Venedig - Christoph Lanzendörfer - E-Book

Venedig E-Book

Christoph Lanzendörfer

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Beschreibung

Venedig ist gilt einerseits als die Stadt des Massentourismus - vergiftet durch die schiere Menge der sich durch die Gassen schiebenden Massen. Andererseits ist Venedig durch seine Geschichte die Stadt der Freiheit und die Stadt des Wir-Gefühls: Fundamente in eine Gegend ohne Fundamente zu legen geht nur im Gemeinsinn. Freiheit ist der philosophische Grundgedanke Venedigs, der in diesem Essay besprochen wird - neben einer höchst subjektiven Erzählung der Geschichte Venedigs.

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„Sire, nun habe ich von allen Städten gesprochen, die ich kenne.“ „Da ist noch eine, von der du nie sprichst.“ Marco Polo senkte den Kopf. „Venedig“, sagte der Khan. Marco lächelte. „Wovon dachtest du denn, dass ich dir gesprochen hätte?“ Der Kaiser zuckte nicht mit der Wimper. „Doch hörte ich dich nie den Namen aussprechen.“ Und Polo: „Jedesmal, wenn ich dir eine Stadt beschreibe, sage ich etwas über Venedig.“Italo Calvino: Die unsichtbaren Städte (1984, S. 100)

Der Anfang Venedigs liegt weit entfernt vom Standort. Im Gefolge dessen, was die Völkerwanderung genannt wird (Meier, 2020, spricht in seinem monumentalen Werk immer nur von „Völkerwanderung“), bildete sich später in der Lagune der nördlichen Adria ein Gemeinwesen mit festen sozialen und ethischen Werten heraus. Die Geschichte der Stadt, ihre politische Ausrichtung, die sich auf den Gründungsmythos bezieht, auch ihre Entwicklung von der frühen Handels- über eine Kunst- in der spät- und nachrepublikanischen Zeit bis zur aktuellen Touristikmetropole, aber natürlich ganz besonders ihre Lage und die Art des Lebens dort sind fast beispiellos. Fundamente in eine Gegend ohne Fundamente, nämlich eigentlich ins Wasser, zu legen, muss überaus tollkühn erscheinen. Dennoch hat sich die Stadt erstaunlich lange gehalten: Nach der mythisch belegten Stadtgründung am verregneten (das wird immer betont) 25. März 421 durch die Grundsteinlegung der Kirche San Giaccomo auf dem jetzigen Rialto-Markt kam es zur Wahl des ersten Dogen 697. Zwischen dieser Wahl und der Abdankung des letzten Dogen 1797 liegen genau 1.100 Jahre. Kaum ein europäisches Zentrum hat sich über eine so lange Zeit dermaßen stabil gehalten.

Abb. 1, San Giaccomo mit der großen Uhr heute

Das hat seinen Grund in einer einzigartigen Konstellation der rechtlichen und wirtschaftlichen Besonderheiten. Und natürlich auch in seiner Lage quasi als Insel. Vor einem geschichtlichen Rückblick versuchen wir die geographischen Besonderheiten Venedigs anzureißen.

*

Venedig ist doppelt angelegt: Einmal als Straßennetz, zum anderen als Netz von Kanälen. Sie haben miteinander nichts zu tun, existieren im Prinzip neben einander. An diesen unterschiedlichen Netzen lässt sich erkennen, dass Venedig nicht, wie manche meinen, im Wasser gebaut und auf Pfähle gesetzt wurde: Venedig besteht aus über 100 Inseln. Fliegt man vom Flughafen Marco Polo nach Hause Richtung Alpen, so kann man beim Anstieg rechts unter sich eine Ahnung davon bekommen, wie Venedig vor tausendsechshundert Jahren ausgesehen haben mag: Kleine Landflächen inmitten eines Gewebes kleiner, wuseliger Kanäle. Diese Inseln waren die ersten besiedelten Flächen, vergleichbar vielleicht den Marschinseln der Nordsee, den Halligen. Erweitert wurden die Inseln später durch vorgesetzte Pfähle, der Raum zwischen dem natürlichen Ufer und der Pfahlmauer wurde mit Schlamm und Erde aufgeschüttet. Größere Bauten lagerten dann komplett auf in die Erde gerammten Pfählen, die aufgrund des Luftabschlusses nicht faulen konnten. Mancuso (2009, Abb. 13, nach S. 62) illustriert dies mit Abbildungen aus dem 19. Jahrhundert.

