Als die Religion noch nicht langweilig war - Hans Conrad Zander - E-Book

Als die Religion noch nicht langweilig war E-Book

Hans Conrad Zander

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Beschreibung

Aufklärung über die Gründerväter des christlichen Mönchtums

- Der Klassiker zu den Ursprüngen von Religion und Kirche

- Klug und anspruchsvoll: das große Sachbuch von Hans Conrad Zander zu den Wurzeln des Christentums

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GÜTERSLOHER VERLAGSHAUS

Gütersloher Verlagshaus. Dem Leben vertrauen

Inhaltsverzeichnis

GÜTERSLOHER VERLAGSHAUSVorwort - WIR WÜSTENVÄTERTeil I - ANTONIUS – EINSAMKEIT ALS ABENTEUER
1. Kapitel - WÜSTENSAFARI IN DER ANTIKE2. Kapitel - KULTURREVOLUTION IN ALEXANDRIEN3. Kapitel - DER TOD VON KOME4. Kapitel - HOLLYWOOD IN DER WÜSTE
Copyright

Vorwort

WIR WÜSTENVÄTER

Wie es denn komme, fragt Montalembert, dass ihn, einen liberalen Menschen des 19. Jahrhunderts, das antike Abenteuer der Wüstenväter genauso packe und bewege wie einst die griechischen und römischen Zeitgenossen. Und er gibt sich eine paradoxe Antwort: »Dieses Leben der Einsamkeit und der Askese, dem Anschein nach so ganz im Widerspruch zu allen Neigungen des Menschen, hat nichtsdestoweniger seine Wurzeln in der menschlichen Natur. In einem bestimmten Moment seines Lebens hat jeder wohl diesen geheimnisvollen und mächtigen Zug zur Einsamkeit in sich gefühlt.«

Ich und du und alle Menschen, wir sind einander verbunden durch die denkbar stärksten Bande menschlicher Gesellschaft und Gemeinschaft; am stärksten aber verbindet uns, paradoxerweise, das gemeinsame Empfinden, dass in jedem von uns etwas ist, was nicht gesellschaftlich, sondern göttlich, einzigartig und unantastbar ist. »Sie können mich töten«, sagt Sokrates über seine Anklägerin Athen, »aber schaden können sie mir nicht.« Doch eben diesen Satz über »den Gott«, über das Einzigartige und Unzerstörbare in ihm selber, spricht der sterbende Sokrates nicht stumm in sich hinein. Im »Dialog« spricht Sokrates ihn aus zu allen Menschen. Zu uns, Jahrtausende danach.

Milliarden Kinder der Moderne haben, alle gleich, ihre frühesten und innersten Sehnsüchte in Daniel Defoes »Robinson Crusoe« verkörpert gefunden. Generationen von amerikanischen College-Studenten haben Hermann Hesses »Steppenwolf« gelesen wie den Spiegel der eigenen einsamen Seele. »Und kann ich nur einmal recht einsam sein«, lernten einstmals die Deutschen bei Goethe, »dann bin ich nicht allein.«

Schöne Literatur für schöne Seelen. Das Abenteuer der Wüstenväter ist von stärkerem Kaliber. Weil es unliterarisch ist. Dies ist das klassische Experiment des »secum esse« (»zu sich selber kommen«), nicht erträumt und nicht erschrieben, sondern unternommen. Von antiken Analphabeten erlebt. Materiell und wirklich. »Und Antonius zog hinaus in die große Wüste.«

Doch schon in der ersten Generation zerfällt die ägyptischsyrische Wüstenväterszene in eine atemberaubende Vielfalt von unvorhergesehenen und radikal verschiedenen Versuchen mit der Einsamkeit. Drei klassische Archetypen schildert dieses Buch.

Als heroischer Einzelgänger geht der Ägypter Antonius voraus in eine Einsamkeit, die zuvor, ganz physisch, als tödlich galt. Rasch kommt er zur Einsicht, dass nichts so sehr gelernt sein muss wie die Einsamkeit. Doch darf, so lehrt Antonius, in den göttlichen Dingen kein Alter einem Jungen auch nur ein einziges Wort der Belehrung sagen, solange der Junge ihn nicht fragt.

Tatsache ist, dass von den ersten Abenteurern der Wüste so viele ums Leben oder um den Verstand gekommen sind, dass schon nach wenigen Jahren ein zweiter Ägypter, Pachomius, das Experiment des Antonius auf den Kopf stellt. Pachomius veranstaltet Einsamkeit pädagogisch. Er organisiert Einsamkeit militärisch. So entsteht am Nilbogen bei Theben (Luxor) das erste Kloster der katholischen Kirche.

Kaum scheint sich dieses Modell als einziges durchzusetzen, da kommt ein Dritter, Simeon der große Syrer, bricht aus dem pädagogisch-militärischen Einsamkeitsbetrieb des Klosters wieder aus und stellt sich, nach einer Serie von immer barockeren Experimenten, auf eine hohe Säule: Einsamkeit als Schau. Als Fernseh-Spektakel für einen »Ozean von Menschen«, die sich unter Simeons Säule zu Tode trampeln. Nach Ägypten kommen derweil »ganze Schiffsladungen« von reichen Römerinnen gesegelt, alle beseelt vom kollektiven Wunsch aller Menschen, bei sich selbst zu sein. Ganz allein.

Noch habe ich das Wort »Religion« nicht ausgesprochen. Wo sie gesund ist, da ist sie etwas Bescheidenes und Wichtiges. Religion ist das Gedächtnis der Menschheit. In ihren Riten und Legenden hält sie die Erinnerung fest an frühe Erfahrungen, die für alle wichtig sind. Die Geschichte der Wüstenväter ist eine der großen, kostbaren Erinnerungen unserer Religion.

Gnade der frühen Geburt: Als junger Mönch im Orden des heiligen Dominikus habe ich selber noch das Leben eines Wüstenvaters geführt. In mumifizierter, spätkatholisch verengter Form gewiss, aber dennoch in ungebrochener Tradition habe ich die beiden wichtigsten Erfahrungen der Wüstenväter gemacht: den Bruch mit der Familie und die schweigende Hinwendung zu jenem Gott der Wüste, der »reines Feuer« ist. Und mit dem klassischen Erlebnis, zu mir selbst zu kommen, gleichzeitig, die paradoxe Intuition: Das ist etwas, was ich allen sagen muss. Weil es jeden angeht. Jeden ganz allein.

Trotzdem schreibe ich nicht in der Sprache der spirituellen Anbiederung. Genauso unverzichtbar wie die Religion gehört zu unserem westlichen Gedächtnis die Aufklärung. Es ist meine Meinung, dass aufgeklärter Spott den göttlichen Dingen besser bekommt als esoterische Anstaunung.

Schon habe ich selber zuviel Tiefsinn aufgetischt. Dabei lautet doch das beste Prinzip protestantischer Theologie »Scriptura sese explicans«. Das heißt auf Deutsch: »Der Sinn soll sich aus dem Bericht selbst erschließen« – von selber und für jeden anders. Und selbst für den, dem sich kein tiefer Sinn erschließen mag, bieten die Wüstenväter ein Erlebnis, das nicht zufällig, von Mathias Grünewald bis zu Salvador Dali, die großen Maler alle magisch angezogen hat: Das Abenteuer der Wüstenväter ist Europas klassische religiöse Unterhaltung.

Teil I

ANTONIUS – EINSAMKEIT ALS ABENTEUER

1. Kapitel

WÜSTENSAFARI IN DER ANTIKE

»Siebenmal standen wir im Angesicht des Todes.« So schildert ein Teilnehmer die Gefahren jener religiösen Expedition in die ägyptische Wüste, zu der im Jahr 394 eine verwegene Gruppe von Griechen und Römern von Palästina aus aufgebrochen war. An Ort und Stelle, mitten in der Wüste, wollten sie selber nachsehen, was wirklich dran war an den unglaublichen Gerüchten, die ganz Europa in Bann schlugen, den griechischen Osten und den lateinischen Westen. Ob es sie wirklich gebe, jene religiösen Abenteurer, denen in der tiefsten Einsamkeit der Wüste Ägyptens Erlebnisse nachgesagt wurden, wie sie so extrem nie zuvor ein Mensch an Leib und Seele erfahren hatte.

Die Wüstenväter!

