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Eltern und andere nahe Angehörige sind die wichtigsten Personen, die Kinder und Jugendliche bei der Überwindung übermäßiger Ängste unterstützen können. Der erfahrene Kinder- und Jugendpsychiater Wilhelm Rotthaus fasst in diesem Buch zusammen, was Eltern brauchen, um ihrem Kind zu helfen. In drei Schritten – erkennen, verstehen, lösen – gibt er Antworten auf typische Fragen, die man sich als Mutter oder Vater eines ängstlichen Kindes stellt: Wie viel Angst ist normal? Woher kommt die Angst? Und schließlich: Wie kann ich meinem Kind helfen, sie zu bewältigen? Vom Albtraum über Trennungsangst bis zur Panikstörung gibt das Buch zunächst einen Überblick über die häufigsten Ängste und Angststörungen. Für Aha-Effekte sorgen die Erklärungen, welcher Sinn bzw. welche Entwicklungsaufgabe mit der jeweiligen Angst verbunden ist. Sie geben auch die entscheidenden Hinweise, was Eltern und Kind tun können, um Sicherheit zu gewinnen und die Angst in den Griff zu bekommen.
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Seitenzahl: 149
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Wilhelm Rotthaus
DASELTERNBUCH
ERKENNEN, VERSTEHEN, LÖSEN
Zweite Auflage, 2021
Reihengestaltung und Satz: Nicola Graf, Freinsheim
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Zweite Auflage, 2021
ISBN 978-3-8497-0337-0 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8214-6 (ePub)
© 2020, 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
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VORWORT
1ANGSTSTÖRUNGEN ERKENNEN
Typische Ängste von Kindern und Jugendlichen im Laufe ihrer Entwicklung
Angststörungen
Angststörung mit Trennungsangst
Spezifische Phobie
Soziale Phobie
Generalisierte Angststörung
Panikstörung
Agoraphobie
Prüfungsangst
Albträume
2ANGSTSTÖRUNGEN VERSTEHEN
Die Kooperation des Angstzentrums mit der vorderen Hirnregion
Angst – unser Freund und Helfer
Angst als Signal für einen anstehenden Entwicklungsschritt
Keine Angst haben wollen
Stress senkt die Schwelle für Angst
Ängstliche Eltern als Modell
Die Bedeutung der Kompetenz- und Kontrollüberzeugung
Familiäres Entgegenkommen
Das Vermeiden der Angstsituation
Die Funktion der Angst innerhalb der Familie
Familiäre Isolation
3ANGSTSTÖRUNGEN LÖSEN
Auftakt
Das Zusammenspiel im Erleben und Verhalten der Familienmitglieder
Die Zukunft mit einer erträglichen Angst als Ziel
Verzicht auf den Versuch, die Angst zu unterdrücken
Angstgedanken infrage stellen
Die eigene Angst erziehen
Eine positive Beziehung zur Angst aufbauen
Reden über gute und angstfreie Zeiten
Stressquellen reduzieren
Die Bereitschaft zur Mitarbeit fördern
Zutrauen und Zumuten
Familiäres Entgegenkommen abbauen
Das Vermeiden vermeiden – sich der Angst aussetzen
Kontroll- und Kompetenzüberzeugungen fördern
Die Angst beeinflussen, wenn sie sich anmeldet
Ablenkung
Energie folgt der Aufmerksamkeit
Symbole und kleine Rituale nutzen
Symptome malen und verändern
Den anstehenden Entwicklungsschritt gemeinsam bewältigen
Das Thema im Hintergrund – die Funktion der Angst in der Familie
Unterstützer hinzuziehen
Hilfreiche Geschichten
Hilfreiche Kinderbücher
Unterstützendes Elternverhalten bei sozialer Phobie
Spezielle Maßnahmen gegen das ständige Grübeln bei einer generalisierten Angststörung
Prüfungsangst
Albträume
ANHANG
Entwicklungsaufgaben des Kindes sowie die korrespondierenden Entwicklungsaufgaben der Eltern
Entwicklungsaufgaben des Jugendlichen sowie die korrespondierenden Entwicklungsaufgaben der Eltern
ÜBER DEN AUTOR
Liebe Eltern,