Die Verschiedenartigkeit der Wege und den Ursprung der Stadt auf kleinen, von einander unabhängigen Inseln bemerkt heute jeder Tourist an den Folgen ungenügender Vorbereitung mit der Geschichte der Stadt: Oft steigt man über eine Brücke auf eine andere Insel, der vorhin begonnene Weg wird aber umgeleitet und biegt scharf in eine andere Richtung oder aber der Weg endet gleich als Sackgasse direkt vor einem kleinen Kanal: Die gegenüber dem Kanal liegende Insel brauchte den Weg gar nicht. Gehen wir an der Rückseite des Biennale-Geländes in Castello Richtung Sant’Elena, so müssen wir eine Treppe mit sechs Stufen auf eine Brücke gehen - um dann auf der anderen Seite direkt ohne weitere Stufen einfach geradeaus weiterzugehen. So gravierend kann schon der Höhenunterschied zwischen den einzelnen Inseln sein.

Abb. 2. Vorsicht: Hier endet ein Weg in einem Kanal

Abb. 3 Brücke nach Sant’Elena: Von rechts gehts es 6 Stufen hoch, links geht es geradeaus weiter.

Jeder Weg in Venedig ist einmalig und damit persönlich. Das ist wörtlich zu nehmen: Auch wer glaubt, sich gut auszukennen im „Venedig als Labyrinth“ (Bianchi, 2018), schafft es kaum, einen eingeschlagenen Weg genau noch einmal zu gehen. Ich jedenfalls schaffe es nicht.

Eben Aglaia Bianchi führt in ihrem Buch (S. 237) ein Interview mit der Dichterin (und 2014 Venedig-Stipendiatin des Kulturstaatssekretärs) Eva Christina Zeller, die bemerkt: „Ich würde gerne wissen, ob ein Mensch, der in Venedig aufgewachsen ist, eine andere Gehirnstruktur aufweist und wie er sich innerlich und äußerlich orientiert.“

Denn es herrscht noch ein Problem: Die Hausnummerierung. Wie in manchen kleineren Dörfern sind die Hausnummern nach dem Baujahr des Hauses gewählt. Zudem gibt es (bis auf den Stadtteil Sant’Elena in Castello) keine postalisch zuzuordnenden Straßenbezeichnungen, die der Orientierung dienlich wären. Alle Häuser tragen den Namen ihres Stadtteils und sind dann nach einem undurchsichtigen Verfahren durchgezählt. So suchen wir eine Adresse „San Marco 3745“ und glauben uns in der Nähe des Ziels, wenn wir über einem Türbogen die Zahl 3743 sehen. Das Ziel kann aber weit entfernt sein. Man sagt, dies sei auch der Grund der durchweg niedrigeren Lebenserwartung venezianischer Postzusteller gegenüber ihren Kollegen im übrigen Italien.