Sie in Fleisch und Blut zu sehen und sie ganz persönlich zu interviewen war das erklärte Ziel der siebenköpfigen Expedition. Doch vor dem Ziel kam der Weg. Er erwies sich, wie so häufig in der Religion, als zum Verzweifeln lang und schwer. Rufin von Aquileja, der die lateinische Fassung des Expeditionsberichts besorgt hat, hält wörtlich fest: »Das erste Mal gerieten wir in Todesgefahr, als wir fünf Tage und fünf Nächte lang zu Fuß hin und her durch die Wüste zogen. Fast wären wir da an Hunger und an Durst gestorben.« Doch schlimmer als die Sandstürme waren die Salzdünste der Wüsten westlich vom Nil: »Das zweite Mal war es, als wir in einem Salz-Sumpf den Weg verloren. Wie zu Pfählen ist dieses Salz versteinert, und zwar so spitz, dass es uns die Füße aufschlitzte. Grauenhaft schmerzten unsere Wunden, und wir waren nahe daran, das Leben zu verlieren.«

In der nächsten Salzpfanne half nur noch Beten: »Beim dritten Mal versanken wir bis zu den Hüften im stinkenden, fauligen Morast. Dem Tode nahe schrien wir wie David: ›Herr, komm zu Hilfe, die Wasser gehen uns ans Leben. Wir gehen unter im tiefen Schlamm, und unsere Kraft versagt.‹«

Von Menschenbrüdern kein Beistand in der Not: »Das vierte Mal gerieten wir in Todesgefahr, als wir der Küste entlang einen Weg suchten und dabei Räubern in die Hände fielen. Mit ihren Schwertern uns zu töten gelang ihnen nicht. Doch wir starben fast an den Erschöpfungen der Flucht. Mehr als zehn Meilen weit rannten die Banditen hinter uns her.«

Auch hatte niemand die sieben Griechen und Römer gewarnt, wie leicht der Reisende in Ägyptens Wüste ein nasses Grab findet: »Das fünfte Mal war es, als wir in jener Wasserwüste fast ertranken, die von der Flut des Nils zurückzubleiben pflegt. Drei Tage brauchten wir, bis es uns unter äußerster Not gelang, den Wassermassen wieder zu entkommen.« Auch der Gedanke, die Wüstenfahrt zu Schiff fortzusetzen, erwies sich rasch als Fehlentscheidung: »Das sechste Mal gerieten wir auf dem Nil selber in Todesgefahr, als das Boot, mit dem wir segelten, kenterte.«

Die falsche Jahreszeit war es auch: »Anfang Januar wollten wir, östlich von Alexandrien, den Mariotis-See überqueren. Da drohte uns ein siebtes Mal der Tod. Zwischen allen Papyrus-Stauden ließ uns ein Orkan auf einer einsamen Insel stranden. Drei Tage und drei Nächte saßen wir dort hilflos unter freiem Himmel im eiskalten Sturm.«

»Siebenmal im Angesicht des Todes.« Das, so fährt Rufin in modern anmutender Ironie fort, »müsste eigentlich reichen«. Doch da war ein achtes Mal. Das war der Schrecken schlechthin.

Beim achten Mal kamen die Krokodile.

»Eine Höhle war da, die voll Wasser stand. Am Rand dieser Höhle aber sonnten sich drei ungewöhnlich große Krokodile.« So reglos lagen sie da, dass die Reisegruppe dem frommen Irrtum verfiel, die Reptilien seien tot: »Wir schlichen also näher auf sie zu, um die maßlose Größe dieser Bestien zu bestaunen. Doch die Geräusche, die wir dabei machten, weckten sie. Und mit gewaltiger Kraft rannten sie hinter uns her.«

Wieder rannte die Expedition um ihr Leben. Doch diesmal rannte sie in die richtige Richtung. Dort nämlich, wo selbst Krokodile schaudernd kehrtmachten, tief im Wadi Natrun, und tiefer noch in der Wüste, wohin selbst Räuberbanden die Fremden zu verfolgen sich nicht mehr getrauten, planlos herumirrend und doch von Gottes Vorsehung wunderbar geleitet, erreichte die griechisch-römische Expedition im Jahr 394 ihr ägyptisches Ziel:

Die Wüstenväter!

Die Augen liefen ihnen über, den sieben Griechen und Römern, so verblüffend übertraf gleich bei der ersten Begegnung die Wirklichkeit der Wüstenväter alle Phantasie. Gewiss sahen die ägyptischen Eremiten so aus, wie man sie sich in den großen Städten rings ums Mittelmeer vorstellte: knochenhager, schmutzstarrend und zerlumpt. Doch zu gleicher Zeit waren sie, ganz augenscheinlich, bei fabelhafter Gesundheit. So kerngesund wie der heilige Kopres. Obwohl schon neunzig Jahre alt, empfing er die Expedition nicht nur in heiterster Laune, sondern auch in bester Form. In derart jugendlicher Form war der Wüstenvater Kopres, dass er nicht nur vor seinen staunenden Gästen ein Wunder nach dem andern wirkte, sondern ganz nebenbei noch etwa fünfzig junge Möchtegern-Wüstenväter im Wüsten-Survival – materiell und spirituell – trainierte.

Abraham sei auferstanden, dachte die Expedition zuerst, als sie den heiligen Johannes von Diolcus traf. So biblisch alt sah er aus. Mit einem Bart so lang und schön wie Aarons Bart. Dabei wirkte er ebenso munter und gesund wie Kopres. Und auch er war damit beschäftigt, zahlreiche lerneifrige Jünglinge im Wüsten-Survival zu trainieren.

Woran lag das, die verblüffende Gesundheit von Männern, die sich doch allen Entbehrungen der Einsamkeit aussetzten, und das in einer Landschaft von äußerster Menschenfeindlichkeit?

Es hatte etwas mit der Ernährung zu tun. Obwohl sie untereinander über die richtige Diät stritten, waren die ägyptischen Einsiedler alle eines: radikale Vegetarier. Der Wüstenvater Elias zum Beispiel erzählte der Expedition, er sei 110 geworden und werde noch viel älter, weil er, seit vielen Jahren schon, täglich nur drei Unzen Brot esse und, als Nachtisch, drei Oliven. Der Wüstenvater Or dagegen, trotz seinem »schneeweiß leuchtenden Bart« erst neunzig, schrieb seine Gesundheit der ausschließlichen Ernährung mit »Kräutern und süßen Wurzeln« zu. Radikaler noch war der Wüstenvater Johannes, den die Expedition nur mit Mühe fand, weil er, versessen auf bestimmte Kräuter und Gräser, den festen Wohnsitz aufgegeben hatte und quer durch die Wüste, wie ein Hirsch, »weidete«.

Nicht dass sich die Wüstenväter selber als »Vegetarier« bezeichnet hätten. Ihrer Zeit entsprechend sprachen sie von »askesis«. Der Sinn dieses griechischen Wortes hat sich seit dem Mittelalter zur »Askese« verengt und verdünnt. Damals, in der späten Antike, war »askesis« aber noch ein alltägliches Wort. Es hieß soviel wie »Training«. Einübung also in irgendein Können, vor allem sportliches Training. Erklärter Zweck des christlichen Trainings in der Wüste war es, Körper und Geist zu trainieren für die Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit.

Sinn und Ziel jeglichen Trainings ist der Erfolg. Wie aber konnte die griechisch-römische Expedition überprüfen, ob die ägyptischen »Athleten Gottes«, allein in der Wüste, tatsächlich Gott erfahren hatten? Ganz einfach. Wie heute noch bei den Hindus, so gab es dafür im Jahr 394 für Heiden und für Christen ein klares, leicht überprüfbares Kriterium: Wer Gott wirklich erlebt hat, besitzt hinfort selber göttliche Kraft. Das heißt: Er ist fähig, Wunder zu wirken. Von einem ägyptischen Einsiedler zum andern reisend, wurden die griechisch-römischen Expeditionäre, zunehmend fassungsloser, Zeugen unglaublicher Wunder.

