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Im beschaulichen ostenglischen Norwich geht seit Wochen die Angst um: Ein Unbekannter überfällt immer wieder junge Frauen am Campus der örtlichen Universität und vergewaltigt sie brutal.
Als schließlich eine Studentin entführt und nach Tagen ermordet aufgefunden wird, versucht Psychologiestudentin Andrea, der Polizei mit einem Täterprofil zu helfen. Denn seit sie ihn bei der letzten Vergewaltigung gestört hat, steht sie ganz oben auf seiner Todesliste ...
Neuauflage des unter dem gleichen Titel veröffentlichten Thrillers von be.thrilled (2016)
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Dania Dicken
Am Abgrund
seiner Seele
Profiler- Reihe 1
Psychothriller
Neuauflage 2022
Zuerst erschienen unter demselben Titel bei be.thrilled, Köln (2016)
Bekämpfe nicht das Übel, indem du mit Bösem antwortest,
aber zeige deine Widerstandskraft
als Zeichen deiner Selbstverteidigung.
Ramakrishna
Als ein besonderes Andenken
für meine Großmutter Maria Dicken.
Ich weiß, du hättest mich auch darin unterstützt.
Prolog
Auf der Wasseroberfläche spiegelten sich die Wolken, die auf den blauen Himmel getupft waren. Der Wind riss eines der letzten Blätter von den Zweigen eines Baumes und übergab es den Fluten des Yare. Die Strömung trieb es auf der Wasseroberfläche flussabwärts, bis es sich schließlich in den langen Strähnen aschblonden Haares verfing. Sie wogten in der Strömung hin und her. Die junge Frau, zu der es gehörte, starrte reglos in den Himmel. Ihre Augen schimmerten rot, waren blutunterlaufen durch die vielen geplatzten Adern. Ihr Gesicht war wächsern, aschfahl. Auch die Blutergüsse und Druckspuren an ihrem Hals ließen die Ursache ihres Todes erahnen.
Sie trug keinen Fetzen Kleidung mehr am Leib. Ihr nackter Körper lag achtlos dahingeworfen im Wasser, hatte sich in den Wurzeln eines Baumes gleich am Ufer verfangen. Auch an den Beinen waren zahlreiche Blutergüsse sichtbar.
Sie war hübsch gewesen, mit einer ansehnlichen Figur, gleichmäßigen Proportionen. Aber diese Schönheit war verloren, entstellt durch den Tod und die Schrecken, die er mit sich gebracht hatte. Das Entsetzen spiegelte sich in ihren kalten, toten Augen wider, weit aufgerissen und in schierer Panik starrend. Sie hätte sicher geschrien, hätte sie gekonnt. Ihr Mörder hatte das Klebeband von ihrem Mund nicht entfernt - das genauso wenig wie die Fesseln, die ihr auf dem Rücken die Hände banden.
Mit der nächsten Welle löste sich das Blatt aus ihrem Haar. Das tote Mädchen jedoch lag immer noch da. Jenna war ihr Name gewesen.
Jenna war die Erste.
University of East Anglia, 24. September
Die dumpfen Bässe der Chemical Brothers hießen sie im Keller unter der Mensa willkommen. Schrill gekleidete Partygäste mit biergefüllten Plastikbechern in den Händen kamen ihnen aus dem Partyraum entgegen, wo es bis auf zuckende bunte Lichter fast finster war. Die Sinneseindrücke beschränkten sich hauptsächlich auf den Bass, der im Magen für ein merkwürdiges Resonanzgefühl sorgte. Das Kratzen des Zigarettenqualms in ihrem Hals erinnerte Andrea daran, warum sie stickige Kellerpartys eigentlich hasste.
Sie nahm Kurs auf die Bar. Sarah erschien neben ihr und verlangte nach einem Bier, ehe Andrea überhaupt den Mund geöffnet hatte. Ihre anschließende Bestellung einer Cola brachte ihr einen entgeisterten Blick von Sarah ein.
„Willst du wieder nüchtern feiern?“
„Im Augenblick ja“, erwiderte Andrea unbeeindruckt. Sarah kommentierte es nicht, das hatte sie längst aufgegeben. An ihrem Bier nippend, lehnte sie sich neben Andrea an die Bar und ließ ihre Blicke über die anwesenden Männer schweifen. „Wonach soll ich für dich Ausschau halten?“
„Nach gar nichts“, erwiderte Andrea völlig ohne jede Spur von Interesse.
„Ach, komm schon! Hast du noch niemanden gesehen, der dir gefällt?“
Andrea schüttelte den Kopf. Sie funktionierte nicht wie Sarah, die jederzeit einen jungen Mann an den Abschlepphaken nehmen konnte, wenn er ihr gefiel. Im Handumdrehen war Sarah auf die Tanzfläche verschwunden. Andrea, immer noch die Cola in der Hand, versuchte weiterhin, sich von der Partystimmung anstecken zu lassen. Ein schlankes blondes Mädchen in zu kurzem T-Shirt tanzte ausgelassen und zog die Blicke einiger umstehender Männer auf sich.
Zwei junge Männer steuerten auf die beiden leeren Barhocker rechts neben Andrea zu. Ihre Blicke streiften sie kurz. Neben ihr hatte der größere der beiden Platz genommen, ein junger Mann mit krausem dunklem Haar und kleinem Kinnbart. Das Grübchen an seinem Kinn, die markanten Züge und seine athletische Statur gefielen ihr. Vor allem jedoch hatte sie den Eindruck, dass er sich auf der Party genauso wenig zu Hause fühlte wie sie.
Sein Begleiter, dem die Party offensichtlich deutlich besser gefiel, orderte im Handumdrehen zwei Bier. Andreas Blicke streiften sein dunkelblondes, pingelig frisiertes Haar. Für die Frauen herausgeputzt, dachte sie kurz. Er war groß, wirkte jedoch verglichen mit seinem Begleiter schmächtig.
Er beugte sich zu Andreas Sitznachbarn hinüber. Aufgrund der Lautstärke der Musik sprach er so laut zu ihm, dass selbst Andrea es noch verstehen konnte. Ein Umstand, der sie nicht weiter interessiert hätte, hätte er nicht plötzlich Deutsch gesprochen.
„Also, du kannst sagen, was du willst, aber das ist ein prächtiger Hintern“, urteilte er mit ungeniertem Blick auf die blonde Tänzerin.
„Die ist aber eher was für dich“, erwiderte Andreas Sitznachbar ohne jeden Enthusiasmus.
„Stimmt. Aber im Gegensatz zu dir interessiert mich so etwas wenigstens.“
Andrea versuchte sie nicht anzustarren, während sie unwillkürlich ihrem Gespräch lauschte. Es erstaunte sie so sehr, jemanden Deutsch sprechen zu hören, dass sie gar nicht anders konnte.
„Halt die Klappe.“ Ihr Sitznachbar war genervt.
„Verdammt, Greg, so funktioniert das nicht. Du bist mitgekommen, weil ich dich auf andere Gedanken bringen sollte. Ich meine, es ist doch perfekt – es gibt Bier, Musik und schöne Frauen.“
„Du hast Glück, dass ich überhaupt mitgekommen bin“, sagte Greg trocken.
„Du nimmst das mit den Frauen zu ernst. Jetzt trink dein Bier, hab ein bisschen Spaß und nimm eine hübsche Frau mit nach Hause. Eine schnelle Nummer täte dir vielleicht auch ganz gut …“
Greg starrte seinen Begleiter frustriert an. „Du gehst mir auf die Nerven, Jack. Du weißt, dass ich nicht der Typ dafür bin.“
„Sex macht auch ohne Liebe Spaß, glaub mir. Ich meine, diese blonde Schönheit da vorn – da stimmt doch alles. Großartiges Fahrgestell …“
Andrea lachte unwillkürlich über diese Äußerung. Als sie von den beiden nur irritierte Blicke erntete, wäre sie am liebsten im Boden versunken.
„Ich wollte euch nicht belauschen“, sagte sie, ebenfalls auf Deutsch. Jack verdrehte die Augen und schlug sich vor die Stirn.
Greg hingegen grinste breit und gab seinem Begleiter einen Stoß. „Das musste eines Tages passieren.“
„Ja, aber doch nicht ausgerechnet jetzt“, klagte Jack schrill.
