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Dr. Christoph Lanzendörfer, erfahrener ehrenamtlicher Kommunalpolitiker, im Beruf Internist und Psychotherapeut mit einer gesundheitsökonomischen Ausbildung. Die zwei Seiten der Politik: Sachlichkeit und Emotionalität. Nach einer Welle von Desolidarisierung im Rahmen des Neoliberalismus schwappt nun eine Welle einer Resolidarisierung durch Europa, die aber Solidarität nur für einen bestimmten Kreis möchte. Neoliberalismus und Rechtspopulismus sind Zwillingskinder einer werteverarmten Gesellschaft, die das Ich oder eine diffuse Nation erhöht. In diesem Buch nimmt Christoph Lanzendörfer die beiden Anteile auseinander und stellt sie in einen inneren Zusammenhang: Politik ohne Sachlichkeit und Emotion kann es nicht geben.
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Seitenzahl: 181
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Jede Gruppe, mit welchem Ziel auch immer, braucht ein Herz und eine Seele, jemanden mit viel Wissen, mit viel Einfühlungsvermögen und viel Verständnis, ganz besonders aber mit klaren Positionen. In unserer Fraktion und in unserem SPD-Ortsverein ist das
Luzia Moldenhauer, MdL
Deswegen ist dieser Beitrag ihr gewidmet.
Am 10. Mai 2017 erschien im Weser-Kurier eine Karikatur von Klaus Stuttmann, in der sich zwei Menschen an einem Strand stehend unterhielten.
„Wieder über 200 Menschen ertrunken! Stell dir vor, die wären bei einem Terroranschlag gestorben!“
„Das wäre ja schrecklich!!“
Genau diese Ambivalenz kennzeichnet unsere aktuelle politische Diskussion: Hunderte, ja Tausende von Toten, die auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung oder schlicht in der Hoffnung auf ein besseres Leben ohne Hunger und Krieg sterben, sind uns nicht so nah wie unsere Furcht vor Anschlägen hier. Die eigene Betroffenheit ist, natürlich, stärker als das Mitgefühl für eine diffuse Masse von Fremden. Bekommt der Horror aber ein Gesicht, wie das des kleinen syrischen Jungen Ailan, der im September 2015 tot an die türkische Küste gespült wurde, ändert sich vielleicht für einen Moment unsere Haltung.
Menschlichkeit ist jedoch nicht teilbar. Um jeden Menschen, der Opfer von Gewalt und Verbrechen wird, müssen wir uns bemühen. Das ist die emotionale Seite von Politik. Die rationale, sachliche Seite muss sich um die Umsetzung des für richtig Befundenen kümmern.
Die neue Auflage wurde schnell notwendig, um einerseits kleinere Fehler auszubügeln, andererseits haben sich in der Diskussion mit Freunden doch einige neue Ideen ergeben. Für sprachliche Holperigkeiten übernehme ich nach Ex. 4, 101 die Verantwortung. Und für Fehler gilt Hiob 6, 242.
Bassum, Juni 2017
1Ich bin von jeher nicht beredt gewesen, auch jetzt nicht, seitdem du mit deinem Knecht redest; denn ich habe eine schwere Zunge und eine schwere Sprache.
2Belehret mich, so will ich schweigen, und worin ich geirrt habe, darin unterweiset mich.
Wir brauchen es uns gar nicht mehr vorzustellen, es ist bereits passiert.
Einer, der Präsident aller werden wollte, beleidigte, polemisierte, log, zeterte, tat alles, um die Nation zu polarisieren, er spielte auf der schlimmsten Klaviatur von Hetze, Hass und Gezänk. Die britische Zeitung Guardian hat eine Auflistung seiner falschen und erlogenen Aussagen gemacht: Es ist erschreckend, was sich dort alles findet.
Ohne überheblich sein zu müssen: In seinem Wahlkampf gab es keine sachlichen, sondern nur emotionalisierende Momente.
Und nun ist er Präsident der USA geworden.
Auch wenn die Justiz und einige seiner besonnenen Parteifreunde einiges gebremst haben: Diejenigen, die ihn unterstützt haben, werden das nicht mit Gleichmut quittieren.
