Ankunft Allerheiligen - Georges Simenon - E-Book

Ankunft Allerheiligen E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Ein unverhofftes Erbe sorgt für Aufregung Der Nebel hängt über dem Hafen, als der neunzehnjährige Gilles in La Rochelle an Land gebracht wird. Wenig bindet ihn an diesen Ort, doch an diesem 1. November kehrt er als Vollwaise in die Heimat seiner Eltern zurück. Gilles kennt hier niemanden und doch wird ihm die Aufmerksamkeit der gesamten Hafenstadt zuteil. Was er noch nicht weiß: Ein vielversprechendes Erbe erwartet ihn, das allerdings an merkwürdige Bedingungen geknüpft ist. Der junge Mann muss sein unstetes Leben umkrempeln und schnell erwachsen werden. Zum Glück findet er bald Unterstützung in Colette.

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Georges Simenon

Ankunft Allerheiligen

Roman

Aus dem Französischen von Eugen Helmlé

Atlantik

Der blinde Passagier

1

Gilles Mauvoisin blickte vor sich ins Leere, er hatte rote Augen und eine gereizte Haut wie jemand, der viel geweint hat. Dabei hatte er gar nicht geweint.

Kapitän Solemdal hatte ihm gesagt, er solle sich in der Offiziersmesse bereithalten, wo er während der Schiffsreise seine Mahlzeiten eingenommen hatte.

Gilles wartete in dem langen schwarzen Mantel, der ihm nicht gehörte, eine schwarze Fischottermütze auf dem Kopf und seinen Koffer neben sich, wie im Gang eines Zuges kurz vor der Ankunft, in der Hand ein Taschentuch, weil er sich verkühlt hatte.

Und jetzt lag das Schiff im Frachthafen, ohne dass er auch nur das geringste bisschen von La Rochelle erspäht hätte. Vielleicht befand sich das Bullauge auf der falschen Seite? Kurz vor der Einfahrt war man an roten und schwarzen Bojen vorbeigekommen, die wohl die Fahrrinne markierten. Dann waren Tamarisken ganz nahe am Rumpf der Flint vorbeigeglitten, und die Landungsmanöver hatten begonnen, das Läuten des Telegraphen, halbe Fahrt, stopp, zurück, stopp, vor …

Noch immer war weit und breit nichts von der Stadt zu sehen. Während sich die Flint mitten im Hafenbecken zu drehen begann, erblickte er nur Geleise, Waggons, die wie ausrangiert wirkten, ein altes Schiff, dessen Schweißnähte mit Mennige überstrichen waren, dann eine kahle Böschung und Kühlhallen.

Es würde bald dunkel werden. Ja, es war schon beinahe dunkel. Ein gelblicher Nebel barg das letzte Sonnengleißen. Wieder Eisenbahngeleise, ein Fasswagen und dort, direkt vor Gilles, ganz nahe vor ihm, ein engumschlungenes Liebespaar neben einem Fahrrad, das an dem Waggon lehnte.

Kurz, dieses Liebespaar war das Erste, was Gilles Mauvoisin von La Rochelle zu sehen bekam. Der Mann drehte ihm den Rücken zu. Er trug einen gelben Regenmantel. Er hatte keinen Hut auf, sein braunes Haar war sehr dicht. Von dem Mädchen sah Gilles nur Haare, die ebenfalls braun waren, und ein weit geöffnetes Auge, das ihn anblickte, während ihre Lippen an die ihres Gefährten gepresst blieben.

In diesem nicht enden wollenden Kuss lag etwas Merkwürdiges, vor allem aber in diesem Auge, dessen Blick gewissermaßen zu Gilles in die Offiziersmesse vordrang.

Er zuckte zusammen. Die Flint hatte festgemacht, und Solemdal stand vor ihm, glatt rasiert wie immer, wenn er an Land ging, sein blondes Haar roch nach Kölnischwasser, und sein Oberkörper steckte in einer neuen Jacke mit goldenen Knöpfen.

»Wir sind so weit«, kündigte er an.

Und Gilles fand nicht die richtigen Worte. Er hätte ihm danken wollen. Er empfand überschwängliche Dankbarkeit gegenüber diesem schönen, lebenstüchtigen Kapitän, der ihn fast wie eine Mutter umsorgt hatte. Am liebsten hätte er sich ihm an die Brust geworfen. Aber Solemdal hätte das nicht gerngehabt. Linkisch drückte er ihm die Hand. Er zog die Nase hoch. Sein Schnupfen. Er wagte nicht, sein Taschentuch hervorzuziehen, das er in die Tasche gesteckt hatte. Seinen Koffer in der Hand, ging er zur Treppe.

Der Nebel hatte sich aufgelöst, nur ein letzter blauer Schleier mit violetten Schattierungen lag über dem Hafen. Auf hohen Masten brannte die Hafenbeleuchtung.

Ein Matrose erwartete Gilles auf dem Deck an der Reling, auf der dem Quai abgewandten Seite. Gilles machte einen großen Schritt, stieg die Lotsenleiter hinab und stand im Heck eines Bootes, den Koffer zu seinen Füßen.

Er wirkte so noch größer, magerer, schmaler. Sein allzu langer Mantel verstärkte diesen Eindruck, und auch die Tatsache, dass er Trauerkleidung trug. Die Ruder klatschten in das Wasser, das die Lichter der Lampen langgestreckt spiegelte, und jetzt, in dem Augenblick, in dem Gilles an Land springen wollte, sah er direkt vor sich den gelben Regenmantel wieder, den Rücken des Verliebten und das Auge des Mädchens. Man hätte meinen können, es sei immer noch derselbe Kuss.

Auf der Schulter des jungen Mannes erkannte Gilles jetzt eine Hand, kleine, zierliche Finger, und diese Finger begannen, an dem Gabardinestoff zu zerren.

Gilles hatte das Gefühl, als spüre er die Wärme der beiden Körper, als schmecke er den Speichel dieses Kusses, der nicht aufhören wollte, als streife das Haar über seine Wange. Die kleine Handbewegung bedeutete:

Lass mich los …

Der Verliebte, der dem Hafenbecken den Rücken zudrehte, drückte sie nur noch fester, und sie zuckte wie ein Vogel, der sich aus der Hand, die ihn gefangen hält, zu befreien versucht.

Sie sträubte sich offenbar heftig. Gilles sah nun das Gesicht fast ganz, ein so junges Gesicht, dass es ihn verlegen machte. Hörte er? Hörte er nicht? Jedenfalls war er sicher, dass sie sagte:

»Schau mal, der da!«

Sie zeigte auf ihn, und erst jetzt wurde ihm bewusst, wie ungewöhnlich diese heimliche Landung, wie unerwartet seine lange Silhouette, seine Fischottermütze und sein lächerlich kleines Köfferchen wirken mussten.