„Wie es scheint, doch.“ Greg neigte höflich den Kopf und musterte sie interessiert.
„Also noch mal von vorn“, sagte er. „Ich bin Gregory und das ist mein Bruder Jack.“
„Freut mich. Andrea“, stellte sie sich vor.
„So, wie du deinen Namen betonst, könnte man glauben, du kommst aus Deutschland.“
Ihr Nicken bestätigte das. „Aus Dortmund.“
„Unsere Mum kommt aus Bielefeld. Irgendwann hat sie festgestellt, wie toll wir englischen Kerle eigentlich sind, und ist mit unserem Dad hiergeblieben“, tat Jack selbstzufrieden und angeheitert kund.
„Unsere Mum hat immer Deutsch mit uns gesprochen. Bis vorhin ließ sich das hervorragend als Geheimsprache verwenden …“ fügte Gregory den Ausführungen seines Bruders hinzu.
Andrea errötete lachend. „Tut mir leid. Ich wollte euch wirklich nicht belauschen.“
„Nein, schon gut. Es ist unsere eigene Schuld“, wiegelte Gregory ab.
„Eigenartig, wieder Deutsch zu sprechen“, sagte sie.
„Wie lang bist du schon hier?“
„Ein Jahr.“
Dabei hatte diese Zeitspanne nicht zum Vergessen beigetragen. Es gab noch immer Momente, in denen Andrea sich sah, wie sie damals nachts um zwei zu Hause wartend vor dem Fernseher saß. Auf das Klingeln an der Haustür hin war sie aufgestanden und hatte zwei Polizisten geöffnet.
„Wir müssen Ihnen leider eine traurige Nachricht überbringen.“
So nannte die Polizei es also, wenn sie jemandem mitteilte, dass seine ganze Familie tot war. Als Andrea am nächsten Tag vor den Scherben der Autoscheiben am Unfallort gestanden hatte, wurde ihr bewusst, dass ihr Leben nun ein einziger Scherbenhaufen war.
Sie schluckte hart und schob den Gedanken an ihre Familie gewaltsam beiseite. Trotzdem reagierte sie nicht gleich auf Gregorys Frage.
„Und was studierst du?“
Andrea atmete tief durch. „Psychologie. Siebtes Semester.“
„Interessant“, urteilte Gregory. Weil Jack ihm einen Stoß zwischen die Rippen gab, wandte er sich mit einem strengen, beinahe mitleidigen Blick seinem Bruder zu. „Was?“
„Sie ist hübsch“, raunte Jack ihm vielsagend zu, während er Andrea mit Unschuldsmiene angrinste.
„Ja, das sehe ich auch. Und?“ Gregory hob gespielt fragend eine Augenbraue.
„Das ist deine Chance.“
„Oh dear, du bist anstrengend.“
Andrea bemerkte, wie unangenehm ihm die Situation war. Sein Blick wanderte wieder zu ihr. „Wollen wir uns irgendwo unterhalten, wo wir nicht diese Pest am Hals haben?“
„Danke“, sagte Jack schnippisch.
„Von mir aus gerne.“ Andrea stand gemeinsam mit Gregory auf, und zusammen gingen sie langsam Richtung Ausgang. Erst da wurde ihr bewusst, was sie gerade tat. Sie verschwand mit jemandem, den sie gar nicht kannte. Allerdings hatte sie auch nicht vor, ihn unter Generalverdacht zu stellen. Für sie sah er nicht aus wie jemand, der im Gebüsch auf Studentinnen lauerte.
Es hatte gegen Ende des vorangegangenen Semesters begonnen. Bei der ersten Vergewaltigung, die der Polizei gemeldet worden war, hatte sich noch niemand etwas gedacht. Erst, als es eine zweite Studentin am Campus getroffen hatte, war die Polizei hellhörig geworden. Die junge Frau hatte sich auf dem Heimweg zum Wohnheim mit dem illustren Namen Colman House befunden. In diesem Moment wurde Andrea und ihrer Freundin Sarah bewusst, wie nah er ihnen bereits gekommen war, denn auch sie lebten in diesem Wohnheim.
Der Rapist schlug nachts an einsamen Orten zu, kurz darauf erstmals im nahen Eaton Park. Inzwischen stand fest, dass Norwich einen Serienvergewaltiger hatte, denn um Spuren machte er sich keinerlei Gedanken und die Analyse der gefundenen DNA hatte ergeben, dass es sich in allen bisherigen vier Fällen um denselben Täter handelte. Abgleich mit der Datenbank erfolglos, natürlich.
„Keine Angst“, sagte Greg, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Wir bleiben in der Nähe, solange dieser Unbekannte hier sein Unwesen treibt.“
Andrea nickte mit einem Lächeln und folgte ihm zum Ausgang.
„Geht doch“, rief Jack ihnen amüsiert hinterher.
„Ihr liebt euch wohl heiß und innig“, sagte Andrea.
„Ach, Jack ist schon in Ordnung. Er kann nur ein unglaublicher Idiot sein, wenn er es darauf anlegt.“ Gregory hielt Andrea die Tür auf und überließ ihr den Vortritt. Frische, kühle Luft schlug ihnen entgegen.
Ganz in der Nähe des Gebäudes entdeckten sie eine Bank, auf die Greg zielstrebig zuhielt. Andrea folgte ihm unsicher und nahm neben ihm Platz. Sie wusste nicht so recht, was sie sagen sollte, und studierte deshalb die kleinen Kiesel vor ihren Füßen. Als sie den Kopf wieder hob, entging ihr nicht das Lächeln auf Gregorys Lippen.
„Wie alt bist du?“, nahm er das Gespräch wieder auf. Andrea gefiel sein englischer Akzent.
„Dreiundzwanzig, und du?“
„Neunundzwanzig.“
„Und du studierst auch hier?“
„Ja. Ich bin jetzt im vierten Semester. Interior Design … was heißt das auf Deutsch?“ Er war scheinbar zu nervös, um sofort jedes deutsche Wort parat zu haben.
„Innenarchitektur.“ Sie grinste.
„Ah, richtig. Ist eine lange Geschichte. Ich war ein Jahr bei der Army und habe anschließend einige Zeit in einer Bank gearbeitet. Irgendwann wurde mir klar, dass das nicht mein Fall ist – und jetzt bin ich hier. Und du? Psychologie ist bestimmt auch spannend.“
Andrea nickte zustimmend. „Verhaltensanalyse interessiert mich am meisten. Es gibt viele spannende Bereiche in der Psychologie. Nach meinem Abschluss hier würde ich gern nach London gehen und eine Weiterbildung in der operativen Fallanalyse machen. Du weißt schon – Profiling.“
„Nicht schlecht. Verbrecherjagd also.“
„Ich finde das faszinierend.“
„Ist es bestimmt auch. Übrigens gefällt es mir, mit dir Deutsch zu sprechen.“
„Wir können auch Englisch sprechen“, bot Andrea an.
„Nein, ach was. Ich kann ja beides.“
„Ich auch.“ Lachend warf sie ihm einen schiefen Blick zu.
„Oh, natürlich. So war das nicht gemeint.“ Gregory ließ die Schultern sinken.
„Schon gut“, sagte sie zu seiner Erleichterung.
Schweigend sahen die beiden einander an. Andrea gestand sich mit einem Kribbeln im Bauch ein, daßss er gut aussah. Unter seinem T-Shirt zeichneten sich breite Schultern und muskulöse Arme ab. Beides gefiel ihr. Er hatte ein offenes Gesicht mit freundlichen braunen Augen.
Sie stützte sich mit den Händen an der Bank ab. Seine Hand lag gleich neben ihrer. Nicht nah genug, wie sie fand – nicht ahnend, dass er ähnliche Gedanken hegte.
„Jetzt habe ich es versaut“, sagte Gregory plötzlich ins Schweigen hinein.
„Versaut? Was meinst du?“, fragte sie arglos.
„Was ich vorhin gesagt habe. Das war blöd.“
„Unsinn“, widersprach Andrea.