Die Zuspitzung in den USA, die Abstimmung zum Brexit oder auch die über eine Verwaltungsreform in Italien haben gezeigt, dass Politik dort an ihre Grenzen stößt, wo es Gruppen gibt, die sich von den Grundregeln politischer Diskussion nicht einschränken lassen: Sachliche Themen durchaus auch emotional und mit innerem Antrieb vorzutragen, aber nicht Unsachlichkeit und bewusste Lügen zum Selbstzweck zu erheben. Die französischen Faschisten, die niederländischen Islamfeinde, die deutschen Fremdenhasser oder auch die norditalienischen Separatisten jubeln dem neuen Idol in den USA zu. Und das lässt für die nächste Zeit nichts Gutes erahnen.
Es ist übrigens auch nicht ausschließliches Vorrecht der Rechten, dummes Zeug zu pöbeln. Nach der geistigen Kohabitation zwischen Sarah Wagenknecht und Frauke Petry haben wir nun dazu noch ein neues europäisches Dreamteam: Die Front-National-Führerin Marine Le Pen und der Linken-Chef Bernd Riexinger bejubeln gemeinsam und fast wortgleich das Ergebnis der Volksabstimmung, das italienische Parlament auf ein Einkammerparlament mit einem Senat als hauptsächliche Regionsrepräsentanz zu verändern, Riexinger sah in dieser Verfassungsreform tatsächlich ein „neoliberales Programm“. Ach ja, der Arme3.
Deswegen ist es so wichtig, auch hinter die Dinge zu schauen. Generationen von Menschen sahen im 5. Gebot der Bibel (nach Thora-Zählung 6. Gebot) Du sollst nicht töten ein pazifistisches Gebot, ein Verbot von Abtreibungen, Töten im Krieg, von Opferschlachtungen und anderem mehr. Dabei - es steht gar nicht in der Bibel, zumindest nicht in der hebräischen Urfassung. Dort ist von „razah“ die Sprache, ein Wort, das eher „außerhalb des Gesetzes töten“ heißt oder eben wie Martin Buber ([18] S. 206) dieses Gebot übersetzt: „morde nicht“. Ganz ausdrücklich ist damit eben nicht kriegerisches Töten verboten. Und dennoch haben tausende junge Männer mit der Berufung hierauf ihren Dienst mit der Waffe bei der Bundeswehr verweigert. Und sich die katholische Kirche jeder Reform eines Abtreibungsgesetzes und sogar der Kondomnutzung widersetzt.
Politisches Denken ist nicht mehr modern. Dinge auf Grundsätze zu überprüfen, sie mit anderen abzuwägen geht gefühlt unter im Gepolter einer völlig emotionalisierten Diskussion.
Und dann: Gruppierungen wie „Ausländerfreies Deutschland“ (AfD) beweisen doch, dass man zumindest anfangs ohne jedes Programm und ausschließlich mit populistischen Parolen weit kommt.
Wozu muss ich überhaupt denken, wenn ich mich entweder unhinterfragt oder gar „sachlich“ einer Frage nähern kann? Sachlichkeit steht innerhalb der Politik außer Frage: Sachlichkeit ist neutral und begründet deswegen eine höchstmöglich objektive Entscheidung. Alles andere ist ideologisch und zu verwerfen. Sachlich zu sein klingt modern. Aber: Was ist sachlich? Ist es nicht auch durch irgendwelche Ideen begründet?
Wer bestimmt, was sachlich ist? Und wodurch lässt sich diese Sachlichkeit kennzeichnen?
Wer in der Politik, sei es in einem Gemeinderat, einem Kreis-, Land-, dem Bundestag oder dem Europaparlament, tätig ist, hat auch mit Vorurteilen zu kämpfen: Die oder der mache es doch nur für sich selbst, denke immer an abzuzockendes Geld und habe die Sorgen „des Bürgers“ überhaupt nicht mehr auf dem Schirm, ja, in Leserbriefen wird behauptet, „die“ Politik missachte den erklärten Willen „des“ Bürgers. Wer was wann wo und wodurch erklärt haben soll, braucht nicht bewiesen zu werden, die Behauptung alleine reicht heutzutage als Beleg. Dennoch sitzen zehntausende von Bürgerinnen und Bürgern in eben diesen Parlamenten und beschäftigen sich mit Politik. Noch -zigmal mehr aber sind in Parteien oder parteiähnlichen Verbänden engagiert. Lohnend ist das nicht: Je nach Hingabe an die Aufgabe einmal monatlich bis zu mehrmals wöchentlich für diese Aufgabe unterwegs zu sein, Plakate zu kleben, im Regen an Infoständen zu stehen oder beim Verteilen von Infomaterial von Haustür zu Haustür zu gehen und sehr oft dabei auch noch angepöbelt zu werden - und für all das auch noch Geld („Beiträge“) zahlen zu müssen: Was zur Hölle reitet solche Menschen?