Eingeschüchtert verfing er sich mit dem Fuß in Tauen, konnte sich gerade noch fangen, erreichte endlich das Ende des Quais, von wo aus er zwischen den Lagerhallen die Lichter der Stadt entdeckte und den fahlen Leuchtturm, der die Häuser am Quai Vallin so eigenartig überragt.

 

Am Anfang des Quais, an der Ecke gegenüber der Stadt aus Holz, befindet sich ein kleines, gemütliches Lokal mit einer hohen Theke aus Mahagoniholz, einigen Hockern, einigen Tischen, Kristallgläsern auf Wandregalen.

Raoul Babin thronte dort mit seinem ganzen Gewicht, den Sitz unter seiner Masse regelrecht zermalmend.

Er tat nichts. Er saß stundenlang so da, steckte sich eine Zigarre nach der andern an, und alle diese Zigarren hatten schließlich einen bernsteinfarbenen Kreis in den grauen Haaren seines Bartes und seines Schnurrbartes hinterlassen.

Kein Gast kam herein, ohne sich nach ihm umzudrehen. Die einen nahmen ihren Hut ab; andere berührten die Hutkrempe, wieder andere streckten ihm die Hand hin. Babin streckte die seine kaum aus, begnügte sich, die Fingerspitzen zu berühren.

In der Ville en Bois, der Stadt aus Holz entlang dem gegenüberliegenden Ufer, steht Babins Name an einem Dutzend Werkstätten, Schmieden und Sägewerken, Werkstätten für Netzreparatur und Motorenmontage, und im Hafenbecken, das Gilles gerade verlassen hatte, trugen zwanzig Fischdampfer an ihrem Schornstein das Pik-Ass, das Babins Markenzeichen war.

Jede Stunde mindestens kam ein Lastwagen vorbei, ein Lastwagen von Babin, der Salz, Roheis oder Kohle transportierte, und am Bahnhof sowie in La Pallice hatte Babin Lagerhäuser.

Von Zeit zu Zeit läutete das Telefon in der Bar Lorrain.

»Sagen Sie Monsieur Babin bitte, dass …«

Babin verließ seinen Platz nicht, gab seine Anweisungen, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen, und schaute dann seufzend nach draußen.

Er hatte die Stirn gerunzelt, als er sah, wie sich vom schwarzen Rumpf der Flint ein Boot löste. Als Gilles mit seinem Koffer in der Hand vorbeiging, zog er ein wenig den Vorhang zurück, um ihn besser zu sehen.

Aber er wusste genau, dass er sich nicht zu bemühen brauchte. Er wusste alles. Er kannte das Räderwerk der Stadt und des Hafens, als sei er ihr großer Uhrmacher gewesen. Tatsächlich näherte sich schon zehn Minuten später Solemdal, und Babin brauchte nur drei Schritte zu tun, um sich an der Türschwelle zu postieren.

»Solemdal!«

Der Norweger streckte die Hand aus.

»Gehen Sie zu Plantel? Der ist nicht vor acht Uhr zu Hause. Er ist nach Royan gegangen, um sich eines seiner Schiffe anzusehen, das einen Motorschaden hat. Was trinken Sie? Wer ist denn dieser junge Mann, den Sie an Land gesetzt haben?«

»Ein Franzose, dessen Eltern soeben in Trondheim gestorben sind und der dort völlig mittellos dastand … Gilles Mauvoisin …«

»Gaston!«, rief Babin, der den Wirt wie einen seiner Angestellten behandelte, einfach. »Rufen Sie doch mal in den Hotels an, um herauszubekommen, ob ein gewisser Gilles Mauvoisin …«

 

Am Turm der Großen Uhr stand Gilles im warmen Licht der Schaufenster und lauschte dem Französisch der Passanten. Er verstand tatsächlich alles, was sie sagten, und er drehte sich unwillkürlich neugierig nach ihnen um.

Kartenspieler hinter den Scheiben des Café Français … Ein Lederwarengeschäft … Dann, einige Häuser weiter, ein schlecht beleuchteter, großräumiger Laden, vollgestopft mit den verschiedensten Waren, Pakete mit Tauen, Laternen, Anker, Trosse; Teer- und Ölfässer; auch Lebensmittel, wie in einem Kolonialwarengeschäft. Man erriet, dass es im Innern stark und angenehm roch.

Auf dem Schaufenster: Witwe Éloi – Schifffahrtsbedarf.

Gilles, der auf dem Bürgersteig stehen geblieben war, nahm das alles in sich auf. Links im Laden war ein verglastes Büro, das sicherlich überhitzt war, denn der gusseiserne Ofen glühte rot. Eine große Frau, die ein bisschen wie ein Pferd aussah, mittleren Alters: Es war seine Tante, Gérardine Éloi, die Schwester seiner Mutter.

Sie trug ein Satinkleid mit Stehkragen, das mit einer goldgefassten Kamee geschmückt war. Sie sagte gerade etwas. Er hörte nicht, was sie sagte, versuchte, es ihr aber von den Lippen abzulesen. Ein Schiffskapitän, der mit übereinandergeschlagenen Beinen, seine Mütze auf den Knien, ihr gegenübersaß, nickte zustimmend mit dem Kopf.

»Deine Tante … Éloi …«

Gilles schneuzte sich, aber er weinte immer noch nicht. Dabei machte dieser Schnupfen, den er einfach nicht loswurde, das Drama von Trondheim noch gegenwärtiger, ließ sogar dessen Geruch wieder aufleben.

Auch sein Vater war erkältet gewesen, als sie eines Abends, von den Lofoten kommend, wo sie die Tournee abgebrochen hatten, in Trondheim an Land gegangen waren. Sie hatten wie üblich ein kleines, billiges Hotel gesucht.

Sie standen alle drei auf der Straße, sein Vater, seine Mutter und er, mit dem sperrigen Gepäck. Vor ihnen zwei schwach beleuchtete Türen: zwei Hotels. Sie hatten die Wahl. Es gab keinen Grund, eher in das eine als in das andere zu gehen.

Leider hatte eines der Hotels eine dicke weiße Kugel als Aushängeschild, und Gilles’ Vater hatte, nach seiner Frau sehend, gemurmelt:

»Erinnert dich das nicht an etwas?«

Aber musste nicht jedes beliebige Hotel Erinnerungen in ihnen wecken? Seitdem das Paar La Rochelle verlassen hatte, noch bevor sie heirateten, waren sie unaufhörlich von Hotel zu Hotel, von möbliertem Zimmer zu möbliertem Zimmer gezogen.

Gilles wusste, obwohl er La Rochelle noch nie betreten hatte, dass er nur in die Rue de l’Escale zu gehen brauchte, eine alte Straße mit unregelmäßigem Kopfsteinpflaster, zwischen dem Gras herauswuchs, und mit die Bürgersteige und Arkaden hoch überragenden Häusern. Am Haus Nummer siebzehn war früher ein Kupferschild angebracht gewesen, auf dem stand: Monsieur und Madame Faucheron, Preisträger des Konservatoriums.