dieses Buch ist speziell für Sie verfasst worden. Es handelt über Ängste von Kindern und Jugendlichen und über die Fragen und Sorgen, die diese Ängste bei den Eltern auslösen. Möglicherweise haben Sie zu dem Buch gegriffen, weil das Angstverhalten Ihres Kindes nun schon seit längerer Zeit alle Familienmitglieder leiden lässt und ratlos macht. Diese Erfahrung teilen Sie mit vielen Familien, in denen ein Familienmitglied ein auffälliges, störendes oder gestörtes Verhalten zeigt. Darum ist es vorteilhaft, aus einer systemischen Perspektive auf das Problem zu schauen. Das Wort systemisch stammt aus dem Griechischen und bedeutet »zusammenstehen«. Wer aus einem systemischen Blickwinkel auf das Problemverhalten eines Mitglieds des »Systems«, beispielsweise einer Familie, schaut, beachtet die Tatsache, dass alle, die in einer Familie zusammenstehen, von diesem Problem betroffen sind. Denn niemand verhält sich allein auffällig, gestört oder krank. Zugleich bedeutet das aber auch, dass die Lösung des Problems am ehesten erreicht werden kann, wenn alle, die sich eine Änderung wünschen, zusammenstehen und gut kooperieren.
Im Verlauf dieses Buches werden Sie erfahren, dass Eltern aus systemtherapeutischem Verständnis wichtige, wenn nicht die wichtigsten Personen für die Lösung der Probleme ihres Kindes sind. Denn sie sind für ihr Kind oder ihren Jugendlichen bedeutsam und bleiben das auch ein Leben lang – selbst wenn im Augenblick die Beziehung sehr belastet sein sollte. In diesem Buch werden Sie als Eltern viele Anregungen bekommen, was Sie tun können, damit das Problem aus Ihrer Familie wieder verschwindet. Das haben schon viele Eltern vor Ihnen geschafft. Sollten die Anregungen in diesem Buch Sie allerdings nicht hinreichend weiterbringen und Sie sich entschließen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, werden systemische Therapeutinnen und Therapeuten Sie dabei nach Kräften unterstützen, das zu erreichen, was Sie sich heute vielleicht kaum noch vorstellen können: ein Kind zu haben, das mutig ins Leben zieht, und eine Familie, die die Sorgen und Belastungen hinter sich lässt.
In dem Buch wird zunächst erörtert, welche Ängste eines Kindes zu welcher Zeit seines Lebens ganz normal sind. Sodann werden die verschiedenen Arten von Angststörungen des Kindes- und Jungendalters dargestellt und Hinweise gegeben, wie weit diese Ängste die weitere gesunde Entwicklung Ihres Kindes beeinträchtigen können.
In einem zweiten Teil werden wissenschaftliche Befunde dargestellt, die Ihnen helfen, die Ängste Ihres Kindes besser zu verstehen. Es wird erörtert, welche Bedingungen eine Rolle spielen können, dass ein Angstverhalten auftritt und aufrechterhalten wird. Dabei geht es niemals um die Frage von Schuld. Natürlich gelingt es Eltern bei einem Kind besser, ihm gute Bedingungen für das Aufwachsen zu schaffen, als bei einem anderen. Das liegt aber nicht zuletzt daran, dass jedes Kind auf seine Umweltbedingungen und das Verhalten seiner Eltern und Erzieherinnen unterschiedlich reagiert. Aber die Erforschung von möglichen Ursachen für ein Angstverhalten in der Vergangenheit ist schwierig. Die gute Botschaft ist: Da Menschen keine Maschinen sind und auch nicht so funktionieren, bringt die Erforschung von Ursachen für ein auffälliges Verhalten – anders als bei einer Küchenmaschine oder einem Auto – in aller Regel auch keinen wesentlichen Gewinn für die Lösung des Problems. Wichtig ist es vielmehr, die Stärken und Ressourcen aller Familienmitglieder aufzuspüren und die aktuellen Möglichkeiten zu nutzen, dem Kind und der gesamten Familie wieder eine positive Entwicklung zu eröffnen.
