Schulprobleme und Schulabsentismus - Wilhelm Rotthaus - E-Book

Schulprobleme und Schulabsentismus E-Book

Wilhelm Rotthaus

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Beschreibung

Hartnäckiges "Schulschwänzen" zieht oft langfristige Folgen nach sich: Für Schüler:innen kann die gescheiterte Ausbildung zur lebenslangen Belastung werden, für die Gesellschaft stellen beruflich nicht qualifizierte Arbeitssuchende ein volkswirtschaftliches Problem dar. Dem Fernbleiben von der Schule gehen häufig Verhaltensprobleme in der Schule oder Mobbing voraus. Beides ist nur in einer guten Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule zu lösen, gegebenenfalls unterstützt durch Schulsozialarbeit, schulpsychologischen Dienst, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Jugendamt, Polizei und Kinderärzt:innen. Das gilt auch für die Fälle, in denen es wegen psychosomatischer Beschwerden zu langen Abwesenheitszeiten kommt. Ein erfolgreiches Intervenieren setzt voraus, dass die beteiligten Unterstützer:innen ihre Aktivitäten miteinander abstimmen. Wilhelm Rotthaus gibt eine Übersicht über das gesamte Problemfeld und beschreibt die unterschiedlichen Beziehungs- und Einflussebenen, die hier eine Rolle spielen. Jedem Beteiligten werden Anregungen für die Arbeit in seiner Position und in seinem Tätigkeitsfeld aus einer systemtherapeutischen Perspektive gegeben.

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Störungen systemisch behandeln

Band 15

Herausgegeben von

Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus

Wilhelm Rotthaus

Schulprobleme und Schulabsentismus

Zweite Auflage, 2022

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke) Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster) Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Reihe »Störungen systemisch behandeln«, Band 15

hrsg. von Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus

Reihendesign: Uwe Göbel

Umschlag und Satz: Heinrich Eiermann

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Zweite Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-0268-7 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8176-7 (ePUB)

© 2019, 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Vorwort der Herausgeber