Das alles geht nur, wenn hinter diesem Engagement eine Idee steht. Eine Idee, was gut für unsere Gesellschaft ist und welche Werte ich mit meinem Engagement vertreten möchte. Diese Idee muss in der Summe mehr und größer sein als meine Leidensfähigkeit für die Sache, denn sonst würde ich Wahlniederlagen oder Abstimmungsverluste nicht ertragen (es sei denn, und natürlich gibt es auch das, ich plane mein Engagement kühl für eine Karriere in einem gut bezahlten Gremium).
Politische Ideen gibt es seit es Politik gibt. Letztlich war die Idee der Ma‘at im Alten Ägypten schon eine politische Idee: Es ist die wahrscheinlich erste kodierte staatliche Form eines menschlichen Zusammenlebens. Die Ma’at beschreibt eine Form des Zusammenlebens in staatlichen Institutionen. Sie befreit den Schwachen vor der Willkür des Starken [3]. Den Beginn der Politik setzen wir jedoch im Allgemeinen mit der griechischen Demokratie um etwa 500 v.u.Z. fest. Die griechischen Stadtstaaten hatten eine Verfassung, die den demos, das Volk, regieren, grch. kratein, hieß, also die Demokratie. Dies geschah durch direkte Teilnahme an den Volksversammlungen. „Volk“ darf allerdings nicht nach heutigen Kriterien definiert werden: Es ging nur um wenigstens ein Minimum besitzende Männer, weder Frauen noch Sklaven wurden beteiligt, man kann annehmen, dass z.B. maximal ein 1/5 der zur Blütezeit 300.000 Menschen umfassend Einwohnerschaft Attikas „das Volk“ war [79]. Unabhängig davon: Das geschah in der Stadt, der polis, ein Bürger war also immer gleichzeitig Politiker. Interessant also. Noch interessanter: Wer abseits und nur für sich selbst, griech. idios, stand, sich nicht beteiligte und von der Allgemeinheit absonderte, war ein Abseitssteher oder idiota. Wer sich also nicht zu den Politikern zählen mochte, war ein Idiot.
Das würden die meisten heute im Allgemeinen derart krass eher wohl nicht mehr so sehen.
Ich möchte mich jedoch hier der Neigung zur political correctness entziehen und bekenne ganz trotzig: Doch, doch, ganz genau so ist es! Die alten Griechen hatten schon die richtige und auch heute noch gültige Einteilung. Wer sich überhaupt nicht an der Entwicklung der Gesellschaft beteiligt, und sei es nur durch das Mindestmaß an der Beteiligung von Wahlen, steht so dermaßen abseits, dass ihm offensichtlich auch die Entwicklung allgemeiner Lebensbedingungen völlig egal ist. Der ist im klassischen Sinn der typische idiota. Natürlich gibt es dann die Meckerer, die immer alles besser wissen und natürlich auch für alles die richtige Lösung parat haben, meist Einfachlösungen für überaus komplexe Probleme. Natürlich sehen wir diese idealen Weltverbesserer und Patentlöser, die vor ihrem PC sitzend die anderen „draußen“ mit Hasstiraden überziehen und die gesamte Welt ohne jede Diskussion mit anderen erklären, verbessern und natürlich auch retten können. Diese Leute müssen uns an Pathologen erinnern: Die können auch alles erklären und sagen, wie es richtig gemacht worden wäre - aber leider zu spät.
