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Um etwas über Dinosaurier zu erfahren, graben heutige Paläontolog:innen Fossilien aus. Um etwas über unseren Umgang mit dem Klimawandel herauszufinden, werden Forscher:innen von morgen sich mit Technofossilien befassen: mit den Überbleibseln von Gebäuden und Infrastrukturen. Denn im Anthropozän, dem Erdzeitalter, dessen geologische Entwicklung vom Menschen geprägt wird, gibt es mehr gebaute als natürlich gewachsene Masse.
Friedrich von Borries nimmt in seinem neuen Buch die Perspektive zukünftiger Archäolog:innen ein, die sich auf die Suche nach den charakteristischen Architekturen unserer Zeit machen. Aussagekräftige Objekte finden sie vor allem an den Rändern der Städte. Müllverbrennungsanlagen und Serverparks, mehrstöckige Schweineställe und Saatgut-Tresore verraten mehr über unsere zerstörerische Produktions- und Lebensweise als repräsentative Bauten in den Zentren. In seiner spekulativen Archäologie zeichnet von Borries dabei auch ein Psychogramm fortgeschrittener Industriegesellschaften. Und er wagt einen Ausblick auf eine Architektur, bei der nicht länger allein der Mensch und seine Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen.
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Seitenzahl: 566
SV
Friedrich von Borries
Architektur im Anthropozän
Eine spekulative Archäologie
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der Originalausgabe, 2024.
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024
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Umschlaggestaltung: Ingo Offermanns, Kirchtimke
Umschlagfoto: Sebastian Mirgeler
eISBN 978-3-518-78018-3
www.suhrkamp.de
Gewidmet allen, die die Schönheit der Welt erhalten wollen – und Alva und Jonathan, an die ich beim Schreiben viel gedacht habe.
»Es braucht neue Formen der Geschichtsschreibung, die die rasante Entwicklung unserer Gattung […] zu einer dominanten Kraft im Erdsystem […] plausibel machen können.«1
Eva Horn
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Motto
Inhalt
Erwartungshorizont .
Spekulative Archäologie, oder: Welche Geschichte wird über uns erzählt werden?
Prolog.
Die Bewohnbarkeit der Welt
Teil I Zerstörung. Architekturen der
CO
-Emission
Energiewirtschaft
Bauten der fossilen Energiegewinnung und ihre Transformation
Die Utopie der grenzenlosen Verfügbarkeit
Rekultivierung von Landschaft als unsichtbare Architektur
Regenerative Energiequellen und die Paradoxien der Skalierung
Religion einer strahlenden Zukunft
Industrie
Die Geburtsstätte des Anthropozäns
Das Quadrivium der Architektur
Die Natur beherrschen
Das falsche Versprechen der Betonarchitektur
Gefangen im globalen Netz
Mobilität
Die Neuerfindung der Stadt durch Mobilität
Mit dem Dampfschiff in die Vorortsiedlung
Der Atomkrieg als Katalysator der Raumordnung
Autobahnkreuz, Geschwindigkeit und Krieg
Das abgestürzte Flugzeug
Wohnen
Das Existenzminimum
Wohlstand im Bungalow
Die gesprengte Wohnmaschine
Auf der Suche nach Freiheit
Landwirtschaft
Neolithische Revolution
Landwirtschaft und Gewalt
Kunstdünger und die Agrarindustrie
Vom Treibhaus zur urbanen Landwirtschaft
Ein atombombensicherer Tresor
Handel
Grenzenlose Verfügbarkeit
Das Kapitalozän und die unsichtbare Hand des Emissionshandels
Die kosmische Infrastruktur
Müll
Am Müll ersticken
Landschaften der Entsorgung
Müll ist eine Goldgrube
Intermezzo.