Einleitung

1 Schulprobleme

1.1 Das Phänomen Schulprobleme

1.1.1 Phänomenbeschreibung

1.1.2 Komorbidität

1.1.3 Häufigkeit

1.1.4 Diagnostik

1.2 Störungsverständnis und therapeutisches Vorgehen der psychodynamischen Verfahren und der Verhaltenstherapie

1.3 Störungsverständnis und therapeutisches Vorgehen der Systemischen Therapie

1.4 Beziehungs- und Einflussebene Elternhaus – Schule

1.4.1 Schulprobleme sind Zwei-System-Probleme

1.4.2 Die Allianz von Eltern und Lehrerin zugunsten des Kindes

1.4.3 Die Rolle der Beraterin/Therapeutin im Hinblick auf die Beziehungsebene Elternhaus – Schule

1.4.4 Frühe gleichwürdige Elternarbeit

1.5 Beziehungs- und Einflussebene Eltern – Kind

1.5.1 Klärung von Anlass, Anliegen und Ziel

1.5.2 Die Vier-Felder-Methode

1.5.3 Systemische Hypothesenbildung

1.5.4 Settingwahl

1.5.5 Lösung des Problems auf der Ebene zweiter Ordnung

1.5.6 Experiment Einbahnstraße

1.5.7 Der Verantwortungskuchen

1.5.8 Verhaltensstörung oder Erwartungsstörung?

1.5.9 Erklärungsmodell Faulheit

1.5.10 Ressourcen-Timeline

1.5.11 »Schule ist langweilig!«

1.5.12 Ritualisierte Entlassung eines Kindes aus der Vermittlerrolle zwischen getrennten Eltern

1.6Beziehungs- und Einflussebene Schule – Schüler

1.6.1 Positive Beziehungserfahrungen im Kontakt mit der Lehrerin

1.6.2 Neue Autorität in der Schule

1.6.3 Neue Lerninhalte an bereits vorhandenes Wissen anknüpfen

1.6.4 Förderung des Selbstwirksamkeitserlebens

1.6.5 Die Beziehungen zu den Peers, zu den Lehrerinnen und zu den Eltern reflektieren lassen

1.6.6 Die subjektive Bedeutsamkeit der Lerninhalte

1.6.7 Die Lehrerin als selbstverantwortlich handelnde Vorbildperson

1.6.8 Hilfreiche Strategien für die Lehrerin im Umgang mit Problemschülern

1.6.9 Unterstützung durch eine Beraterin

1.6.10 Schulbindung fördern

1.6.11 Unterstützung durch die Organisation der Schule

1.7 Beziehungs- und Einflussebene Schüler – Mitschüler

2 Schulmobbing/Schulbullying

2.1 Das Phänomen Schulmobbing/Schulbullying

2.1.1 Phänomenbeschreibung

2.1.2 Betroffene und Täter

2.1.3 Häufigkeit

2.1.4 Folgen für Betroffene und Täter

2.2 Erklärungsansätze

2.2.1 Das Ermöglichen von Mobbing durch die Mitschüler

2.2.2 Mobbing als dynamischer Prozess

2.2.3 Lösung Schulwechsel?

2.3 Systemische Gruppen- und Einzelmaßnahmen

2.3.1 Schulische Interventionsprogramme

2.3.2 Therapie mit dem betroffenen Kind und mit dem Täter

2.4 Vorgehensweisen, die nicht zu empfehlen sind

2.5 Cyberbullying/Cybermobbing

2.5.1 Phänomenbeschreibung

2.5.2 Häufigkeit

2.5.3 Folgen

2.5.4 Prävention an Schulen

3Schulabsentismus

3.1 Das Phänomen Schulabsentismus

3.1.1 Einführung

3.1.2 Phänomenbeschreibung

3.1.3 Häufigkeit

3.1.4 Diagnostik

3.2 Bedingungsfaktoren für das Auftreten und Aufrechterhalten von Schulabsentismus

3.2.1 Schulphobie

3.2.2 Schulangst mit dem Schwerpunkt Leistungsangst

3.2.3 Schulangst mit dem Schwerpunkt soziale Angst / soziale Phobie

3.2.4 Schulschwänzen

3.2.5 Zurückhalten

3.2.6 Krankschreibung

3.3 Schulpädagogisches Erklärungsmodell

3.4 Störungsverständnis und therapeutisches Vorgehen

3.4.1 Verfahrensübergreifende Vorschläge zum Umgang mit dem Problem Schulabsentismus

3.4.2 Störungsverständnis aus Sicht der Bindungstheorie

3.4.3 Störungsverständnis und therapeutisches Vorgehen der psychodynamischen Therapie

3.4.4 Störungsverständnis und therapeutisches Vorgehen der Verhaltenstherapie

3.5 Störungsverständnis und therapeutisches Vorgehen der Systemischen Therapie

3.6 Beziehungs- und Einflussebene Eltern – Kind

3.6.1 Primärmaßnahmen bei Schulphobie und Schulangst

3.6.2 Öffentlichkeit herstellen

3.6.3 Nicht-zur-Schule-Gehen – eine Entscheidung des Kindes oder Jugendlichen aus guten Gründen

3.6.4 Ziel- und Auftragsklärung mit dem Kind oder dem Jugendlichen

3.6.5 Ziel- und Auftragsklärung mit der Mutter und dem Vater

3.6.6 Kontextualisierung des schulverweigernden Verhaltens

3.6.7 Genogrammarbeit

3.6.8 Grundideen für die Therapie von Angststörungen

3.6.9 Familiäre Konstellationen

3.6.10Sinn, Funktion und gute Gründe für Schulphobie und Schulangst

3.6.11 Griechischer Chor

3.6.12 Arbeit mit Unfreiwilligkeit

3.6.13 Lösung Schulwechsel?

3.6.14 Familienklassen

3.7 Beziehungs- und Einflussebene Elternhaus – Schule

3.7.1 Die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit

3.7.2 Eltern als Partner, Zulieferer oder Kunden der Schule?

3.7.3 Eltern als Experten für Erziehung, Lehrerinnen als Experten für Lernen

3.7.4 Erziehungspartnerschaft zwischen Elternhaus und Schule

3.7.5 Kooperation zwischen Eltern mit Migrationshintergrund und der Lehrerin

3.7.6 Kooperationsverträge bei ersten Episoden des Schulschwänzens

3.7.7 Eltern zu einer Therapie anregen

3.8 Beziehungs- und Einflussebene Schule – Schüler

3.8.1 Auffällige und häufig schwänzende Schüler in der Klasse halten….

3.8.2 Frühes Wahrnehmen von Rückzug und Gleichgültigkeit eines Schülers

3.8.3 Schulpflicht ernst nehmen

3.8.4 Fehlzeiten wahrnehmen

3.8.5 Schulische Konzepte für die Reaktion auf Schulabsentismus

3.8.6 Der wichtigste Faktor: eine gute Lehrerin-Schüler-Beziehung

3.9 Beziehungs- und Einflussebene Schule – Jugendamt und ggf. Polizei

3.10 Stationäre Therapie

3.10.1 Verfahrensübergreifende Klinikkonzepte

3.10.2 Systemische Klinikkonzepte

3.11 Fallzuständigkeit und Vernetzung

3.11.1 Die Kooperation der am jeweiligen »Fall« Beteiligten

3.11.2 Fallverantwortung

3.11.3 »Runde Tische«

Literatur

Über den Autor

Vorwort der Herausgeber

Ursprünglich ein querdenkendes Außenseiterkonzept, hat sich der systemische Ansatz heute in vielen Bereichen der Therapie und der Beratung theoretisch wie praktisch etabliert. Auch Vertreter anderer Schulen bereichert er mittlerweile in ihrer Arbeit. Die Etablierung eines Paradigmas birgt für dieses selbst aber auch Risiken, weil sie stets mit der Verfestigung von Denk- und Handlungsgewohnheiten einhergeht. Die Reihe Störungen systemisch behandeln stellt sich vor diesem Hintergrund zwei Herausforderungen: Nichtsystemischen Behandlern und Vertretern anderer Therapierichtungen soll sie komprimiert und praxisorientiert vorstellen, was die systemische Welt im Hinblick auf bestimmte Störungsbilder zu bieten hat. Innerhalb der Systemtherapie steht sie für eine neue Phase im Umgang mit dem Konzept von »Störung« und »Krankheit«.

Historisch gesehen war einer ersten Phase mit erfolgreichen Konzepten zu Krankheitsbildern wie Schizophrenie, Essstörungen, psychosomatischen Krankheiten und affektiven Störungen eine zweite Phase gefolgt, die geprägt war von einem gezielten Verzicht oder einer definitiven Ablehnung aller Formen störungsspezifischer Codierungen. In jüngerer Zeit wenden sich manche Vertreter der systemischen Welt wieder störungsspezifischen Konzepten und Fragen zu – und werden von anderen dafür deutlich attackiert. Diese neue Welle ist bedingt durch die Anerkennung der Systemtherapie als wissenschaftliches Heilverfahren, durch den Antrag auf deren sozialrechtliche Anerkennung und nicht zuletzt dadurch, dass viele im klinischen Sektor systemisch arbeitende Kollegen täglich gezwungen sind, sich zu störungsspezifischen Konzepten zu positionieren.

Die systemische Welt hat hierzu einiges anzubieten. Die Reihe Störungen systemisch behandeln will zeigen, dass und wie die Systemtheorie mit traditionellen diagnostischen Kategorien bezeichnete Phänomene ebenso gut und oft besser beschreiben, erklären und mit hoher praktischer Effizienz behandeln kann. Sie verfolgt dabei zwei Ziele: Zum einen soll systemisch arbeitenden Kollegen das große Spektrum theoretisch fundierter und praktikabler systemischer Lösungen für einzelne Störungen zugänglich gemacht werden – ohne das Risiko, die eigene systemische Identität zu verlieren, im besten Fall sogar mit dem Ergebnis einer gestärkten systemischen Identität. Gleichzeitig soll nicht-systemischen Behandlern und Vertretern anderer Schulen das umfangreiche systemische Material an Erklärungen, Behandlungskonzepten und praktischen Tools zu verschiedenen Störungsbildern auf kompakte und nachvollziehbare Weise vermittelt werden.

Verlag, Herausgeber und Autoren bemühen sich, einerseits eine für alle Bände gleiche Gliederung einzuhalten und andererseits kreativen systemischen Querdenkern die Freiheit des Gestaltens zu lassen.

An die Stelle der Abgrenzung und der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Therapieschulen ist heute der Austausch zwischen ihnen getreten. Die Reihe »Störungen systemisch behandeln« versteht sich als ein Beitrag zu diesem Dialog.

Dr. Hans Lieb, Dr. Wilhelm Rotthaus

Einleitung

Dieses Buch trägt in ungewöhnlicher Weise einen Doppeltitel. Es handelt von Schulproblemen, also von Verhaltensproblemen von Kindern und Jugendlichen in der Schule, einerseits und von Schulabsentismus, dem Fernbleiben eines Kindes oder Jugendlichen von der Schule andererseits. Dazwischen befindet sich noch ein kurzer dritter Teil, der Schulmobbing bzw. Schulbullying behandelt. Die Verbindung der beiden Themen Schulprobleme und Schulabsentismus ist der Tatsache geschuldet, dass dem Schulabsentismus häufig eine Phase von Schulproblemen, Schulunlust, Schulmüdigkeit und einer inneren Kündigung der Schullaufbahn vorausgeht. Je früher die Aufmerksamkeit auf die Verhaltensprobleme von Kindern und Jugendlichen in der Schule gerichtet wird und korrigierende Maßnahmen eingeleitet werden, umso mehr kann die Problematik des Schulabsentismus verhindert werden.

Das gilt auch für die Fälle, in denen es wegen psychosomatischer Beschwerden morgens vor der Schule mit Wissen der Eltern – zumindest in Deutschland – teilweise über Monate und Jahre zu grotesk langen, nicht selten entschuldigten Abwesenheitszeiten der Kinder und Jugendlichen von der Schule kommt, ohne dass einschneidende Maßnahmen getroffen werden.

Mit dem Buch wird das Anliegen verfolgt, Ansatzpunkte und Vorgehensweisen zur Verfügung zu stellen, die einen erfolgreicheren Umgang mit dem Problem Schulabsentismus ermöglichen, als das bisher nach allen vorliegenden Untersuchungen gelingt. Denn die negativen Folgen des Schulabsentismus in Form des Scheiterns der schulischen Ausbildung und einer beruflichen Qualifikation stellen sowohl für den Einzelnen eine möglicherweise lebenslange Belastung als auch für die Gesellschaft mit einer hohen Zahl beruflich nicht qualifizierter Arbeitssuchender ein großes Problem dar.

Schulprobleme und Schulabsentismus werden zwar nicht als Diagnosen in der ICD-11 oder im DSM-5 erfasst, sind aber zweifellos eigenständige Auffälligkeiten bzw. Störungen. Sie manifestieren sich (vor allem) in der Schule, beziehen sich auf das soziale Geschehen in der Schule sowie rund um die Schule und sind nur selten ohne aktive Mitwirkung der Lehrkräfte zu lösen. Es handelt sich um ungewöhnlich komplexe Problemstellungen. Zumeist sind mehrere Personen und Institutionen in irgendeiner Weise daran beteiligt: das Kind/der Jugendliche und seine Eltern, die Lehrerin1 und das Schulkollegium, ggf. die mit der Schulsozialarbeit betraute Kollegin, das Jugendamt, eine Mitarbeiterin des schulpsychologischen Dienstes, eine Kinder- und Jugendlichentherapeutin, eine Kinder- und Jugendpsychiaterin oder die kinder- und jugendpsychiatrische Klinik, eine Kinderärztin.