Diese Schrift soll also ein doppeltes Plädoyer sein: Zum einen möchte ich wenigstens versuchen, Interesse und dadurch wieder zumindest etwas Lust daran zu wecken, sich mit politischen Ideen und damit der Gestaltung des eigenen und des Lebensraums zukünftiger Generationen zu beschäftigen. Zum anderen möchte ich aber auch einen Beitrag zur Diskussion unter den Linken leisten. Meine politische Ideenwelt kreist um den Pol, den wir links zu nennen gewohnt sind. Dieser Pol wird mit den Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität beschrieben. Nun hat die linke Idee durch schlimmste Entwicklungen, die in ihrem Namen geschehen sind, erheblich an Faszination verloren. Und zudem ist die Situation heute nicht mehr so, wie sie bei der Entwicklung dieser Idee war. Deswegen muss die linke Idee neue Begründungen liefern und sich der Entwicklung stellen.
Beides möchte ich versuchen.
Es ist einfacher, bestimmte Ablagen zu haben. Deswegen hätte ich gerne eine Eingruppierung dieses Beitrags gefunden. Wohin gehört er: zu Ideologie, Philosophie oder Theorie?
Ideologie
ist mir von der Wortbedeutung her am liebsten: eigenes Denken, so heißt es wörtlich übersetzt. Aber Ideologie hat aus der Geschichte etwas Einengendes und Endgültiges, gerade dann, wenn sie zum erkennenden Gedankenweg einer Gruppe wird.
Philosophie
klingt akademisch und beschwört schwer verständliche Gedankengebäude herauf, die kaum zu erklimmen sind. Philosophie klingt den meisten sehr fern. Obwohl wir doch auch vel politisch philosophieren: Am Tisch beim Italiener mit Wein und Brot oder zu Hause beim Wälzen eines Problems. Damit sind wir schon „Freunde der Weisheit“,
Theorie
hingegen macht das entspannte Gefühl des noch nicht ganz Fertigen und des weiter Auszubauenden. Theorie ist nie beendet. Sie ist auch nicht nur einer Disziplin zuzuordnen. Zur politischen Theorie gehören Kenntnisse aus Philosophie, Ökonomie, Soziologie, Psychologie, Biologie, Literatur, Religion, Geschichte und natürlich Politik. Unter anderem.
Ich möchte meinen Beitrag also als einen zur politischen Theorie verstanden wissen.
Und ich möchte versuchen zu zeigen, dass Leidenschaft und Sachlichkeit in der Politik keine Gegensätze sind. Ganz im Gegenteil: Ohne das Brennen für eine Idee stottert der Motor, ohne sachliches Abwägen neuer Herausforderungen knirscht das Getriebe. Mit beiden Sichtweisen möchte ich für eine erneuerte linke Politik streiten. Sachlich. Und emotional.
Logisch!
3 Es ist ein lange bekanntes Phänomen, dass ein Nein bei Volksabstimmungen viel leichter zu organisieren ist als eine Zustimmung. In Italien saßen auf der Nein-Front u.a. die Lega Nord (deren Frontmann Matteo Salvini sich gerne mit Trump, Putin und Faschisten wie Marine Le Pen zeigt), Silvio Berlusconi und der Berufsclown Beppe Grillo, in Deutschland bejubeln AfD und Linke gemeinsam die Abstimmung über eine Wahlrechtsreform. Und um ein Warum geht es schon lange nicht mehr. Beppe Grillos „antielitäre“ Begründung zum Nein: „Ich wiederhole, dass es ein Zepter des NEIN ist. Das NEIN ist eine neue Form von reiner Politik. Das NEIN ist der höchste Ausdruck. Das NEIN musst Du in Dir suchen nicht nur auf dem Wahlschein.“ Ziemlich surrealistisch.
Einführung: Unser Bild vom Menschen
Neoliberalismus und Kritik daran
2.1. Ökonomisches Denken
2.2. Auswirkungen
Emotionalität in der Politik
3.1. Antrieb
3.2. Instrument
Themen des Handelns
4.1. Anerkennung
4.2. Partizipation
4.3. Verteilung
4.4. Patriotismus und Heimat
Zusammenfassung
Literatur
Die Kernfrage politischen Tuns ist: Wofür und für wen tue ich etwas?
