzung hatte noch niemand den Weg nach Leipzig bewältigt; niemand in London und niemand in Salisbury.

Nur wenige Jahre älter als Eve trieb auch er sich gern in unerforschten Gegenden herum. Im Frühjahr 2521 war er mit einem Dragon und sieben Besatzungsmitgliedern von Leipzig aus nach Skandinavien aufgebrochen, um Kontakte zu möglichen Bunkerkolonien in den zerfallenen deutschen und skandinavischen Metropolen zu knüpfen und Informationen über die rätselhaften kristallinen Asteroidentrümmer zu sammeln.

„Sein letzter Funkspruch erreichte uns Anfang Juli letzten Jahres.“ General Prouds Miene schien Eve jetzt deutlich ernster als zuvor. „Zu dieser Zeit befand sich Holdens Fahrzeug auf dem Rhein, und zwar ziemlich exakt in der Mitte zwischen dem einundfünfzigsten und dem zweiundfünfzigsten Breitengrad. Zwei Wochen später brachte einer seiner Späher uns ein Zwischenprotokoll mit Bild- und Tonmaterial. Diesen Bericht verfasste Holden in den Ruinenwäldern des Ruhrgebiets. Er kündigte darin einen zweiten Vogel für Ende August an. Wir haben den Späher mit einer Empfangsbestätigung zurückgeschickt. Doch seitdem haben wir nichts mehr von Holden gehört – weder gab es weiteren Funkkontakt, noch kam je ein zweiter Späher hier an.“

Das Schweigen über Funk schien Eve noch kein Indiz für eine Havarie oder Schlimmeres zu sein. Die Störstrahlung der Asteroidentrümmer – die sogenannte M-Strahlung – beeinträchtigte manchmal sogar den Funkkontakt nach London. Über weite Entfernungen verhinderte sie praktisch jeden Datenaustausch. Nur selten war es bisher gelungen, über Funk mit Leeds oder gar mit einer Bunkerkolonie auf dem Festland zu kommunizieren. Aber dass der Informationsaustausch über Späher versagt haben sollte ...?

„Das klingt nach Schwierigkeiten“, sagte Eve. In London und Salisbury benutzte man speziell dressierte Kolks als Späher und Boten. Längere Expeditionen führten in der Regel drei bis vier solcher intelligenten Rabenvögel in einem septischen Heckverschlag mit sich. „Späherverluste sind selten. Und selbst wenn ein ausgesandter Vogel verloren gegangen wäre – Terry hätte aus der ausbleibenden Bestätigung darauf geschlossen und einen anderen geschickt.“

„So ist es üblich, ja.“ Die Proud seufzte und machte ein bekümmertes Gesicht. „Es wäre furchtbar, wenn Commander Holden und seinen Leuten etwas zugestoßen wäre. Ich will gar nicht an diese Möglichkeit denken!“

In Salisbury kannte und schätzte man den weiblichen General und die Militär-Octoyana dafür, dass sie sich für jeden einzelnen Angehörigen der Society Force verantwortlich fühlte und bis in die persönlichen Angelegenheiten über die Schwächen und Stärken ihrer Untergebenen Bescheid wusste. Wie eine Mutter behandelte und förderte die Proud ihre Leute. Eve fragte sich oft, wie man so viel Gefühl zeigen und trotzdem so weit nach oben kommen konnte.

„Wir können sie aber nicht ganz ausschließen, immerhin sollte Terrence Holden spätestens im Herbst vergangenen Jahres zurück sein“, sagte Emily Proud. „In jedem Fall müsste die nächste Leipzig-Expedition in die Ruhrgebietsruinen vordringen und an seinem letzten bekannten Standort nach seinen Spuren suchen.“

„Mit anderen Worten: Der Auftrag könnte gefährlich sein“, schaltete der Prime sich wieder ein. „Das würden Sie aber erst unterwegs merken – falls sie das Kommando übernehmen, Commander Barkley.“

„Ich habe eine Wahl?“

„Nun, seit Holden überfällig ist, halten wir Expeditionen aufs Festland für risikoreicher als bisher“, sagte Sir James Edinburgher. „Wir wollen das Risiko niemandem aufzwingen. Es wäre natürlich schade, wenn Sie Nein sagen, denn keiner außer Holden hat so viel Erfahrung auf unbekanntem Terrain wie Sie, Commander Barkley. Wenn Sie ablehnen, bliebe das selbstverständlich unter uns Vieren. Ihr Ruf würde also nicht besonders leiden.“