In diesem Haus wurde in allen Zimmern musiziert, denn die Eltern Faucheron hatten ein Privatkonservatorium.

Ein junger, magerer Mann, ein gewisser Gérard Mauvoisin, kam täglich vom Land, aus Nieul-sur-Mer, mit seinem Geigenkasten unterm Arm hierher.

Abends erwartete ihn eine der Töchter Faucheron, Élise, unter den Arkaden, und sicherlich standen sie dort ebenso eng aneinandergeschmiegt reglos im Dunkel wie das Paar, das Gilles bemerkt hatte, als er an Land gegangen war.

Sie hatten sich nach Paris abgesetzt. Gérard Mauvoisin hatte in Kinoorchestern gespielt, selten bei Konzerten, dann ging es von Stadt zu Stadt, von Hotel zu Hotel …

Ob in La Rochelle wohl jemand wusste, dass die Mauvoisins im Zirkus und in den Varietés mit einer Zauberdarbietung auftraten, Élise in einem rosafarbenen Trikot …

Denn Gilles sah seine Mutter immer in dem rosafarbenen Trikot vor sich, das ihre breiten Hüften betonte, wie sie seinem Vater, der im Frack auf der Bühne stand, die glitzernden Requisiten für seine Nummer reichte …

Trondheim … Die weiße Kugel des Hotels …

»Hör zu, Élise, du solltest ein eigenes Zimmer nehmen … Ich werde mich mit einem Grog und zwei Aspirintabletten ins Bett legen … Ich werde die ganze Nacht über schwitzen. Das ist die einzige Möglichkeit, um mit diesem Schnupfen fertigzuwerden …«

Aber nein! Man musste aufs Geld sehen!

»Es ist mir lieber, wenn ich bei dir bin …«

Im Zimmer stand, wie in den meisten norwegischen Häusern, ein mächtiger cremefarbener Kachelofen.

»Patron, machen Sie mir ein anständiges Feuer … Und bringen Sie heißen Grog herauf.«

Mauvoisin hatte sich einen Schnurrbart stehenlassen, weil sich das so für einen Zauberkünstler gehörte. Er färbte ihn, nicht aus Koketterie, sondern weil ein Zauberkünstler nicht alt erscheinen darf.

Gilles sah diesen blauschwarzen Schnurrbart auf dem Weiß des Kopfkissens wieder vor sich, und er sah die rote Nase seines Vaters.

»… Nacht, Papa … Nacht, Mama …«

Am nächsten Morgen war seine Mutter tot, sein Vater kämpfte noch mit letzter, mit allerletzter Kraft gegen den Erstickungstod, hervorgerufen durch die Kohlengase des Kachelofens. Er konnte gerade noch stammeln:

»Deine Tante … Éloi …«

 

Gilles hatte sich auf einen Poller an der Anlegestelle für die Fährverbindungen zur Île de Ré gesetzt und betrachtete die Schaufenster und in dem blaugrünen Licht des verglasten Büros die verschwommene Silhouette seiner Tante.

Er kannte noch viele andere Leute, die er noch nie gesehen hatte, Leute, von denen seine Eltern gesprochen hatten, und Straßennamen, Namen von Geschäften.

»Erinnerst du dich an den Bäcker, der …«

Er zuckte zusammen. Ein junges Mädchen mit sehr kurzem Rock ging an ihm vorbei, zuckte ebenfalls zusammen und drehte sich um, um ihn mit großen neugierigen Augen anzusehen. Es war das Mädchen von vorhin, an einem Waggon, am Hafenbecken …

Sie drehte sich dreimal um und verschwand dann in den Arkaden unter der Großen Uhr, der Grosse Horloge.

Gilles wusste nicht, dass man zur selben Zeit in allen Hotels der Stadt seinen Namen nannte.

»Mauvoisin? … Wie die Autobusse? … Nein … Wir haben diesen Namen nicht …«

Ein Lagerverwalter im grauen Kittel ließ die Schaufensterläden der Firma Éloi herunter, während die Tür ein Stück offen blieb, denn der Kapitän des Überseedampfers war noch nicht gegangen. Auch das Lederwarengeschäft, etwas weiter weg, machte zu.

Ein großer grün gestrichener Autobus fuhr vorüber, und Gilles versetzte es einen kleinen Schock, als er seinen Namen auf der Karosserie las: Cars Mauvoisin.

Sicherlich sein Onkel, der Bruder seines Vaters, der ein Transportunternehmen aufgemacht hatte.

Gilles brauchte nur die Straße zu überqueren …

Guten Tag, Tante, ich bin Ihr Neffe Gilles … Papa und

Mama sind …

Allein bei dem Gedanken daran überkam ihn Panik. Nie hatte eine Stadt ihm Angst gemacht, ihm, der in seinem Leben so viele Städte gesehen hatte, doch La Rochelle machte ihm Angst.

Morgen …, nahm er sich vor.

Er hatte noch zweihundert Franc in der Tasche. Die Kleider, die er trug, gehörten dem Sohn seines Zimmervermieters in Trondheim.

»Als mein Sohn um seine Mutter trauerte, verstehen Sie … Sie sind wie neu …«

Und ein Schiffskapitän, Solemdal, hatte ihn kostenlos befördert, hatte ihn heimlich an Land gesetzt, denn er war nicht berechtigt, Passagiere zu befördern.

Gilles war nun schon über eine Stunde an Land, und er kannte erst ein Stück des Quais, das düstere Hafenbecken, an dessen äußerstem Ende er in der Dunkelheit die beiden alten Wehrtürme erblickte, hinter denen die Weite des Meeres begann, von wo er gekommen war. Er stand auf und ging, seinen Koffer in der Hand, bis zur Großen Uhr. Da gerade Geschäftsschluss war, strömte unter dem Gewölbebogen, in dem ein Wind blies, die Menge hindurch, diese Menge, die Französisch sprach, sodass er unaufhörlich zusammenzuckte, weil er glaubte, man hätte ihn angesprochen.

Er bräuchte nur einige Schritte zu tun, und schon wäre er in der Stadt. Er sah die beleuchteten Auslagen der Kaufhäuser: Prisunic, Nouvelles Galeries …

Lieber lief er wieder zu den Quais. Er war nicht an Städte gewöhnt, wo es weder Zirkus noch Varietés gab. In allen Städten, in die sie kamen, wussten sie im Voraus, wo sie absteigen würden. Überall, in einer kleinen Straße beim Theater, gab es ein Hotel, wo man Bekannte traf, chinesische Jongleure oder Musikclowns, die Truppe marokkanischer Seiltänzer oder die Frau mit den dressierten Tauben.

