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Caligula gilt als der Protoptyp des wahnsinnigen Caesars. Dabei ist er ein Opfer vor allem seiner Biographen. Wer ein Leben immer an den Grenzen von völliger Macht und totaler Ohnmacht führt, kann sich nicht wie ein preußischer Normalbürger verhalten. Ohne jede Erfahrung, bisher fast nur in Gefangenschaft gehalten, wird Caligula mit 25 Jahren Kaiser des römischen Imperiums. Er musste scheitern. Der Autor fasst in diesem Essay die Spannbreite von Macht und Ohnmacht unter psychologischen und philosophischen (Weber, Arendt) Aspekten zusammen.
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Seitenzahl: 67
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Für Julia
Was mir unsere Gespräche bedeutet haben, lässt sich mit einer Widmung nicht entgelten
Die Tragödie im Leben des Gaius Caesar Augustus Germanicus, genannt Caligula, war das Fehlen einer Mitte. Er lebte Zeit seines Lebens an den Extrempunkten völliger Ohnmacht und totaler Macht. Der Übergang zwischen beiden Punkten verlief auch nicht lerneffektiv, sondern abrupt genau in den Sekunden, die die Prätorianer, die kaiserliche Leibgarde, brauchten, um die stumpfen Enden ihrer hastae auf den Boden zu klopfen oder mit ihren gladii gegen ihre Schilder zu schlagen. Hätten sie das nicht getan, wäre aller Erfahrung nach jener Tag, an dem sein Onkel Kaiser Tiberius starb, auch sein eigener Todestag geworden. Mit der Bestätigung als Imperator aber war Gaius mächtigster Mensch auf der Erde geworden und de facto niemandem gegenüber verantwortlich.
Es gibt über ihn nur gefärbte Aufzeichnungen. Die vier Historiker, auf die sich auch neuere Forschungen berufen, hatten insgesamt Berichte geschrieben, denen noch nicht einmal der Versuch einer Würdigung der Persönlichkeit Gaius unterstellt werden kann.
Josephus ben Mattitjahu (ca. 37 – 100) war Abkömmling einer jüdischen Priesterfamilie. Er beteiligte sich 66 am judäischen Aufstand gegen Rom, habe aber nach späterer Aussage erkannt, dass ein Sieg Roms Gottes Wille sei. Er prophezeite dem Feldherrn Flavius Vespasianus, römischer Kaiser zu werden, was auch eintrat (69 – 79), erhielt von ihm das römische Bürgerrecht und hieß seitdem Flavius Josephus. Sein Werk über den Jüdischen Krieg (De Bello Iudaico) gilt heute noch als Standardwerk, auch über die iulisch-claudische Zeit schrieb er nach dem altrömischen Rechtsgrundsatz audiatur et altera pars (Auch die andere Seite werde gehört).
Tacitus (ca. 55 – 120) selbst war Senator und hatte die Geschichte Roms seit Augustus Tod als annales ab excessu divi Augusti bis zum Tode Neros 68 geschrieben. Vieles aus seinem Werk, und gerade viel zu Gaius, ist zerstört worden. Klassischerweise bediente sich Tacitus der Technik des Innuendo (lat. innuere: zuwinken), des nicht direkten Aussprechens von Gerüchten und Andeutungen, trägt sie aber dennoch unverkennbar als Fakten vor.
Sueton (ca. 70 – 130) lebte auch zur Zeit Trajans und des frühen Hadrains, er war also ebenfalls kein Zeitzeuge, schöpfte jedoch aus den Quellen des kaiserlichen Sekretariats, seiner offiziellen Arbeitsstelle, aus der er 121 von Kaiser Hadrian wegen einer Hofintrige unehrenhaft entlassen wurde (er solle sich der Kaiserin Sabina zu aufdringlich genähert haben). Auch Sueton bediente sich oft mancher Gerüchte (die er mit Ausdrücken wie „man sagte“, „viele berichteten“ oder „es wurde erzählt“ begann). Seine Distanz zur Objektivität bei der Biografie Gaius illustriert dieser Satz: „Hactenus quasi de principe, reliqua ut de monstro narranda sunt.1“ (Sueton, Cal., 22,1). Dass Sueton die Verschwörungspläne im Jahr 39 gegen Gaius in seinem Buch über ihn nicht erwähnt, nur seine kontextlos als völlig verrückt erscheinenden Reaktionen gegen den Senat darauf beschreibt, passt dazu. Sueton kannte allerdings die Pläne, denn in seinen Biografien über Claudius (9, 1) und Vespasian (2, 3) erwähnt er sie. Sueton wollte also bewusst tendenziös schreiben.