Nur in Sant‘Elena gibt es Straßenbezeichnungen mit Hausnummern. Das hängt damit zusammen, dass diese Gegend erst nach 1806, im Gefolge der napoleonischen Maßnahmen, drainiert und bebaut wurde. Vorher war das Gebiet eher morastig. Beliebter Nebenaspekt venezianischer Politik: Bis ebenfalls 1806 war auch die Hauptkirche Venedigs San Pietro in Castello ganz am anderen Ende Venedigs (heute in der Nähe des „Stadio Pierliugi Penzo“ des FC Venedig), der Markus-Dom war die „Privat-Kapelle“ des Dogen. So war der Patriarch weit entfernt von der politischen Macht und hätte durch Matsch und Schlamm zum Dogen waten müssen. Denn auch wenn Venedig sehr katholisch war: Zu viel reinreden sollte die Kirche nun auch nicht. Man sieht es daran, dass die von den Päpsten vehement geforderten Inquisitionsgerichte in Venedig erst gar nicht und später mit heftiger staatlicher Einmischung eingerichtet wurden. Oder daran, dass der Klerus ab 1178 komplett von der Macht und sogar den Teilnahmen an den Wahlen zum Dogen ausgeschlossen war. Ganz getreu der alten venezianischen Maxime: Prima Veneziani, poi Cristiani! (Zuerst Venezianer, dann Christen). Erst 1807 wurde der Markus-Dom Sitz des Patriarchen, seine Residenz liegt jetzt gleich daneben auf der Piazzetta dei Leoni. Damit entfiel auch das durchaus lästige Treffen am „weißen Stein“: Aus Gründen des Schutzes vor Gesichtsverlust trafen sich Doge und Patriarch weder in den Räumen des Dogen-Palastes noch in denen der Kirche, sondern auf einem Weg ein Stück vor San Pietro an einem Platz, der mit einem weißen Stein markiert war (einen Nachfolger dieses Steins gibt es heute noch). Zudem hatte Venedig noch von Byzanz das Recht zugesprochen bekommen, Priester selbst zu ernennen und zu weihen - dieses Recht wurde erst 1985 aufgelöst (Scandaletti, 2015, S. 130). Dennoch waren viele venezianische Patriarchen Päpste, zuletzt Giuseppe Roncalli als Papst Johannes XXIII und Albino Luciani als Johannes Paul I. Letzterer hatte in Venedig die korrupten Machenschaften der Vatikanbank aufgedeckt und ließ ab dann die Konten des Bistums über die kleine Lokalbank Banco San Marco laufen (die allerdings auch 1995 aufgegangen ist in der Banca Popolare di Milano - übrigens kein Tippfehler: Banca und Banco existieren nebeneinander als Bezeichnung für Bank). Heute noch findet man immer frische Blumen unter den Tafeln dieser beiden Päpste am Sitz des Patriarchats (s.a. Galavotti et al., 2012). Möglicherweise, so diskutieren es jedenfalls Yallop (1984) und Cornwell (1989), starb Johannes Paul I nach 33 Tagen Pontifikat keines natürlichen Todes, sondern dieser gradlinige Mann wurde von den Mafiosi um die später aufgelöste Vatikan-Bank umgebracht.

Wege und Kanäle haben in Venedig ihre eigenen Namen. Es gibt eine einzige Straße, die Strada nova vom Bahnhof in Richtung Rialto-Markt, die erst nach dem Bau des Bahnhofs relativ brutal durch Abreißen im Weg stehender Häuser angelegt wurde (wie ja auch der Bahnhof auf den Fundamenten der Kirche Santa Lucia ankert, deswegen die pietätvolle Bahnhofsbezeichnung Venezia SL. Lucia ruht nun in San Geremia an der Abbiegung des Canal grande zum Canal di Canneregio), und wenige vie. Andere Wege heißen in Venedig calle, ein nur für Venedig vorbehaltenes Wort für Straßen oder Gassen (Im „Großwörterbuch“ von Giacoma/Kolb steht als Bezeichnung für calle: vicolo di Venezia). Es gibt nur zwei Kanäle in Venedig, die auch diese Bezeichnung tragen: den Canal grande und als zweitgrößten den Canal di Cannaregio (der Canal di Giudecca ist gar kein Kanal, sondern Teil der Lagune), die anderen Wasserwege heißen rio, Pl. rii. Etliche dieser Wasserwege wurden aus verschiedenen Gründen zugeschüttet und zu Straßen ausgebaut, die rii terrà. Mancuso (2009, S. 20) nennt als eine der Begründungen hygienische Maßnahmen: „di migliorare le condizioni igieniche della città“ („um die städtische Hygiene zu verbessern“). Oft wurden, erstmals in der Stadt, in dem dann neu gewonnenen Weg Bäume gepflanzt, so z.B. an der Via Garibaldi (in Castello, wo ein Teil des Rio di Sant’Ana zugeschüttet wurde) und ganz besonders der Rio terrà Foscarini quer über den Stadtteil Dursoduro zwischen der langen Promenade Zattere bis zum Canal grande neben der Accademia-Brücke. Die Bäume sind so charakteristisch, dass sich ein Hotel (mit einem richtig guten Restaurant) dort Agli alboretti nennt („Zu den Bäumchen“). Ein neuer Fluss wurde durch Umbaumaßnahmen auch gewonnen, der Rio novo, der dem Canal grande entspringt, in einem Knick umfährt und etwa auf der Höhe des Busbahnhofs an der Piazzale Roma am Giardino Papadopoli wieder in den Canal grande mündet. Er ist das flusstechnische Gegenstück zur Strada nova und sollte den Verkehr mit dem neugegründeten Bahnhof bündeln.