Man hatte nicht das Gefühl, dass man in einer anderen Gegend oder einem anderen Land war. Überall hingen die gleichen Fotos an der Wand oder steckten im Rahmen der Spiegel. Und auch das billige Restaurant war das gleiche, man verewigte sich dort für die, die nach einem kamen.

Gilles gelangte zu einem düsteren Teil des Quais, der mit Bäumen bestanden war, und erreichte einen winzigen Platz mit einem riesigen Pissoir.

Er befand sich am äußersten Ende des Hafens, in der Nähe der Wehrtürme, in der Nähe des Fischmarkts, den er zwar nicht sah, dessen Geruch ihm aber in die Nase stieg. Er sah ein Lokal mit einigen Stufen davor, einem schmalen Fenster, einem mit Sägemehl bedeckten Fußboden.

Er trat schüchtern ein.

»Verzeihung, Madame … Vermieten Sie Zimmer?«

Und die dicke Jaja, die man auf allen Fischmärkten kannte, die Frau, die ihre Strümpfe mit einer roten Schnur unterm Knie befestigte und bretonische Holzschuhe trug, sah ihn mit gerührter Verwunderung an.

»Komm ruhig rein, junger Mann … Du hast ja einen komischen Hut auf …«

Er drehte seine Fischottermütze zwischen den Fingern.

»Du willst also ein Zimmer … Für eine Nacht oder für den ganzen Monat?«

»Für eine Nacht … Vielleicht auch für zwei oder drei Nächte …«

Ihm wurde mulmig bei dem Gedanken an seine zweihundert Franc, an den Augenblick, wo er seiner Tante gegenübertreten müsste.

»Wir werden sehen, wo wir dich unterbringen, mein Engel … Hast du noch nicht zu Abend gegessen? …«

Gilles konnte nicht wissen, dass Jaja alle Leute duzte, sogar den großen Babin. Es war so etwas wie ein Privileg.

»Du kommst wohl von weit her? … Aber du bist ja ganz durchgefroren, mein Junge … Warte, ich bring dir ein Stärkungsmittel …«

Er hätte gerne nein gesagt. Er hatte noch nie Schnaps getrunken. Sie füllte ein großes Glas mit Hochprozentigem.

»Ich hoffe, du wirst hier essen? … Heute Abend gibt es Heringe … Mehr verrate ich nicht … Bist du in Trauer? … Ist nicht weiter verwunderlich, du kommst ja am Tag vor Allerheiligen …«

Er ließ alles mit sich geschehen, wie ein Kind. Denn er war erst neunzehn Jahre alt und hatte nie so wie andere Leute im Leben gestanden.

»Dann hast du also Familie in La Rochelle? … Ich frage dich nicht nach dem Namen … Weiß sie Bescheid über deine Ankunft? … In Norwegen ist es bestimmt schweinekalt! …«

Auf jeden Fall war ihm noch nie in seinem Leben so warm gewesen. Das Restaurant, das morgens brechend voll war, war um diese Zeit menschenleer. Nur ab und zu kam ein Fischer, um im Stehen einen zu trinken und ein paar Worte mit Jaja zu wechseln, die ihren Fremden wie ein zartes Küken umsorgte.

»Aber ja doch … Noch ein Glas Cidre! … Ich lasse ihn aus der Bretagne kommen … Die meisten Matrosen hier sind Bretonen … Deshalb, verstehst du …«

Trotzdem lag in ihrem Blick die gleiche Verwunderung wie in den Augen des jungen Mädchens mit dem Kuss. Gilles war nicht wie die andern. Angefangen bei seinem Mantel, der ungewöhnlich lang und eng war … Er war so zurückhaltend, so schüchtern …

»Ich wette, dass du nie die Schürzenzipfel deiner Mutter losgelassen hast …«

Das stimmte. Aber nicht ganz so, wie sie dachte. Seine Wiege war ein Weidenkorb gewesen, der ebenso häufig in den Zügen wie zwischen den vier Wänden eines Zimmers stand, und es war vorgekommen, dass er als Säugling zwischen zwei Bühnenauftritten von einem Clown oder dem diensttuenden Feuerwehrmann beaufsichtigt wurde.

»Los! Es ist Zeit zu schlafen … Komm, ich werde dir dein Zimmer zeigen …«

Der Weg war so kompliziert, über enge Treppen und durch ineinander verschachtelte Korridore, dass Gilles beim Einschlafen dachte, er würde nie wieder zurückfinden.

 

Die Tür war geschlossen, doch man sah unten einen Lichtstreif. Babin wusste, dass die Witwe Éloi um diese Zeit ihre Buchführung machte, und klopfte.

»Wer ist da?«

»Babin …«

Sie öffnete. Der Laden lag im Dunkeln. Nur der Glaskäfig war beleuchtet.

»Haben Sie ein Schiff, das heute Nacht in See sticht, Monsieur Babin?«

»Nein, nein … Ich kam gerade vorbei … Und da habe ich mir gesagt …«

Madame Élois Blick bedeutete:

Was ist denn in den alten Affen gefahren?

Sie lächelte breit.

»Es ist mir immer ein Vergnügen …«

»Und, gibt’s nichts Neues?«

Er hatte sich neben den glühend roten gusseisernen Ofen gesetzt. Sie hatte ihre Brille abgenommen, die sie nie in der Öffentlichkeit trug.

»Was meinen Sie?«

»Nichts … Hm …«

Und sie fragte sich angstvoll:

Warum ist er heute Abend hier hereingekommen?

Raoul Babin hingegen, der eine so wichtige Persönlichkeit war, dass er sich erlauben konnte, an jedem Ort seine Zigarre im Mund zu behalten, sagte sich, während er die Witwe beobachtete, die auf der Hut war:

Ob sie zufällig …

Gilles Mauvoisin war in keinem Hotel der Stadt gemeldet. Bei wem konnte er wohl abgestiegen sein? Ob Gérardine, wie die Reeder sie unter sich nannten, eine Komödie spielte?

»Geht es Bob gut?«

Bob, Madame Élois Sohn, war der größte Taugenichts von La Rochelle, der im Zustand der Trunkenheit die Passanten mit seinem Wagen anfuhr.

»Es geht ihm sehr gut … Er ist für einige Tage in Paris …«

»Na wunderbar! Also …«

»Also was?«

»Nichts … Ich habe nur kurz vorbeigeschaut, um mich nach Ihnen zu erkundigen … Das hätten wir …Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend … Übrigens … Der Teer, den Sie mir letzte Woche geliefert haben … Aber es lohnt nicht, dass wir darüber reden … Mein Werksleiter hat Ihnen sicher einen Brief geschrieben …«

Wo zum Teufel mochte der junge Mauvoisin hingekommen sein?

Babin ging schwerfällig und langsam über die Bürgersteige und kaute dabei auf seiner Zigarre herum. Es war die unangenehme Stunde, zu der er gezwungen war, nach Hause zu gehen.