Genau darum geht es im dritten Teil des Buches. Hier werden Haltungen und Vorgehensweisen dargestellt, durch die Sie Ihrem Kind helfen können, die unterschiedlichen Aufgaben, die das Leben ihm im Laufe von Kindheit und Jugendzeit stellt, ohne Angst und Rückzug anzugehen und zu bewältigen. Sie werden sehen, dass es einen ganzen Strauß von Vorgehensweisen gibt, mit denen Sie die Lösung des Problems angehen können. Sie werden selbst herausfinden, welcher Ansatz den in Ihrer Familie aufgetretenen Problemen am besten entspricht und welches Vorgehen zu Ihnen am besten passt. Auf diese Weise werden Sie in den meisten Fällen viel erreichen können. Zuweilen wird es aber auch sinnvoll sein, zusätzlich professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Sie werden dann zusammen mit einer Therapeutin oder einem Therapeuten und Ihrem Kind oder Jugendlichen ein Team bilden, das die Aufgabe gemeinsam bewältigt.
Das heißt: Die Therapeutin oder der Therapeut wird Ihnen nicht den »richtigen« Lösungsweg vorschreiben können – den gibt es nicht – und schon gar nicht ohne Ihre Mitwirkung die Lösung erreichen. Sie wird Sie – als Eltern – und Ihr Kind vielmehr mit vielen Fragen und Anregungen dabei unterstützen, die für Ihre Familie passende Lösung zu entwickeln.
Wilhelm Rotthaus
Bergheim, im Januar 2020
Im Laufe der Kindheit beobachten und erfahren Kinder ständig etwas Neues. Und immer wieder müssen sie einschätzen, ob dieses Neue möglicherweise bedrohlich oder gefährlich ist. Dabei hilft die Angst. Sie ist sozusagen ein Signalgeber, der in der Begegnung mit Unbekanntem ruft: »Pass auf!« Das Kind verhält sich also klug, wenn es sich auf den Zuruf seiner Angst hin erst einmal zurückzieht, um die Situation genauer zu beurteilen. Zumeist sucht es dann zunächst einmal die Nähe seiner Eltern oder sonstiger Bezugspersonen und holt sich Sicherheit, um dann erneut einen Schritt in diese spannende Welt zu machen. Die Angst hilft also dem Kind dabei, sich bei seinem Bestreben, die Welt zu erobern, vor Gefahren zu schützen. Auf die Weise baut es einen zunehmend großen Erinnerungsschatz auf und entwickelt eine geistige Reife, die es ihm in immer größerem Umfang möglich macht, Bekanntes von Unbekanntem zu unterscheiden. Es lassen sich deshalb alterstypische Ängste beschreiben, die nahezu bei jedem Kind und jedem Jugendlichen in einer bestimmten Altersspanne auftreten.
Während der Kindheit ist die Angst vor dem Verlust der Geborgenheit das zentrale, sozusagen »durchlaufende« Thema. Im Übrigen treten die folgenden Ängste typischerweise während der unterschiedlichen Altersstufen auf:
·1 bis 9 Monate: Angst, ausgelöst durch laute Geräusche
·6 bis 12 Monate: Angst vor dem Unbekannten, vor fremden Menschen, fremden Objekten, Höhenangst sowie Angst vor der Trennung von den Bezugspersonen und Angst vor Verletzungen
·2 bis 4 Jahre: Angst vor Tieren, Angst vor Dunkelheit, Angst vor Fantasiegestalten und Einbrechern
·6 bis 8 Jahre: Angst vor übernatürlichen Dingen, vor Donner und Blitz, vor dem Alleinsein und Angst, ausgelöst durch Fernsehen und Filme
·9 bis 12 Jahre: Angst vor Prüfungen in der Schule und soziale Ängste
·12 bis 18 Jahre: soziale Ängste in Form von Angst vor der Zurückweisung durch Gleichaltrige; bei den Älteren auch Angst vor politischen oder ökonomischen Krisen und Gefahren
Natürlich sind diese Angaben nur grob orientierende Werte.