Da der Platz in einer Weise begrenzt war, die einfaches Neugewinnen nicht möglich machte, musste sorgfältig mit dem Vorhandenen umgegangen werden. Zudem waren die z.T. gigantischen Palazzi auch von einem immensen Gewicht, das berücksichtigt werden musste. So weisen die Palazzi auf der Eingangsseite, also meist den Kanälen zugekehrt, eine auffallend repräsentative Fassade auf, während die Rückseiten in der Regel aus einer schlichten Mauer bestanden. Die Kultur großer Fenster fand in Venedig auch aus diesen Gewichtsgründen schnell Anhänger. Allerdings stelle ich mir vor, wie ich bibbernd an einer klirrekalten Winternacht etwa 1570 hinter solchen Fenstern gehockt haben mag. Natürlich gab es auch Veränderungen in der Innengestaltung. Wir sehen an vielen Campi die Entwicklung im Laufe der Zeit. Der Campo Santo Stefano zum Beispiel ist einer der merkwürdig geformten Campi: Lang gestreckt mit je einer Kirche an den Enden. Die Lage und die Ausgestaltung des Platzes lässt daran denken, dass es sich früher um zwei Plätze gehandelt haben musste (vergl. Huse, 2008). Santo Vitale (ven.: San Vidal) war eine Kirche mit Ursprüngen um 1084 mit einem Vorplatz hin zum Canal grande. Auf der anderen Seite war die Kirche Santo Stefano eine mittelalterliche Gründung, bewusst als Strategie aufgefasst, auch (damalige) Randgebiete zu besiedeln. Früher war der Vorplatz der Kirche der eigentliche Campo S. Stefano. Dann baute die Familie Loredan zwischen beide Kirchen einen Palast, der zwar die Rückseite zu einem kleinen Kanal aufwies, die Prunkseite aber auf den Campo zeigte. Was vielleicht etwas weniger auffällig war: Ursprünglich gab es auf der heutigen Eingangsseite gar keinen Eingang, der lag nach hinten hinaus zum Kanal. Die aktuelle Version des Palazzo zeigt mittlerweile einen architektonischen Missgriff: Die Loggia ähnliche Fensterfront wurde bis auf einen Eingang peinlich schlicht fest vermauert. Auf diese Weise bildet dieser Palazzo eine Klammer zwischen „beiden“ Campi.

Abb. 4, Palazzo Loredan auf dem Campo S. Stefano. Der neue, architektonisch völlig missratene Eingang befindet sich unter der Fenstergalerie linke Seite.

Ähnliche Veränderungen gibt es an vielen Plätzen (z.B. Campo Santa Margherita), so dass die eigentlich natürlich bedingte Raumenge Venedigs doch immer wieder aufgebrochen worden war. Venedig konnte nicht durch schlichte Erweiterung des Gebiets wachsen, sondern durch ein enges Zusammenrücken.

Es gibt nur eine Piazza in Venedig: Die Piazza di San Marco, zwei Piazzette neben der Piazza, aber eine Vielzahl kleinerer Plätze, die Campi. Campo („Feld“) muss man sich wörtlich vorstellen: Es war zu Beginn ein begrünter Platz, auf dem Tiere gehalten und die zum Anbau von Gemüse genutzt wurden. Die steinern ausgelegten Campi wurden erst mit dem Verdrängen von Holz durch Stein als Baumaterial üblich. Das

Abb. 5 Ein Sottoportego

Leben selbst fand dann meist in den Innenhöfen der Gebäude, den corti, statt. Abkürzungen zwischen Campi sind die Sottoporteghi, Unterführungen unter dem ersten Stock eines Wohnhauses hindurch. Vorsicht: Man muss schon den Kopf einziehen, sie sind oft beulenschenkend und ungleichmäßig niedrig (ich weiß, wovon ich mit 1,92 m Größe rede).

Wichtig ist für das Überleben in einer von Salzwasser umgebenen Stadt die Versorgung mit Trinkwasser.