Am unglaublichsten war das lockere Understatement, mit dem die Wüstenväter ihre Wunder vollbrachten. »Ja gewiss«, sagte der heilige Kopres, »wir machen Blinde wieder sehen und Lahme wieder gehen. Aber ist das ein Wunder? Es sind Kleinigkeiten, vollbracht von kleinen Männern. Auch Ärzte können so etwas.«

Was echte Wunder sind, erfuhr die Expedition in der Eremitage des heiligen Patermuthius. Dieser ehemalige Mörder und Grabschänder hatte sich nach seiner Bekehrung zum Wüstenvater nicht ohne guten Grund auf die Auferweckung von Toten spezialisiert. So viele Tote hat Patermuthius auferweckt, dass er nach einer Weile vorsichtig wurde und den jeweiligen Toten lieber vorher fragte, ob er denn überhaupt auferweckt werden wolle. In jenen beiden Fällen, die Rufins Expeditionsbericht im Detail schildert, kam aus der Tiefe des Grabes laut und deutlich der Bescheid: »Nein, lieber nicht!«

Wie findet einer, der allein und einsam weit draußen in der Wüste lebt, überhaupt Gelegenheit, Tote zu erwecken? Anders als ein Kranker kann ein Toter schließlich nicht auf ein Kamel steigen und den Wüstenvater besuchen. Nun. Wie so viele Wüstenväter war Pathermutius ein Mann von wundersamer Mobilität. So wie Jesus über den See Genezareth, so wandelte er, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, trockenen Fußes über den Nil. Als Patermuthius gar, um einem anderen Wüstenvater einen Kurzbesuch abzustatten, hoch durch Ägyptens Luft geflogen kam, wusste die Expedition nicht mehr, wo ihr der griechisch-römische Kopf stand. Rufin von Aquileja schreibt: »Hier sind so viele Wunder, dass wir es aufgeben, sie alle aufzuschreiben. «

Es war der 90-jährige Johannes von Lykopolis, einer der berühmtesten Einsiedler in der Thebäischen Wüste, der es übernahm, die in allzu wundersame Wunder abgeflogene Expedition wieder auf den Sand der asketischen Tatsachen zurückzubringen. Gewiss, groß seien die Wundertaten, zu denen die Askesis befähige, räumte Johannes ein. Doch allen übernatürlichen Gaben zum Trotz bleibe bei den meisten »athletae Domini« ein schwacher Punkt.

Gebannt hingen die sieben Griechen und Römer am Mund des 90-jährigen Ägypters: Was ist das, der schwache Punkt aller Askese?

Seit vierzig Jahren schon, berichtete Johannes seinen Gästen, lebe er mit Bedacht so tief in der Wüste, dass er gar keine Möglichkeit habe, eine Frau zu sehen. Und doch sei ihm, kürzlich erst, etwas Verrücktes passiert.

Urplötzlich nämlich, mitten durch die Wüste, kam »eine bildschöne Frau« auf seine Einsiedelei zugewandert. Nicht weil sie so schön war, ließ der Heilige sie in seine Höhle, sondern weil sie zum Erbarmen jammerte. Wortreich erzählte sie ihm, wie sie sich in der Wüste verirrt habe. »Auf diese Weise«, berichtet Rufins Protokoll, »zog sie die Unterhaltung in die Länge und drängte allmählich zur Liebe. Weiter ging die Plauderei, es wurde gelacht und geflirtet. Mit ihrem vielen Reden verwirrte sie ihn. Dann streichelte sie gar seine Hand, seinen Bart und seinen Hals. Schon war er nicht mehr bei Verstand, zum geilen Hengst war er geworden. «

Wie wird es weitergehen in der Einsiedelei des heiligen Johannes?

»Plötzlich schrie sie laut auf, entwand sich seinen Armen, war nicht mehr zu sehen und entschwand wie ein Schatten. In der Luft aber hörte er das schallende Hohngelächter der Dämonen. Sie lachten ihn aus, weil es ihnen gelungen war, ihn mit dem verführerischen Trugbild zum Narren zu halten.«

Einen Augenblick schwieg Johannes von Lykopolis. Das, gestand der Ägypter sodann seinen europäischen Gästen, sei eben der schwache Punkt der Askese. Die eigentliche Verkörperung des Fleisches sei die Frau. Gerade dann, wenn der Mann sie fliehe, weit draußen in der Wüste, dränge sie sich der männlichen Phantasie übermächtig auf. Der 90-jährige Asket wörtlich: »Unauslöschlich ist die Erinnerung an ihren Anblick und an die Unterhaltung mit ihr.«

Staunend hörte die Expedition den erotischen Erzählungen des Wüstenvaters zu. Staunend und ein bisschen ungläubig. Wer hielt da eigentlich wen zum Narren? Der Teufel den Wüstenvater oder der Wüstenvater die Expedition? Der Mann war schließlich neunzig. Wollte ein steinalter Ägypter sich vielleicht nur lustig machen über sieben Griechen und Römer, die, weithergereist aus den sexgläubigen Großstädten rund ums Mittelmeer, ihr Leben riskiert hatten, um ihn als asketische Sensation zu bestaunen?

Ein Wort ging um unter den Einsiedlern Ägyptens. Ein Spruch oder, wie damals auch die Ägypter auf griechisch sagten, ein »Apophthegma«. Der Altvater Os, der große Lehrer der Eremiten im Wadi Natrun, hat es als Erster ausgesprochen. So bedeutsam, als wäre er der Anfang aller Weisheit, ging in der Wüste dieser Spruch von Mund zu Mund: »Entweder fliehe gründlich die Menschen, oder verspotte die Welt und die Menschen, indem du dich selber, soviel als möglich, zum Narren machst.«

Verwirrt zog die Expedition weiter. Doch als sie ankamen an ihrem nächsten Etappenziel, in der Einsiedelei des heiligen Isidorus, verloren die sieben Griechen und Römer endgültig die Fassung.

Einen Einsiedler stellt man sich einsam vor. So wirr und widersprüchlich die Gerüchte sein mochten, die in Konstantinopel und in Rom über die Wüstenväter Ägyptens im Umlauf waren, in einem war sich doch die antike Welt einig: Was diese Männer auszeichnete, war das Abenteuer extremer Einsamkeit. »Eremitae« nannte man sie deshalb in Rom, von griechisch »eremos« für »einsam, isoliert«. Ein zweites Wort war »anachoretae«, das heißt etwa »Aussteiger«. Am gebräuchlichsten aber war das Wort »monachi« von griechisch »monos« für »allein«. Daraus ist unser Wort »Mönch« geworden. Im Jahr 394 aber war »monachus« noch kein sakral erstarrtes und verengtes Wort, sondern entsprach in der Bedeutung unserem Wort »Single«.

Menschen ganz allein in tiefster Einsamkeit: Mit dieser selbstverständlichen Vorstellung im Kopf war die griechisch-römische Expedition losgezogen nach Ägypten. Schon beim heiligen Kopres und beim heiligen Johannes von Diolcus hatte sie sich ein bisschen gewundert. So sehr waren beide in ihren Einsiedeleien von Jüngern umlagert. Jetzt, in der Einsiedelei des heiligen Isidorus, liefen ihr die Augen über: Gut tausend einsame Männer lebten, rund um den heiligen Isidor, auf einem Haufen zusammen in dieser »Einsiedelei«.

In der nächsten Etappe dann, am Moeris-See, wollte die Expedition zum heiligen Serapion. Doch hatte sie große Mühe, zu ihm persönlich vorzudringen. Unter dem Einsiedlerchef Serapion, so die Schätzung des Expeditionsberichts, lebten in dieser »Einsiedelei« etwa »zehntausend Brüder«. Rufin von Aquileja fassungslos: »Einen wirtschaftlichen Großbetrieb hatte er mit der Arbeit der Brüder aufgebaut.«

Der Einsiedler als Unternehmer? Die Einsiedelei als »wirtschaftlicher Großbetrieb«?

Je tiefer die Expedition vordrang in die Wüste Ägyptens, desto dichter wimmelte es in der Einöde von einsamen Männern. Wahrscheinlich, schätzt Rufin von Aquileja, gebe es inzwischen so viele Einsiedler in der Wüste »wie Menschen in den großen Städten« ums Mittelmeer. An das ursprüngliche Ziel der Expedition, nämlich »alle Wüstenväter zu besuchen«, sei unter diesen Umständen nicht mehr zu denken, »selbst wenn einer das ganze Leben lang in der Wüste herumzöge«.

Einsiedler ohne Zahl. Doch eins fällt auf: Kreuz und quer durch alle Wüsten Ober- und Unterägyptens ziehend, hat die Expedition zwar – Rufin gebraucht das Wort – »eine Armee« von Wüstenvätern gefunden, doch eines nicht: Sie traf keine einzige Wüstenmutter.

Ist die Sehnsucht nach Einsamkeit etwas genuin Männliches? Oder hat die Expedition des Jahres 394 nicht sorgfältig genug geforscht? Warum enthält Rufins Bericht kein Wort über Maria von Ägypten, die große Wüstenmutter, die noch einen Goethe »hinangezogen« hat?