„Das Schottlandprojekt würde einfach wie bisher mit Ihnen als Kommandantin weiterlaufen“, sagte die Proud. „Wenn Sie allerdings nach Leipzig fahren, müssten wir einen Nachfolger für Sie suchen.“

„Und meine Besatzung? Ebenfalls Freiwillige?“

„Vier Austausch-Wissenschaftler bestimmen wir, vier die Society London“, sagte Sir Leonard. „Statt die obligatorischen acht Besatzungsmitglieder pro Maschine werden aus Platzgründen in diesem Fall vier Mann auf jedem Dragon Dienst tun. Der Kommandant und sieben Männer und Frauen seiner Wahl.“

Seit sechsundvierzig Jahren arbeitete Lester Galahad als militärischer und wissenschaftlicher Berater für die Society-Regierung, seit Edinburgher Prime war. In der Bunkerkolonie war man sich nicht einig über Galahad – die einen verehrte ihn, die anderen rieben sich an ihm. Eve gehörte zum Lager der Lester-Verehrer. Die Familien Barkley und Galahad waren seit Generationen freundschaftlich verbunden.

„Einer muss den Auftrag übernehmen, so oder so“, sagte der Mann mit den uralten Augen. „Die Männer und Frauen in Leipzig müssen abgelöst werden, und die noch ein weiteres Jahr bleiben, brauchen Nachschub. Da führt überhaupt kein Weg dran vorbei. Und dass wir bei der Gelegenheit Holdens letzte Position nach seinen Spuren absuchen, liegt nahe.“

„Davon abgesehen brauchen wir neue Forschungsergebnisse über die Asteroidenkristalle“, sagte der Prime. „Seit Jahrhunderten suchen wir nach einem Zusammenhang zwischen ihnen und der Degeneration des Lebens auf der Erdoberfläche und sind noch keinen Schritt weiter gekommen.“

„Bitte, Eve, übernimm das Kommando.“ Sir Lester sah sie an, und sein zerfurchtes Gesicht war eine einzige Bitte. Wie weich die Augen dieses harten Mannes werden konnten! Eve kannte seine Geschichte nur aus Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern: Auf einer Festlandexpedition war er vor mehr als fünfzig Jahren einer jungen Barbarin begegnet und hatte sich mit ihr gepaart. Damals gehörte er noch dem Octoyat von Salilsbury an. Wie zu erwarten infizierte er sich und erkrankte schwer, überlebte aber aus irgendeinem Grund. Manche ältere Society-Mitglieder verziehen ihm das bis heute nicht. Jedenfalls schloss Edinburghers Vorgänger ihn aus dem Octoyat aus.

„Bitte, Commander Barkley“, sagte nun auch die Proud. „Es ist ein wichtiger Job, und niemand ist so gut dafür geeignet wie Sie!“

„Selbstverständlich stehen Ihnen sämtliche Dateien Holdens zur Verfügung“, sagte Sir James. „Die alten Berichte über die erste Leipzig-Expedition genauso, wie die wenigen Daten, die uns im Juli letzten Jahres mit seinem letzten Späher erreichten.“

Eve sah einen nach dem anderen an. Danach stand sie auf, trat an die Kuppelwand und betrachtete die Karte. Die grau unterlegten Flächen machten ihr keine Angst, im Gegenteil – die zogen sie an. „Ich könnte also zum Beispiel die Besatzung meines Dragons mitnehmen?“

„Nur drei deiner Leute, Eve“, antwortete Lester Galahad. „Und du kannst die Männer und Frauen auch nur vorschlagen – wenn die Leute abwinken, werden wir niemanden zwingen.“

„Die Hälfte Ihrer Mannschaft muss allerdings aus Londonern bestehen“, warf der Prime ein. „Sie kennen ja die Regeln.“

„Verstehe ...“ Mit den Augen zog Eve eine Linie zwischen London und Leipzig. Auch die Entfernung war nicht das Problem – fünfhundert oder sechshundert Meilen waren in wenigen Tagen zu schaffen. Doch die Schwierigkeiten, die so eine Expedition zwangsläufig mit sich bringen würde, der Abstecher in die Ruinenstädte des Ruhrgebiets und die Konsequenzen, die er nach sich ziehen konnte, und schließlich der Aufenthalt im Bunker an der Weißen Elster – all das würde Zeit beanspruchen, viel Zeit. Eve schätzte, dass sie mindestens zwei Monate unterwegs sein würde.