Gregory atmete tief durch. „Ich fände es toll, dich näher kennenzulernen.“
Andrea wurde heiß vor Aufregung. „Gern.“
„Sollen wir uns am Montag zwischen den Vorlesungen zum Mittagessen treffen?“
Andrea war einverstanden. Diese Chance wollte sie sich nicht entgehen lassen.
Ein kalter Windstoß brachte sie zum Frösteln. Ihr Schaudern entging Gregory nicht.
„Komm, wir gehen zurück.“
Widerstrebend folgte Andrea ihm zurück zum Gebäude. Die Musik wurde lauter, je näher die beiden kamen. Im Gebäude dröhnte sie ihnen schließlich ohrenbetäubend entgegen. Sie entdeckten zuerst Jack, der mit einem blonden Mädchen tanzte. Gregory kommentierte es nicht.
Andrea fand Sarah an der Bar, wo sie ihr Gregory vorstellte. Er bot an, für alle Getränke zu bestellen, und wandte sich dem Barkeeper zu. Sarah gaffte ihn unverhohlen an und zog Andrea unauffällig zur Seite, um das dringende Bedürfnis zu befriedigen, über ihn zu reden.
„Das fasse ich nicht, kaum passe ich nicht auf, angelst du dir so einen attraktiven Kerl. Und was ist mit mir?“
„Sein Bruder ist noch frei“, sagte Andrea mit dem erfolglosen Versuch, dabei ernst zu bleiben. Sarahs entsetzter Blick sorgte dafür, dass sie losprustete.
„Was, der Aufschneider? Ich leide doch nicht an Geschmacksverkalkung. Aber was mache ich jetzt? Der Hauptpreis ist ja schon vergeben.“
Andrea wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte und schwieg. Das war wohl auch besser so, denn Gregory drehte sich genau in dem Moment wieder zu ihnen und reichte ihnen ihre Getränke. Sie stießen an, genau in dem Moment hörten sie ein schallendes Gelächter aus der Richtung der Tanzfläche. Die Ursache dafür war Jack, der in seinem mehr als angeheiterten Zustand irgendwelche peinlichen Verrenkungen hinlegte. Ein Blick zu Gregory verriet Andrea, dass er sich scheinbar köstlich über seinen Bruder amüsierte. Er bemerkte ihren Blick und erwiderte ihn lächelnd. Das Kribbeln in ihrem Bauch wurde stärker.
Jack war später so betrunken, dass Gregory arge Probleme hatte, ihn zum Aufbruch zu bewegen. Sarah und Andrea begleiteten die beiden zum Abschied nach draußen. Gregory und Andrea tauschten ihre Handynummern aus.
„Also, dann bis Montag.“ Andrea lächelte.
„Ich warte an der Cafeteria auf dich“, versprach er.
„Wie, du willst sie nicht jetzt flachlegen?“, lallte Jack auf Deutsch. Andrea grinste bloß.
Gregory bedachte seinen Bruder mit einem mitleidigen Blick und schob ihn in Richtung Parkplatz.
Lachend folgte Andrea Sarah, die schon zwei Schritte in Richtung Wohnheim gemacht hatte. Als Andrea sich noch einmal umdrehte, wurde sie Zeugin, wie Gregory seinen Bruder auf dem Weg zum Parkplatz stützte.
Augenblicke später platzte Sarah heraus: „Du hast ein Date! Ich fasse es nicht.“
„Sieht so aus“, erwiderte Andrea verlegen. Sie fröstelte im Wind, als sie sich umschaute und die Büsche noch viel finsterer fand als sonst.
Eaton Park, 20. September
Zitternd und mit Herzrasen schaute sie sich um; fragte sich, ob er noch in der Nähe war. Würde er zurückkommen? Sie hoffte – nein, sie betete –, dass er es nicht tat. Inzwischen war es dunkel. Der Wind raschelte in den Bäumen des Parks, in der Nähe erhellte eine Laterne den Weg.
Schluchzend machte sie einen Schritt vorwärts. Es tat weh. Aber das war nicht das Schlimmste. Viel schlimmer war das Gefühl von Ekel, das an ihr klebte. Es war unaussprechlich für sie, die Vorstellung kaum erträglich. Sie sah ihn immer noch vor sich, spürte seinen Atem, seine Körperwärme, immer wieder aufs Neue den Schmerz. Ihrer Kehle entrang sich ein Wimmern, wenn sie an seine Stimme dachte. Sie hatte gar nicht böse geklungen.
Die Hose klebte jetzt an ihren Beinen. Es war ein widerwärtiges Gefühl, aber immer noch besser, als nackt durch den Park zu laufen. Sie verstand nicht, dass sie ihn gar nicht bemerkt hatte. Auf einmal war er dort gewesen und hatte sie mit dem Messer bedroht. Vor lauter Schreck hatte sie gar nicht schreien können. Als er sie hinter ein Gebüsch gezerrt hatte, hatte sie gewusst, was geschehen würde. Trotzdem hatte sie sich kaum gewehrt, nur geweint. Ihre Tränen hatten ihn nicht beeindruckt – im Gegenteil. Sie hatten ihn angespornt. Es hatte ihm gefallen, dass sie weinte.
Susan hatte die Arme um den Leib geschlungen und verließ den Park. Nur weg. Aber wohin? Sollte sie zur Polizei gehen?
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Tränen nahmen ihr die Sicht, als sie orientierungslos auf die Straße stolperte. Wie sollte sie das überhaupt ihrem Freund erklären? Wie würde er reagieren, wenn er herausfand, dass sie vergewaltigt worden war?
Das Auto bemerkte sie erst, als sie die Bremsen knirschen hörte. Reglos starrte sie ins Scheinwerferlicht. Als ein junger Mann auf der Fahrerseite ausstieg, wich sie zurück.
„Alles in Ordnung?“, fragte er. Unverständig starrte sie ihn an.
Die Beifahrertür wurde geöffnet. Eine junge Frau musterte Susan besorgt.
„Können wir dir helfen?“
Susan starrte nur. Das Pärchen tauschte ratlose Blicke aus. Die Frau ging auf Susan zu, legte ihr eine Hand auf die Schulter.
„Wir bringen dich ins Krankenhaus“, sagte sie. „Komm. Es passiert dir nichts.“
Jetzt nicht mehr, dachte Susan, als sie ihr folgte und wie ferngesteuert ins Auto stieg.
University of East Anglia, 27. September
Gedankenversunken schlenderte Andrea neben Sarah her, bis ihr am Straßenrand zwei weiße Streifenwagen der Polizei ins Auge stachen. Mit den neongelben und blauen Randstreifen waren sie kaum zu übersehen. Fragend hielt Andrea Ausschau nach Polizisten, konnte aber niemanden entdecken. Erst als die beiden sich der Bibliothek mit der vornehmen hölzernen Außenfassade näherten, entdeckten sie auf dem Weg zwei Beamte, die mit einigen Studenten sprachen.„Wir sind rund um die Uhr vor Ort. Zudem wurden die Streifen verstärkt“, sagte einer der Polizisten.
„Und das soll etwas bringen?“, fragte eine verunsicherte junge Frau.
„Wir hoffen es zumindest. Vor allem möchten wir alle Studentinnen darauf hinweisen, dass sie zu ihrer eigenen Sicherheit stets in Begleitung unterwegs sein sollten, besonders nachts. Das ist der beste Schutz.“
„Und was, wenn wir niemanden haben, der uns begleiten kann?“, fragte eine andere Studentin. Andrea und Sarah blieben stehen, um zuzuhören.
„Meiden Sie dunkle, einsame Orte. Von Waffen zur Selbstverteidigung können wir nur abraten, denn nach den Schilderungen der Betroffenen ist er sehr schnell und stark. Es hätte also keinen Sinn, ihn anzugreifen. Er war stets mit einem Messer bewaffnet. Sie würden sich nur selbst gefährden, wenn Sie zu Waffen greifen“, sagte der andere Beamte.
Sarah und Andrea tauschten einen vielsagenden Blick, bevor sie weitergingen.
„Hast du bei der Polizei noch nichts aufgeschnappt?“, fragte Sarah und spielte damit auf das Praktikum an, das ihre Freundin seit kurzem dort machte.