Wir werden eine eigene Expedition ausrüsten müssen. Alle Wüsten Ägyptens und Syriens wollen wir durchkämmen auf der Suche nach den Wüstenmüttern. Finden werden wir sie, die Wüstenschwestern unserer Seelen, ob sie selber, tief in der Wüste, gefunden werden wollen oder nicht.

Die Expedition des Jahres 394 hatte anderes in ihrem antiken Männerkopf. Sie wollte, auf dem Rückweg schon, in die Nitrische Wüste. Das ist eine Salzsenke etwas südwestlich vom Nildelta. Dort war kurz zuvor schon Palladius, ein religiöser Tourist aus Konstantinopel, auf »etwa fünftausend« Einsiedler gestoßen. Inzwischen waren es noch mehr. So viele Einsiedler, dass in der Nitrischen Wüste bereits verdächtig ähnliche Probleme herrschten wie in einer deutschen Eigenheim-Siedlung.

In Höhlen hatten die ersten nitrischen Einsiedler gehaust. Längst waren alle Höhlen besetzt. Jetzt wurde gebaut. Am laufenden Band. Als Baulöwe in der Wüste tat sich der Wüstenvater Ammonius hervor. Er entwickelte, berichtet der staunende Rufin, ein Schnellbauverfahren für Einsiedeleien: »Und an einem Tag waren die Zellen fertig«.

Das Wort »kellion« (»Zelle«) klingt heute nach Reihenbau. Ganz so schlimm war es im Jahr 394 aber noch nicht. Immerhin war das Gedränge unter den Einsiedlern schon so stark, dass für Neuankömmlinge regelrechte Bauvorschriften erlassen wurden: Zwischen den einzelnen Einsiedeleien solle wenigstens so viel Abstand bleiben, dass kein Einsiedler den andern »leicht beobachten«, dass vor allem »keiner hören kann, was der andere redet«.

Die Wüste als »civitas«. Als Stadt. Eine Frage drängte sich der antiken Expedition auf, die sich auch uns durch dieses ganze Buch immer neu stellen wird: Gibt es vielleicht auf Erden nichts, was so eng und dauerhaft Gemeinschaft stiftet wie das Erlebnis der Einsamkeit?

Oder ist das bloßer Tiefsinn und somit Unsinn? Seit es die Menschheit gibt, ist sie mit Dummheit geschlagen. Die allerälteste Dummheit ist, dass einer dem andern nachläuft. Ist es da nicht die allerdümmste Dummheit, wenn einer dem andern nachläuft in die Einsamkeit?

Dies schlüssig zu erkunden, kam die Expedition des Jahres 394 zu spät. Eine Generation zuvor schon war er gestorben. Er, der als erster und allein, auf eigene Gefahr, das Abenteuer radikaler Einsamkeit gewagt hatte. Er, der wahre »monachos«, der wahrhaft Einsame, dem Unzählige nachfolgen sollten in das Erlebnis der Wüste:

Antonius der Große!

Bild 1

Das Antoniuskloster heute

2. Kapitel

KULTURREVOLUTION IN ALEXANDRIEN

Als Antonius im Jahr 313 ein drittes Mal das Niltal verließ und hinauszog in die Wüste, diesmal ostwärts bis hin zu einer Höhle am Berg Kolzim, schon fast am Roten Meer, da, so berichtet sein Freund und Biograph Athanasius, überkam ihn eine neue, ungeahnte Empfindung: »Antonius begann den Ort zu lieben.«

Diesen Ort heute zu besuchen ist nicht schwer. Von Kairo aus sind es im Auto drei Stunden. Auch wer abends erst, in der Dunkelheit, ankommt, kann sein Ziel nicht verfehlen: Als wäre es ein Casino in der Wüste von Las Vegas, so feenhaft beleuchtet taucht das koptische Antoniuskloster in der Wüste auf.

Vor dem Kloster ein immenser Parkplatz. Der größte Parkplatz von Ägypten, sagen manche. Für die vielen Autobusse voll koptischer Familien aus Kairo und aus Oberägypten. Dazwischen die Leihwagen mit bildungsbeflissenen TouristInnen von allen Badestränden am Roten Meer. Eine unabsehbare Prozession wimmelt, noch zu dieser späten Stunde, auf dem frisch betonierten Pilgerweg bergwärts zur »Höhle des heiligen Antonius«. Wo die Einsiedelei, hoch da droben, liegen mag, ist auch in der Dunkelheit leicht zu erraten. Eine Lichterkette aus vielen schwankenden Taschenlampen markiert den Weg verspäteter Wallfahrer etwa so wie bei uns in sommerlichen Nächten den Abstieg verspäteter Wanderer vom Matterhorn.

Dem Rat ägyptischer Freunde folgend, habe ich den Sonnenaufgang abgewartet und einen anderen Weg gewählt. Östlich vom Antoniuskloster führt der schmale Pfad zuerst durch ein Geröllbett und dann durch ein wüst zerklüftetes Wadi steil empor ins Galala-Gebirge. Oben in einer tiefen Felsspalte unversehens ein winziges Holzfenster, daneben eine offene Tür. Und unter der Tür, in der knöchellangen schwarzen Kutte koptischer Mönche, mich argwöhnisch musternd, der Einsiedler. Ein Ägypter mittleren Alters, der hier, im 21. Jahrhundert, das gleiche Leben zu führen versucht wie einst Antonius im 4. Jahrhundert. Er deutet auf seinen über und über mit Mörtel bekleckerten Rock: »Ich bin am Renovieren.«

Dann wieder ein argwöhnischer Blick: »Welchem Bischof gehorchst du?« Nicht immer fällt einem gleich die beste Antwort ein. »Ich gehorche dem Bischof von Rom.« Der Eremit wendet sich zu seiner Höhle zurück. »Segne mich!«, sagt er, offenkundig darauf bedacht, der östlich-westlichen Begegnung ein zwar christliches, aber schnelles Ende zu bereiten. Doch dann, als bereue er den unfreundlichen Empfang, packt er mich am Ärmel, zieht mich vor den Eingang und deutet hinauf zu einer kleineren Höhle weiter oben unmittelbar unter einer hohen senkrechten Felswand: »Meine zweite Zelle. Geh da hin!«

Die Zweitwohnung des Einsiedlers erweist sich aus der Nähe nicht als Höhle, sondern eher als eine Felsnische, wie man sie in den Bergen arabischer Länder als Lagerplatz von Schafhirten findet. Gut einen Meter ist sie tief und etwa zwei Meter breit. Vorn eine Steinmauer zum Schutz gegen den Wind. Sonst nichts weiter als eine hölzerne Rückenlehne, ein paar Lumpen zum Schlafen und ein kleines Holzkreuz.

Grandios aber ist die Aussicht. Auf der Stelle erinnert sie mich an jenen Satz, den ein moderner Schüler der ägyptischen Wüstenväter, der Franzose Charles de Foucauld, niederschrieb, als er, allein mitten in der Sahara, den Assekrem bestieg, auf der Suche nach der gleichen Landschaft wie Antonius, nach der gleichen Einsamkeit, nach derselben Transzendenz: »Das Panorama«, schrieb er nach Paris, »ist unaussprechlich, unvorstellbar schön. Ich kann nicht hinsehen auf dieses Meer von Gipfeln und von wild zerklüfteten Felsen, ohne Gott anzubeten.«

Etwa zwei Kilometer westlich, auf gleicher Höhe und zu gleicher Zeit, ein aberwitziges Gewühl. Hinein in die berühmte »Höhle des Antonius« drängen alle. Und alle wollen wieder hinaus. Der Eingang zu der Höhle aber ist ein so schmaler Engpass, dass immer nur einer durchkommt.

Drinnen stinkt es zum Erbrechen vom ungelüfteten Schweiß unzähliger Besucher. Draußen lassen die Pilgerhorden zur Feier der gelungenen Wallfahrt Knallfrösche in die Felsen steigen. Das ist der Ort, wo Antonius nichts anderes gesucht hat als das Abenteuer extremer Einsamkeit.

Ist es wirklich der Ort? Es gibt hier oben im Galala-Gebirge ein paar Dutzend solcher Höhlen. In einer von ihnen hat Antonius gelebt. Welche es war, weiß nur der Aberglaube exakt. Wir brauchen es nicht zu wissen. Exaktheit ist keine religiöse Kategorie.