Eine Problemlösung ist deshalb nur zu erreichen, wenn zwischen den Beteiligten eine Einigkeit im Hinblick auf Zuständigkeiten und Verantwortung besteht. In jedem Einzelfall ist zu klären, welche Beziehungsebene – sei es beispielsweise die Eltern-Lehrerin-Beziehung, das innerfamiliäre Beziehungsfeld oder die Beziehung Lehrerin-Schüler – die primäre Handlungsebene ist und in welcher Weise die anderen Beteiligten Unterstützung leisten. Dazu müssen alle Personen, die mit den angesprochenen Problemen in Berührung kommen, die unterschiedlichen Beziehungs- und Einflussebenen, die in Fällen von Schulproblemen und Schulabsentismus eine Rolle spielen, im Auge haben.

Diesem Ziel dient die Darstellungsform in diesem Buch. Sie soll jedem Beteiligten Anregungen für die Arbeit in seiner Position und in seinem Tätigkeitsfeld geben und ihm gleichzeitig eine Übersicht über das gesamte Problemfeld ermöglichen. Das Buch richtet sich deshalb an Psychotherapeutinnen für Kinder und Jugendliche, Schulpsychologinnen und Schulsozialarbeiterinnen, Kinderärztinnen, Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und Mitarbeiterinnen in kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken sowie im Jugendamt und nicht zuletzt an Lehrkräfte in Schulen sowie Schulleiterinnen.

1 In diesem Buch wird die weibliche Form für die Therapeutinnen und Therapeuten sowie die Lehrerinnen und Lehrer, die männliche Form für die Kinder und Jugendlichen gewählt. Personen des jeweils anderen Geschlechts mögen sich ebenso angesprochen fühlen.

1 Schulprobleme

1.1 Das Phänomen Schulprobleme

1.1.1 Phänomenbeschreibung

Verhaltensprobleme von Kindern und Jugendlichen in der Schule sind häufiger Anlass für die Inanspruchnahme von Erziehungsberatungsstellen, niedergelassenen Psychotherapeutinnen sowie kinder- und jugendpsychiatrischen Praxen und Kliniken. Die vorgestellte Problematik ist vielfältig und reicht von Ängstlichkeit und Schüchternheit mit der Folge unzureichender Mitarbeit im Unterricht über Konzentrationsmangel und geringe Aufmerksamkeitsfokussierung, Unruhe und Störverhalten während des Unterrichts, offene Verweigerung von Mitarbeit, oppositionelles Verhalten bis zu lautem, aggressivem Streitverhalten im Kontakt mit Lehrerinnen sowie mit den Mitschülern.

Solche Verhaltensstörungen, die vorwiegend auf die Schule bezogen sind und schwerpunktmäßig in der Schule auftreten, werden – wie schon gesagt – in den Klassifikationsmanualen psychischer Störungen des Kindes- und Jugendalters nicht gesondert codiert. In der Praxis werden sie unterschiedlichen Störungen zugeordnet, beispielsweise den Störungen des Sozialverhaltens, den hyperkinetischen Störungen, den depressiven Störungen oder den Angststörungen.

Dies und die Heterogenität der Symptomatik sowie die Schwierigkeit, ein bestimmtes Störungsbild einzugrenzen, haben dazu geführt, dass Verhaltensprobleme in der Schule seitens der Forschung bislang eine nur geringe Aufmerksamkeit erfahren haben. Die Literatur zu therapeutischen Konzepten und Therapieerfahrungen ist auf wenige Publikationen beschränkt. Die dürftige Erkenntnislage dürfte zudem dadurch bedingt sein, dass die Problematik in einem Grenzbereich unterschiedlicher Disziplinen angesiedelt ist. Handelt es sich um ein pädagogisches oder ein psychiatrisch-psychotherapeutisches Geschehen? Die Schule hält sich vielfach für nicht zuständig, da sie sich nur bedingt einen erzieherischen, aber ganz sicher keinen therapeutischen Auftrag zuschreibt. Beraterinnen und Therapeutinnen auf der anderen Seite wissen wenig über schulische Bedingungen, die strukturellen Voraussetzungen von Schule und die Handlungsmöglichkeiten von Lehrerinnen.

1.1.2 Komorbidität

Verhaltensprobleme in der Schule gehen oft einher mit spezifischen Lernstörungen. Das DSM-5 (Falkai u. Wittchen 2015) unterscheidet drei spezifische Lernstörungen: 1. Lernstörungen mit Beeinträchtigung im Lesen und den Teilkomponenten Wortlesegenauigkeit, Lesegeschwindigkeit und Leseverständnis (Dyslexie). 2. Lernstörungen mit Beeinträchtigung im schriftsprachlichen Ausdruck und den Teilkomponenten Rechtschreibgenauigkeit, Grammatik und Zeichensetzung sowie Klarheit und Organisation des schriftsprachlichen Ausdrucks (Dysgraphie zusammen mit der Dyslexie: Lese-Rechtschreib-Störung). 3. Lernstörungen mit Beeinträchtigung in Mathematik und den Teilkomponenten Zahlenverständnis, arithmetisches Faktenwissen, Geschwindigkeit und Genauigkeit der Grundrechenfertigkeiten sowie mathematisch schlussfolgerndes Denken (Dyskalkulie).

Eine Schweregradbeschreibung unterscheidet zwischen »leicht« (einzelne Schwierigkeiten in einem oder zwei Lernbereichen, die aber noch kompensiert werden können, wenn ausreichend Unterstützung oder Hilfen vorliegen), »mittelgradig« (deutliche Schwierigkeiten in einem oder zwei Lernbereichen, die nicht ohne Phasen intensiver Lernförderung kompensiert werden können) und »schwer« (ausgeprägte Lernschwierigkeiten in mehreren Bereichen, sodass ein Erwerb von Fertigkeiten in den einzelnen Lernbereichen ohne intensive, individualisierte Unterrichtung über mehrere Jahre nicht möglich ist). Die Diagnostik beruht auf einer Vielzahl von Methoden; hierzu gehören Anamnese, klinisches Interview, Schulbericht, Lehrerbewertung, Beurteilungsskalen und psychometrische Tests. Zur Beurteilung, ob eine Minderleistung vorliegt, wird die individuelle Leistung zu der gemäß Alter und Klassenstufe zu erwartenden Leistung in Beziehung gesetzt (Diskrepanzkriterium). Bei allen drei spezifischen Lernstörungen handelt es sich um früh beginnende Störungen, die oft bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben (Schulte-Körne 2016).

Verhaltensprobleme in der Schule stehen zudem häufig in Zusammenhang mit der Diagnose ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung). Mit ADHS werden Kinder diagnostiziert, die zu einer fluktuierenden Aufmerksamkeit, einer motorischen Unruhe und einer hohen Impulsivität neigen. In der Schule sind sie leicht abgelenkt, rufen ungefragt in die Klasse hinein und können ihre Aufmerksamkeit nur für eine kurze Zeitspanne auf ein Thema ausrichten. Sie verpassen häufig im Unterricht wichtige Informationen und stören die Mitschüler. Nicht selten werden sie von Mitschülern gehänselt und bei einer fortbestehenden Symptomatik sozial ausgegrenzt. Festzuhalten ist, dass es sich bei ADHS – wie bei allen Diagnosen – um zusammenfassende Beschreibungen von häufig auftretenden Verhaltensmustern handelt. Diagnosen machen aber keine Aussagen über die Verursachung dieser Verhaltensmuster. Es ist also logischer Unsinn, wenn gesagt wird, ein Kind verhalte sich wegen seiner ADHS-Störung so auffällig. Eine solche Aussage würde anders formuliert heißen: Das auffällige Verhalten des Kindes wird mit der Diagnose ADHS beschrieben, und diese Beschreibung führt dazu, dass es sich auffällig verhält.

Eine weitere Diagnose, die bei Verhaltensproblemen in der Schule gestellt wird, ist die Störung des Sozialverhaltens2. Sie wird vergeben, wenn ein Kind für sein Alter ungewöhnlich häufig schwere Wutausbrüche zeigt, häufig mit Erwachsenen streitet sowie Wünsche und Vorschriften Erwachsener ablehnt. Die Kinder sind selbst sehr empfindlich und tendieren gleichzeitig dazu, andere zu provozieren. Sie neigen zu verbalen und handgreiflichen Aggressionen, sind oft in körperliche Auseinandersetzungen verwickelt und machen andere für das eigene Fehlverhalten verantwortlich. Die Symptome einer Störung des Sozialverhaltens werden oft in der Schule beim Nicht-Einhalten sozialer Regeln und in der Lehrer-Schüler-Beziehung zuerst wahrgenommen.