Andrea schüttelte den Kopf. „Im Moment habe ich dort mit jemandem zu tun, der Cold Cases bearbeitet.“
„Toll“, erwiderte Sarah trocken. „Also Aktenwälzen?“
„So ziemlich, ja. Für den Anfang ist das gar nicht schlecht, Sergeant McKenzie meinte, ich soll ihm sagen, wenn mir irgendwas auffällt. Für die Polizei ist das genauso ein Experiment wie für mich, aber ich finde es gut, dass sie der Mithilfe von Psychologen bei der Polizeiarbeit gegenüber aufgeschlossen sind.“
„Du kannst ja mal die Ohren spitzen.“
„Ich werde es versuchen“, versprach Andrea und lächelte.
„Nichts anbrennen lassen“, sagte Sarah und zwinkerte vielsagend, als sie die Bibliothek erreicht hatten. Andrea kommentierte es nicht, verabschiedete sich von Sarah und überquerte die Wiese in Richtung Cafeteria.
Gregory wartete bereits vor der Tür. Er fiel Andrea schon von Weitem ins Auge. Er hatte definitiv einen guten Geschmack: Er trug ein schlichtes T-Shirt, eine nicht ganz billige Jeans und ebensolche Turnschuhe. Erst der Rucksack machte ihn doch zu einem typischen Studenten.
Er lächelte fröhlich und kam Andrea über die Stufen entgegen. Zögerlich blieb er vor ihr stehen, bevor er sie zur Begrüßung umarmte – vorsichtig und verhalten, aber sie erwiderte die Geste sofort.
Ihn an sich zu spüren, verschlimmerte ihre Aufregung nur. Für einen kurzen Moment sog sie seinen Geruch ein. Tolles Aftershave.
Sie bedauerte, dass er sie wieder losließ. Erst nachdem sie einander unsicher angesehen hatten, entschied er sich, in die Cafeteria zu gehen. Dass er ihr die Tür aufhielt, imponierte ihr.
„Such dir aus, was du willst“, sagte er. „Ich lade dich ein.“
Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte. Eigentlich wollte sie widersprechen, aber vor den Kopf stoßen wollte sie ihn auch nicht.
„Danke“, sagte sie mit einem schüchternen Lächeln.
Gregory hielt Wort und bezahlte an der Kasse für beide. Am Tisch setzten sie sich einander gegenüber.
„Deine Mutter ist also für deinen Vater nach England gekommen?“, fragte Andrea nach dem ersten Bissen.
„Ja, sie lebt schon seit über dreißig Jahren hier. Mein Vater hat nie richtig Deutsch gelernt, im Gegensatz zu Jack und mir. Sie hat in Deutschland alles aufgegeben, aber sie hat es nie bereut.“
„Das muss Liebe sein!“
„Absolut. Meine Mum ist toll. Du würdest sie mögen.“
Andrea lächelte. „Bestimmt.“
Nach einem Moment des Zögerns wechselte er das Thema. Ihre Gegenwart machte ihn sichtlich nervös. Schließlich erzählte er Andrea von der Vorlesung, die er vor ihrem Treffen besucht hatte. Interessiert fragte sie ihn, wie ein angehender Innenarchitekt seine Wohnung einrichtete.
„Ich räume immer wieder um“, gestand er grinsend.
„Ist bestimmt toll. Ich habe nur ein kleines Wohnheimzimmer.“
„Das ist doch auch nicht schlecht.“
„Aber ich kann nur schlecht jemanden zu mir einladen.“
„Das wäre mir egal.“ Sofort biss Gregory sich auf die Unterlippe und schluckte.
„Sollte das eine Anspielung sein?“, fragte Andrea, ohne ihn damit aus der peinlichen Situation zu retten.
„Eigentlich nicht, aber … ja, jetzt ist es raus. Du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf“, gab er zu.
Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Mir geht es genauso.“ Tatsächlich hatte sie das ganze Wochenende über nur an ihn gedacht.
„Erforschst du mich eigentlich, wenn du mich ansiehst?“, fragte er unvermittelt.
Andrea schüttelte den Kopf. „Nicht bewusst, nein. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Aber ich muss zugeben, dass ich viel mehr auf die Körpersprache eines Menschen achte, seit ich darüber etwas gelernt habe.“
„Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Können Profiler wirklich erklären, wie Verbrecher handeln?“
„Ja, aber diese Erkenntnisse beruhen auf wissenschaftlichen Daten, auf Statistiken. Es steckt viel Forschung dahinter.“
„Also kein Hokuspokus.“
„Nein, gar nicht“, sagte sie. „Tatabläufe und Merkmale des Opfers verraten oft sehr viel über den Täter. Man kann zum Beispiel sehen, ob eine Tat geplant war oder ob sie zufällig geschah, ob der Täter organisiert vorgegangen ist oder nicht. Das sagt etwas über seine Intelligenz, seinen Hintergrund aus – und über die Beziehung der beiden.“
„Und woher weiß man das alles?“
„Du würdest dich wundern, wie gern manche Mörder Auskunft über ihre Taten geben“, sagte sie trocken.
„Willst du das irgendwann machen? Für die Polizei arbeiten?“
„Ja“, sagte Andrea geradeheraus. „Im Moment mache ich schon eine Art Praktikum bei der Polizei und überprüfe alte Fälle.“
„Das ist ja spannend.“
„Ja, es ist nicht schlecht. Ich bin seit dem Sommer beim Norfolk Constabulary, um die praktische Polizeiarbeit kennenzulernen. Die Psychologie des Verbrechens ist es, was mich reizt. Das will ich beruflich machen.“
Gregory nickte anerkennend. „Nicht schlecht. Lernst du das hier im Studium?“
„Die Grundlagen, ja. Nach dem Studium möchte ich gern das Profiling-Seminar in London besuchen. Für die Bewerbung dort ist das Praktikum sicher nützlich.“
„Bestimmt. Könnte denn nicht ein Profiler helfen, den Campus Rapist zu schnappen?“
„Schon möglich“, sagte sie achselzuckend. „Ich habe da keine Akteneinsicht, aber wenn ich welche hätte ... Vergewaltigungen sind ja oft nicht sexuell motiviert, sondern aus Aggression heraus. Vielleicht gibt es irgendwelche Tatmerkmale, die Rückschlüsse auf den Täter zulassen.“
Gregory wirkte ein wenig unbehaglich und sagte schließlich: „Andrea, wenn du jemals abends unterwegs sein musst und niemand dich begleiten kann, dann gib mir Bescheid.“
„Dienstags habe ich eine Vorlesung, die erst endet, wenn es schon dunkel ist. Da bin ich immer allein“, sagte Andrea nach kurzem Überlegen.
„Dienstags? Da habe ich auch abends noch Vorlesung. Ich würde dich abholen und zum Wohnheim bringen, wenn das okay für dich ist“, schlug er vor.
„Meinetwegen.“ Seine Sorge schmeichelte ihr, auch wenn die allgegenwärtige Furcht vor dem Vergewaltiger sie nervte.
„Wollen wir uns draußen in der Sonne noch ein wenig die Beine vertreten?“
Andrea freute sich über seine Frage. Gemeinsam verließen sie die Cafeteria und liefen die Stufen hinab. Unten angekommen, blieb Gregory plötzlich stehen und tastete nach ihrer Hand.
Eaton Park, 25. September
Er beugte sich über sie und roch mit einem tiefen Atemzug an ihrem Haar. Es duftete angenehm, verlockend. Vor allem aber gefiel ihm, wie laut sie schluchzte. Er wusste, dass niemand sie hier hören konnte. Sie waren mitten im Park, niemand war in der Nähe. Die Leute mieden den Park, seit er ihn zu seinem Jagdgebiet erkoren hatte, aber es gab immer wieder Mädchen, die glaubten, er könne ihnen nichts anhaben. Genau so eine hatte er hier gerade.
Es erregte ihn, wie sie weinte. Sie flennte schon die ganze Zeit, und das war auch gut so. Es sollte ja Männer geben, die das störte – ihn heizte es nur noch mehr an. Er fühlte sich großartig, als er in ihr Gesicht blickte, in die vom verlaufenden Make-up schwarz umränderten Augen mit dem flehenden Blick. Sie rührte sich nicht, denn sie fürchtete das Messer an ihrer Kehle. So hatte er keinerlei Schwierigkeiten, ihr die Jeans bis über die Knie zu ziehen und mit der freudig zitternden Hand über ihren Slip zu fahren. So kurz vom Ziel.