Während also bestimmte Ängste in den unterschiedlichen Zeiten des Lebens völlig normal sind, spricht man von einer Angststörung, wenn Angst in einem so hohen Maße und über längere Zeit so häufig auftritt, dass das Kind oder der Jugendliche die Aufgaben, die sich in seinem Lebensalter stellen, nicht zu bewältigen vermag. Es nimmt zu anderen Kindern keinen Kontakt auf, schließt keine Freundschaften, weigert sich, in den Kindergarten zu gehen, geht möglicherweise nicht alleine aus dem Haus, scheut davor zurück, selbstständig kleine Aufgaben zu übernehmen, bekommt als Schulkind morgens heftige Bauchschmerzen, sodass es nicht zur Schule geht, und vieles andere mehr. In seiner Entwicklung und seinen Lernfortschritten droht es ernsthaft Schaden zu nehmen. Vor allem den Erwachsenen, die sein Verhalten beobachten, wird deutlich, dass es Hilfe und Unterstützung braucht, um sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Viele Kinder, aber nicht alle, leiden unter dieser Situation. Dass sich solche Ängste »von alleine auswachsen«, sollte man nicht erwarten.
In der Fachwelt unterscheidet man verschiedene Formen von Angststörungen. Ihre Beschreibung kann auch für Laien zur Einordnung der Ängste ihrer Kinder nützlich sein.
DER ACHTJÄHRIGE JANNIK hat sich schon als Baby ungern von seiner Mutter getrennt. Später wehrte er sich so heftig gegen die Versuche seiner Eltern, ihn in den Kindergarten zu schicken, dass diese schließlich aufgegeben haben. Seit einiger Zeit klagt er morgens vor dem Schulbesuch über Bauchschmerzen und Übelkeit. In der Mittagsbetreuung verweigert er das Essen. Jannik schläft nie allein in seinem Zimmer. Manchmal übernachtet die Mutter in seinem Bett, oder er sucht nachts das elterliche Schlafzimmer auf. Seit einiger Zeit gibt es viel Streit zwischen den Eltern. Der Vater wirft der Mutter vor, sie verhalte sich zu nachgiebig; die Mutter beschuldigt den Vater, dass er kein Verständnis für die Schwierigkeiten des sensiblen Jungen habe. Seit kurzer Zeit weigert sich Jannik auch tagsüber, alleine in einem Zimmer zu bleiben. Die Trennungsängste treten besonders in neuen, unbekannten Situationen auf oder wenn die Mutter Termine wahrnehmen muss. In einer solchen Trennungssituation äußerte Jannik kürzlich gegenüber seiner Mutter, er wolle nicht, dass sie sterbe.
Kinder mit Trennungsangst äußern eine überwältigende Angst davor, eine wichtige Person zu verlieren. Sie äußern die Befürchtung, dieser Person könne etwas Schlimmes zustoßen, ein Elternteil könne auf der Fahrt zur Arbeit verunglücken oder es könne sonst etwas Schreckliches geschehen, sodass sie ihre Bezugsperson nie wiedersehen würden. Manche Kinder äußern die Befürchtung, sie könnten selbst gekidnappt werden oder verloren gehen. Sie weigern sich nicht selten, in den Kindergarten oder in die Schule zu gehen. Andere Kinder sind nicht bereit, tagsüber auch nur kurze Zeit einmal allein zu Hause zu bleiben, abends ohne die Nähe der Bezugsperson einzuschlafen oder überhaupt im eigenen Bett zu schlafen. Eltern berichten über langwierige Zubettgehsituationen, das Schlafen des Kindes im elterlichen Bett und das Fehlen altersentsprechender Erfahrungen mit Übernachtungen bei Freunden. Wenn eine Trennung von der Hauptbezugsperson bevorsteht, klagen die Kinder oft über körperliche Symptome wie Herzklopfen, Schwindelgefühle, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen und Übelkeit.