Ihm graute vor seinem Haus und seiner Familie. Brummend setzte er sich an den Tisch und sah die Seinen mit großen, übel gelaunten Augen an.

Ohne auf den Nachtisch zu warten, ging er in sein Büro hinüber und nahm den Telefonhörer ab.

»Hallo! … Sind Sie es, Armandine? … Ja, hier ist Raoul … Falls Sie zufällig einem lang aufgeschossenen, mageren jungen Mann begegnen sollten, schwarz gekleidet, mit einer Fellmütze auf dem Kopf … Ich kann Ihnen am Apparat nichts erklären … Gewiss doch … Ja, ich möchte … Es ist sehr wichtig … Ich wäre Ihnen nicht böse, wenn … Verstehen Sie? … Guten Abend, Kleines … Sind Sie wenigstens allein?«

Er sagte das aus Höflichkeit, denn er wusste genau, dass er die Gunst der schönen Armandine mit mindestens zwei oder drei Personen teilte.

2

Na, mein Junge, du hast wohl keine Angst, dass Jaja was zu sehen kriegt!«

Gilles schreckte aus dem Schlaf hoch und merkte, dass er nackt war. Er hatte sich, weil er keine saubere Nachtwäsche dabeihatte, so ins Bett gelegt und sich aufgedeckt.

»Eine richtige Babyhaut …«, behauptete die Alte und hob die Socken vom Boden auf, die sie mit einer Handbewegung umstülpte. »Hast du keine anderen? … Bleib noch einen Augenblick im Bett liegen …«

Und als sie zurückkam, eine Socke über die geballte Faust gespannt, hielt sie in der anderen Hand eine Nadel mit einem schwarzen Faden.

»Ist es dir peinlich, dich vor mir anzuziehen? Selbst jetzt noch, wo ich dich gesehen habe? Gut, ich gehe runter … Wenn du fertig bist, kommst du zum Frühstücken …«

Sie ließ ihn zwei Dutzend Austern essen und Weißwein trinken, und er traute sich nicht abzulehnen, aus Furcht, ihr Kummer zu machen oder sie auch nur zu verärgern. Währenddessen beobachtete sie ihn so aufmerksam, dass er verlegen den Blick aus dem Fenster schweifen ließ.

»Das ist kein Tag, um dich deiner Familie zu präsentieren … Außerdem ist sie bestimmt auf dem Friedhof … Zu Mittag gibt es Hasenpfeffer … Magst du das?«

Erlebte er später je wieder Momente wie diese? Und dabei hatten sie nichts Außergewöhnliches an sich. Er betrachtete den kleinen Platz und hinter dem großen Pissoir aus Blech die Fischerboote, die ihr Segel im Sprühregen gespannt hatten. Es roch nach Schnaps und gerösteten Zwiebeln. Jaja hatte kräftige Arme, die so rosig waren, dass es beinahe künstlich wirkte.

Sie hatte ihn so sehr von dem Eindruck überzeugt, er sei ein Kind, dass er draußen selbstvergessen einen Stein wegkickte und sich dann schnell umdrehte, um sich zu vergewissern, dass man ihn nicht dabei beobachtet hatte.

Die Straßen waren leer. Dann und wann eine schwarz gekleidete alte Frau, die eine Chrysantheme in einem Topf oder einen spärlichen Blumenstrauß dabeihatte. Gilles fragte nicht nach dem Weg, und er brauchte annähernd eine halbe Stunde, bis er die Rue de l’Escale gefunden hatte, die ganz in der Nähe war. Bei der Hausnummer siebzehn sah er das große Tor mit dem Rundbogen, das man ihm so oft beschrieben hatte, aber statt wie früher dunkelgrün war es jetzt holzfarben lasiert. Eine kleinere Tür, in eine der Torfüllungen eingelassen, stand halb offen, und er erblickte einen Hof, ein Beet mit schwarzer Erde, zwei oder drei grüne Pflanzen, von denen Wasser tropfte.

Ohne zu überlegen, ging er an eines der mit Musselinvorhängen bespannten Fenster. Er versuchte eine ganze Weile lang, durch den Vorhang zu spähen. Plötzlich begriff er, dass das, was er für das Spiegelbild seines Gesichts in der Fensterscheibe gehalten hatte, ein fremdes Gesicht war, das ihn von innen verwundert anstarrte. Es war ein sehr altes Gesicht, das ihm ungewöhnlich blass vorkam, ob Mann oder Frau, war nicht zu erkennen, und er ging ganz beschämt weg.

Er trat in die Kathedrale, wo das Hochamt schon halb vorüber war, und blieb bis zum Schluss. Dann sah er die Gläubigen vorüberziehen und sagte sich, dass er seine Tante Éloi suche, doch es war eher das junge Mädchen vom Vortag, das er gern wiedergesehen hätte.

Die Stadt ängstigte ihn. Er wusste nicht, wohin er gehen noch was er tun sollte, und er wagte es nicht, allein in ein Café zu gehen. Man drehte sich nach ihm um, und er hatte beschlossen, seine Fischottermütze in die Tasche zu stecken. Doch genügte nicht schon sein langer Mantel, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken?

Erleichtert kehrte er zu Mittag, ja sogar noch etwas früher, zu Jaja zurück, wo sein Gedeck am Fenster bereitlag.

»Hast du deinen Pelz verloren?«

Er zeigte ihn ihr in der Manteltasche, zog ihn heraus, und sie drehte und wendete ihn.

»Er ist echt … Ich frage mich, ob es für einen Kragen reichen würde …«

 

Kerzen brannten an den meisten Gräbern, und bei jedem Luftstoß zogen sich die kleinen Flammen, als seien sie lebendig, nach derselben Seite in die Länge, schienen im Begriff zu verlöschen und richteten sich dann wie durch ein Wunder wieder auf. Auf dem nassen Kies der Gehwege gingen die Leute mit gedämpfteren Schritten als gewöhnlich, sprachen halblaut.

Gilles las die in Stein gemeißelten Namen, und es waren einige darunter, die er von seinen Eltern her kannte: Vitaline Basse, unter anderem, eine Freundin seiner Mutter, von der sie oft gesprochen hatte und die einen Buckel hatte.

… im Glauben an Gott im Alter von 32 Jahren verstorben.

Betet für sie.

Gilles wollte schon einige Blumen auf das Grab der Freundin seiner Mutter legen, denn es waren weder Blumen noch Kerzen drauf. Er hatte oft solche Einfälle. Aber dann überlegte er es sich anders. Er müsste aus dem Friedhof gehen, nach dem Preis der Chrysanthemen fragen. Die Blumenfrau würde ihn verwundert anschauen. Auf dem Rückweg würde er linkisch seine Blumen in der Hand halten. Und wenn irgendjemand ihn sähe, wie er seinen Blumenstrauß auf das Grab von jemandem legte, den er kaum kannte?