Er zerrte auch den Slip beiseite und drückte ihre Beine auseinander. Sie heulte erbärmlich, ihre Lippen bebten. Wieder drückte er mit dem Messer zu, um sie an die Ausweglosigkeit der Situation zu erinnern. Es war für ihn eine Erlösung, als er endlich zwischen ihre Beine sank. Sie hatte keine Chance. Als er zustieß, schrie sie gequält. Ihr gepeinigtes und schmerzerfülltes Wimmern spornte ihn an, sie noch brutaler zu nehmen, denn so wurde es schlimmer für sie.
Immer wieder zappelte sie und unternahm verzweifelte Versuche, sich zu befreien, aber das ließ er nicht zu. Er hatte sie zu Boden gedrückt und bewies ihr, was er konnte. Schlappschwanz … Sie würde das garantiert nicht über ihn denken. Ihr flößte er Respekt ein, ihr zeigte er, wer das Sagen hatte. Das Sagen und die Macht zu bestimmen. Aus einem Impuls heraus legte er die Hände um ihren Hals und schloss voller Genuss die Augen, als sie versuchte, schrille Schreie auszustoßen und in schierer Panik zu zappeln begann. Ja … so war es gut. Weiter so, süßes Mädchen. Nur weiter.
Er drückte fester zu, intensivierte ihre Angst. Die Erregung durchströmte ihn stärker, als er ihre Qualen spürte, ihre Todesangst. Sie zappelte heftig. Er musste vorsichtig sein. Sie durfte nicht das Bewusstsein verlieren.
Gerade rechtzeitig ließ er los. Sie schnappte panisch nach Luft und kam wieder zu sich, erholte sich, wehrte sich aber nicht mehr. Das ärgerte ihn. Mit leerem Blick lag sie da und atmete nur noch, bewegte sich aber überhaupt nicht. Sie war starr wie ein Brett.
Das durfte doch nicht wahr sein. Er wurde immer brutaler, versuchte, sie aus ihrer Lethargie zu reißen, schlug sie sogar ins Gesicht, aber er hatte keinen Erfolg. Ihr Atem ging röchelnd, ihre Anspannung war dahin. Er hatte es übertrieben.
Also brachte er es zu Ende. Stress, Ärger und Anspannung lösten sich, als die Erregung in seinem Höhepunkt gipfelte. Er ließ sich Zeit, ehe er sich erhob und das kleine Häufchen Elend am Boden zurückließ. Sie war hübsch. Sie war sogar besonders hübsch, wenn sie so dalag und weinte. Ehe er ging, warf er ihr einen zärtlichen, beinahe dankbaren Blick zu.
University of East Anglia, 29. September
Weil Sarah so sehr in ihr Gespräch mit ihrer Kommilitonin Angela vertieft war, merkte sie gar nicht, dass Andrea ihnen nur langsam folgte. Nacheinander überquerten sie die Wiese am zentralen Gebäudekomplex der Faculty of Science. Hinter einer Kurve fielen ihnen zwei seelenruhig über den Campus flanierende Polizisten ins Auge.
„Zwei der Mädchen, die er überfallen hat, sind jetzt in psychologischer Behandlung“, sagte Angela.
„Kann ich ihnen nicht verdenken“, erwiderte Sarah.
Andrea ahnte sofort, dass es um den Campus Rapist ging. Er war der Grund für die Anwesenheit der Polizei am Campus. Es hatte wieder ein Opfer gegeben – das sechste in knapp drei Monaten.
Seine Verbrechen erschütterten eine Idylle. Andreas neue Heimat Norwich im Südosten Englands war eine ländliche Stadt mit gepflegten, teils historischen backsteinverkleideten Häusern und engen Straßen. Die Kathedrale war weithin bekannt, der Nationalpark der Broads lag in unmittelbarer Nähe – und ein maskierter Unbekannter im Gebüsch.
Andrea fragte sich, ob das Thema auch im anstehenden Seminar angesprochen würde. Sie hatte es gemeinsam mit Sarah gewählt, weil es um abweichendes Verhalten ging. Das Thema der ersten Sitzung – Aggression – bot ein breites Feld für Untersuchungen jeder Art und förderte teils erschreckende Erkenntnisse zutage.
Dozent Dr. Brown ließ es sich eine Viertelstunde später im Seminar tatsächlich nicht nehmen, auch auf die Ereignisse am Campus einzugehen. Er war ein jung gebliebener Mann in den besten Jahren mit ersten grauen Haaren an den Schläfen.
„Was gerade geschieht, ist in den Augen der Medien unglaublich interessant und spektakulär. Allerdings muss auch ich teilweise zustimmen: Es ist außergewöhnlich. Studien aus den USA zeigen, dass etwa die Hälfte aller Vergewaltigungen in Fällen geschieht, in denen Täter und Opfer sich kennen. Dafür gibt es gute Gründe, allem voran die Tatsache, dass Männer das Wort Nein so schlecht verstehen.“
Niemand lachte. Dr. Brown blickte mit undeutbarer Miene in die Runde und fuhr fort. „Wenn man Männer und Frauen offen danach fragt, ob Annäherungsversuche unterbleiben sollten, wenn einer der Beteiligten Nein sagt, stimmen fast alle zu. Aber die Hälfte derselben Befragten – Männer wie Frauen übrigens – glaubt auch, dass eine Frau nicht immer Nein meint, wenn sie Nein sagt. Ich persönlich finde es erschütternd, dass selbst die weiblichen Befragten diese Aussage getroffen haben. Wie kann das sein?“
Angela hob die Hand. „Vielleicht, weil Mädchen dazu erzogen werden, brav Nein zu sagen, um als moralisch integer zu gelten.“
„Sehr richtig“, sagte er und lächelte in ihre Richtung. „Ich habe mit der Polizei gesprochen. Sie sind inzwischen ratlos, was den sogenannten Campus Rapist angeht, denn ihre Präsenz hält ihn nicht von weiteren Verbrechen ab. Ich konnte kürzlich in Erfahrung bringen, dass er immer aggressiver wird. Er sucht ein Ventil. Ich halte ihn für sehr gefährlich, denn eigentlich sind Vergewaltigungen Gelegenheitsverbrechen. Aber dieser Täter plant, was er tut. Ich möchte Sie alle eindringlich warnen, das ernst zu nehmen und sehr vorsichtig zu sein. Halten Sie Augen und Ohren offen und handeln Sie, wenn Ihnen etwas ungewöhnlich vorkommt.“
„Hat die Polizei keinen Fallanalytiker mit der Sache betraut?“, fragte Andrea überrascht.
„Nein, das haben sie nicht. Möglich, dass das noch kommt. Ich sehe auch akuten Handlungsbedarf.“
Am Ende des Seminars packte Andrea nur langsam ihre Sachen, denn sie war noch ganz in Gedanken. So war sie Augenblicke später allein mit dem Dozenten.
„Sie interessieren sich sehr für die Fallanalyse, richtig?“, richtete er sich an sie.
„Ich hatte eine Vorlesung bei Dr. Marlowe zu dem Thema. Ein sehr interessantes Gebiet.“
„Ja, er ist sehr engagiert in diesem Bereich. Dr. Marlowe ist der Meinung, dass es zur Eskalation kommen wird.“
„Wie meinen Sie das?“, fragte sie.
„Wenn die Polizei nicht bald eingreift, wird der Täter nicht mehr genug bekommen. Es muss nur etwas dazwischenkommen, vielleicht einen Auslöser für eine weitere Frustration geben, und dann könnte er auch anfangen zu töten.“
Andrea war schockiert. „Ist nicht Ihr Ernst.“
„Meiner nicht, aber der von Dr. Marlowe.“
Sie folgte ihm aus dem Raum. „Es gibt gerade nur dieses eine Thema hier. Ständig sind Beamte auf dem Campus unterwegs, keine Studentin geht abends mehr allein zur Bushaltestelle. Die Studenten sind wütend darüber, weil sie sich in ihrer Freiheit beschnitten fühlen. Ich hoffe, die Polizei findet ihn bald.“
„Das hoffe ich auch. Aber versprechen Sie mir, dass Sie nicht leichtsinnig werden.“ Er nickte ihr freundlich zu. „Seien Sie vorsichtig.“
Andrea nickte. „Davon können Sie ausgehen.“
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, beeilte Andrea sich, Sarah einzuholen, die vor dem Gebäude wartete. Sie warteten immer aufeinander.