Störungen mit Trennungsangst haben unter den Angststörungen im Kindes- und Jugendalter den frühesten Beginn. Ein Drittel der betroffenen Kinder zeigen sich oft traurig und lustlos, ein Fünftel von ihnen weist gleichzeitig eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung oder eine Störung mit oppositionellem Trotzverhalten auf. Etwa 10 % der betroffenen Kinder fangen wieder an einzunässen. Die Ängste können bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben, wo sie meist als Panikstörung oder als Agoraphobie in Erscheinung treten.
DIE SIEBENJÄHRIGE AMELIE hat Angst, mit Aufzügen oder öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Ihre Ängste haben sich seit gut einem halben Jahr entwickelt, nachdem sie mit ihrer Oma im Aufzug am Arbeitsplatz der Mutter stecken geblieben war und es eine halbe Stunde gedauert hatte, bis sie »befreit« wurden. Amelie macht sich jetzt ständig Sorgen, dass ihrer Mutter das Gleiche widerfahren könne. An diesen Gedanken knüpfte sie dann die Sorge, ob ihre Mutter sie auch von der Schule abholen werde. Während sie früher ihre Mutter gerne zu ihrer Arbeitsstätte begleitet hat, verweigert sie dies in den letzten Monaten, da ihr bereits der Anblick des Aufzugs Angst bereitet. In den Angstsituationen zeigt Amelie erhebliche körperliche Reaktionen wie Herzklopfen, Zittern, Atemnot bis hin zu Erbrechen.
Von einer spezifischen Phobie spricht man, wenn Kinder oder Jugendliche eine ausgeprägte Angst vor bestimmten Objekten (z. B. Spritzen), Situationen (z. B. Dunkelheit) oder Tieren (z. B. Hunden) zeigen, auch wenn seitens außenstehender Beobachter keine Gefahr zu erkennen ist. Sie beginnen dann, die gefürchtete Situation in zunehmendem Maße zu vermeiden oder aus ihr zu flüchten. Die häufigsten Inhalte spezifischer Phobien bei Vor- und Grundschulkindern sind Angst vor Fremden, vor Dunkelheit oder vor Tieren sowie Angst um die eigene Sicherheit, bei den Zwölf- bis Siebzehnjährigen Angst vor Tieren, Naturkatastrophen und vor spezifischen Situationen wie engen Räumen, Fahrstühlen, Tunnel, hohen Brücken und Ähnlichem. Bei genauerem Nachfragen sehen die Kinder, besonders die Jugendlichen, oft ein, dass ihre Angstreaktion unangemessen und übertrieben ist. Diese Einsicht bringt aber keine Erleichterung. Sie kann bei jüngeren Kindern auch noch nicht vorhanden sein.
Während der phobischen Reaktion kommt es bei den Kindern und Jugendlichen zu starken körperlichen Reaktionen wie Herzklopfen, Zittern, Schwitzen oder Bauchschmerzen. Sie malen sich aus, welche schrecklichen Dinge in der angstbesetzten Situation geschehen könnten. Die Kinder suchen die Nähe ihrer Eltern oder sonstiger Bezugspersonen, die ihnen Sicherheit geben. Sie klammern sich an sie an, weinen oder reagieren wie gelähmt. Wenn sie gedrängt werden, sich der Situation zu stellen, zeigen manche ein aggressives Verhalten; sie schreien, bekommen Wutanfälle und schlagen um sich.