Vielleicht hat er dort gesessen, wo ich jetzt sitze. In völliger Stille und Einsamkeit. Von Zeit zu Zeit nur ein leises Rauschen des Winds. Und die Flügelschläge der Raben. Die berühmten Raben, die in den byzantinischen Legenden den ägyptischen Eremiten Gesellschaft leisten. Ganz von selber kommen mir vier Raben zugeflogen.

So kristallklar ist hier oben die Luft der Wüste, dass jeder Lungenzug zum großen Genuss wird. Zu einem Rausch königlicher Freiheit, wie ihn Saint-Exupery erlebt hat auf seinen Flügen allein über der nordafrikanischen Wüste.

Von Ägypten nach Palästina, nach Arabien und bis hinauf nach Tibet ist die Wüste der »lieu naturel«, der wesenseigene Ort der Gottes- und der Selbsterfahrung. Um dies zu verstehen, bedarf es keiner christlichen Offenbarung und keiner buddhistischen Erleuchtung. Es genügt, allein hinaufzuwandern zu einer der Felshöhlen im Galala-Gebirge, dort einen Tag allein schweigend zu verweilen und – ganz physisch – den Blick hinausschweifen zu lassen in die Wüste.

Diese Landschaft erinnert an etwas.

Sie erinnert an Fernsehbilder, die Sonden aus dem Weltall zurückgesendet haben: Bilder vom Mond, vom Mars. Alles Bilder von kosmischen Wüstenlandschaften. Nichts anderes ist der Planet Erde als eine winzigkleine grüne Oase in der grenzenlosen Wüste des Alls.

Diese mikroskopische Oase ist unsere Welt. Religion aber ist das grenzüberschreitende Gefühl, dass jenseits der winziggrünen Welt, die uns birgt, das Erlebnis einer maßlos anderen Welt beginnt. »Transzendenz« ist ein abstraktes Wort für diese ungleich größere Wirklichkeit jenseits der unseren. Die Menschen der Antike, Heiden wie Christen, zogen es vor, viel sinnenhafter vom »Himmel« zu sprechen. Wer sinnenhaft hinauswill, aus der grünen Oase unserer beschränkten Welt hinaus in jene grenzenlos andere Wirklichkeit des Himmels, der ziehe allein in die Wüste und wage das Experiment der Einsamkeit. Antonius der Große hat es als Erster gewagt.

Gekommen ist er, wie du und ich, aus einer gänzlich anderen Welt. Er kam aus Kome. Das ist das heutige Qeman, ein Fellachendorf am mittleren Nil im Regierungsbezirk Beni Suef, etwa 95 Kilometer südlich von Kairo. Alle Fachhistoriker vermerken dieses Dorf als den Ort, wo Antonius im Jahr 251 geboren wurde. Keiner beschreibt es.

Nach mühseligem Zureden erklärt sich ein ägyptischer Freund in Kairo bereit, mit mir nach Qeman zu fahren. Der Weg führt über die Agricultural Road am westlichen Nilufer südwärts, dann einem schmalen Kanal entlang in die tiefgrünen Felder. Von Minute zu Minute steigert sich die Beklemmung meines Begleiters: »Was wir hier tun, ist unmöglich. Man kann in ein solches Dorf nicht einfach hinein. Das ist gefährlich. Es sei denn, man kennt dort eine Familie und besucht sie.«

Jetzt eine steinerne Brücke über den Kanal. Wir sind in Qeman. Und es ist ein Bild nicht aus dem Jahr 251, sondern älter, viel älter noch. Ein Spektakel wie aus dem Alten Testament.

Mitten durch das Dorf, vom einen Ende bis zum andern, eine breite Straße aus gestampftem Nilschlamm. In dieser Straße ein abenteuerliches Gewimmel von Eseln, Tauben, Ziegen, Hühnern, Hunden, Fahrrädern, Gänsen, Wasserbüffeln und Menschen jedes Alters. Ein Bild von biblischer Fülle und Harmonie.

Nur eines stört in Qeman. Wir. Zwei Fremde sind gekommen.

Etwa bis zur Dorfmitte sind wir gegangen. Dann hat mein ägyptischer Freund die Nerven verloren: »Jeden Augenblick kann einer kommen und fragen, was wir hier wollen. Was soll ich dann sagen? Spürst du nicht, wie gefährlich das ist? Weg. Sofort weg.«

Qeman am mittleren Nil: ein Dorf schön wie die Arche Noah, doch zugleich, gerade deshalb, Archetyp der geschlossenen Gesellschaft. Hier ist Antonius als Sohn eines Fellachen aufgewachsen.

Das Wort Fellache klingt in unseren Ohren nach bitterer Armut. Nicht unbedingt zu Recht. Die Familie des Antonius, schreibt Athanasius, besaß »dreihundert Aruren Land, fruchtbar und schön anzuschauen«. Umgerechnet sind das etwa achtzig Hektar. Die Zahl mag orientalisch aufgerundet sein. Zweifellos aber war der Vater des Antonius einer der reichen Bauern von Kome.

Über das Dorf hinaus aber reichte der Horizont der Familie nicht. Dafür gibt es einen untrüglichen Beweis: Der junge Antonius hat nie Griechisch gelernt. Wenn ihn später Bildungstouristen aus Alexandrien in seiner Wüstenhöhle heimsuchten, musste sein Jünger Cronios Satz für Satz übersetzen. In die Bauernsprache Koptisch. Sonst verstand Antonius nicht. Auch seine eigene Sprache konnte er weder lesen noch schreiben und blieb, auf koptisch wie auf griechisch, zeit seines Lebens Analphabet.

Griechisch war aber nicht nur Bildungssprache der Ägypter. Es war auch die Sprache von Handel und Verkehr. Griechisch war die Weltsprache der späten Antike. Ein junger Ägypter, der nicht Griechisch lernte, wuchs damals so beschränkt auf wie heute ein junger Deutscher, der nicht Englisch lernt. Die keineswegs unberechtigte Frage Nathanaels zur Herkunft Jesu, »Wie kann aus Nazareth etwas Gutes kommen?« (Johannes 1,46), ist steigerungsfähig: Wie kann aus Kome etwas Neues kommen?

Alles Neue kam aus Alexandrien. Noch heute wirkt die Hafenstadt am Mittelmeer ungleich europäischer als andere Städte Ägyptens. Damals war sie eine griechisch geprägte Stadt und der intellektuelle Mittelpunkt des Römischen Reiches. Aller Handel und Wandel Ägyptens, alle neuen Strömungen und Trends, Ideen und Spekulationen kamen aus Alexandrien. Während Kome in provinzieller Horizontlosigkeit vor sich hinbrütet, ist, ein paar Tagesreisen weiter nördlich, in der Großstadt Alexandrien eine Kulturrevolution losgebrochen, die das europäische Leben für viele Jahrhunderte ebenso auf den Kopf stellen wird wie in ein paar Jahren schon das Leben dieses unbekannten ägyptischen Fellachen.

In Kleopatras eigener Stadt ist, als letzter Schrei der Avantgarde, die Keuschheit ausgebrochen. Die christliche Askese.

Ursprünglich ist das kein christlicher Begriff. Griechische Philosophen hatten den sportlichen Begriff des »Trainings« umgemünzt auf eine Lebensführung der bewusst trainierten Beherrschung des menschlichen Körpers durch den menschlichen Geist. Pythagoras mit seinen aufsehenerregenden vegetarischen Rezepten (Bohnen statt Sex), Diogenes in seinem Fass (»Geh mir aus der Sonne«) verkörpern nur exzentrisch, was antiker Common sense war: Wer zu sich selber kommen will, der lerne zuerst sich selbst beherrschen, im Reden und im Tun, beim Essen und beim Trinken und, natürlich, in der Sexualität. Seneca, der römische Philosoph, der den antiken Common sense verkörpert, spricht vom sexuell unbeherrschten Mann stets nur mit einer Geringschätzung, die ihm über die lateinischen Lippen selbstverständlich kommt. Die deutschen Wörter »Tugend«, »Tüchtigkeit« und »Männlichkeit« sind ja im Lateinischen alle ein Wort: »virtus«.

