Antonio Gramsci - Christoph Lanzendörfer - E-Book

Antonio Gramsci E-Book

Christoph Lanzendörfer

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Beschreibung

Antonio Gramsci ist wegen seiner unermüdlichen politischen Arbeit bekannt, er schrieb die "Gefängnis-Hefte". Während seiner Zeit in Mussolinis Gefängnis schrieb er unermüdlich und entwickelte eine Theorie der politischen Hegemonie. Gramsci überlebte die Haft nur um wenige Tage.

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Die erste Auflage erschien 2019 unter dem Titel: „Vom Schnüren der Schuhe. Antonio Gramsci und wir“. Sie war ein Materialienband für die 18. Klausurtagung der SPD-Fraktion in Bassum, Spiekeroog, 8. - 10. März 2019

Antonio Gramsci, 1920

Inhaltsverzeichnis

Vorwarnung vor zermürbender Langeweile

Antonio Gramscis Leben

Die Arbeit im Gefängnis: Die Hefte

Hegemonie und Kultur

Die anderen kupfern ab - Gramsci und die Rechten

Und jetzt? Geht uns das was an?

Literatur

I. Vorwarnung vor zermürbender Langeweile

Friedrich Schiller gibt in seiner medizinischen Dissertation „Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“ (heute würde man es Psychosomatik nennen) ein Beispiel für das, was er meinte: „Die Seefahrer, die der Brot- und Wassermangel auf der ungewissen See siech und elend niedergeworfen hat, werden durch das einzige Wort: Land!, das der Steuermann vom Verdeck erspäht, halb gesund…“ (Schiller, § 13). Durch das einzige Wort also werden verschüttet geglaubte Energieleistungen abrufbar, aus dem Wort Land! entstehen ein Bild und darauf der Wunsch zur Realisierung - und damit Energie.

Was passiert, wenn vertriebene, verjagte Menschen das Wort Heimat hören? Es bilden sich schnell viele Bilder einer schönen, friedvollen Vergangenheit.

Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit! sind ähnlich wirkmächtige Wörter: Was mag sich in den Vorstellungen der geknechteten, entwürdigten, hungrigen, hoffnungsleeren Menschen abgespielt haben, die diese Parole erstmals hörten? Endlich satt zu essen zu haben wie die feisten Prälaten oder Adeligen, endlich geachtet zu werden wie die Herren und Herrinnen der Schlösser, endlich im Nächsten nicht seinen Gegner zu sehen, den es zu bestehlen gilt, weil sonst er mich bestiehlt, um am Leben zu bleiben. Nein, endlich wie es auch Schiller in der Ode an die Freude ausgedrückt hat, „ein einig Volk von Brüdern“ zu sein. Das ist ein Traum. Und da, da gibt es nun viele, sehr viele, die diesen Traum auch träumen, die diesem Traum Worte und damit Inhalte geben. Da mag schon ein Ausbruch an Freude und Energie stattfinden.

Politik heißt, aus Worten Inhalte zu formen.

Unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker ist es genau deshalb, aus unseren Ideen Worte zu bilden, die wiederum zu Bildern, zu Vorstellungen über Zukünftiges werden. In der politischen Auseinandersetzung spielt die Kunst, „Themen zu besetzen“, eine außerordentlich wichtige Rolle. Besetzen wir diese Themen, können wir dem, was unseren Grundwerten entspricht, kräftige Bilder verleihen, dann erschaffen wir diese Vorstellungskette und damit auch Unterstützung.

Deswegen ist es so sehr wichtig, in der Politik zuzuhören, aber auch genauso wichtig, miteinander reden zu können.

Überrascht hat mich deswegen die Vorstellung eines Kandidaten bei einer Vorstandswahl, er könne nicht gut reden, er wolle lieber arbeiten. Und weil er die Vorstellung dann auch mit einem maskulin-beifallträchtigen Glück auf beendete, brandete im Auditorium eine Welle trunkenen Glücks auf.

Nun, Politik ist die Arbeit mit dem Wort und der Überzeugung, Politik heißt Ideen weiter zu tragen. Was würden wir im umgekehrten Fall von einer Krankenhausleiterin halten, die einen Chirurgen einstellen soll, der bekennt, weder operieren noch verbinden zu können, er könne sich aber mit den Patientinnen und Patienten eigentlich ganz nett unterhalten? Und zur Unterstreichung des Gemeinten: Glück auf!

In der politischen Arbeit nicht sprechen zu wollen, das heißt: auch nichts über seine Ideen zu verbreiten, seine Vorstellungen preiszugeben, bedeutet eigentlich, ausschließlich stumm mit vielleicht sogar großen Augen dabei zu sein, aber nichts zu der Fortentwicklung politischen Wollens beizutragen. Es bedeutet im Kern: Den Ideen anderer hinterherzulaufen.

Oder man gibt sich mit der Rolle des stummdrohenden Kolosses am Ende des Sitzungstisches zufrieden.