JOHANNA, 17 JAHRE, ist seit ihrer Kindergartenzeit zurückhaltend, schüchtern und introvertiert. Die Probleme haben mit den Jahren zugenommen. In der Grundschule und später in der Hauptschule hat Johanna sich immer mehr verschlossen. Sie geht nicht auf Menschen zu und knüpft keine Kontakte, vermeidet jegliche Konfliktsituation und traut sich kaum, eine eigene Meinung zu äußern. Die Mutter hat ihrer Tochter immer wieder zugeredet, sich mit Gleichaltrigen zu verabreden, und auch mehrfach Mitschülerinnen eingeladen. Aber Johanna hat mit ihnen kaum geredet. Die Jugendliche hat inzwischen in nahezu allen Lebensbereichen Angst davor, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, sich peinlich oder beschämend zu verhalten. Johanna schämt sich, in der Öffentlichkeit zu essen und mit anderen Personen zu reden, und zeigt generell Angst, sich außerhalb des häuslichen Rahmens aufzuhalten. Das Mädchen hat das Gefühl, dass alle sie bewerten und denken, wie dick, hässlich und dumm sie sei. Johanna mochte nie ihren kräftigen Körper, aber jetzt sagt sie, sie würde ihn hassen. In sozialen Situationen zeigt sie Symptome wie Zittern, Schwitzen und Erröten; seit Kurzem verstummt sie in angstbesetzten Situationen völlig. Im Übrigen klagt Johanna über eine gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit und übermäßige Müdigkeit. Seit Langem streiten die Eltern darüber, wie am besten mit Johanna umzugehen sei. Die energische Mutter macht viel Druck auf Johanna. Der Vater, selbst eher schüchtern und zurückhaltend, ist sehr besorgt, was die Nachbarn über die Familie denken. Seine Schwester wirft der Mutter vor, die anderen Familienmitglieder durch ihre aktive, bestimmende Art zu unterdrücken.
Bei fast allen Kindern treten mit der zunehmenden Fähigkeit, Situationen aus der Perspektive eines anderen zu betrachten, Ängste vor sozialer Beurteilung auf. Sie stellen sich die Fragen: »Wer bin ich?« und »Wie sehen mich die anderen?«. Es tauchen Selbstzweifel auf und Sorgen darüber, wie sie nach außen wirken und was andere über sie denken können. Derartige Episoden sozialer Angst sind Teil der normalen Entwicklung. Die Kinder und Jugendlichen bilden in diesen Auseinandersetzungen schrittweise eine eigene Identität aus und eine wachsende Unabhängigkeit von ihren Eltern.
Bei manchen Kindern und Jugendlichen ist die soziale Angst stärker ausgeprägt und anhaltender als bei den meisten Gleichaltrigen. Man spricht dann von Schüchternheit. Diese Kinder neigen dazu, im Kontakt mit Fremden gehemmt und rückzüglich zu reagieren. Sie haben oft die Sorge, dass die Gleichaltrigen sie ablehnen könnten, und sie trauen sich im Kontakt mit ihnen wenig zu. Insofern ähneln sie in ihrem Verhalten solchen Kindern, die als sozialphobisch bezeichnet werden. Schüchterne Kinder sind aber in der Regel bereit zu überprüfen, was tatsächlich bei der Begegnung mit anderen passiert und ob die anderen ihnen nicht doch freundlich gesinnt begegnen.
Von einer sozialen Phobie sollte erst dann gesprochen werden, wenn Kinder oder Jugendliche eine dauerhafte, unangemessene Furcht vor sozialen Situationen oder Leistungssituationen zeigen. In diesen Situationen oder bei ihrer gedanklichen Vorwegnahme treten körperliche Reaktionen auf in Form von Herzklopfen, Zittern, Schwitzen, Erröten, Kälteschauern, Schwächegefühl, Übelkeit und einer veränderten Atmung. Die Kinder und Jugendlichen entwickeln eine Flut negativer Gedanken über eigene Unzulänglichkeiten und die daraus folgenden Schwierigkeiten vor allem im Kontakt mit Gleichaltrigen. Die sozialen Ängste drücken sich beispielsweise aus in Stottern, geringem Augenkontakt und Nägelkauen. Viele Jugendliche glauben, dass die anderen an ihren körperlichen Reaktionen ihre verborgenen Gefühle ablesen können, wodurch sie noch ängstlicher werden und in einen Teufelskreis zunehmender Angst geraten.