Im Labyrinth der Verantwortungslosigkeit
Teil
II
Überleben. Galerie der (gescheiterten) Rettungsversuche
Vermeidung
Kraft der Sonne
Drop City
,
domes
und der Ausstieg aus dem System
Kunst der Bauvermeidung
Optimierung des Bestehenden als Geschäftsmodell
Anpassung
Anpassung als Machtinstrument
Die Klimaanlage, eine technische Unabhängigkeitserklärung
Der Traum von lokaler Resilienz
Deiche, Schutzwehre und ein mechanischer Moses
Künstliche Habitate als totale Rückzugsorte
Neustart
Die unsichtbare Smart City
Neue Gesellschaftsmodelle in der Wüste
Postfossile Fantasien
Paradoxale Strategien zwischen Repräsentation und neuem Naturverhältnis
Ein unbaubarer Traum
Reparatur
Rekonstruktion und Restauration
Radical Repair und Reparation
Architektur der Reparaturgesellschaft
Vom Genie zur Pfleger:in
Modifikation
Phantasmen der instrumentellen Vernunft
Raumschiff Erde
Whole Earth Catalog
und der ökologische Kapitalismus
Entgrenzung der Landschaft
Von schamanistischer Magie zur Selbstvergötterung
Intermezzo.
Willkommen in der gedehnten Gegenwart
Teil
III
Flucht. Dystopien eines besseren Lebens
Lager
Grenzen, Mauern, Zäune
Das Flüchtlingslager, eine Stadt ohne Zukunft
Architektur der guten Absichten
Container als gebaute Form der (unterlassenen) Hilfeleistung
Inseln
Die schwimmende Stadt
Eskapismus im Inselkapitalismus
Postapokalyptische (Über-)Lebens(t)räume
Weltraum
Der Mond und die Nazis
Kosmischer Kolonialismus
Mission zum Mars
Terraforming als planetarer Pragmatismus
Der ökologische Cyborg
Intermezzo.
Der Mensch als Maß aller Undinge
Teil
IV
Schuld. Fundamente der Weltzerstörung
Entfremdung
… von der Arbeit (mit Marx zum Yoga)
… von der Natur (Gilgamesch im pseudonatürlichen Mikrokosmos)
… von der Wirklichkeit (Playtime im Simulakrum)
… von der Gesellschaft (Sozialpalast vs. Wohnmaschine)
… von sich selbst (lebenslänglich im Fitnessclub)
Herrschaft
… über Grund und Boden (Eigentum als Anfang allen Übels)
… über Raum (Infrastruktur und Kolonialismus)
… über Pflanzen (vom Gewächshaus zur Ökosystemdienstleistung)
… über Tiere (Zoo, Schlachthaus, Mäusebunker)
… über Menschen (die gewalttätigen Wurzeln der Architektur)
Täuschung
… durch ästhetische Überwältigung (Treppe, Säule, Kuppel)
… durch falsche Versprechungen (die kleinen Tricks der Landschaftsarchitektur)
… durch Ästhetisierung (der schöne Schein)
… durch Überspielung (die Welt als Nachhaltigkeits-Funpark)
… durch Vernebelung (Versteckspiel in der Wolke)
Intermezzo.
Das Erbe des Prometheus
Teil V Hoffnung. Ausblick auf eine planetare Architektur
Anderswerden
Ehrlichkeit
Verlernen
Unfertigkeit
Widerstand
Offenheit
Verbundenheit
Epilog.
Die Grenzen von Architekturgeschichte
Anmerkungen
ERWARTUNGSHORIZONT
PROLOG
Teil I
ZERSTÖRUNG
Teil
II ÜBERLEBEN
Teil
III FLUCHT
Teil
IV SCHULD
Teil V
HOFFNUNG
EPILOG
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Register
Dank
Informationen zum Buch
Spekulative Archäologie, oder: Welche Geschichte wird über uns erzählt werden?
Welche Geschichte der Architektur wird über unsere Zeit – das Anthropozän – erzählt werden? Stellen wir uns vor, ein Wesen aus der Zukunft blickt dereinst auf uns zurück.1 Welche Gebäude, Projekte und Traditionslinien würde es als hilfreich erachten, um uns zu verstehen? Und welches Urteil würde es über uns fällen?