Seit der Mensch denkt, macht er sich Gedanken über sich. So dürfen wir jedenfalls annehmen, wenn wir Felszeichnungen in Höhlen oder auf bestimmten Flächen wie in Westschweden oder Norditalien sehen. Und seit es Menschen gibt, ändern sich die Vorstellungen darüber, was wir eigentlich sind. Im wahrscheinlich ersten Buch der Menschheit, dem Gilgamesch-Epos [44], wird der Mensch als sterbliches, aber im Grunde durch Wiederauferstehung ewig lebendes Wesen geschildert. In der zwölften und letzten Tafel des in Keilschrift niedergelegten Werks besucht Gilgamesch sogar die Totenwelt, um seinen Freund Enkidu zurückzuholen. Dieses Thema kennzeichnet viele Kulte und Glaubensrichtungen bis zum Christentum und Islam. Karl-Heinz Ohlig [93] schildert in seinem Buch über „Religion in der Geschichte der Menschheit“ genau diese Frage: Was wird aus mir? als den Kern der Religiosität.
Und in der Folge daraus ergibt sich zwangsläufig die Frage nach dem Menschsein als Lebe- und Sozialwesen: Was sind wir?
Wenn wir Wissenschaft verstehen als Definition eines Gegenstandes, dieser Definition folgend entsprechende Untersuchungsmethoden entwickeln, um Grundbegriffe oder Elemente des Gegenstands genauer zu erforschen, haben wir es mit der Persönlichkeitsforschung um eine im Grunde noch gar nicht abgeschlossene Wissenschaft zu tun. Zwar passen alle dargestellten Bedingungen, sie sind in vielen Dingen aber so weit auseinander liegend, dass wir zumindest nicht von einer Einheitlichkeit auf diesem Gebiet sprechen können. Wir haben es hierbei ganz sicher nicht mit einer mathematisch nachweisbaren Größe zu tun, sondern befinden uns auf dem Boden von Philosophie oder manchmal auch nur Spekulation. Und es gibt natürlich rechte und linke Bilder vom Menschen: Betonen wir den Menschen als wettbewerbsorientiertes Einzelwesen oder sehen wir ihn in einem solidarischen Verbund anderer Menschen? Sind wir Baum oder Wald? Je nach unserer Sichtweise definieren wir das Menschsein als aus dem Individuum stammend und nur mittels Rechte durch dieses Individuum bestimmt oder als Gruppenwesen in einer sozialen Verbundenheit. Es gibt keinen wirklich schlüssigen Beweis für die Richtigkeit der einen oder anderen These, im Prinzip hängen wir hier Vermutungen oder Ansichten an. Wir können aus der Geschichte der Menschheit nur erkennen, dass wir nicht als Einzelkämpfer groß geworden sind, sondern unsere Entwicklung in einem Verbund mit anderen erreicht haben: Wir sind nicht der allein lebende Steppenwolf, sondern Teil eines Wolfsrudels. Aber die Frage nach der Notwendigkeit dieses Verbunds müssen wir uns auch stellen: Ist der Mensch ein soziales Wesen, weil er ein soziales Gen in sich trägt, oder ist er das, weil ihn das als Individuum weiter bringt? Ist also ein soziales Gen nur das Werkzeug für Egoismus? Diese Frage wird nicht zu beantworten sein.
Sandwespen gehören zur solitären Art von Wespen, sind also Einzelgänger unter der sonst staatenbildenden Familie, sie legen Eier und versorgen die Larven mit Beutetieren auch selbst. Jäger, die es auf die Larven der Wespen angelegt haben, werden durch verschiedene Blindausgänge der Nistanlage getäuscht. Natürlich lernen aber auch die Jäger, verstecken sich hinter dem Ausgang, aus dem die Wespe gerde ausfliegt, und plündern das Gelege, indem sie diesen Gang nehmen. Eine andere Bodenwespenart hat sich zu kleinen Verbänden zusammengeschlossen: Während eine oder zwei Wespen zum Einholen von Nahrung wegfliegen, halten eine oder zwei weitere am Gelege Wache. Es ist schon deutlich, welche der Arten Vorteile in der Evolution hat.
Die Frage nach dem sozialen Gen ist aber auch dadurch nicht beantwortet: Immer noch bleibt offen, ob dieses postulierte Gen nicht doch ein verkapptes Egoismus-Gen ist: Wir helfen uns gegenseitig, dann haben wir und alle unsere Nachkommen etwas davon.