Es gibt vier Unterformen der Störung des Sozialverhaltens, von denen im Zusammenhang mit Schulproblemen zum einen die Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten eine Rolle spielt, die charakteristischerweise bei Kindern unter neun oder zehn Jahren auftritt. Das wesentliche Merkmal dieser Störung ist ein Muster mit durchgehend negativistischem, feindseligem, aufsässigem, provokativem und trotzigem Verhalten. Es sind Kinder, die eine geringe Frustrationstoleranz zeigen und schnell wütend werden. Die andere relevante Unterform ist die Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen. Die Kinder und Jugendlichen sind allgemein gut in ihre Altersgruppe eingebunden. Sie zeigen ein andauerndes dissoziales oder aggressives Verhalten. Sie halten sich oft in einer Gruppe aus Gleichaltrigen auf, die ebenfalls ein delinquentes und dissoziales Verhalten aufweisen. Diese Störung des Sozialverhaltens kann auch den familiären Rahmen betreffen. Sie wird aber oft außerhalb der Familie, vor allem in der Schule, sichtbar.

Ist den Verhaltensproblemen in der Schule eine außergewöhnliche Belastung, beispielsweise eine einschneidende Lebensveränderung wie Migration und Flucht oder ein belastendes Lebensereignis wie Krankheit oder Tod, vorausgegangen, lässt sich eine Anpassungsstörung mit vorwiegender Störung des Sozialverhaltens diagnostizieren. Dabei handelt es sich um Zustände von subjektivem Leiden und emotionaler Beeinträchtigung, die soziale Funktionen und Leistungen behindern. Insbesondere bei Jugendlichen können sich beispielsweise Trauerreaktionen in aggressivem und dissozialem Verhalten manifestieren.

Weitere im Zusammenhang mit Verhaltensstörungen in der Schule gestellte Diagnosen sind depressive Störungen und Angststörungen.

1.1.3 Häufigkeit

Angaben über die Häufigkeit von Verhaltensproblemen in der Schule liegen nicht vor. Demgegenüber gibt es zahlreiche Befunde zur Epidemiologie der im vorangegangenen Abschnitt aufgeführten Störungen. Die Prävalenz von ADHS bei den 3–17-Jährigen im Jahr 2005 betrug 2,5 %. Die Prävalenz war annäherungsweise viermal höher bei Jungen als bei Mädchen. Die altersspezifische Prävalenz war am höchsten bei den 10-jährigen Jungen und 9-jährigen Mädchen (Lindemann et al. 2012). Störungen des Sozialverhaltens werden über einen Erfassungszeitraum von bis zu einem Jahr bei etwa 8 % der Kinder und Jugendlichen aus der allgemeinen Bevölkerung diagnostiziert, wobei die Zahl der Jungen zwischen 6 bis 16 % und der Mädchen zwischen 2 bis 9 % ariiert (nach Petermann, Döpfner u. Schmidt 2007, S. 8). Die Häufigkeit der drei spezifischen Lernstörungen wird mit je 4–6 % der Kinder und Jugendlichen angegeben (Schulte-Körne 2016, S. 183).

1.1.4 Diagnostik

Eine mögliche Diskrepanz zwischen der intellektuellen Leistungskapazität eines Kindes und Jugendlichen und den Anforderungen seitens der von ihm besuchten Schule kann Auslöser von Schulproblemen sein. Auch wenn die Zahl dieser Fälle im Vergleich zur Gesamtzahl schulischer Verhaltensprobleme als gering anzusehen ist, gehört eine exakte Diagnostik, vor allem eine fundierte Erfassung der intellektuellen Leistungsfähigkeit des Kindes und Jugendlichen bei Schulproblemen zu den Standardmaßnahmen zu Beginn einer Beratung oder Therapie. Am ehesten wird noch eine Überforderung durch die Leistungserwartungen seitens der Schule eine Rolle spielen. Die sich stets wiederholenden Misserfolgserlebnisse führen in solchen Fällen zu einer Schulunlust und schließlich zu Verhaltensproblemen, die entweder eher dem depressiv-resignierenden Verhaltensspektrum oder den externalisierenden Formen auffälligen Verhaltens zuzurechnen sind. Selten tritt eine Unterforderung im Falle einer Hochbegabung auf. Die angesichts der Leistungsfähigkeit zu geringen Anforderungen führen zu Langeweile und Lustlosigkeit in der Schule. Auffälliges und störendes Verhalten können in der Folge auftreten.

Zur Beurteilung von Schulangst stehen unter anderem folgende Verfahren zur Verfügung:

Angstfragebogen für Schüler – AFS

Bei dem von Wiesczerkowski et al. (1981) entwickelten Angstfragebogen für Schüler handelt es sich um ein Verfahren zur Erfassung des Ausmaßes der subjektiven Angstatmosphäre in Schulklassen. Der Fragebogen kann für den Altersbereich 9–16/17 eingesetzt werden. Erfasst werden Prüfungsangst, manifeste Angst und Schulunlust sowie die soziale Erwünschtheit. Dem AFS sind Einschätzungsskalen zur Fremdbeurteilung durch Lehrer beigefügt, sodass sich überprüfen lässt, inwieweit die Selbsteinschätzung des Schülers mit der des Lehrers übereinstimmt.

Sozialphobie- und Angstinventar für Kinder – SPAIK (Melfsen, Florin u. Warnke 2001)

Es handelt sich um ein störungsspezifisches Selbstbeschreibungsverfahren, das für den Altersbereich von 8 bis 16 Jahren eingesetzt werden kann. Es umfasst 26 auf soziale Situationen bezogene Items, deren Beantwortung auf einer dreistufigen Skala erfolgt. Elf Items differenzieren zwischen Situationen mit bekannten und unbekannten Mädchen und Jungen sowie Erwachsenen.

Deutsche Fassung der Social Anxiety Scale for Children – SASC-R-D (Melfsen u. Warnke 2011)

Dieses Selbstbeurteilungsverfahren für den Altersbereich von 8 bis 16 Jahren beinhaltet eine Unterskala zu Gedanken über die Anerkennung bzw. Ablehnung durch andere Personen und eine zweite Unterskala, die Situationen benennt, die Angst auslösen oder vermieden werden. Es existiert dazu auch eine Elternversion.

Elternfragebogen zu sozialen Ängsten im Kindes- und Jugendalter – ESAK (Weinbrenner 2005)

Der Elternfragebogen kann für den Altersbereich von 10 bis 17 Jahren eingesetzt werden. Er umfasst 18 Items, die sich auf die Subskalen »Negative Kognitionen«, »Vermeidungsverhalten« und »Körperliche Erregung« verteilen.

Fragebogen zur Erfassung sozial ängstlicher Kognitionen bei Kindern und Jugendlichen – SÄKK (Graf et al. 2007)

In diesem Verfahren werden die Kinder der Altersgruppe von 8 bis 13 Jahren aufgefordert, sich eine für sie sozial ängstigende Situation vorzustellen und anschließend anzugeben, wie oft ihnen in dieser Situation die aufgelisteten Gedanken durch den Kopf gehen.

1.2 Störungsverständnis und therapeutisches Vorgehen der psychodynamischen Verfahren und der Verhaltenstherapie

Da die Verhaltensprobleme von Kindern und Jugendlichen in der Schule nicht als eigenständige Diagnose in den Klassifikationsmanualen DSM und ICD aufgeführt sind, werden sie, wie oben dargestellt, je nach vorherrschender Symptomatik vorwiegend als Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens, Anpassungsstörungen und gegebenenfalls als spezifische Lernstörungen codiert. Zu diesen Störungen liegen sowohl aus psychodynamischer als auch aus verhaltenstherapeutischer Sicht umfangreiche Darstellungen vor, die sich mit der Pathogenese und den therapeutischen Maßnahmen bei den einzelnen Störungen befassen.