Zwei Monate ohne David ...

„Ich müsste darüber schlafen“, sagte sie, und plötzlich war ihr, als hörte sie Davids Stimme: Ich brauche Zeit zum Nachdenken, okay? Sie drehte sich um und blickte dem Prime ins Gesicht. „Ja, ich bräuchte ein wenig Zeit, um darüber nachzudenken ...“

*

Die Nacht wurde lang. Zwei Stunden lang wälzte Eve sich von einer Seite auf die andere. Irgendwann stand sie auf und begann an der Wand ihres Kuppelraumes entlang zu wandern. Unter dem prachtvollen Sternenhimmel der Panoramakulisse drehte sie Runde um Runde. Das Karussell in ihrem Schädel kam allmählich zur Ruhe.

Manchmal blieb sie in der Mitte des Raumes stehen und blickte zum Kuppelzenit hinauf, wo Andromeda strahlte. Sie dachte an die neuen Dragons, sie dachte an Terry Holden, sie dachte an David, und die Gesichter einzelner Männer und Frauen erschienen vor ihren inneren Augen. Angenommen, Sie würde Ja sagen – wen würde sie mitnehmen?

Lange nach Mitternacht setzte sie sich vor ihre Konsole und ließ sich mit der Zentralhelix verbinden. Holdens Expeditionsprotokolle vom Juli 2021 waren nicht nur erfreulich knapp und präzise formuliert, sie enthielten auch keinerlei Anhaltspunkte für ernsthafte Schwierigkeiten. Die Überquerung des Kanals schien eine Angelegenheit von einer Stunde zu sein. Am stark veränderten Küstenverlauf des Festlands hatte die Ortung vereinzelte Schiffe registriert. Auf Funksignale gab es keine Reaktion, weder aus den Ruinen Antwerpens, noch Düsseldorfs, noch sonst von irgendjemandem.

Weiter nach Süden vorzudringen – über Köln und Bonn bis zu den Ruinen Frankfurts beispielsweise – hatte außerhalb von Holdens Mandat gelegen. In der Mitte zwischen dem einundfünfzigsten und zweiundfünfzigsten Breitengrad verließ seine Expedition daher den Rheinlauf, nahm Kurs nach Westen und durchquerte die südlichen Ruinenwaldausläufer des Ruhrgebiets, also Überreste ehemaliger Städte wie Duisburg, Essen und Bochum. Auch hier keine Reaktionen auf Funksignale. Bunkerkolonien schien es in dieser einst dicht bevölkerten Gegend nicht zu geben. Erstaunlich eigentlich.

Dafür dokumentierte der Bericht die Lage einiger Siedlungen von Newbarbarians in den Ruinen und Wäldern an den Ufern der Ruhr. Sie lagen weit verstreut und zählten jeweils nur wenige hundert Köpfe. Das Bildmaterial zeigte ein paar Dutzend Exemplare dieser wilden Menschen. Die Newbarbarians auf dem Festland unterschieden sich im Wesentlichen kaum von den Stinkern in den Ruinen Londons, und die wenigen Zeilen über Begegnungen mit ihnen lasen sich zum Teil wie alte Mythen über angebliche Begegnungen zwischen Primitiven und Göttern. Holdens Bericht enthielt keinerlei Hinweise auf Feindseligkeiten. Im Gegenteil: Die Geschenke aus den Produktionsabteilungen der Societies – vor allem Eisenwaren und Textilien – zähmten selbst die aggressivsten Barbaren.

Eve rief die Dateien mit Holdens Berichten seiner beiden Leipzig-Expeditionen auf die Kuppelwand und sah sie durch. Die Bilder und Protokolle erinnerten sie an ihre eigenen Vorstöße an die Küste von Wales, in die Gebirgswildnis von Zentralengland und zu den Ruinen Newcastles an der Nordseeküste.