Der us-amerikanische Philosoph John Dewey erklärt zu dieser Frage: „Die Gesellschaft besteht aus Individuen“ ([31], S. 231)4. Er sieht drei Folgerungen aus diesem Gedankengang: 1. müsse eine Gesellschaft um der Einzelwesen willen existieren, oder 2. werde den Individuen Ziele und Lebensformen von der Gesellschaft vorgegeben oder 3. fordere die Gesellschaft Dienst und Unterordnung der Individuen. Diese Alternativen machten dann die Gesellschaftsform aus, schlicht: unsere Art zu leben. Dewey selbst sieht es als positiv an, Individuen und vergesellschaftende Beziehungen gleichrangige Rechte einzuräumen, denn sonst seien „die Individuen voneinander isoliert und schwinden dahin und vergehen; oder sie stehen sich feindlich gegenüber und ihre Konflikte stören die individuelle Entwicklung“ (S. 232). Dazu ist zu bemerken, dass Dewey seine Theorie unter den Prämissen sieht: „Wachstum selbst ist das einzig moralische ‚Ziel‘“ (S. 221) und „Glück wird nur im Erfolg gefunden“ (S. 223)5.
Was hat Priorität und worauf begründen sich Rechte: Auf dem Individuum als einzig normativer Kraft oder auf der Gesellschaft mit supraindividuellen Normen? Wogegen grenzen sich, dies als fortführende Frage, individuelle Rechte innerhalb einer Gemeinschaft ab?
Für mich persönlich ist diese Frage vollkommen unerheblich: Ich sehe, dass Menschen zusammen leben, in Dörfern und Städten wohnen, dass die wichtigsten Momente im Leben wie Geburtstage, Hochzeiten oder auch Totengeleit immer mit anderen gemeinsam gefeiert oder begangen werden, dass Freude und Trauer immer gemeinschaftlich geteilt, dass unsere Kultur und Sprache auf Gemeinsamkeiten ausgerichtet sind6, dass ein ganz wichtiger Anteil unseres Lebens der Erfüllung sozialer Bedürfnisse dient, dass wir auch unsere Gesellschaft mittlerweile völlig in Arbeitsteilung eingerichtet haben. Und zwar nicht erst seit der Fordisierung unserer Industriegesellschaft, also der getakteten arbeitsteiligen Gesellschaft mit Henry Fords Erfindung des Fließbands als Sinnbild hierfür, sondern bereits mit den ersten Siedlungen, als Menschen sich anschickten, Boden zu roden, andere dafür auf Jagd gingen, es später wieder andere gab, die den Rohstoff Nahrung weiter zu bearbeiten verstanden oder ihn aus dem Meer holten, Kleidung und Werkzeuge in immer besserer Qualität herstellten. Menschen teilten ihre Fähigkeiten und Kenntnisse miteinander. Damit hatten alle Vorteile: Das Individuum und die Gesellschaft.