Seneca hat noch erlebt, wie sich das Römische Reich immer weiter nach Osten ausweitete, bis an die Grenze Persiens, bis hinauf nach Oberägypten. Dass das religiöse Folgen haben würde, hat in Rom kein Mensch bedacht: Auf umgekehrtem Weg drangen nämlich jetzt, an keiner Schranke mehr aufgehalten, eine Fülle von östlichen »Mysterienkulten« auf den gemeinsamen spirituellen Markt des Römischen Reiches. Einer dieser Mysterienkulte war das Christentum.

Es ist das Wesen eines Mysteriums, dass man es schlecht beurteilen kann. Je unübersichtlicher der spirituelle Markt im späten Römischen Reich wurde, desto dringender wurde das allgemeine Bedürfnis nach einem handfesten Kriterium, an dem man die vielen, allzu mysteriösen Angebote allesamt kritisch messen konnte. In der zeitlosen Sprache der Waschfrau lautet dieses simple Kriterium: »Ja aber, wie leben die denn eigentlich?« In der klassischen Diktion gebildeter Griechen und Römer hieß das: »Wie steht es bei euch um die Askese?«

Unter diesem Gesichtspunkt schnitten die Christen nicht unbedingt am besten ab. Besonders über das Mysterium der »Nächstenliebe« in den christlichen Gemeinden gab es unter Heiden, nachlesbar, die zweideutigsten Gerüchte. Und die Heiden täuschten sich nicht. Clemens von Alexandrien, einer der glaubwürdigsten christlichen Schriftsteller des 2. Jahrhunderts, klagt über die schamlosen Orgien, die unter dem wirren Vorwand der »göttlichen Liebe« in gewissen Gemeinden stattfänden. Daher der doppelte Angstruf, mit dem der Kirchenvater Tertullian aus Karthago warnt, ohne entschiedenere Anstrengungen in der Askese sei der christliche Kampf gegen die übermächtige Konkurrenz von Isis-Kult und Mithras-Kult verloren: »Habent et virgines, habent et continentes! – Die haben auch Jungfrauen, die haben auch Männer, die sich beherrschen können!«

Zu schweigen von den Juden. Alexandrinische Juden, die sich »Therapeuten« nannten, überboten ihre christlichen Zeitgenossen mit einer asketischen Lebensführung, die Philo von Alexandrien folgendermaßen rühmt: »Die Tafel bleibt rein vom Fleisch, Brot ist die Nahrung, mit Salz gewürzt oder auch, für die Feinschmecker unter ihnen, mit Hysop. Die gesunde Vernunft rät ihnen, nüchtern zu leben, den Priestern rät sie, nüchtern zu opfern. Wein ist nämlich ein Gift, das toll macht, und köstliche Leckerbissen reizen das unersättliche Geschöpf zur Begierde.«

Griechische, jüdische, römische Askese, Isis-Askese, Mithras-Askese, Dionysos-Askese gar: Im esoterischen Gewimmel der Weltstadt Alexandrien kam alles zusammen. Barfuss durch Alexandrien läuft, zu Beginn des 3. Jahrhunderts, ein junger christlicher Intellektueller, den selbst seine ärgsten Kritiker als »überragendes Genie« (Peter Brown) feiern werden: Origenes, der Sohn eines Märtyrers. Wo einst Kleopatra Normen setzte (mindestens hundert Männer in einer Nacht), predigt jetzt Origenes vor einem selekten Publikum von reichen Damen und avantgardistischen Intellektuellen einen neuen Lifestyle, der alle konkurrierenden Askesen christlich zusammenfasst, überbietet und siegreich übertrumpft: den »bios angelikos«. Böse Zungen haben das, nicht ganz korrekt, aber dafür – wie alles Böse – leicht verständlich, mit »Keuschheit der Engel« übersetzt. Gute Zungen sprechen lieber von der »christlichen Askese«.

So überwältigend war der Publikumserfolg des Origenes, dass aus allen Städten des Römischen Reiches, tausendfach, Kopien seiner Askese-Predigten angefordert wurden. Origenes brauchte ein Schreibbüro. Mit einem halben Dutzend Sekretärinnen. »Schönschreiberinnen«, sagte man in Alexandrien. Schön wie die Engel müssen sie gewesen sein, die Schönschreiberinnen, denen Origenes die Keuschheit der Engel diktierte. Mitten im Diktat erlag er der Versuchung.

Origenes war der brillanteste Intellektuelle des 3. Jahrhunderts. Doch Selbstironie war ihm fremd. Von rasender Reue gepeinigt, schnitt sich der große Keuschheitsprediger von Alexandrien das Glied, mit dem er gesündigt hatte, ab.

Sich durch empirische Fehlschläge entmutigen zu lassen gehört nicht zur Logik der Religion. Rund ums Mittelmeer, rühmt Eusebius von Cäsarea, gewinne die Keuschheit des Origenes »Myriaden von Nacheiferern«. So leicht und schnell breitete sich diese neue christliche Single-Szene auf dem Seeweg von Großstadt zu Großstadt aus, dass es niemandem auffiel, wie sie, mit Verspätung, auf dem Landweg in eine ganz andere Richtung drang. Von der Welt unbemerkt, begann die Keuschheit des Origenes aus der Metropole Alexandrien, wie es der deutsche Historiker Karl Heussi ausdrückt, südwärts »abzusickern« zu den »Eingeborenen«. In die vergessenen Dörfer der ägyptischen Provinz.

»Achtzehn oder zwanzig Jahre alt« war Antonius nach dem Bericht des Athanasius, als die neue christliche Askese aus Alexandrien nach Korne durchgesickert kam. Doch vorher war dort etwas geschehen, was einen jungen ägyptischen Fellachen ungleich stärker zu erschüttern vermochte als jede noch so aufregende spirituelle Mode aus Alexandrien.

3. Kapitel

DER TOD VON KOME

Es gibt ein zweites Erlebnis, das, so stark wie die Erfahrung der Wüste, den Horizont des Menschen sprengt. Das ist das Ende der Zeit.

»Wer nimmt denn nicht mit Augen wahr, dass die Welt zu Ende geht?«, fragt, just im Geburtsjahr des Antonius, drüben in Karthago der Africaner Zyprian. »Durch den Niedergang aller Dinge demonstriert die Welt ihr nahes Ende selbst. Im Winter fällt weniger Regen, sodass die Saaten nicht mehr aufgehen. Im Sommer scheint die Sonne so schwach, dass die Früchte nicht mehr reifen. Der Frühling ist nicht mehr angenehm, der Herbst nicht mehr fruchtbar. Verbraucht sind die Steinbrüche, sie liefern kaum noch Steine und Marmor. Die Gold- und Silberminen sind erschöpft. Die Äcker liegen brach. Die Meere sind ohne Schiffer, ohne Soldaten die Heere. Die Unschuld findet keinen Anwalt mehr, die Gerechtigkeit keine Richter.« Krieg, Pest und Hunger zerstören das Römische Reich so offenkundig, dass jeder, ob Heide oder Christ, es mit eigenen Augen sieht: »Gezeichnet vom Verfall aller Dinge, stürzt die Welt dem Tode zu.«

Zyprian hat recht, wenn er betont, dies sei weder seine persönliche Mutmaßung noch eine spezifisch christliche These. Es war das Lebensgefühl der ganzen späten Antike. Obwohl wir die Späteren sind und obwohl die Moderne das Zeiterlebnis erneut beschleunigt, hat die Ahnung, dass die Welt ein Ende haben wird, die Menschen der späten Antike stärker geprägt als uns. Und keiner hat die Endzeitstimmung seiner Zeitgenossen so dramatisch ausgedrückt wie Jesus.

Während Buddha, zeitlos in sich selbst versunken, unter dem Feigenbaum von Uruvela sitzt, geht von Jesus eine Stimmung westlicher Zeitnot und Bedrängnis aus.

Eine »Drangsal« kündigt Jesus an, wie sie »nicht war von Anbeginn der Welt« (Matthäus 24,21). »Die Sonne wird sich verfinstern, der Mond wird verblassen, und die Sterne werden vom Himmel fallen« (Markus 13,24). »Wie der Blitz, jäh aufleuchtend vom Osten bis zum Westen« (Matthäus 24,27) wird es hereinbrechen, das Ende der Zeit.