Trotz der Häufigkeit von Schulverhaltensproblemen von Kindern und Jugendlichen lassen sich demgegenüber bei einer Literaturrecherche nur wenige Publikationen finden, die sich mit störungsspezifischen Erklärungsmodellen und Interventionen zu dieser speziellen Problematik befassen. Steinhausen veröffentliche 2006 den Sammelband »Schule und psychische Störungen«, und Schulte-Körne (2016) griff das Thema mit einer Publikation im Ärzteblatt unter dem Titel »Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen im schulischen Umfeld« auf.

Am ehesten ist in diesem Zusammenhang noch auf das Therapieprogramm SELBST (Walter u. Döpfner 2007) zur Behandlung von Jugendlichen mit Leistungsstörungen zu verweisen, da Leistungsstörungen mit Verhaltensstörungen assoziiert sind und – wie Najaka, Gottfredson a. Wilson (2001) aufzeigen konnten – die Verbesserung von schulischen Leistungen mit einer Abnahme von Verhaltensauffälligkeiten einhergeht. Umgekehrt zeigt eine Mehrzahl von Kindern und Jugendlichen mit Leistungsstörungen eine Fülle von schulbezogenen Verhaltensproblemen.

»Viele der Betroffenen zeigen eine nur unzureichende Leistungsmotivation und Anstrengungsbereitschaft und weisen hohe Defizite im Bereich organisatorisch-planerischer Strategien auf. So gelingt es ihnen beispielsweise nicht, den im Unterricht durchgenommenen Lernstoff angemessen nachzubereiten oder sich adäquat auf Klassenarbeiten und Tests vorzubereiten. Häufig zeigen sie zusätzlich eine unangemessene Mitarbeit im Unterricht, die von apathischem, geistig abwesendem Verhalten bis hin zu massivem Störverhalten mit Provokationen von Lehrern und Mitschülern reichen kann« (Walter u. Döpfner 2007, S. 282).

Darüber hinaus sei auf das multimodale Therapieprogramm für leistungsängstliche Kinder und Jugendliche »THAZ-Leistungsängste« im Rahmen des THAZ-Manuals zur Behandlung von Angst- und Zwangsstörungen (Suhr-Dachs u. Döpfner 2005; Suhr-Dachs 2006) verwiesen. Ziel ist es, durch den Abbau und die Modifikation angstauslösender Gedanken den subjektiven Bedrohungscharakter von Leistungssituationen zu reduzieren. Die Kinder und Jugendlichen sollen lernen, die mit der Leistungssituation assoziierten Gedanken zu reduzieren und durch alternative Gedanken zu ersetzen. Angestrebt wird, dass die Kinder oder Jugendlichen in der akuten Leistungssituation einen positiven, aufgabenorientierten internen Dialog entwickeln, der ihre Aufmerksamkeit auf die Aufgabe lenkt. Hinzu kommen Entspannungsübungen und elternzentrierte Interventionen.

Schließlich sei noch auf Publikationen zu Lernstörungen verwiesen, beispielsweise Monografien von Betz und Breuninger (1998) und Lauth, Grünke und Brunstein (2014), die jedoch Verhaltensprobleme in der Schule nicht oder nur am Rande thematisieren.

Dieser letztlich doch überraschende Befund der geringen Aufmerksamkeit auf die Spezifika von Verhaltensproblemen in der Schule ist nicht nur dadurch bedingt, dass sie als Auffälligkeiten angesehen werden, die im Rahmen anderer Störungen, wie sie oben aufgeführt wurden, auftreten. Hinzu kommt – wie eingangs bereits dargestellt –, dass die Zuständigkeit für Verhaltensprobleme von Kindern und Jugendlichen in der Schule nicht geklärt ist. Die Schule fühlt sich mit den psychischen Auffälligkeiten überfordert und verweist die Verantwortung für Lösungen in den Gesundheitsbereich. Psychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendpsychiaterinnen sehen vor allem die Schule in der Pflicht und definieren sich eher als Unterstützer bei speziellen Problemen.

Dabei erscheint es lohnend und notwendig, zwischen Verhaltensproblemen, die in allen Kontexten auftreten, und solchen, die sich speziell und vornehmlich in der Schule zeigen, zu unterscheiden und den letzteren eine besondere Aufmerksamkeit nicht zuletzt im Hinblick auf die Prävention von Schulabsentismus zuzuwenden. Denn beim Auftreten von Verhaltensproblemen in der Schule spielen ganz spezifische Bedingungen eine Rolle, die einerseits in der Schule, andererseits im Elternhaus zu verorten sind und vor allem auch die Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule betreffen. Diese Besonderheiten müssen bei der Entwicklung eines Erklärungsmodells und insbesondere bei allen therapeutischen und pädagogischen Maßnahmen Berücksichtigung finden, um Erfolge zu erreichen, die das Problem des Schulabsentismus deutlich reduzieren oder gar nicht erst auftreten lassen.

1.3 Störungsverständnis und therapeutisches Vorgehen der Systemischen Therapie

Verhaltensprobleme von Kindern und Jugendlichen in der Schule sind – wie bereits eingangs erwähnt – sehr komplexe Problemstellungen, an denen mehrere Personen und Institutionen beteiligt sind: das Kind oder der Jugendliche und seine Eltern einerseits und die Lehrerin und das Schulkollegium auf der anderen Seite. Allein schon unter diesen Beteiligten können Missverständnisse, Missstimmungen und Konflikte auftreten, die zumindest das Aufrechterhalten in der Schule aufgetretener Verhaltensprobleme begünstigen. Sobald jedoch Verhaltensprobleme im Unterricht eine bestimmte Schwelle überschreiten, werden weitere Fachleute aus unterschiedlichen Berufsfeldern hinzugezogen. Damit entsteht ein komplexes und häufig unübersichtliches System von Helferinnen, für die es schwer ist, ihre unterschiedlichen Maßnahmen untereinander abzusprechen. Nur selten werden Bemühungen unternommen, die einzelnen Maßnahmen gut miteinander zu koordinieren. So kann es dann leicht geschehen, dass die Hilflosigkeit der Eltern durch die Bemühungen der vielen Helfer eher noch gesteigert wird und sie zunehmend Elternverantwortung abgeben, damit aber wiederum den Helferinnen das Signal geben, noch mehr helfen zu müssen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass die verschiedenen Helferinnen sich gegenseitig blockieren. Das heißt umgekehrt: Die ergriffenen Maßnahmen werden nur dann wirksam sein, wenn beispielsweise bereits im Vorfeld, zumindest aber möglichst früh geklärt wird, wer im jeweiligen Fall die Federführung übernimmt und wo die verschiedenen Informationen zusammenlaufen. In von Zeit zu Zeit durchgeführten gemeinsamen Besprechungen können Erfahrungen ausgetauscht werden, sodass alle Helferinnen nach einem übersichtlichen Konzept koordiniert handeln (siehe Abschnitt 3.11).

In der Praxis konzentrieren sich die Versuche, eine Lösung schulischer Verhaltensprobleme zu erreichen, meist in erster Linie auf das Kind oder den Jugendlichen. Bleibt der Erfolg aus, wird die Familie fokussiert. Und in seltenen Fällen wird die Lösung in der Schule gesucht. In einer Übersichtsarbeit über die Literatur zum Schuleschwänzen, deren Ergebnis auf den Umgang mit Verhaltensproblemen in der Schule zu übertragen sein dürfte, beschreiben Bell, Rosén a. Dynlacht (1994), dass die unterschiedlichen Autoren, die zu diesem Thema publiziert haben, jeweils durch Einflussnahme auf eine dieser drei verschiedenen Einflussbereiche Kind/Jugendlicher, Eltern/Familie oder Lehrerin/Schule positive Ergebnisse zu erreichen suchen. Sie kommen in ihrer Zusammenfassung zu dem Schluss, dass ein multifo-kussiertes Vorgehen, das auf alle drei Bereiche gleichermaßen gerichtet ist, die besten Aussichten auf Erfolg haben dürfte.