Sueton und Tacitus lebten zur Zeit der „Adoptiv-oder guten Kaiser“, deren Ideologie eine Minderachtung der iulisch-claudischen und flavischen Dynastien war.
Die Quellen, die beiden Autoren zugrunde lagen, bewertet Clasen (1870) in einer ausführlichen Darstellung. Er stellt fest, dass beide wohl nicht von einander abgeschrieben haben, dass sie aber die vorhandenen Quellen von Cluvius, Fabius und besonders Plinius d.Ä. unterschiedlich bewertet haben – wobei gerade wegen des Fehlens der entsprechenden Abschnitte über Gaius in den Annalen des Tacitus nur Analogie-Schlüsse über die Kapitel besonders zu Tiberius und Claudius möglich sind.
Der letzte Historiograph war Cassius Dio (164 – 235). Er war Politiker, zweimal Konsul und schrieb eigentlich ähnlich wie Tacitus aus der Sicht eines politischen Tagesgeschäfts.
Eine Rarität findet sich in der Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, die „Historia Caii Caligulae“ von Johann Conrad Dieterich, etwa aus dem Jahr 1670. Nach nicht viel mehr als einem orientierendem Einlesen in einen im mittelalterlichen Latein geschriebenen Text ergibt sich aus meiner Sicht aus diesem Buch nicht erheblich Neues. Dieterich hat offensichtlich als Primärquelle hauptsächlich Sueton heran gezogen, ansonsten einige Beispiele aus dem Katalog der Tyrannentopik vervollkommnet.
In neuerer Zeit gab es wieder Versuche einer Beschreibung. Theodor Mommsen (1817 – 1903) hatte eine dreibändige „Römische Geschichte“ geschrieben, für die er 1902 sogar den Nobelpreis für Literatur erhielt, der abschließende vierte Band über die Kaiserzeit blieb aus, möglicherweise wurde das Manuskript bei einem Brand im Haus Mommsens mit weiteren Handschriften und etwa 40.000 Büchern zerstört. Durch Zufall fand Alexander Demandt in einem Antiquariat aber eine vollständige Mitschrift der Mommsen-Studenten Sebastian und Paul Hensel (Vater und Sohn) seiner Vorlesungen über die Kaiserzeit. Paul Hensel wurde später von 1902 bis 1928 Philosophie-Ordinarius in Erlangen. Was Mommsen in dieser Zeit seinen Studenten ins Blatt diktiert hatte, lässt auch bohrende Fragen nach seiner Sachlichkeit zum Thema aufkommen:
Mit einem gewissen Verdruss wendet man sich dem dritten Julier zu. Tiberius und Augustus waren bedeutende Männer, große Charaktere, mit denen sich der Historiker stets zu beschäftigen hat. Dieser Kaiser ist nun ein unmündiger Knabe, die pure, glatte Mittelmäßigkeit. Er war halb wahnsinnig, halb blödsinnig … Er war eine elende Domestiken-Natur … Seine stattliche Figur war früh durch Ausschweifungen verkümmert … Gaius ist die erste körperlich widerwärtige Gestalt aus dem gewaltigen Geschlecht der Julier und Claudier (Mommsen, S. 174 ff).
Der preußische Staatsbeamte hier also als Psychognostiker und zeitgleich Ästhet.