Stärker noch als Juden und Griechen hat die Botschaft Jesu vom Ende der Zeit die Ägypter erschüttert. Totenopfer, Totenbücher, Totentempel, Pyramiden, Mumien – seit Jahrtausenden hatte sie das Erlebnis der Hinfälligkeit bedrängt. Doch je gewaltiger die Pyramiden, je perfekter die Kunst der Einbalsamierung, desto vergeblicher wirkt der Versuch der Ägypter, sich zu wehren gegen die »certa moriendi conditio«, gegen das sichere Los des Todes. Wie aus modernen Fotografien schauen uns aus den Mumien-Porträts des 3. Jahrhunderts noch heute die ägyptischen Zeitgenossen des Antonius mit übergroßen Augen an – so traurig, als könnten sie es in Ewigkeit nicht fassen, dass der Mensch des Todes ist.

Achtzehn oder zwanzig Jahre alt ist Antonius, als ihm zu Hause in Kome seine Eltern, Vater und Mutter, beide jäh wegsterben. Das Erlebnis überwältigt den jungen Fellachen. Mit der Radikalität der Jugend stürzt er sich in die neue Askese aus Alexandrien.

Dass er kein Fleisch mehr aß, sei zuerst nicht aufgefallen, schreibt Athanasius, »alle ernsthaften Christen« seien schließlich Vegetarier. Aber auch an den Saufereien seiner Freunde nahm er nicht mehr teil. Nachts schlief er auf einer Binsenmatte oder auf dem nackten Boden. Wie heute noch die Muslime im Ramadan gewöhnte er sich an, erst nach Sonnenuntergang zu essen. Im Dorf fiel auf, dass er, im Unterschied zu den andern jungen Männern, seinen Körper nicht mehr ölte. Beharrlich sonderte er sich ab. Antonius wollte allein sein.

Das gehört zur Askese. Jedes Mal, wenn er sich unter Menschen begebe, schreibt der Römer Seneca seinem Freund Lucilius, kehre er »inhumanior« (»unmenschlicher geworden«) in sein Haus zurück. Dort wurde er wieder Mensch. Bei sich zu Hause war Seneca »secum« (»bei sich selbst«). Und war zuviel los im römischen Stadthaus seiner Familie, so zog er sich in jenes Landhaus zurück, wo ihn sein altvertrauter Gärtner vor aller Welt abschirmte. In seinem Garten war Seneca allein.

Wie die heidnischen, so die christlichen Asketen. Wollte Origenes in der Großstadt Alexandrien allein sein, so brauchte er, als berühmter Denker, sich nur zurückzuziehen in seine Studierstube, sein »phrontisterion«.

Ähnlich sein erlesener Kreis christlicher Verehrerinnen. Wenn etwas später die heilige Marcella den reichen Frauen Roms die neue christliche Askese musterhaft vorlebte, so hatte auch sie keine realen Schwierigkeiten. In ihrem Palast auf dem Aventin brauchte Marcella sich nur zurückzuziehen in eines ihrer zahlreichen Gemächer. Da war sie, ganz von selber, »secum«. Sie hatte ja ein Privatleben. Einzelzimmer hatte die heilige Marcella, soviel sie wollte.

Einzelzimmer in Kome? Privatleben auf dem ägyptischen Dorf?

Wer nicht als Fremder sein Leben in Qeman aufs Spiel setzen möchte, der steige hinab in die Kairoer Metro. Zu einer Tageszeit, wo die Familien unterwegs sind. Der Eindruck ist überwältigend: So etwas wie »secum esse«, so etwas wie ein Privatleben gibt es in Ägyptens plebejischen Schichten nicht.

In Qeman gibt es heute Häuser mit zwei oder drei Zimmern. In der Antike aber lebte eine Fellachenfamilie – alle Angehörigen aller Generationen samt Esel, Ochs und Hund und Katz und Schaf – in einem Raum. An ein Einzelzimmer für einen jungen Mann zum Beten, zum Schlafen, zum Alleinsein kein Gedanke.

Schon gar kein Gedanke an Keuschheit. Noch hatte kein Islam die Sitten auf dem ägyptischen Dorf diszipliniert. »Inmitten der Dorfbevölkerung«, urteilt der Historiker Karl Heussi, sei Askese unmöglich gewesen – wegen der »Wohnverhältnisse der ägyptischen Dörfer«.

Ganz pragmatisch, so schildert es Athanasius, hat Antonius zuerst versucht, sich vor der totalen Dorfgemeinschaft Ruhe zu verschaffen. In einer Hütte »nicht weit vom eigenen Haus«. »As one might say«, übersetzt der britische Historiker Derwas J. Chitty, »in einem Verschlag für Schweine oder Kühe hinten am Ende des Hofs.«

Dass die schweizerischen Bauern Antonius von Ägypten als den »Säuli-Toni« verehren werden, hat, streng historisch, mit seiner Person nichts zu tun. Doch es trifft die Situation in Kome. Der Bauern-Toni ist er, ein junger Fellache in einem Dorf am Nil, in dem, as one might say, alle Mädchen kichernd die Köpfe zusammenstecken: »Was ist nur los mit dem Säuli-Toni?« »Wusstet ihr es nicht?« »Der steckt jetzt hinten im Säuli-Stall.« – »Und was macht er dort die ganze Zeit?« – »Wusstet ihr es nicht? Der ist jetzt keusch wie ein Engel.«

Mit den 300 Aruren Land, die er gerade geerbt hat, ist Antonius einer der begehrtesten Ehekandidaten von Kome. Dass so einer jetzt den keuschen Säuli-Toni spielt, verstehen die Mädchen von Kome nicht. Aus gutem Grunde nicht. Die Pastoralassistentin der Pfarrgemeinde Heilig-Geist in Köln-Zollstock würde es auch nicht verstehen.

Wer heute bei uns eine christliche Kirchgemeinde betritt, der könnte in der Tat meinen, er sei ins Kinderparadies von Ikea geraten. So nett und lieb ist alles.

So familienfreundlich. Von nichts anderem ist da die fromme Rede als von der Familie als höchstem Wert. Und heißt die Pastoralassistentin einen in der Gemeinde willkommen, dann lächelt sie so nett, als wäre sie das Fräulein bei Ikea: »Haben Sie schon unsere family card?«

Jesus war das Gegenteil.

Nett war er nicht. Schon gar nicht besaß er die family card von Ikea: »Wenn einer zu mir kommt und hasst nicht Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern, ja das eigene Leben, so kann er nicht mein Jünger sein« (Lukas 14,26). Dies, urteilt der jüdische Historiker Schalom Ben-Chorin, ist der Charakterzug Jesu, der quer durch alle vier Evangelien am deutlichsten hervortritt: die »antifamiliäre Haltung«.

Peinlicher noch als modernen jüdischen Historikern ist das den jüdischen Zeitgenossen Jesu aufgefallen. Am peinlichsten seiner eigenen Familie in Nazareth: »Als die Seinen das hörten, kamen sie her, um ihn zu packen. Denn sie sagten: Er ist verrückt« (Markus 3,21).

Das Verrückte an Jesus war, dass er nicht etwa nur mit einer modernen deutschen Zweikinder-Familie brach, sondern, viel folgenreicher, mit einer orientalischen Großfamilie. Mit Verwandtschaft, Sippe, Clan. Und mit allem Besitz. Jesus selber sagt es ausdrücklich: Zur Familie, mit der es zu brechen gilt, gehören nicht nur »Vater, Mutter, Frau oder Kinder«, sondern auch »Häuser« und »Äcker« (Matthäus 19,29).

Alles nachzulesen in der Bibel. Aber Antonius konnte nicht lesen. Nach Art der Analphabeten, berichtet Athanasius, habe er ganz wenige elementare Sprüche Jesu, die er auswendig konnte, Tag und Nacht in seinem elementaren Verstand bewegt:

Lukas 14. Kapitel, Vers 33: »Wenn nicht jeder von euch alles aufgibt, was er hat, so kann er nicht mein Jünger sein.«

Brechen mit der Welt? Alles aufgeben? Der Fellache Antonius hatte nur eine Welt. Sein Dorf Kome war ihm alles.

Wenn einer in den Siebzigerjahren aus einem deutschen Dorf ausstieg, dann fiel er, schnell und sicher, in jenes Netz staatlicher Sicherungen, in dem er vermutlich heute noch ruht. Nichts dergleichen für einen Ägypter des 3. Jahrhunderts. Kein anderes soziales Netz gab es für Antonius als das Dorf Kome. Wer mit seinem Dorf brach, der geriet nicht etwa nur ins »soziale Abseits«. Physisch begab er sich in Todesgefahr.

Noch heute ist das Fellachendorf Qeman, wie eine deutsche Siedlung des Mittelalters, von Mauern umschlossen. Dahinter, durch die grünen Palmenhaine schimmernd, nichts mehr als gleißend heller Sand. Wo die Welt von Kome endete, da begann, grenzenlos und menschenfeindlich, die Wüste.