Diese Schlussfolgerung ist sicherlich richtig, muss jedoch noch einen Schritt weitergedacht werden. Aus systemtherapeutischer Sicht ist ein problematisches Verhalten am einfachsten zu beeinflussen, wenn man es nicht in den Personen verortet, sondern vielmehr in den wichtigsten Beziehungen dieser Personen. Menschen leben in Beziehungen, ohne die sie nicht lebensfähig sind. Der Mensch als Individuum ist eine Fiktion – eine Idee, die in Mitteleuropa erst zu Beginn der Neuzeit erfunden wurde. Bertolt Brecht hat deshalb zu Recht formuliert:

»Denn die kleinste gesellschaftliche Einheit ist nicht der Mensch, sondern zwei Menschen … Der Herr ist nur so ein Herr, wie ihn der Knecht es sein lässt« (Brecht 1957, S. 159/160).

Der Mensch als Einzelner ist ein gedankliches Konstrukt. Das bedeutet im Hinblick auf Verhaltensprobleme von Kindern und Jugendlichen in der Schule, dass unterschiedliche Beziehungsebenen in den Blick genommen werden müssen, wenn man auf das Problemverhalten Einfluss nehmen und eine tragfähige Lösung erreichen will. Gleichzeitig wird dadurch die oft verwirrende Komplexität, die sich in solchen Fällen auftut, komplexitätsgerecht, also ohne unzulässige Vereinfachung, reduziert, sodass sich einfachere Möglichkeiten auftun, Verhaltensänderungen bei den verschiedenen Personen anzuregen, die zu einer Auflösung des Problemverhaltens führen können.

Beziehungs- und Einflussebene Elternhaus – Schule

Diese Beziehungsebene wird durch die Eltern und die Lehrerinnen und Lehrer der betroffenen Kinder und Jugendlichen gebildet, also im Falle von Verhaltensproblemen in der Schule durch die Personen, die in der erzieherisch-pädagogischen Zuständigkeit und Verantwortung stehen. Hier stellt sich vor allem die Aufgabe, eine tragfähige Allianz zugunsten des Kindes zwischen Elternhaus und Schule zu bilden.

Beziehungs- und Einflussebene Eltern – Kind

Eltern haben ebenso wenig die Verhaltensprobleme ihres Kindes verursacht wie die Schule – auch wenn sie natürlich mehr oder weniger günstige Bedingungen für eine problemlose Schullaufbahn des Kindes schaffen. Aber vor allem sind die Eltern ein wichtiger Teil der Lösung, wenn Schulprobleme auftreten. Unter diesem Blickwinkel hat die therapeutische Arbeit mit der Familie bzw. den Familienmitgliedern, in welchem Setting auch immer, gegebenenfalls unter mehrgenerationaler Perspektive, zu erfolgen.

Beziehungs- und Einflussebene Schule – Schüler

Eine emotional unterstützende Haltung der Lehrerin gegenüber ihrem Schüler führt nachweislich zu weniger störendem Verhalten und einer Reduktion internalisierender Störungen. Die Lehrerin wiederum ist eingebunden in das System ihrer Schule und beeinflusst es ihrerseits. Dem »Schulklima« und der »Schulbindung« werden eine bedeutende Rolle im Hinblick auf Verhaltensprobleme von Kindern und Jugendlichen in der Schule zugeschrieben.

Beziehungs- und Einflussebene Schüler – Mitschüler

Die Beziehung zwischen dem Kind oder Jugendlichen und seinen Mitschülern, seiner Peergruppe, beeinflusst in hohem Maße die Häufigkeit des Auftretens von Verhaltensproblemen in der Schule. Gleichzeitig kommt in diesem Zusammenhang wiederum dem Schulklima eine hohe Bedeutung zu. Wichtiges Kriterium ist, dass Schulleitung und Lehrerkollegium eine Häufung von Streitigkeiten unter Schülern und spätestens das Auftreten von Mobbing als Schulproblem erkennen und geeignete Maßnahmen ergreifen (siehe Kap. 2).

1.4 Beziehungs- und Einflussebene Elternhaus – Schule

1.4.1 Schulprobleme sind Zwei-System-Probleme

Die Beziehung zwischen den Eltern und der Lehrerin ist als die wichtigste Beziehungs- und Einflussebene bei Schulproblemen von Kindern und Jugendlichen anzusehen. Kurz gesagt: Schulprobleme – und ebenso Verhaltensprobleme von Kindern im Kindergarten – sind Zwei-System-Probleme oder, wie Palmowski (1995) sowie Omer und von Schlippe (2006) es ausdrücken, Inter-System-Probleme. Sie treten auf, wenn Eltern und Lehrerinnen nur unzureichend kooperieren. Voraussetzung dafür, dass diese Kooperation so häufig nicht gelingt, sind ungünstige strukturelle Bedingungen sowohl vonseiten der Schule als auch vonseiten der Eltern.

Die Lehrerin arbeitet mit einer Klasse von 20 bis 30 Schülerinnen und Schülern. Sie muss davon ausgehen, dass diese Grundfertigkeiten gelernt haben und beherrschen, die es ihnen unter anderem ermöglichen, mit Gleichaltrigen ohne größere Konflikte auszukommen, über eine Unterrichtsstunde auf ihren Plätzen zu sitzen, sich auf den Lernstoff auszurichten und ohne übermäßiges Störverhalten die ihnen gestellten Aufgaben zu bewältigen. Die Lehrerin ist nur in begrenztem Umfang in der Lage, auf das einzelne Kind, seine Bedürfnislage und seine Fähigkeiten individuell einzugehen. Ihr wichtigster Auftrag ist es, allen Kindern in einer festgelegten Zeit einen bestimmten Lernstoff so nahezubringen, dass sie ihn am Ende beherrschen. Einen Erziehungsauftrag haben die Lehrerinnen und Lehrer nur insoweit, dass sie die Kinder und Jugendlichen dahin bringen müssen, die Regeln des Schulalltags einzuhalten.

Tritt nun bei einem Kind oder Jugendlichen in der Schule ein umfangreicheres Problemverhalten auf, wird die Lehrerin die Zuständigkeit für eine Änderung dieses Verhaltens, das ihren Unterricht erschwert, bei den Eltern lokalisieren. Die Schuld für die Verhaltensprobleme wird den Eltern zugeschrieben, die doch offensichtlich nicht in der Lage sind, ihr Kind so zu erziehen, dass es in der Schule ein angemessenes Verhalten zeigt. Die Eltern werden aufgefordert, Maßnahmen zu treffen, damit das Verhalten des Kindes sich bessert.

Konfrontiert mit den Verhaltensproblemen ihres Kindes durch die Lehrerin (»Ihr Kind hat schon wieder …!«), geraten die Eltern leicht in eine Verteidigungshaltung. Sie wehren sich dagegen, die Schuld an dem kritisierten Verhalten ihres Kindes in der Schule zugewiesen zu bekommen. Zwar werden sie zumeist ihr Kind auffordern, sein Verhalten in der Schule zu ändern, und ihren Ärger ihm gegenüber deutlich machen. Andererseits wollen sie ihr Kind schützen und suchen nach Gründen in der Schule für das Fehlverhalten ihres Kindes. Sie neigen dazu, der Lehrerin die Schuld für die Verhaltensprobleme ihres Kindes zu geben. Offensichtlich zeigt sie kein hinreichendes Verständnis für ihr Kind. Immer wenn Probleme in der Klasse auftreten, dient ihr Kind als Sündenbock. Sie verhält sich einfach ungerecht. Dabei müsste sie als Fachfrau doch wohl in der Lage sein, mit den Problemen in ihrer Klasse besser umzugehen!