Er blieb vor einem der imposantesten Grabmäler stehen, einer riesigen Gruft, in die man aufrecht hineingehen konnte. Der Stein war noch ganz weiß, und ein einziger Name war hineingemeißelt: Octave Mauvoisin.

Es war der Bruder seines Vaters, der Besitzer der Autobusse, und durch die Inschrift erfuhr Gilles, dass sein Onkel vier Monate zuvor gestorben war.

Langsam würgte ihn ein Gefühl unerklärlicher Angst. Er irrte auf dem Friedhof herum, wie er am Morgen in der fast menschenleeren Stadt herumgelaufen war, die Zahl der Toten erdrückte ihn. Sein Vater und seine Mutter waren oben im Norden gestorben, und niemand würde Blumen auf ihrem Grab niederlegen. Sein Onkel Mauvoisin, den man ihm immer kräftig wie einen Bären beschrieben hatte, war tot. Vitaline Basse, die Bucklige, war tot. Und diese Léontine Poupier mit dem Aussehen einer alten Jungfer, deren Porträt man auf einem kranzgerahmten Porzellanmedaillon sah, war sie nicht das Kindermädchen gewesen, das seine Mutter großgezogen hatte?

Er zuckte zusammen, blieb unbeweglich hinter einer Zypresse stehen, denn er hatte gerade, zehn Meter von ihm entfernt, seine Tante Éloi erkannt, begleitet von zwei jungen Mädchen, die seine Cousinen sein mussten. Eine der beiden, die ältere, schielte. Die andere, eine kleine Pummelige, schien nach jemandem Ausschau zu halten, vielleicht nach einem Liebhaber?

Man spürte, dass die drei Frauen wichtige Persönlichkeiten waren. Ein Gärtner, der sie begleitete, stellte Blumenstöcke vor dem Grab ab. Gérardine Éloi gab, ohne sich zu bücken, Anweisungen, wie in ihrem Laden. Dann, als alles geschmückt war, deutete sie das Kreuzzeichen an und entfernte sich, immer noch gefolgt von ihren beiden Töchtern, die ein wenig Abstand hielten, und auf dem ganzen Weg drehten sich die Leute nach ihnen um, um sie zu grüßen.

Warum folgte Gilles ihnen? Er wollte nicht mit ihnen sprechen. Er hatte noch genug Geld, um eine, vielleicht auch zwei Nächte bei Jaja zu verbringen.

Als er durch das Friedhofstor ging, sah ihn jemand so hartnäckig an, dass er rot wurde, vor allem da es sich um eine sehr schöne Frau handelte, die in einen Pelzmantel gehüllt war.

Er war gerade im Begriff vorbeizugehen, als sie ihn ansprach, und Gilles’ Knie zitterten.

»Verzeihung, Monsieur … Entschuldigen Sie, falls ich mich irre … Aber sind Sie nicht ein Mauvoisin, sicherlich Gérards Sohn? …«

Er nickte nur.

»Mein Gott! Ich beobachte Sie jetzt schon eine ganze Weile. Ich war eine Freundin Ihres Onkels. Wussten Sie, dass er tot ist? Ich habe Ihren Vater ein wenig gekannt, damals … Als ich Sie sah … Diese Ähnlichkeit … Wie kommt es, dass Sie in La Rochelle sind?«

»Mein Vater und meine Mutter sind gestorben«, antwortete er wie jemand, der seine Lektion aufsagt.

Aus dem Nerzmantel stieg eine Parfümwolke auf und hüllte ihn ein.

»Sind Sie bei Verwandten abgestiegen? … Bei Ihrer Tante Éloi, sicherlich?«

»Noch nicht … Ich … ich habe die Nacht in einem kleinen Hotel verbracht …«

»Tragen Sie keine Kopfbedeckung bei dieser Kälte?«

Er wagte nicht einzugestehen, dass er sie in der Tasche stecken hatte, und trat von einem Bein aufs andere.

»Sie verübeln mir doch nicht die Störung … Vielleicht darf ich Sie zu einer Tasse Tee zu mir einladen? … Ach, da kommt ja gerade ein Taxi … In zwei Minuten …«

Es war vorgekommen, dass er solche Frauen in den Theaterlogen gesehen hatte, doch er hatte nie mit ihnen zu tun gehabt. Wenn sie wirklich seinen Vater gekannt hatte, musste sie um die vierzig sein. Doch sie wirkte noch jung, besaß eine gedämpfte, diskrete Anziehungskraft, während Gilles’ Mutter etwa im selben Alter schon auf jegliche Koketterie verzichtet hatte.

»Dann sind Sie also allein nach La Rochelle gekommen …«

Das Taxi war erfüllt von ihrem Parfüm, und ihre behandschuhte Hand ruhte zart auf dem Arm des jungen Mannes, als Zeichen ihres Beileids.

»Und niemand hat Sie am Bahnhof erwartet! … Niemand hat Sie aufgenommen! … Wenn ich nicht eine alleinstehende Frau wäre, würde ich Ihnen liebend gern meine Gastfreundschaft anbieten … Gewiss, sobald Ihre Tante erfährt, dass Sie hier sind … Ich habe den Eindruck, dass ich sie vorhin auf dem Friedhof gesehen habe … Eine große, hagere Frau mit einem autoritären Gesicht …«

»Ich weiß …«

»Kennen Sie sie?«, fragte sie lebhaft.

Er musste gestehen:

»Ich habe sie in ihrem Laden gesehen …«

 

»Aber gewiss doch! Nehmen Sie eine Tasse Tee und etwas Gebäck … Machen Sie sich’s bequem … Stellen Sie sich vor, ich habe Ihren Vater gekannt, als er in Ihrem Alter war … Er ist viel herumgereist, nicht wahr?«

Sie hatte ihren Mantel ausgezogen, unter dem sie ein sehr enges Seidenkleid trug, das ziemlich üppige Formen betonte.

»Jeanne! Servieren Sie den Tee bitte im kleinen Salon …«

Es war lau und mild in dieser duftenden Wohnung, die voller Samt und Seide, voller Nippes und Porzellanfigürchen war. Selbst das Telefon verbarg seine Zweckmäßigkeit unter der Krinoline einer Marquise mit feinem Porzellangesicht. Es läutete gerade.

»Hallo … Aber ja, mein Freund … Ja … Ja …«

Sie lächelte glücklich, während sie sprach, und musterte Gilles Mauvoisin.

»Aber ja … Wenn Sie wollen … Bis gleich …«

Und sie rief von neuem das Zimmermädchen.

»Noch ein Gedeck, Jeanne …«

Sie erklärte Gilles:

»Einer meiner Freunde … Er kommt vorbei, um mich zu besuchen … Er ist auch ein Freund Ihres Onkels … Aber nein! Ich lasse Sie nicht gehen … Er wird nur zu glücklich sein, Ihre Bekanntschaft zu machen …«

Schon hörte man, wie unten auf der Straße ein Auto hielt. Gilles stellte mit einer gewissen Verwunderung fest, dass der angekündigte Freund mit einem eigenen Schlüssel hereinkam. Er klopfte, als Hausfreund, direkt an die Tür des Boudoirs.