Swardeston, südlich von Norwich, 29. September
Es wurde zur Sucht für ihn. Diese jungen Studentinnen – ihr süßes Parfum, die straffen Körper, diese weiche Haut, die freizügige und deshalb geradezu einladende Kleidung … Es bereitete ihm ein diebisches Vergnügen, nein, sogar tiefe Befriedigung, sie sich zu greifen, ungefragt in sie, in ihr Leben einzudringen, in ihr privates Innerstes. Das hatten sie verdient. Sie waren doch alle gleich. Hielten sich für so klug, für unwiderstehlich, glaubten doch tatsächlich, sie hätten etwas zu sagen.
Aber er hatte das Sagen. Wenn er sie sich holte, bestimmte er. Dann waren sie plötzlich nicht mehr arrogant. Dann winselten sie nur noch hundserbärmlich, jammerten und bettelten. Genau so war es richtig.
Es befriedigte ihn zu wissen, dass ganz Norwich ihn fürchtete. Endlich besaß etwas in seinem Leben Bedeutung. Wenigstens das.
Er brauchte mehr davon. Unruhig saß er vor dem Computer und ging hastig die Fotos durch. Nicht passend. Er suchte nach ganz bestimmten Mädchen. Es musste so sein.
Morgen würde er wieder Gelegenheit haben. Er konnte es kaum noch erwarten. Abends hatten noch viele Studenten Vorlesung. Vielleicht auch ein hübsches Mädchen für ihn? Ihnen im Dunkeln aufzulauern war die effektivste Methode. Er würde sie überwältigen und …
Während er spürte, wie ihm das Blut in die Lendengegend schoss, hielt er plötzlich inne und beugte sich vor. Ein Foto von einem wunderschönen Mädchen. Sie war perfekt.
Er konnte nicht anders, er hob die Hand und strich mit dem Finger über die Stelle auf dem Bildschirm, die das Foto zeigte. Hübsches Ding. Welches Parfum sie wohl trug? Und welche Unterwäsche?
Er liebte es, wenn er sie entblößen konnte. Das war ein wenig wie beim Geschenke auspacken. Und sie machten ihm schöne Geschenke. Zu schade, dass sie sich gar nicht klar darüber waren, was sie ihm bedeuteten. Er liebte sie dafür, dass sie es nicht wollten, dass sie sich wehrten und weinten. Dabei war es nicht leicht, Sex mit einer Frau zu haben, die es nicht wollte. Er wusste trotzdem, wie es ging. Es war völlig anders, wenn sie sich unter ihm krümmte und wand, wenn sie angespannt war, kratzbürstig und widerwillig. Es war intensiver.
Er würde das fortan immer brauchen. Das war sein Lebenselixier.
Morgen …
University of East Anglia, 5. Oktober
Gemeinsam mit Gregory betrat Andrea in der Abenddämmerung das Elizabeth Fry Building, in dem ihre Vorlesung stattfinden würde. Gregory hatte sich in den Kopf gesetzt, sie nicht nur abzuholen, sondern auch persönlich hinzubringen. Immerhin handelte es sich um eines der abgelegeneren Gebäude in der Nähe des Chancellor Drive, wo der Rapist bereits zugeschlagen hatte.
„Wir können uns auch unten im Foyer treffen“, schlug Andrea vor, als sie vor dem Hörsaal standen. „Dann musst du nicht extra hochkommen.“
„Meinetwegen. Und nicht weglaufen, ja?“
„Nein, ich warte.“
„Gut.“ Er lächelte, zögerte kurz und ging. Seufzend betrat Andrea den Hörsaal und suchte sich einen Platz. Es war einer der seltenen Momente, in denen ihr die Motivation für ihr Studium fehlte. Diesmal war Gregory daran schuld, ohne es zu wissen oder zu wollen. Andreas Gedanken kreisten unablässig um ihn. Sie stellte sich vor, wie sich seine Lippen anfühlten, und sehnte sich nach der zärtlichen Berührung seiner Hand. Waren sie nun ein Paar? Zumindest hatte sie den Eindruck, dass es ihm ähnlich ernst war wie ihr.
Während der Professor sich über Altruismus und Hilfsbereitschaft ausließ, dachte Andrea an ihr Treffen mit Gregory am Wochenende. Sie wollten zusammen ins Kino gehen. Wenn er sie doch nur endlich küssen würde! Für einen kurzen Moment fragte sie sich, wie weit sie zu gehen bereit war.
Weil sie spürte, wie ihr beim bloßen Gedanken daran heiß wurde, schob sie den Gedanken beiseite. Daran wollte sie im Hörsaal nicht denken, stierte stattdessen ungeduldig auf die Uhr.
Eine Stunde später lief Andrea mit schnellen Schritten hinunter ins Foyer. Halb acht. Draußen war es schon relativ dunkel. Die starke Bewölkung trug noch dazu bei, aber es war trocken geblieben und vergleichsweise mild. Gelangweilt trat sie von einem Fuß auf den anderen, schaute nach draußen, sah sich auch in der Halle um. Am schwarzen Brett studierte sie die vielen Zettel und Aushänge. Wohnung gesucht – Wohnung zu vermieten – Lernhilfe gesucht – Fahrrad zu verkaufen.
Fünf Minuten später blickte sie sich seufzend um. Wahrscheinlich verspätete Gregory sich nur. Dennoch holte sie ihr Handy heraus und warf einen Blick aufs Display. Nichts. Deshalb wartete sie weiter.
Zwanzig vor acht. Es war bereits ziemlich leer im Gebäude, innerhalb von fünf Minuten waren ihr nur zwei Personen begegnet. Sie griff nach dem Handy und wählte Gregs Nummer. Eine freundliche Frauenstimme vom Band erklärte ihr, dass die gewählte Nummer vorübergehend nicht erreichbar war. Wahrscheinlich überzog sein Professor nur.
Gegen Viertel vor acht wurde sie ungeduldig und verließ das Gebäude. Sie spähte an der Constable Terrace, einem der Wohnheime, und dem Parkplatz vorbei in Richtung der Faculty of Arts, wo sie Gregory wusste. Nein, er hatte sie nicht vergessen. Und es war ausgeschlossen, dass er sich einen bösen Scherz mit ihr erlaubte. Das traute sie ihm nicht zu.
Andrea lauschte auf ihre eigenen Schritte und darauf, ob sie noch mehr Schritte hörte. Sie drehte sich um zur verlassenen Gebäudefront. Auch der Parkplatz war menschenleer. Im Foyer des Gebäudes standen nur zwei junge Frauen und unterhielten sich. Keine Spur von Greg.
Mittlerweile war es schon sehr dunkel und beängstigend still. Jemand lief an dem benachbarten Gebäude der Faculty of Health vorbei. Er achtete nicht auf Andrea. Ihr Herzschlag beruhigte sich wieder.
Das Foyer war noch immer leer. Allmählich wurde sie wirklich unruhig und überlegte, Gregory entgegenzugehen. Als er sie zu Hause abgeholt hatte, hatte er ihr ein Klappmesser in die Hand gedrückt und keine Widerrede gelten lassen. Tatsächlich fühlte sie sich damit sicherer.
Es war kein weiter Weg, zudem war er beleuchtet. Gleich neben dem Parkplatz lag ihr Wohnheim.
Der Wind rauschte in den Bäumen, die langsam ihre Blätter verloren. Misstrauisch ließ Andrea ihre Blicke über den Parkplatz schweifen, doch alles war still. Auch ihr Handy. Sie stand allein draußen in der Dunkelheit und fröstelte. Dann drehte sie sich um.
University of East Anglia, 5. Oktober, 19.45 Uhr
Er hatte sich genau umgesehen und wusste, dass die Polizisten nicht in der Nähe waren. Im Augenblick war er vollkommen sicher. Er musste jetzt nur noch warten, bis sie kam.