Für das Kind ist die Situation recht komfortabel. Sie dient geradezu als Freibrief, wenn nicht sogar als Ermutigung zu auffälligem Verhalten. Das Kind wird zwar wegen seines Verhaltens von beiden Seiten, von der Lehrerin und von seinen Eltern, gerügt. Aber ernsthafte Konsequenzen folgen nicht. Denn für die Lehrerin liegt die Schuld ja bei den Eltern und für die Eltern bei der Lehrerin. Beide »Parteien« entwerten sich wechselseitig und untergraben die Autorität des jeweils anderen. Manche Kinder heizen die Situation noch an, indem sie zu Hause in negativer und vorwurfsvoller Weise über die Lehrerin berichten und der Lehrerin gegenüber negative Äußerungen über ihre Eltern machen. Kommt es zu Gesprächen zwischen Lehrerin und Eltern, werden zumeist nur negative Unterstellungen und Vorwürfe ausgetauscht, bis das Gespräch verstummt. Die Eltern erhalten keine Informationen mehr aus der Schule und werden dadurch weiter geschwächt. Die Lehrerin erfährt keine Unterstützung durch die Eltern und verliert dadurch ebenfalls Einflussmöglichkeiten. So kann das über Wochen, Monate und Jahre weitergehen, bis es zu einem Schulverweis kommt.

Es gibt häufig aufseiten der Eltern auch subtilere Signale, die dem Kind verdeutlichen, dass es sich in der Schule verhalten kann, wie es will, ohne deutliche Konsequenzen fürchten zu müssen. Kurze Bemerkungen wie: »Was hat die Lehrerin sich nur dabei gedacht, als sie solch eine Aufgabe formuliert hat!« – »Deine Lehrerin weiß aber auch nicht, was sie will: Einmal sagt sie das und einmal sagt sie das!« – »Wenn deine Lehrerin die Aufgaben nicht klar formuliert (oder dir keine Zeit gibt, sie in Ruhe zu notieren), dann brauchst du diese Aufgaben auch nicht zu erledigen.« – »Deine Lehrerin müsste doch den anderen Kindern mal sagen, dass sie dich nicht ständig ärgern sollen.« Das Kind wird diese Bemerkungen aufmerksam hören und daraus den Schluss ziehen, dass es selbst tun kann, was es will, und dass es sich in der Schule nicht anzupassen braucht.

Eine derartige Konstellation findet sich bei Schulproblemen sehr häufig. Die Zuständigkeit für das Kind und sein Verhalten wird zwischen Eltern und Lehrerin hin- und hergeschoben. Die wechselseitigen Vorwürfe eskalieren, und jedem wird von der jeweils anderen Seite Unfähigkeit und Desinteresse vorgeworfen. Das Kind oder der Jugendliche ist letztlich der Leidtragende – auch wenn ihm die Situation kurzfristig gesehen ganz angenehm erscheint. Keiner der beteiligten Erwachsenen übernimmt Verantwortung, sondern weist sie dem jeweils anderen zu.

Die folgende Geschichte bringt die Situation auf den Punkt.

Die Lehrerin Frau Schütteke schreibt einen Brief an Frau Dormann:

Sehr geehrte Frau Dormann,

Ihr Sohn Alexander kommt häufig nicht pünktlich zur Schule. Im Unterricht stört er seine Mitschüler durch Schwätzen, und auf dem Pausenhof zeigt er ein so ungebührliches Verhalten, dass er jetzt mehrfach von mir und anderen Kollegen gerügt werden musste. Bitte sorgen Sie dafür, dass Ihr Sohn Alexander regelmäßig pünktlich zur Schule kommt, in den Stunden aufmerksam dem Unterricht folgt und in den Pausen ein sozial angemessenes Verhalten zeigt.

HochachtungsvollElvira Schütteke

Frau Dormann liest diesen Brief und schreibt folgende Antwort:

Sehr geehrte Frau Schütteke,

mein Sohn Alexander putzt sich abends nicht die Zähne. Er geht nicht prompt ins Bett, wenn ich ihn dazu auffordere. Und morgens kommter mit einem so verdrießlichen Gesicht zum Frühstück, dass mir die Freude am Frühstücken vergeht. Bitte sorgen Sie dafür, dass mein Sohn Alexander sich abends die Zähne putzt, umgehend ins Bett geht, wenn ich ihn dazu auffordere, und morgens mit einem freundlichen Gesicht zum Frühstück erscheint.

HochachtungsvollCordula Dormann

1.4.2 Die Allianz von Eltern und Lehrerin zugunsten des Kindes

Erfahrungsgemäß löst sich das Problemverhalten von Kindern und Jugendlichen in der Schule in sehr vielen Fällen auf, sobald Eltern und Lehrerinnen sich zu einer engen Kooperation zugunsten des Kindes entschließen. Sie bilden eine Allianz, die dem Kind Halt und Orientierung gibt.3 Allerdings ist diese Allianz in sehr vielen Fällen, wenn es zu Problemen in der Schule gekommen ist, schwer zu erreichen.

Winfried Palmowski (1995, S. 87) hat eine sehr treffende Definition von Kooperation formuliert:

»Das Geheimnis gelingender Kooperation besteht darin, den anderen gut aussehen zu lassen.«

Das gilt auch für eine Erfolg versprechende Zusammenarbeit von Eltern und Lehrerin. Sie ist geprägt von wechselseitigem Respekt und der Anerkennung der Bemühungen des jeweils anderen.

Eltern und Lehrerinnen sitzen im selben Boot, das dann am besten Kurs hält, wenn sie ihre Ruderschläge koordinieren. Natürlich verhält sich die Lehrerin nicht in jeder Situation ideal, genauso wie das bei den Eltern der Fall ist. Und zweifellos gibt es Eltern, die resigniert haben und kaum noch zu neuen Anstrengungen bei der Erziehung ihres Kindes zu motivieren sind. Und es gibt Lehrerinnen, die ihre beruflichen Ideale aufgegeben haben und müde sind, den Verhaltensproblemen eines einzelnen Kindes so viel Aufmerksamkeit zu schenken, dass es Chancen auf eine Besserung gibt. Aber ebenso wie alle Eltern eigentlich gute Eltern sein wollen und sich das Beste für ihr Kind wünschen, möchten alle Lehrer eigentlich gute Lehrer sein und dazu beitragen, dass jeder ihrer Schüler einen guten Lebensweg einschlägt. Alle Beteiligten wollen das Beste für das Kind, und sie können es erreichen, wenn sie gut zusammenarbeiten.

Die Zusammenarbeit aber ist häufig durch die negativen Vorannahmen und enttäuschenden Erfahrungen auf beiden Seiten blockiert. Diese Blockade kann sich auflösen, wenn die Beteiligten die Bereitschaft entwickeln, den jeweils anderen um Hilfe bei der Bewältigung ihrer Probleme mit dem Verhalten des Kindes zu bitten und danach zu fragen, welche Unterstützung ihrerseits die andere Seite sich wünscht. Findet unter dieser Fragestellung eine Begegnung statt, kann ein Dialog entstehen, der auslotet, welche Möglichkeiten auf der einen Seite die Eltern haben, zu einer Lösung des Problems beizutragen, und welche Möglichkeiten auf der anderen Seite die Lehrerin hat. In diesem Dialog dürften auf beiden Seiten Illusionen darüber, was der jeweils andere allein bewirken kann, zur Disposition stehen – vor allem die illusionäre Hoffnung, der jeweils andere möge das Problem alleine lösen.

Demgegenüber kann eine mit wechselseitigem Respekt geführte Auseinandersetzung über die Möglichkeiten, positiven Einfluss auf das Kind auszuüben, die Überzeugung untermauern, dass es für jeden der Beteiligten allein sehr schwer ist, das gemeinsame Ziel zu erreichen, dass aber ein gemeinsam abgestimmtes Handeln gute Chancen auf Erfolge bringt. Der Kern dieser Zusammenarbeit ist die Botschaft an das Kind, dass Eltern und Lehrerin sich wechselseitig wertschätzen und respektieren und dass sie im wohlverstandenen Interesse des Kindes zusammenstehen und sich gegenseitig unterstützen.