Der Weg nach Leipzig führte zwischen dem einundfünfzigsten und zweiundfünfzigsten Breitengrad fast schnurgerade ins Festland hinein über ausgedehnte Wälder und durch wilde Flusslandschaften. Das Bildmaterial enthielt nichts Aufregendes: Spuren von Ruinen hier und da, hin und wieder Feuerstellen und Fellplanen von Unterschlüpfen wandernder Nomaden, und in der Gegend des ehemaligen Kassels sogar gerodete Wälder und Hornerherden auf eingefriedeten Weiden.

Holden und seine Leute hatten keine Kontakte gesucht. Auch nicht mit den Bewohnern der kleinen Siedlung von Ackerbauern, die sich in den Ruinen Leipzigs entwickelt hatte, obwohl sie vermutlich eine frühmittelalterliche Kulturstufe erreicht hatten und Eisen verarbeiten konnten. Im Frühjahr 2519 war Holden konsequent einem Funksignal gefolgt, das sein Aufklärer südlich von Leipzig angepeilt hatte. Der Rest war Geschichte: Sie fanden einen verlassenen Bunker, dessen Rechner das Funksignal aussandte, Terry Holden setzte die Anlage instand und baute sie zu einer Forschungsbasis aus.

Grübelnd hockte Eve vor ihrem Terminal. Das Gesicht in die Fäuste gestützt starrte sie in die glühende Spirale. Ihre Gedanken kreisten um Terrence Holden und seine Leute. Terry und die anderen drei aus Salisbury kannte sie gut. Sie war mit diesen Menschen groß geworden. War ihre Expedition möglicherweise schon in den Ruinenwäldern an der Ruhr gescheitert?

Es reizte sie, eine Antwort auf diese Fragen zu finden. Auch hatte sie Lust, die Barbarenstämme des ehemaligen Ruhrgebiets persönlich kennen zu lernen. Und natürlich zog die Ferne sie an – allein schon der Gedanke den Bunker zu verlassen und für ein paar Wochen auf der Erdoberfläche zu verbringen ...

Noch unwiderstehlicher aber zog sie ein Mann namens David Emerson an.

Das Karussell in ihrem Kopf begann aufs Neue zu rotieren. In Gedanken versunken rief Eve die Johanna-Dateien auf und schmökerte in den Aufzeichnungen ihrer Urahnin herum; völlig unsystematisch, mal am Ende, mal am Anfang, mal in der Mitte – geradeso, als hoffte sie eine Entscheidungshilfe darin zu finden.

Joan Barkley schien eine wagemutige Frau gewesen zu sein. Kein Risiko und keine Strapaze scheute sie, um auf den Kriegsschauplätzen der Erde fotografieren zu können. Dabei hatte sie alles, was man für ein bequemes Leben brauchte: Geld, Ansehen und einen Mann, der eine wichtige Rolle im britischen Regierungsapparat spielte. In einer Notiz des Jahres 2017 hieß es: Ja, auch ich liebe das Erhabene, das Schöne, auch ich würde lieber attraktive Menschen in der Blüte ihres Lebens fotografieren, Tiere in idyllischer Natur, Landschaften, wohlgeformte Körper, ästhetisch hochwertige Motive. Stattdessen lichte ich das Hässliche ab – den Krieg, die Armut, den Tod. Warum tue ich mir und der Welt das an? Weil ich will, dass die Menschheit anschauen muss, was sie anrichtet: Krieg, Zerstörung und Armut; dass sie solange anschauen muss, was sie anrichtet, bis sie lernt es zu hassen, bis sie anfängt dafür zu sorgen, dass es von der Erdoberfläche verschwindet ...

Die Sätze verblüfften Eve. Eine Idealistin? Ich bin wie die Esther der jüdischen Überlieferung, hieß es an einer anderen Stelle. Wie sie sage ich mir: Komm ich um, so komm ich um, überlebe ich, habe ich das Optimale getan.

Eve war erschüttert, als sie herausfand, dass ihre Urahnin den schon sicheren Bunkerplatz in London verlassen und den Asteroideneinschlag vermutlich draußen erlebt hatte. Warum das? Und warum London? Bis jetzt war Eve davon ausgegangen, dass ihre Vorfahren die Katastrophe im Bunker von Salisbury überlebten. Wie sonst sollten Joan Barkleys Aufzeichnungen in die Datenbanken des Zentralhirns gelangt sein?

Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage, fand Eve ein paar Hinweise auf das Privatleben ihrer Urahnin. Johanna hatte den dreizehn Jahre älteren Louis Barkley Ende der neunziger Jahre kennengelernt, als sie ihn für ein Wirtschaftsmagazin fotografierte. Die Ehe schien nur die ersten zwei Jahre glücklich gewesen zu sein.

Um die beiden Kinder aufziehen zu können, hatte sie ihren Beruf eine Zeitlang an den Nagel gehängt. Unterschiedliche politische Standpunkte entfremdeten sie Anfang des neuen Jahrtausends noch weiter von ihrem Mann. Ihr erster Auftrag als Fotografin führte sie im Jahre 2010 nach Bagdad. Im Sommer 2015 schrieb sie in ihr Tagebuch: Manchmal frage ich mich, ob ich in Wahrheit womöglich nur deswegen mit der Kamera um den Globus reise, um möglichst weit weg von Lou sein zu können ...

Eve musste lachen, als sie das las. Sie dachte an den Mann, dem sie gar nicht nahe genug sein konnte. Zwei oder drei Monate ohne David? Ausgeschlossen!

Sie ging ins Bett und schlief tief und traumlos. Zum ersten Mal im neuen Jahr.

Am nächsten Morgen ließ sie sich in den Privaträumen des Primes melden. Sir James empfing sie in seinem Lesesessel. Ein zerlesenes Buch lag auf seinen Schenkeln, als Eve das Panorama einer irischen Flusslandschaft betrat. Er lächelte sie an, und Eve wusste, dass er ihre Antwort schon gestern Abend gekannt hatte.

„Ich nehme den Auftrag an, Sir“, sagte sie. „Und als Kommandant des zweiten Dragons schlage ich Major David Emerson vor.“

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Apokalyptos

Aus den Johanna-Dateien

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12. 5. 2021

Heute hat Mary-Lou mir ihren Freund vorgestellt. Großer Bursche, blond, dunkelblaue Augen; Pete Holden heißt er. Ein attraktives, höchst sympathisches Mannsbild mit einem nichtssagenden Namen. Hat in Informatik promoviert und studiert jetzt Medizin im gleichen Semester wie Mary-Lou. Die Art wie sie ihn anschaut – anschmachtet – lässt mich das Schlimmste befürchten. Ich sage es nicht gern: Vor dreiundzwanzig Jahren habe ich Louis auf ähnliche Weise angeschaut; ein knappes Jahr danach hatten wir eine Tochter.

Mister Holdens Mutter ist Tänzerin, sein Vater Hafenarbeiter. Sein älterer Bruder spielt Fußball für irgendeinen schottischen Verein. Ich freue mich auf Louis’ Gesicht, wenn ich ihm das erzähle. Nächste Woche, zum Geburtstag ihres Vaters, wird Mary-Lou Mister Holden offiziell in die Familie einführen. Der Ärmste!

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2. 7. 2021

Heute haben sie mir den World Press Photo Award verpasst. Für das Bild vom US-Panzer mit dem Toten in der Luke und den Geiern auf dem Geschützrohr. Die Preisverleihung fand in der Empfangshalle des Broadcasting House statt. Sandy McAllister hat moderiert, Springs, von der TIMES, die Laudatio gehalten. Ich weiß nicht mehr, worum es ging; die üblichen Lorbeeren eben.

Der Innenminister – wahrscheinlich kam er aus Höflichkeit Lou gegenüber – drückte mir die Hand und sagte: „Ich danke Ihnen, Mrs. Barkley. Ich danke Ihnen für Ihre Arbeit – es ist eine echte Friedensarbeit.“

Und du bist ein echter Phrasenproduzent, dachte ich. Auf dem Nachhauseweg aber schämte ich mich für diesen Gedanken. Ich saß stumm neben Louis auf dem Beifahrersitz und machte mir klar, warum ich all diesen Mist und all dieses Elend fotografiere: Weil ich die naive Hoffnung nicht loswerden kann, dass es eventuell von der Erdoberfläche verschwindet, wenn nur genug Menschen es lang und oft genug anschauen müssen.