Die Bewölkung kam ihm gerade recht, denn dadurch war es bereits recht dunkel. Der Parkplatz war wie leergefegt. Es würde ihn also niemand stören. Die Hecke, in der er sich versteckt hatte, bot ihm idealen Schutz. Die nächste Straßenlaterne war weit genug entfernt.
Den Wind spürte er kaum im Gesicht, das bis auf die Augenpartie hinter der wollenen Sturmhaube verborgen war. Er wusste, es machte ihnen Angst, wenn sie nicht sehen konnten, wer sie da eigentlich angriff. Aber das sollten sie nicht. Das hatten sie nicht verdient, diese kleinen Schlampen, die sich so furchtbar intelligent vorkamen und so verheißungsvoll schauten – aber wenn er dann glaubte, am Ziel zu sein, machten sie einen Rückzieher. So waren sie alle. Glaubten, sie seien etwas Besseres.
Dabei wollte er einfach nur das Sagen haben. War das denn so schwer? Warum mussten diese schrecklich emanzipierten Frauen eigentlich immer glauben, dass sie ihn abweisen durften? Frauen waren dazu da, ihm zu gefallen. Sie sollten tun, was er wollte. Mit welchem Recht wies eine Frau ihn zurück?
Sie kam. Er sah sie vor dem Gebäude stehen und in seine Richtung gehen. Ja, keinen Zweifel, es war das Mädchen von dem Foto. Schlagartig wurde ihm heiß. Er machte sich bereit, atmete tief durch, umfasste das Messer mit der Faust. Sie hatte ihre Tasche geschultert, näherte sich mit kleinen, schnellen Schritten, schien überhaupt nicht misstrauisch zu sein. Das wiegte ihn jedoch nicht in Sicherheit. Er wusste, dass er am besten wartete. Er liebte den Überraschungsmoment, wenn er hinter sie trat, das Messer in der Hand, und die Hand über ihre süßen, weichen Lippen legte …
Ihm schoss das Blut in die Lendengegend, aber er versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren. Sie kam immer näher. Er richtete sich auf, kniete gespannt hinter dem Gebüsch. Sie blieb stehen. Nervös beobachtete er, wie sie in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel kramte, und stand auf. Mit einem Schritt war er neben der Hecke, mit zwei weiteren hinter ihr. Sie hatte sich gerade erst zu ihm umgedreht, als er gegen sie stieß, das Messer an ihre Kehle presste und die andere Hand hob, um sie auf ihren Mund zu drücken. Sie schrie trotzdem. Er wollte fluchen, doch er verlor nicht die Ruhe, sondern hielt ihr den Mund zu. „Wenn du auch nur einen Laut machst, wirst du es bereuen!“
Forschend schaute er über ihre Schulter. Ihre Blicke trafen sich. Als er sie packte und hinter die Hecke zerrte, ließ sie die Tasche fallen. Sie war brav, blieb wirklich still. Das Messer schüchterte sie genauso ein wie die anderen.
Es war ein gefährlicher Moment, als er sie rückwärts zu Boden stieß und deshalb kurz loslassen musste. Keuchend lag sie da und versuchte, wieder hochzukommen, aber er war schon zur Stelle und drückte erneut das Messer an ihren Hals.
„Ich werde dir sehr weh tun, wenn du mir Ärger machst“, drohte er atemlos. Weinend und mit angstgeweiteten Augen starrte sie ihn an. Sie würde ihm keinen Ärger machen. Mit der Linken hielt er sie zu Boden gedrückt, während er das Messer wegnahm und am Bund ihrer Jeans ansetzte, um sie zu zerschneiden. Es war effektiver, die Kleidung mit dem Messer zu bearbeiten, als die Schlampen jedes Mal umständlich auszuziehen.
Als er ihr Oberteil zerriss, wimmerte sie. Er tat es nicht, weil er das brauchte, aber es machte ihnen Angst. Das war gut. Sie schluchzte so laut, dass er nicht sicher war, ob man sie vielleicht hörte. Der Parkplatz war schließlich von mehreren Gebäuden umgeben. Sein Herz raste, während er den Reißverschluss öffnete und seine Hose herunterzog. Seine Hand glitt in ihren Schoß. Ihren Slip hatte er vergessen. Mit einem Ruck zerrte er ihn von ihren Hüften, suchte dabei ihren Blick. Nackte Angst stand in ihren Augen geschrieben. Seine Erregung wuchs.
Für einen Moment legte er das Messer zur Seite, als er sich über sie beugte, denn er wusste, sie würde schreien. Sie schrien alle. Es tat weh, und das gefiel ihm. Das war doch genau, was er wollte.
Er legte die Hand über ihren Mund, ehe er zustieß. Sie schrie, genau wie er erwartet hatte, zappelte mit den Beinen, wollte um sich schlagen. Er nahm die Hand weg und drückte wieder das Messer gegen ihren Hals.
„Du wirst still sein“, zischte er ihr zu und sah sie fordernd an. Sie versuchte es wirklich, aber sie weinte so sehr, dass es ihr vermutlich nicht gelingen würde. Doch das machte nichts. Er fühlte sich jetzt schon wie ein Sieger, denn er hatte es wieder geschafft …
University of East Anglia, 5. Oktober
Andrea hatte gerade beschlossen, wieder hineinzugehen, als sie einen Schrei hörte. Er wurde zwar sofort erstickt, war jedoch so durchdringend gewesen, dass sie unwillkürlich zusammengezuckt war. Mit klopfendem Herzen stand sie da und lauschte in die Dunkelheit hinaus.
Alles war totenstill.
Der Schrei war vom Parkplatz gekommen. Wie angewurzelt stand Andrea da und lauschte, hörte aber nichts mehr. Instinktiv zog sie den Rucksack nach vorn, öffnete die Fronttasche und zog das Klappmesser heraus. Leise machte sie einige Schritte zum Parkplatz und lauschte weiter aufmerksam. Alles ruhig.
Sie begann bereits, ernsthaft an sich zu zweifeln und sich für paranoid zu halten, als sie plötzlich wieder ein Geräusch vernahm, das sie nicht genau verorten konnte. Etwas raschelte, dann eine Stimme.
„Du wirst still sein“, sagte eine Männerstimme ganz leise.
Ein kalter Schauer überlief Andrea; unwillkürlich begann sie, zu zittern. Sie überlegte nur kurz, ehe sie zurück vor das Gebäude rannte, nur außer Hörweite, und hastig die 999 auf ihrem Handy wählte. Hilfesuchend schaute sie sich um. Ausgerechnet jetzt war natürlich kein Polizist in der Nähe.
„Notrufzentrale, wie kann ich Ihnen helfen?“, vernahm Andrea die Stimme einer Frau.
„Ich bin hier auf dem Campus, im östlichen Teil am Chancellor Drive, gleich am Parkplatz. Ich glaube, ich habe gehört, wie jemand überfallen wird!“, stammelte Andrea nervös.
„Bleiben Sie ganz ruhig. Was haben Sie beobachtet?“
„Gar nichts, ich habe nur eine Frau schreien gehört und die Stimme eines Mannes. Das könnte er doch sein, nicht? Der Campus Rapist“, sagte sie.
„Es ist gut, dass Sie sich melden. Wie ist Ihr Name?“
„Andrea Jahnke.“
„Ich leite das sofort weiter, Andrea. Sagen Sie mir genau, wo Sie sind und wo das passiert.“
Unruhig versuchte Andrea, es ihr so genau wie möglich zu beschreiben. Die Frau nahm alles auf und versprach, es weiterzuleiten. Noch während sie Andrea bat, in der Leitung zu bleiben, knackte es vernehmlich. Als sie einen weiteren Schrei hörte, war es vorbei mit ihrer Ruhe.
Die Verbindung riss ab. Andrea verschwendete keinen weiteren Gedanken daran, sondern rannte ins Foyer des Gebäudes. Sie war immer noch allein.
Aber das hieß nichts. Sie war fest entschlossen, nicht länger untätig herumzustehen, während dieser Unbekannte eine Frau vergewaltigte.