Wie die Geografie, so die Religion: Die Dörfer am Nil mit ihren grünen Feldern gehörten Osiris, dem guten Gott des Lebens; die Wüste im Westen davon gehörte seinem grauenhaften Bruder, dem Meuchelmörder Sedi. Sie war das Reich des Todes.

Wenn Seneca allein sein wollte, zog er sich zurück in sein bukolisches Landhaus in der Campagna. Als Jesus mit seiner Familie brach, schweifte er durch die blühenden Hügel von Galiläa. Ägypten ist anders.

Unmittelbar am Rand der modernen Riesenstadt Kairo, da wo die Wüste beginnt, liegen die königlichen Gräber. Die Pyramiden. Nicht anders als die Pharaonen hielten es die Fellachen in Kome. Wo die Wüste begann, dort begruben sie ihre Toten. Dort hörte die Welt der Lebendigen auf.

Wo die Welt aufhörte, hausten nur noch Verbrecher auf der Flucht vor dem Henker. Manchmal auch Verfolgte, Christen zum Beispiel während der Decischen Verfolgung. Freiwillig ging keiner da hin. So schnell wie möglich kehrte jeder zurück aus der Wüste »nach Ägypten«. Die Wüste zu »Ägypten« zu zählen, zum eigenen Land, wäre einem antiken Ägypter nie in den Sinn gekommen.

Der Jude Jesus hatte das Ende der Welt prophezeit. Griechische und römische Christen hatten es seit mehr als zwei Jahrhunderten erwartet. Der Ägypter Antonius brauchte nichts zu prophezeien und nichts zu erwarten. Das Ende der Welt begann hinter seinem Haus. Wenn Antonius allein sein wollte wie Seneca, wenn er Jesus nachfolgen wollte, dann musste er hinaus in eine Landschaft, die für alle Ägypter seit Jahrtausenden der Inbegriff war für Tod und Todesangst.

Jetzt aber hatte sich etwas verändert. Das Christentum war in die Dörfer am Nil gedrungen. Und mit der neuen Religion, bewusst noch kaum wahrgenommen, eine unägyptisch neue, verblüffend andere Symbolik der Wüste.

»Exodos ex Aigyptu«: Als er auszog aus Ägypten in die Wüste, war Moses nicht in den Tod gezogen, sondern in die göttliche Verheißung. Die Wüste, prophezeit Isaias, wird sein »wie das Paradies« (Isaias 51,3). Wenn die Psalmen von der Wüste reden, kündigt sich sogar, buchstäblich schon, die moderne Wandervogel-Romantik an: »O dass ich Flügel hätte wie eine Taube! So wollte ich wegfliegen in die Ferne und bleiben in der Wüste« (Psalm 55,7 und 8).

So dürfte Antonius ausgesehen haben, als er in die Wüste ging. (Mumienporträt zweier Brüder aus Al Fayoum, 2. Jh.)

Hinaus aus Kome! Hinaus in die Wüste!

In Kome selber war Antonius der einzige, der die neue asketische Lebensweise versuchte. Doch in den Nachbardörfern hatte er Freunde. Vergleichbar etwa dem alternativen Milieu der Siebzigerjahre bei uns, gab es nilauf, nilab ein asketisches Netzwerk. Athanasius beschreibt, wie Antonius von einem zum andern ging. Und wie er schließlich zu einem, der älter war als er, besonderes Vertrauen fasste.

Wie, wenn sie zu zweit Ernst machen würden? Wie, wenn sie zu zweit hinausziehen würden in die »makran eremon«? Hinaus »in die große Wüste«? Das hat Antonius den älteren Freund gefragt.

Die Antwort kam augenblicklich, und sie war die negativste Antwort, die aus dem Mund eines Fellachen möglich war: »Dafür gibt es keine Tradition.«

Ums Jahr 275 (das ist der Zeitpunkt, den Karl Suso Frank annimmt), im Alter also von 24 Jahren, tut ein junger Fellache etwas, wofür es »keine Tradition gibt«: Allein zieht Antonius »hinaus in die große Wüste«.

Doch vorher hat er in Kome noch etwas zu erledigen. Alle seine »bewegliche Habe« gibt er, dem Gebot Christi folgend, »weg an die Armen«. Mit dem »ererbten Land« aber, schreibt Athanasius, habe er etwas anderes getan. Das habe er »den Nachbarn im Dorf geschenkt«.

Kein Satz hat wie dieser dazu beigetragen, den Ruf des heiligen Athanasius als eines seriösen Historikers zu ruinieren. Dass ein Christ alles, was er hat, den Armen gibt, ist unwahrscheinlich genug; immerhin entspricht es dem ausdrücklichen Geheiß Jesu (Matthäus 19,21). Dass jedoch ein Christ irgend etwas seinen Nachbarn schenkt, gar ein Grundstück, diese Behauptung des heiligen Athanasius hat nie etwas anderes ausgelöst als schallendes Gelächter. Niemals in der christlichen Geschichte hat es dies gegeben!

Doch, das hat es gegeben. Und Athanasius ist ein ernstzunehmender Historiker, weil Antonius eben dies wirklich getan hat. Nicht aus christlicher Nächstenliebe hat er es getan. Aller wirtschaftliche Zwang, aller politische Druck, der einen jungen Ägypter in die Wüste treiben konnte – mit einem Wort: alles, was nicht Sigmund Freud, sondern Karl Marx gern über die Wüstenväter wissen möchte –, liegt beschlossen in dieser knappen Bemerkung des Athanasius, dass Antonius seine 300 Aruren Land »den Dorfnachbarn schenkte«.

Aber lassen wir Karl Marx noch einen Augenblick in seinem Grab in Highgate ruhen. Ziehen wir mit Antonius, ganz allein, hinaus in jenes Wüstengrab bei Kome, in dem das göttliche Abenteuer des Fellachen beginnt.

4. Kapitel

HOLLYWOOD IN DER WÜSTE

»Andra moi enepe, Musa«, so beginnt Homer seinen Lobgesang auf die Abenteuerfahrt des Odysseus: »Preise mir, Muse, den Mann«. Männlichkeit zu preisen ist die Absicht nicht nur griechischer Poeten, sondern, genauso, griechischer Historiker. Athanasius ist ein Alexandriner griechischer Bildung. Wie Odysseus bei Homer in See sticht, so heldenhaft bricht bei ihm Antonius auf »in die große Wüste«.

Erste Etappe: Er bricht auf »zu den Gräbern, weit weg vom Dorf«. Einem seiner Freunde trägt er auf, ihm dorthin von Zeit zu Zeit Brot zu bringen. »Dann begab er sich in eines dieser Gräber, der Freund schloss die Tür, und Antonius blieb im Grab allein.«

Wohlgemerkt, der Freund schloss »die Tür«. Nicht »den Deckel«. Jene mittelalterlichen Fresken, auf denen Antonius in einen Sarg steigt, setzen den Sachverhalt ins falsche Bild. Dies war kein abendländischer Sarg, sondern ein ägyptisches »Hypogäum«, ein Felsengrab, in der Regel mit mehreren, zumindest aber mit einem sehr komfortablen Zimmer. Das langentbehrte Einzelzimmer für den dörflichen Asketen!

Einzelzimmer mit Bedienung. Zwar will keiner mit ihm hinaus ins Reich des Bösen, doch immerhin verspricht einer seiner Freunde, ihn regelmäßig mit Brot zu versorgen. Mit »Brot« gemeint sind die kleinen ägyptischen Fladenbrote, heute noch die hauptsächliche, damals oft die ausschließliche Nahrung der Fellachen. Diese runden, festen, überaus nahrhaften Kornfladen lässt man trocknen. Sie sind dann so haltbar wie Knäckebrot, werden aber zum Essen aufgeweicht. Wenn also, wie zu vermuten, in der Nähe der Gräber Wasser war, so brauchte der Freund gar nicht oft zu kommen. Die Versorgung war gesichert.

Gesichert war vor allem das, was beim Abenteuer junger Einsamkeit vielleicht noch wichtiger ist als bei jedem anderen Abenteuer:

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1. Auflage

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Umschlagmotiv: © MNAC – Museu Nacional d’Art de Catalunya. Barcelona. 2003 Satz: Satz!zeichen, Landesbergen

eISBN 978-3-641-06450-1

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