Das kann nicht unsere Aufgabe und das kann nicht unser Ziel sein. Sich mit Ideen auseinanderzusetzen und sie als Zukunftsmodell mit anderen zu teilen - das bedeutet auch, darüber zu sprechen, aus Worten Bilder zu machen, verständlich zu werden darüber, was man eigentlich in der Politik will. Und es bedeutet, sich mit gewissen Grundlagen dafür zu beschäftigen.

Theorie ist nicht mehr beliebt. Es gab in den sechziger Jahren eine Zeit, da war die Beschäftigung mit Ideen und Vorstellungen auch lustbesetzt (vergl. Felsch). In der Ära des Neoliberalismus hat sich die geistige Beschäftigung mit Gedanken, die nicht der Gewinnoptimierung dienen, verflüchtigt. Gedanken, die nicht sofort einen Nutzen bringen, was sollen die denn, bitte schön?

Schade, denn was spricht gegen geistiges Wachstum?

Antonio Gramsci hat sich mit vielen Ideen beschäftigt. In diesem Beitrag aber geht es vermehrt darum: Welches Werkzeug kann ich anwenden, damit der sieche und elende Seefahrer auf der ungewissen See etwas mit dem Wort Land! anfangen kann, damit der Vertriebene und Gejagte eine Heimat bewahrt und die Kraft daraus mitnimmt, damit der geknechtete, entwürdigte, hungrige und hoffnungsleere Mensch etwas mit uns teilen kann, was eine bessere Welt verspricht: Freiheit! Gerechtigkeit! Solidarität! Deshalb dieser kurze Abriss über einen Denker und seine Ideen.

Politik ist eine lange, oft umwegreiche Strecke, auf der überall Steine, große und kleine, herumliegen. Am besten gehen wir diesen Weg mit festen Schuhen. Um sie nicht zu verlieren oder um nicht zu stolpern, brauchen wir dazu eine feste Schnürung.

Gedanken können so etwas sein.

II. Antonio Gramscis Leben

Es gibt in Deutschland 32 Erich-Mühsam-Straßen, die Falken Frankfurts haben ihr Heim nach ihm benannt. Erich Mühsam war ein Antimilitarist, Schriftsteller und in der Münchener Räterepublik aktiv. Er wurde 1934 im KZ Oranienburg ermordet.

Eigentlich saß Erich Mühsam zwischen allen Stühlen: Er galt als Anarchist im ursprünglichen Sinne, erkannte also keine Herrschaft an. Damit war er weder den Kommunisten ein Vorbild (obwohl er kurzzeitig der KPD angehörte), die strikte Unterordnung verlangten, noch der späteren westdeutschen Demokratie. Die Stadt Lübeck erhielt vor dem Buddenbrookhaus ihren ersten Stolperstein für einen ihrer Bürger, nämlich Erich Mühsam.

Gäbe es einen Zusammenhang zwischen (in diesem Fall: postumen) Ehrungen und der öffentlichen Bedeutung, so müsste Erich Mühsam heute eigentlich nicht als vergessen gelten.

Nach Antonio Gramsci sind in Italien wesentlich mehr Straßen betitelt, nämlich über 40, in Siena gibt es einen Zentralplatz Piazza Antonio Gramsci, die Hauptstraße der sizilianischen Stadt Cefalù wurde nach ihm benannt, in Rom heißt eine breite Straße nördlich des Marsfeld Via Antonio Gramsci.

Es gibt allerdings auch über 40 Städte, die Straßen und Plätze nach dem KPI-Vorsitzenden Palmiro Togliatti benannt haben1 - dem parteiinternen Gegenspieler Gramscis, von dem es heißt, er und sein Mentor Stalin hätten nie wirklich die Freiheit Gramscis gewollt.

Warum dieser zeitraubende Ausflug in nur historisch relevante Bereiche?

Es soll gezeigt werden, dass alleine Ideen, die ein Mann wie Antonio Gramsci entwickelt hat, dazu führen können, dass dieser Denker eine weit über seine aktive politische Tätigkeit hinausgehende Achtung und Ehrung erfährt. Gramsci war nur zwei Jahre, von 1924 bis 1926, Abgeordneter im italienischen Parlament, er hat dort nur eine einzige größere Rede gehalten, meistenteils hat er journalistisch gearbeitet. Er hat in Turin die Zeitschrift L’Ordine nou-vo (Die neue Ordnung oder: Der Neuaufbau) geleitet, eine von drei kommunistischen Tageszeitungen, und war später an der auch von ihm neu gegründeten L’Unità (Die Einheit) beteiligt. Und dennoch: Sein Einfluss ist wesentlich größer einzuschätzen als diese eine Parlamentsrede vermuten lässt.

Zudem gilt Gramsci als Steinbruch: In seinem Werk wird jeder irgendein Zitat für seine Arbeit finden. Deshalb ist Gramsci nicht nur für Sozialisten und Marxisten ein besonders wichtiger Autor, sondern auch zunehmend für Rechte, Rassisten und Faschisten2.

Gramsci muss also eine Position entwickelt haben, die in der Politik einen gewissen Gebrauchswert darstellt.