Kurzerhand stapfte sie mit dem Messer in der Hand zurück zum Parkplatz. Sie hörte ein Scharren und seine Stimme. „So ist es gut, mein Mädchen. Gefällt dir das?“
Andrea zweifelte nicht länger. Sie folgte ihrem Gehör in die Richtung, in der sie die Stimme verortete. Sie klang ruhig, beinahe schmeichelnd und wurde fast von einem Schluchzen überdeckt.
So leise wie möglich setzte Andrea einen Fuß vor den anderen; erleichtert darüber, dass sie Turnschuhe trug. Sie verursachten kein Geräusch.
Dann entdeckte sie ihn. Er wandte ihr den Rücken zu, so viel konnte sie erkennen. Sie sah seinen Kopf, die Schultern und hörte seinen schweren Atem. Die Frau hörte sie nur. Sie weinte. Plötzlich war sie still, es raschelte bloß im Gebüsch.
Andrea wusste nicht, was sie tun sollte. Sie überlegte, ihn mit dem Messer anzugreifen, verwarf diese Idee dann aber. Schließlich hatte er selbst eins, wie sie wusste.
Sie ging so weit entfernt wie möglich hinter ihm vorbei, damit er auch ihren Schatten nicht sehen konnte. Als ihr Blick auf einen Ast im Gras fiel, war ihre Entscheidung gefallen.
Sie klappte das Messer zusammen und steckte es zur Sicherheit in die Hosentasche, griff nach dem Ast und umfasste ihn mit beiden Händen. Bestenfalls schlug sie ihn damit bewusstlos.
Je näher sie kam, desto mehr konnte sie erkennen. Der Mann verschmolz fast mit seiner Umgebung, aber Andrea sah trotzdem, wie er sich über eine junge Frau beugte. Er hatte ihre nackten Beine auseinandergedrückt, deren helle Haut in der Dunkelheit besser zu sehen war, und hielt ihre Kehle mit seinen Händen umschlossen.
Geräuschlos stellte Andrea sich hinter ihn. Er merkte es nicht. Sie holte aus und erschrak, als er sich plötzlich doch zu ihr umdrehte. Trotzdem schlug sie mit voller Kraft den Ast gegen seinen Kopf, traf ihn sogar im Gesicht. Vor Schmerz jaulend sackte er auf das Mädchen.
Andrea schlug ein zweites Mal zu und traf ihn am Hinterkopf. Er trug eine Sturmhaube, seine hellen Augen hatte sie nur kurz gesehen. Stöhnend rollte er sich zur Seite.
Er sah genauso aus, wie Andrea ihn sich vorgestellt hatte: groß, schlank, muskulös. Er wirkte jung. Keuchend starrte sie ihn an, ihre Blicke trafen sich. Er hatte die Hose noch offenstehen. Für einen Moment war er starr vor Schreck, dann sprang er auf, schloss schnell seine Hose und rannte davon in Richtung Chancellor Drive.
„Du verdammter, feiger Mistkerl!“, brüllte Andrea ihm aufgebracht hinterher und überlegte kurz, ob sie ihn verfolgen sollte. Allerdings entschied sie sich dagegen, denn sie fürchtete, dass das übel für sie ausgehen konnte. Atemlos ließ sie den Ast fallen und ärgerte sich, dass er geflohen war.
Das Schluchzen seines Opfers riss Andrea aus ihren Gedanken. Sie schluckte, als sie sah, wie der Mann die junge Frau zugerichtet hatte. Er hatte den Ausschnitt ihres Oberteils zerrissen, ihre Jeans in Fetzen geschnitten. Andrea schätzte sie etwa gleich alt. Sie hatte dunkelblondes, zerzaustes Haar und weinte fürchterlich. Ihr Make-up verlief dabei wie von selbst.
Im ersten Moment fühlte Andrea sich hilflos. Die Frau lag einfach nur da und starrte zu ihr auf. Ein Schatten ihrer selbst.
„Ich heiße Andrea“, sagte sie auf Englisch, als sie sich endlich gefangen hatte. Langsam kniete sie sich neben die junge Frau. „Ich möchte dir helfen. Kann ich etwas für dich tun?“
Die junge Frau schluchzte und wimmerte herzerweichend. Außerdem zitterte sie stark. Andrea war nicht überrascht, dass sie nicht antwortete. Sie stand unter Schock.
„Ich helfe dir auf“, bot Andrea an und hielt ihr eine Hand hin. Die junge Frau zog daran und setzte sich hin. Andrea warf ihren Rucksack ins Gras, zog ihre Jacke aus und legte sie der Frau um die Schultern.
„Wie heißt du denn?“
„Caroline“, erwiderte die Frau mit tränenerstickter Stimme. Laut weinend zog sie die Beine an den Körper und kauerte sich zusammen. Andrea hockte sich neben sie und legte vorsichtig einen Arm um ihre Schultern. Caroline klammerte sich an sie wie ein Ertrinkender an den rettenden Strohhalm und weinte an ihrer Brust. Sie hatte keinerlei Scheu, war nur froh, dass Andrea da war.
„Ist ja gut.“ Andrea legte beide Arme um sie und wiegte sie sanft. „Ich rufe jetzt die Polizei, Caroline. Vielleicht kriegen sie ihn. Alles wird wieder gut.“
„Danke … Ich habe Angst …“, stammelte Caroline.
„Das musst du nicht. Alles kommt in Ordnung, wirklich. Ich bin jetzt bei dir und passe auf dich auf.“
Caroline weinte noch immer, hatte sich aber inzwischen etwas beruhigt. Darüber war Andrea erleichtert, doch sie hatte nicht vor, von Carolines Seite zu weichen.
Sirenengeheul war in der Ferne zu hören und kam schnell näher. Erleichtert stand Andrea auf und half auch Caroline auf die Beine, die sich schluchzend an ihr festklammerte.
Scheinwerferlicht blendete die beiden. Ein kleines Stück entfernt auf dem Parkplatz hielt der Streifenwagen, Polizisten stiegen aus.
„Miss Jahnke?“, rief einer von ihnen. „Sind Sie das?“
„Ja“, erwiderte Andrea.
„Was ist hier passiert? Wo ist der Täter?“, fragte er, während er sich hektisch umschaute.
„Ist weggerannt. Nur Caroline und ich sind noch hier“, sagte Andrea.
Immer noch verängstigt und mit großen Augen starrte die halbnackte Caroline die beiden Polizisten an.
„Caroline“, sagte einer der beiden. „Sie sind jetzt in Sicherheit. Sind Sie verletzt?“
Sie schüttelte stumm den Kopf.
„Wie ist Ihr Nachname?“
„Lewis“, erwiderte sie unter Tränen.
„Gut, Miss Lewis, ein Krankenwagen ist unterwegs.“
Caroline nickte, wich jedoch nicht von Andreas Seite. Augenblicke später bog unter lautstarkem Getöse der Krankenwagen auf den Parkplatz ein. Die Beamten drehten sich um und winkten dem Fahrer. Kurz darauf waren die Sanitäter bei Caroline.
Andrea seufzte erleichtert, als Caroline in den Krankenwagen gebracht wurde. Erst da bemerkte sie, dass ihr Handy klingelte, und suchte danach, immer noch zitternd.
Es war Gregorys Nummer. Mit pochendem Herzen hielt sie sich das Handy ans Ohr.
„Greg“, sagte sie.
„Ist alles in Ordnung bei dir? Wo steckst du?“, fragte er nervös.
„Es ist alles okay, keine Sorge. Ich bin am Parkplatz. Ich habe die Schreie einer jungen Frau gehört und nachgesehen und …“ Andrea brach ab.
„Holy shit“, fluchte Gregory und brachte sie damit zum Grinsen. „Ich habe die Sirenen gehört. Ich bin sofort bei dir!“
Es wurde still in der Leitung. Andrea nahm ihn beim Wort, steckte das Handy ein und blieb, wo sie war. Fröstelnd griff sie nach ihrem Rucksack und zog ihn wieder auf. Ihre Jacke war bei Caroline im Krankenwagen.
„Geht es Ihnen gut?“, fragte einer der Polizisten – ein mittelgroßer, junger Beamter mit braunen Haaren und hellen Augen. Andrea erkannte Sergeant McKenzie von der Polizeistation.
Sie nickte fahrig und antwortete, ohne ihn anzusehen: „Mir geht es gut. Aber ihr …“
„Was ist überhaupt passiert?