»Kommen Sie herein, mein Freund … Ich habe eine Überraschung für Sie … Raten Sie, wen ich Ihnen zu meiner Freude vorstellen darf?«

Raoul Babin sah Gilles einen Augenblick lang an und schüttelte dann den Kopf.

»Mauvoisin! … Ein Neffe von Octave Mauvoisin! … Gérards Sohn … Sie sehen, dass ich ein besseres Personengedächtnis habe als Sie … Ich war auf den Friedhof gegangen, zum Grab unseres armen Freundes …«

Mit gerunzelter Stirn fragte Babin, der die Hand ausgestreckt hatte:

»Sind Sie etwa Gilles Mauvoisin?«

»Ja, Monsieur …«

»Aber dann …«

Er zog eine Komödie ab, drehte sich nach der jungen Frau um, legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter.

»Aber, mein junger Freund … Wann sind Sie denn in La Rochelle angekommen?«

»Gestern … Ich bin mit einem norwegischen Frachtschiff gekommen, mit der Flint.«

»Die kenne ich umso besser, als sie gerade Kabeljau auslädt, den ich in Trondheim bestellt habe … Solemdal ist ein alter Kamerad von mir … Ich frage mich nur, woher Sie gewusst haben … Sie haben den Notar noch nicht aufgesucht?«

»Welchen Notar?«

»Sie werden doch nicht behaupten wollen, dass Sie nicht Bescheid wissen?«

 

Am erstauntesten war zur selben Zeit Jaja, die neben dem Ofen vor sich hin döste, eine rote Katze auf den Knien. Sie hatte zwar gerade noch ein großes Auto auf dem Platz halten und zwei Männer aussteigen sehen, war aber nicht auf den Gedanken gekommen, es könnte für sie sein, und hatte die Augen aufgerissen, als sie diejenige der beiden Personen erkannte, die die Tür aufstieß.

»Was will denn der hier?«, brummte sie und stieß die Katze weg, um aufzustehen. »Ja wie, Monsieur Plantel, kommt man neuerdings zu Mutter Jaja, um einen zu trinken?«

Der Besucher, den Kapitän Solemdal begleitete, war in der Tat niemand anderes als Edgar Plantel persönlich, der Reeder der Firma Basse et Plantel, das silbergraue Haar glatt über die Schläfen zurückgekämmt, mit rosigem Gesicht, einen Spazierstock mit goldenem Knauf in der Hand.

»Sagen Sie mal, Jaja … Sie haben anscheinend einen jungen Mann hier, der gestern an Land gegangen ist …«

»Das ist gut möglich …«

»Ist er im Haus?«

Monsieur Plantel blieb stehen, er sah in seinem prachtvollen Pelz so sehr nach Grandseigneur aus, dass das Zimmer zu klein für ihn wirkte.

»Was wollen Sie von meinem Jungen?«

»Ist er ausgegangen? Wissen Sie nicht, wohin er gegangen ist?«

»Ich kümmere mich nicht um Dinge, die mich nichts angehen … Gehört er etwa zu Ihrer Familie? … Wenn ja, dann scheint er es nicht eilig zu haben, Sie aufzusuchen …«

Plantel zögerte. Er war kurz davor, sich mit Solemdal in eine Ecke des Zimmers zu setzen und zu warten. Doch jeden Moment konnten Fischer hereinkommen, Matrosen von seinen Schiffen. Er machte Solemdal ein Zeichen, und beide setzten sich in den Wagen. Der Chauffeur drehte sich um und wartete auf eine Anweisung.

»Wir bleiben hier …«

Seit dem Vorabend, seit Solemdal, der in Plantels Palais zu Abend gegessen hatte, ihm zufällig von seinem Passagier erzählt hatte, suchte man Gilles überall. Und wieder hatten alle Hotels der Stadt einen Telefonanruf bekommen.

Zufällig hatte mittags ein Matrose der Flint Gilles bei Jaja gesehen und es seinem Kapitän erzählt.

»Ich frage mich, ob er schon bei Gérardine war …«

 

Armandine hatte die Lampen angezündet, und die Atmosphäre in ihrem Boudoir wurde noch einschmeichelnder.

»Also, mein junger Freund … Sie gestatten doch, dass ich Sie so nenne, denn ich könnte ja Ihr Vater sein … Also, sagte ich, Sie haben demnach keine Mitteilung, keine Benachrichtigung erhalten … Sie haben auch die Anzeigen nicht gelesen, die in den Zeitungen der ganzen Welt, oder fast, erschienen sind … Ich frage mich … Hören Sie, es steht mir nicht zu, Ihnen mehr zu sagen … Sie dürfen mir nicht böse sein, dass ich Sie so neugierig mache, aber Sie werden das nachher verstehen … Wollen Sie bitte anrufen, liebe Freundin, um zu erfahren, ob Maître Hervineau zu Hause ist? … Meldet sich jemand? … Geben Sie ihn mir …«

»Hallo! … Sind Sie es, Hervineau? … Störe ich Sie? … Die Gicht? … Umso besser … Aber nein! Ich sage nur umso besser, weil ich Sie dadurch an Allerheiligen zu Hause antreffe … Stellen Sie sich vor, ich habe hier … Nein, ich bin nicht zu Hause … Ich habe hier, sagte ich, einen jungen Mann, der Gilles Mauvoisin heißt … Ganz richtig … Vollkommen sicher … Das habe ich mir auch gedacht … Wir sind in wenigen Minuten bei Ihnen …«

»Sie werden ihn doch seine Tasse Tee austrinken lassen?«, schaltete sich Armandine ein, als Raoul Babin seinen schweren Mantel anzog.

»Hervineau erwartet uns … Wenn Sie ahnten, welche Nachricht dieser junge Mann aus dem Munde des ehrenwerten Notars erfahren wird! … Kommen Sie, mein Freund … Und erinnern Sie sich daran, dass unsere Freundin hier die Erste gewesen ist, die Sie in dieser Stadt empfangen hat …«

Er konnte nicht ahnen, dass Gilles innerlich erwiderte:

Stimmt gar nicht! Das war Jaja …

Und ohne zu wissen, warum, erinnerte er sich voller Rührung an die Socken, die sie neben seinem Bett gestopft hatte.

»Mein Wagen steht vor der Tür … Hervineau wohnt in der Rue Gargoulleau …«

Da es aufgehört hatte zu regnen, flanierten in der Abenddämmerung die sonntäglichen Spaziergänger langsam durch die Straßen. Man fuhr in eine dunkle Hofeinfahrt, an deren hinterem Ende ein altes Privatpalais stand.