Zu fragen ist allerdings, weshalb Mommsen seine römische Kaisergeschichte nie zu Ende geschrieben hat. Demandt berichtet an zwei Stellen (2011, S. 12, und in der Einleitung zu Mommsen, 2005, S. 20) von der Lehrplankonferenz 1900 des Preußischen Unterrichtsministeriums. Der Theologe Adolf Harnack focht mit Mommsen um die Inhalte des Geschichtsunterrichts. Während Harnack die römische Kaiserzeit als wichtig betonte, schließlich sei zu dieser Zeit das Christentum entstanden. Mommsen, der sich schließlich durchsetzte, widerstand dem, indem er darauf verwies, dass gerade in der frühen Kaiserzeit Dinge passiert seien, die als jugendgefährdend einzustufen und deshalb nicht in den Unterrichtsplan aufgenommen werden durften2.
Mommsen gewann das Duell. Die Unterrichtspläne sehen bis heute keine grundlegende Änderung vor, der Ausgang der Konferenz wirkt noch 120 Jahre nach. Aber diese Distanzierung zu den als locker vielleicht ungenau beschriebenen Lebensführungen verschiedener Kaiser waren möglicherweise ein Grund, weshalb Mommsen sich nicht voller Begeisterung über das Buch über die römischen Kaiser gestürzt hatte (Näheres siehe dazu die Einführung von B. und A. Demandt zu Mommsen, 2005).
Ludwig Quidde (1858 – 1941) aus Bremen war Althistoriker, zwischenzeitlich auch in Rom tätig. 1894 erschien die erste (von über 30) Auflagen über „Caligula – Eine Studie zum Caesarenwahn“. Eigentlich ging es hierbei nur bedingt um Gaius. Der Text war eine Abrechnung mit Kaiser Wilhelm II, womit auch Quiddes wissenschaftliche Karriere beendet war. Entschädigend dafür erhielt er 1927 den Friedensnobelpreis. Quidde war nicht der erste, der über den Caesarenwahn schrieb. Dr. Fr(iedrich?) Wiedemeister veröffentlichte 1875 ein Buch „Der Caesarenwahnsinn der Julisch-Claudischen Imperatorenfamilie“, in dem er gleich im Vorwort (S. VII) „Zweifel an der Richtigkeit der traditionellen Auffassung“ vortrug. Sein Kapitel über Caligula (S. 71 – 149) liest sich wie der erste Versuch seiner Rehabilitation. Mommsen schien sich des Buches von Wiedemeister nicht bedient zu haben. Oder es nicht beachtet zu haben.
Der Bonner Psychiatrie-Professor Carl Pelmann legte 1909 sein Buch „Psychische Grenzzustände“ vor. Dort beschreibt er in einem Kapitel „Caesarenwahnsinn“ (S. 92 ff) ausführlich die geschichtliche Entwicklung des Begriffs und stellt immer wieder Gaius, dem er ein „Schwelgen in Grausamkeit und Wollust“ (S. 96) anhing, als Mittelpunkt der Anschauung für diese Form des Wahnsinns vor. Offensichtlich schöpfte Pelmann sein diesbezügliches Wissen ausschließlich aus der Lektüre Suetons.
Caligula eignete sich hervorragend als Vorbild für Klischees. So steuerte Gore Vidal 1979 das Drehbuch zu einem fulminant historisch schlechten, alle Vorurteile über Orgien und Ausschweifungen befriedigenden, einem klassischen „Bum Peng Blut und Sex-Film“ namens Caligula bei (finanziert vom Playboy-Konkurrenten „Penthouse“)3. Und das, obwohl Vidal 1964 einen historisch sauberen Roman über Kaiser Iulian geschrieben hatte. Es geht bei diesem Film (er ist immer noch mit einem Jugendschutzvermerk und um die 21 Minuten verlängert, die bei der Kinoversion herausgeschnitten waren, erhältlich) ausschließlich um Sex- und Gewaltdarstellungen in einem historischen Kostüm. Mit Kaiser Gaius hat dieser cineastische Fauxpas nun wirklich nichts zu tun.
Gaius war häufig Thema künstlerischer Auseinandersetzung. Albert Camus