Dieser Blick aus der Zukunft ist der narrative Rahmen für diesen Essay. Er bleibt skizzenhaft, weil ein großes Thema wie dieses nur in Ausschnitten betrachtet werden kann, er ist zudem spekulativ, weil wir weder wissen, wie die Zukunft aussieht, noch, ob die dann lebenden Wesen unsere Gegenwart untersuchen wollen.
Zentraler Bezugspunkt ist hier das Anthropozän. »Anthropozän« ist ein wissenschaftlicher Begriff aus der Geochronologie, der inzwischen auch in anderen Fächern und im öffentlichen Diskurs benutzt wird. Erstmals verwendet im Jahr 2000, sollte er zunächst die – damals überaus provokante – Vorstellung ausdrücken, dass der Mensch zum maßgeblichen Faktor der Entwicklung des Erdsystems geworden sei und deshalb die Gegenwart von vorherigen geochronologischen Epochen abgrenzen. Dieser harte Epochenschnitt ist innerhalb der Geochronologie umstritten, allerdings hat sich der Begriff inzwischen in vielen anderen Disziplinen und im öffentlichen Diskurs durchgesetzt. Er versinnbildlicht, dass der Mensch den Planeten umformt und dabei die Lebensbedingungen für viele Lebewesen – wenn nicht sogar die eigenen – zerstört.2
Viele Geolog:innen verorten den Beginn des Anthropozäns in den 1950er Jahren, weil ab diesem Zeitpunkt der Eingriff des Menschen in das Erdsystem anhand von Sedimentspuren – einem Forschungsgegenstand der Geologie – auf der ganzen Welt nachgewiesen werden kann.3 Indikatoren waren dabei u.a. der Kohlendioxid-, Ozon- und Methangehalt sowie das Aufkommen von Rußpartikeln aus der industriellen Produktion, neuen anorganischen Verbindungen (Kunststoff) und radioaktive Kontaminationen. Auch Wissenschaftler:innen außerhalb der Geologie halten diese zeitliche Festlegung für sinnvoll, weil sie mit weiteren Phänomenen korreliert – vom Energieverbrauch über das rapide Wirtschaftswachstum bis hin zum globalen Zerstörungspotential durch Atombomben. Die hier vorgestellte Annäherung an Architekturgeschichte folgt deshalb dieser Einordnung.
Für die Untersuchung der Bedeutung, die Architektur in den – ökologischen, sozialen, kulturellen – Umwälzungsprozessen einnimmt, die mit dem Anthropozän verbunden sind, fungiert in diesen Essay Archäologie als leitende Metapher. Dafür gibt es mehrere Gründe; der erste ist ein inhaltlicher. Um den Beginn des neuen Erdzeitalters zeitlich zu bestimmen, untersuchen Geolog:innen Sedimentschichten, doch um unseren alltäglichen Lebensstil zu verstehen, werden kommende Kulturen auf gebaute »Technofossilien« zurückgreifen, um anhand von Siedlungen, Gebäuden und den darin befindlichen Überresten unseren Alltag anschaulich zu rekonstruieren. Denn »Architektur gibt einen unfehlbaren Hinweis auf das, was in einer bestimmten Zeit wirklich vor sich ging«, wie 1941 der Architekturhistoriker Sigfried Giedion in Raum, Zeit, Architektur behauptete, einem Buch, das wichtige Grundlagen für die Architekturgeschichte der Moderne legte.4 Die Annahme, dass Architektur eine besonders geeignete Quelle für das Verständnis von (Alltags-)Kultur sein könnte, fußte bei Giedion auf historischen Erfahrungen, die allerdings in Zukunft obsolet sein könnten. Schließlich ist auch vorstellbar, dass Radiowellen die »Signale aus der fernen Zukunft«, wie der britische Geologe und Paläobiologe Jan Zalasiewicz die zukünftigen Überbleibsel unserer Zivilisation nennt,5 sein werden – dann würden die informationellen Überreste von Internetseiten und Reality Shows das zukünftige Bild unserer Lebensweise prägen. Aber für den hier vorgestellten Versuch gehen wir weiterhin davon aus, dass Bauwerke aus Beton und Stahl, aus Kunststoff und Glas fruchtbare Informationsquellen sein werden – schon allein, weil diese Materialien so unglaublich dauerhaft sind.