In der Geschichte der Menschheit gab es immer einen Gemeinsinn. Dass wir uns diese Frage: Was ist der Mensch: Einzelkämpfer oder Gruppenwesen? überhaupt neu stellen müssen, liegt am Siegeszug des Neoliberalismus, der nur unverbundene Monaden (Einzelwesen) kennt, die sich in wettbewerbsorientierter Konkurrenz gegeneinander durchsetzen müssten. Es ist auch nicht erstaunlich, dass Klassiker dieses Denkens entweder aus den USA direkt stammen oder wie der Österreicher Friedrich August von Hayek im angloamerikanischen Kulturkreis den größten Teil ihres Lebens verbracht haben. Und es ist auch überhaupt nicht erstaunlich, dass dieses Menschenbild mittlerweile von Ökonomen geschrieben wird: Bei dieser Denkrichtung zählt nur die Zahl, eine soziale Verbindung wird ausschließlich über Warentausch oder Arbeitskraftangebot definiert. Und es ist daher auch in keiner Weise sensationell, dass die wichtigsten Beraterinnen und Berater der Politik Ökonomen sind7. Und noch etwas: Diese Überzeugung gibt es erst seit einigen Jahren. Vorher ist niemand auf die Idee gekommen, dass Menschen Einzelkämpfer sind und sich in Konkurrenz mit anderen beweisen müssten. Und vorher kamen die Berater der Regierungen eigentlich nie „aus der Wirtschaft“. In dieser Grundannahme, die seit einer Generation unser Leben bestimmt, ist der Mensch ein permanent konkurrierendes Wesen, das andere Menschen nur als Instrument begreift, das aber keine gemeinschaftlich ausgerichteten Interessen kennt. Und ein weiteres: 2014 wurde am Kanzleramt ein Schar von Verhaltensökonomen eingestellt, die „Entwicklungen alternativen Designs von politischen Vorhaben“ beschreiben und entfalten sollen [100]. Es ging hierbei um das Nudging, ein Anstupsen zu bestimmten Handlungen. Ein alltägliches, oft zitiertes Beispiel: An den Bankautomaten wurde früher sehr oft nach dem Geldabheben die Karte im Kartenschlitz vergessen. Jetzt gibt es ein Erinnerungsanstupsen: Das Geld wird erst ausgezahlt, wenn die Karte entnommen wurde. Bei hochkomplexen Problemen wie Rentenoder Lebensversicherungen wird das Anstupsen schon problematisch. Und natürlich kann es auch manipulativ ausgenutzt werden. Deshalb ja wohl auch die Arbeitsgruppe am Bundeskanzleramt - so vermute ich.
Ein gutes Beispiel für das nudging bei Abstimmungen ist der Wahlschein, den Hitler 1938 bei der Abstimmung über den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich drucken ließ:
Abb. 1
Noch eine Seite über Kommunikation
Ein Bild vom Menschen beinhaltet immer auch die Haltung zu Inhalten und Formen eines Umgangs miteinander, also dem, was wir Kommunikaton nennen.
Der in den USA lehrende Österreicher Paul Watzlawick hat fünf Axiome zur Kommunikation erstellt ([128], 2. Kapitel). Die ersten beiden sind für uns wichtig: „Man kann nicht nicht kommunizieren“ und „Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt“.
Wir gehen in unser Zugabteil mit dem reservierten Platz und werfen ein freundliches „Guten Morgen“ in den Raum. Der eine Mitreisende liest ungestört seine Zeitung weiter, der andere holt seine sogar erst demonstrativ aus einer Tasche. Obwohl kein Wort gefallen ist, wissen wir sofort, was diese nonverbale Aussagen bedeuten: Hier will niemand mit dir reden.
Friedemann Schulz von Thun [116] erweiterte den Watzlawickschen Ansatz weiter: Er hat einer Nachricht vier Seiten zugeordnet: Sachinhalt, Appell, Beziehung und Selbstoffenbarung treffen sich in jeder kommunikativen Situation - und entsprechend wird mit „vier Ohren“ gehört, die diesen Seiten entsprechen.
Wenn ich in einer Runde laut feststelle: Das Bier ist alle!, so ist das eine sachliche Darstellung: Mein Glas ist leer. Der Wirt wird diese sachliche Darstellung als Aufforderung deuten, ein neues zu zapfen. Freunde könnten sich zu rühmendem Staunen gedrängt sehen: Welch ein Kerl, hat der einen Schluck! Am Nebentisch könnten Frauen resigniert schaudern: Welch ein Depp, warum säuft der so viel? Zuhause am Abendbrottisch kann dieselbe Äußerung als Hinweis an Frau oder Kinder gewertet werden: Zack, in den Keller, Vattern braucht ein neues Bier. In diesem Falle offenbarte ich mich als weisungsbefugter Hausherr und mieser Macho. Es könnte aber auch der Hinweis sein, jetzt ist es mir genug, kein neues mehr. Kommunikation muss also immer im Zusammenhang gesehen werden. Und in diesem Beispiel werden die vier Kommunikationsseiten sichtbar.
Und genau das ist in der Politik immens wichtig. Eine sachliche Äußerung, wie ja so oft gefordert, kann eigentlich nur unter ganz bestimmten Äußerungen gelingen. Jede Kommunikation hat, wie von Watzlawick, Schulz von Thun und dem bisher noch nicht dargestellten Noam Chomsky [22