Die Besucher wurden erwartet, denn ein Diener führte sie sogleich in eine Bibliothek, wo bei ihrem Erscheinen jemand Anstalten machte aufzustehen.

»Machen Sie sich keine Umstände … Schonen Sie Ihr Bein … Monsieur Mauvoisin, ich habe das Vergnügen, Ihnen Maître Hervineau, den Notar Ihres verstorbenen Onkels, vorzustellen …«

Es war ein unscheinbarer Greis, der einen Morgenrock in neutralem Farbton trug und seufzend sein linkes Bein wieder auf einen Schemel legte.

»Setzen Sie sich, Monsieur Mauvoisin … Ich habe ziemlich viel Mühe gehabt, Sie aufzufinden …«

»Verzeihung … Ich habe ihn aufgefunden …«

»Aber wie kommt es denn …?«

»Sein Vater und seine Mutter sind gestorben … Ein Unfall, dort oben, in Trondheim … Daraufhin ist der junge Mann hierhergekommen und …«

»Haben Sie ihm schon alles gesagt?«

»Noch nicht …«

Gilles hatte das Gefühl, dass sie sich zuzwinkerten. Dann murmelte Hervineau:

»Wäre es nicht besser, wenn wir Plantel Bescheid sagen würden?«

»Wenn Sie wollen … Jetzt, wo es so weit ist …«

Der Notar zog das Telefon zu sich heran, schien erstaunt über das, was man ihm sagte.

Dann sprachen die beiden Männer halblaut miteinander, während Gilles schüchtern auf der Sesselkante sitzen blieb. Er bekam Folgendes mit:

»Wo? …«

»In einer kleinen Hafenkneipe, mit Solemdal …«

Babin unterdrückte ein Lachen.

»Was sollen wir tun?«

»Vielleicht könnten Sie jemanden hinschicken, um ihm zu sagen …«

Der Diener wurde gerufen. Gilles war es warm. Ihm war etwas schwindlig. Er lehnte die Zigarre ab, die Babin ihm anbot.

»Danke, ich rauche nicht …«

»Ein Glas Portwein?«

»Ich bin es nicht gewohnt zu trinken …«

Alles hatte etwas Doppelbödiges, doch Gilles war zu verwirrt, um seine Eindrücke einordnen zu können. Gewiss, man gab sich viel Mühe mit ihm, aber irgendwie ohne sich mit ihm zu beschäftigen. Man behandelte ihn sehr zuvorkommend, und gleichzeitig sah man in ihm eine quantité négligeable.

»In Anbetracht des Allerheiligenfestes kann die offizielle Testamentseröffnung erst in zwei Tagen stattfinden«, fuhr Maître Hervineau fort. »Ich darf Ihnen aber jetzt schon mitteilen, Monsieur Mauvoisin, dass Sie der Universalerbe Ihres Onkels sind. Seit vier Monaten suchen wir Sie nahezu überall …«

Gilles hörte die Worte zwar deutlich, hörte sie sogar überdeutlich, doch ihre Bedeutung wurde ihm nicht recht bewusst. Deshalb wunderten sich die beiden Männer, die auf seine Reaktion lauerten, dass sich keine Überraschung, keine Freude bei ihm zeigte. Vielleicht hielten sie ihn für schwachsinnig?

»Ihr Onkel stand nicht nur an der Spitze des Transportunternehmens Cars Mauvoisin, sondern er besaß auch Geschäftsanteile an den meisten großen Unternehmen in La Rochelle und Umgebung …«

Der Diener, der seinen Auftrag ausgeführt hatte, ließ Edgar Plantel und Kapitän Solemdal herein. Plantel war ein wenig blass. Er berührte Babins Hand und murmelte dazu:

»Herzlichen Glückwunsch …«

»Nicht der Rede wert …«

Solemdal betrachtete erstaunt und sogar mit einem gewissen Respekt diesen blinden Passagier, der sich in eine der wichtigsten Persönlichkeiten von La Rochelle verwandelt hatte.

»Monsieur Mauvoisin, als ich erfahren habe, dass Sie in unserer Stadt sind und dass Sie in einem Restaurant am Hafen abgestiegen sind, habe ich es als meine Pflicht angesehen … Glauben Sie mir, bitte, dass ich sehr glücklich bin, Sie kennenzulernen und …«

Warum drehte sich Gilles nach dem Notar um, der immer noch in seinem Sessel versunken war? Maître Hervineaus Gesicht war schlecht beleuchtet, und vielleicht glaubte Gilles deshalb ein höhnisches Grinsen darauf zu sehen, das ihm Angst machte.

»Setzen Sie sich, Messieurs, wenn ich bitten darf!«, rief der Notar mit schnarrender Stimme. »Es ist sehr unangenehm, wenn man von der Gicht an seinen Sessel gefesselt ist und die Leute um sich herum stehen sieht … Was darf ich Ihnen einschenken lassen? … Whisky? … Portwein? … Babin! … Sie sitzen gerade neben dem Klingelknopf … Wollen Sie bitte nach dem Butler klingeln? …«

3

Im ersten Augenblick glaubte er, er sei an Bord, und war schon ganz glücklich. Diese schaukelnde Bewegung, dieses langsame Hochgehobenwerden, auf das ein Absacken folgte … Und selbst dieses Geräusch fließenden Wassers … Das erinnerte ihn an die Tage mit hohem Wellengang, wenn er seekrank in seiner mit Lackfarbe gestrichenen Koje lag und der gute Kapitän Solemdal ihn mit einem mitleidigen Lächeln bemutterte …

Aber nein! Er war längst von Bord der Flint gegangen. Er wusste genau, wo er jetzt war: in einem Palais in der Rue Réaumur, der vornehmsten Straße von La Rochelle. Er konnte nicht erraten, wie spät es war, denn durch die dichtgeschlossenen Läden drang kein Licht. Jedenfalls waren im Haus, im Stockwerk unter Gilles, schon Leute auf. Wasser lief. Ein Mann und eine Frau sprachen miteinander. Jede Silbe klang wie ein Kanonenschuss in seinem schmerzenden Kopf, ein Geräusch wie von ferne und so eigenartig, dass er einen Augenblick lang nur auf diese Kanonade achtete:

»Bum, bum, bum … bum, bum … bum …«

Doch da! Ein Geräusch von klappernden Tassen und Töpfen. Es musste also die Küche sein, in der gesprochen wurde. Was für ein Abendessen, mein Gott! Und warum hatte sich jeder so bemüht, ihn zum Trinken zu bringen? Machte es ihm vielleicht Spaß? Nein! Warum hatte man ihm unaufhörlich volle Gläser hingehalten, angefangen mit dem Portwein bei Hervineau, diesem grässlichen, bleichen Notar mit der schnarrenden Stimme … Was hatte dieser Hervineau noch gesagt, als Gilles aufgebrochen war?

»Ich wünsche Ihnen viel Spaß, junger Mann! …«