Diese Allianz zwischen der Lehrerin und den Eltern wird gefördert, wenn die Kommunikation getragen wird von der Überzeugung, dass die Eltern die Fachleute für die Beziehungen in ihrer Familie sind und die Lehrerin die Fachfrau für die Beziehungen in der Klasse ist. Das unterstützt die Eltern darin, (wieder mehr) Elternverantwortung zu übernehmen, genauso wie es auf der anderen Seite die Lehrerin ermutigt, zu ihrer Verantwortung für das Geschehen in der Klasse und in der Schule zu stehen. Aus einer solchen Haltung heraus wird die Lehrerin sich beispielsweise bei den Eltern erkundigen, welche Erfahrungen sie bisher bei ihrem Kind mit einzelnen Vorgehensweisen gemacht haben und was ihnen für ihr Kind wichtig ist. In ähnlicher Weise können die Eltern von den Erfahrungen der Lehrerin mit ihrem Kind profitieren. Weder die Eltern noch die Lehrerin brauchen Belehrung und Besserwisserei, sie hören aber gerne Ideen und Angebote.

In der Realität ist es allerdings zuweilen gar nicht so einfach, eine solche Allianz zugunsten des Kindes zu schmieden: Manche Eltern zeigen sich der Lehrerin gegenüber aggressiv fordernd und beschuldigend, andere abweisend und desinteressiert. Manche Lehrerin spricht die Eltern vorwurfsvoll belehrend an oder scheint an dem Schicksal des Kindes nicht interessiert zu sein. Es ist nützlich, all diese Kommunikationsformen als Ausdruck von Hilflosigkeit und Überforderung anzusehen und dem jeweils anderen immer wieder mit der Unterstellung zu begegnen: Eigentlich möchte der andere – ebenso wie man selbst – das Beste für das Kind erreichen (denn nur dann wird es auch ihm selbst gut gehen). Erst eine solche Sicht auf den jeweils anderen wird es möglich machen, allmählich Wertschätzung und Respekt zu entwickeln.

Omer und von Schlippe (2006, S. 174 f.) verweisen darauf, dass Respektlosigkeit gerade zwischen Elternhaus und Schule für viele fast zur zweiten Natur geworden ist und dass wechselseitiger Respekt und wechselseitige Wertschätzung etwas ist, das erarbeitet werden kann und muss. Sie fordern dazu auf, sich gegen die negativen Stereotypen, die Respekt und Wertschätzung so schwer machen, aktiv zur Wehr zu setzen. Sie schreiben:

»›Aber was, wenn ich sie nicht respektiere? Soll ich so tun, als ob ich sie respektiere?‹, fragt vielleicht verzweifelt die Mutter oder die Lehrerin. Die implizite Annahme hinter einer solchen Frage ist, Respekt sei ein spontanes Gefühl. Das ist nicht der Fall. Respekt ist das Resultat eines An-sich-selbst-Arbeitens. Gefühle von Respekt kommen auf, wenn wir bereit sind, unsere spontanen, negativen Urteile anzuzweifeln, und bereit sind, uns ›in die Schuhe des anderen‹ zu stellen, also die Dinge aus seiner oder ihrer Perspektive zu sehen. Die große Mehrheit der Eltern und Lehrer haben ehrliche und gute Absichten, selbst wenn sie (noch) nicht dazu in der Lage sind, sie auszuführen. Unterrichten genauso wie Eltern-Sein sind harte Jobs, die höchsten Respekt verdienen. ›Respektarbeit‹ ist das Bemühen, unsere schlechtmachenden Haltungen aufzugeben und stattdessen die Gewohnheit zu entwickeln, den anderen mit Empathie für seine Anstrengungen, Schmerzen, Absichten und Teilerfolge zu betrachten – und uns so hinter ihn zu stellen, statt frontal gegenüber.

Die folgenden Einsichten mögen helfen, diese Respektarbeit durchzuführen:

• Die andere Seite ist in ihrem Territorium souverän (der Lehrer im Klassenzimmer und der Elternteil zu Hause).

• Die andere Seite tut sich genauso schwer, mit den Verhaltensproblemen des Kindes fertig zu werden.

• Wir können von ihnen Hilfe bekommen, genauso wie sie von uns Hilfe bekommen können.

• Wir sitzen im selben Boot und werden entweder untergehen oder zusammen weiterrudern.«

Manchmal allerdings mag es eine Lehrerin geben, deren Verhalten tatsächlich unverständlich und kritikwürdig erscheint, ebenso wie es Eltern gibt, deren Verhalten gegenüber ihrem Kind – gelinde gesagt – Verwunderung auslösen kann. Aber Eltern stützen und unterstützen ihr Kind, wenn sie es darauf hinweisen, dass ihr Lehrer bestimmt einen wichtigen Grund hat, sich entgegen seinen eigentlichen Wünschen in dieser Art zu verhalten. Sie können dem Kind auch aufzeigen, dass es in seinem späteren Leben mit einiger Wahrscheinlichkeit ebenfalls Vorgesetzten begegnen wird, die ein problematisches Verhalten zeigen. Wie man mit solchen Situationen umgeht, können die Kinder heute schon lernen, und das mit der Hilfe der Eltern. Und die Lehrerin stützt und unterstützt das Kind, wenn sie anerkennt, dass die häuslichen Verhältnisse trotz allen von ihr unterstellten Bemühens der Eltern leider schwierig sind, sie aber trotzdem den Kontakt weiter suchen werde. Zuweilen kann es geschehen, dass Eltern und Lehrerin tatsächlich keinen Weg zueinander finden. Möglicherweise liegt die Lösung dann darin, sich Hilfe und Unterstützung durch einen Dritten – eine Schulsozialarbeiterin, eine Schulpsychologin oder eine Therapeutin – zu suchen.

1.4.3 Die Rolle der Beraterin/Therapeutin im Hinblick auf die Beziehungsebene Elternhaus – Schule

Wird eine externe Beraterin oder Therapeutin wegen Schulproblemen in Anspruch genommen, besteht ihre erste Aufgabe darin, die Kooperation der Eltern mit der Lehrerin zu hinterfragen und sich um eine Allianz zwischen beiden zu bemühen. Gegebenenfalls wird sie denjenigen, der ihre Hilfe nachgesucht hat, dazu auffordern, ein gemeinsames Gespräch zwischen Eltern und der Lehrerin unter Anwesenheit der Therapeutin zu vereinbaren. In diesem Gespräch und den häufig darauf folgenden weiteren Gesprächen sollte die Therapeutin deutlich machen, dass sie den Gesprächsverlauf moderieren und eine allparteiliche Haltung einnehmen wird. Denn Ziel der Gespräche muss es ja sein, ein gutes Verhältnis zwischen Eltern und Lehrerin entstehen zu lassen, sodass diese Gespräche in Zukunft erfolgreich auch ohne sie durchgeführt werden können.

Erfahrungsgemäß hat es sich bewährt, sich für das erste Gespräch oder die ersten Gespräche auf ein Treffen zwischen Mutter und Vater, der Lehrerin und der Beraterin bzw. Therapeutin zu beschränken. Sobald die Erwachsenen zu einem wechselseitig wertschätzenden Dialog gefunden haben, ist es sinnvoll, dass das Kind oder der Jugendliche an diesem Gespräch teilnimmt. Wenn sich allerdings beide Seiten in ihren negativen Vorannahmen über das Verhalten der jeweils anderen Seite sehr verhärtet zeigen, ist es gegebenenfalls notwendig, diese Gespräche im Einzelkontakt mit den Eltern auf der einen Seite und mit der Lehrerin auf der anderen Seite vorzubereiten.

Zu Beginn dieser Gespräche ist es Aufgabe der Therapeutin, deutlich zu machen, dass nach ihrer Überzeugung jeder der Beteiligten nur das Beste für das Kind erreichen möchte und dass dies aller Erfahrung nach auch gelingen wird, wenn beide Seiten offen und respektvoll miteinander kooperieren.

THERAPEUTIN »Ich freue mich, dass wir hier zu einem gemeinsamen Gespräch zusammengekommen sind, und möchte meine Gedanken darlegen, mit denen ich in dieses Gespräch gehe. Ich bin fest davon überzeugt, dass Frau Markus als Klassenlehrerin den Wunsch hat, dass Sven die Schule erfolgreich durchläuft und am Ende mit einem guten Abschlusszeugnis verlässt. Denn sie weiß