Der zweite Grund ist ein epistemischer, denn Archäologie eignet sich für das hier vorgestellte Vorhaben als Metapher auch wegen der Art und Weise, wie Wissen erschlossen wird. Archäologie versteht sich zwar als Wissenschaft, ist aber auch stark von Zufall geprägt; es gibt Ausgrabungen, bei denen, basierend auf einer Hypothese, gezielt nach etwas gesucht wird (wie etwa nach Troja in Heinrich Schliemanns Expeditionen), doch schon immer waren wichtige archäologische Funde zufällige Nebenprodukte von Erdarbeiten auf Baustellen. Diese Kombination entspricht der Methode, mit der die Beispiele für diese Betrachtung zusammengetragen wurden; manche wurden, einer Hypothese folgend, gezielt gesucht, andere eher zufällig gefunden. Durch diese Funde wiederum erschien manches Altbekannte plötzlich in neuem Licht.
Der dritte Grund ist ein methodischer, denn die hier vorgestellte Architekturgeschichte gibt keinen linearen Prozess wieder, folgt keiner chronologischen Erzählung,6 führt nicht von einem zeitlichen Anfang zu einem (wie auch immer definierten) Ende. Das Vorgehen gleicht einer Ausgrabung, bei der die Fundstelle ganz vorsichtig, in kreisenden, tastenden Annäherungen aus verschiedenen Richtungen erkundet wird. Wie in der klassischen Archäologie ist trotz dieser Offenheit das übergeordnete Ziel, aus den gefundenen Fragmenten, Scherben und Splittern das Bild eines Ganzen zusammenzufügen – hier also das der Architektur im Anthropozän. Dieses Bild umfasst sowohl die Entstehung als auch die Bewältigung der mit dem Anthropozän verbundenen gesellschaftlichen Herausforderungen.
Bei den Architekturen, die dazu untersucht werden, handelt es sich zum einen um Bauten und Projekte, die in klassischen architekturgeschichtlichen Überblickswerken allenfalls am Rande auftauchen (wie zum Beispiel Kraftwerke, Zementfabriken oder Zoos), zum anderen aber auch um klassische Ikonen der Architektur, die hier allerdings aus neuen Blickwinkeln betrachtet werden, weil die bisherige Geschichtsschreibung ihre Bedeutung für das Anthropozän weder erklärt noch daraus abgeleitete Potentiale für die Zukunft entwirft.
Dieses Vorgehen ist kleinteilig, die Architekturgeschichte wird neu sortiert und geordnet, so wie die Fragmente eines historischen Manuskripts, die neu zusammengesetzt werden – und plötzlich einen anderen Sinn ergeben. Durch dieses Vorgehen eröffnen sich, so die Erwartung, neue Meta-Perspektiven auf die von uns geschaffene Umwelt; auf die Geschichte, die wir über sie erzählen, und auf die Zukünfte, die dadurch vorstellbar werden. Denn wir müssen noch besser verstehen, wie sich der gegenwärtige Zustand entwickelt hat, es braucht, wie die deutsche Literaturwissenschaftlerin Eva Horn meint, »neue Formen der Geschichtsschreibung, die die rasante Entwicklung unserer Gattung […] zu einer dominanten Kraft im Erdsystem […] plausibel machen«.7
Der hier vorgenommene Versuch einer Architekturgeschichte des Anthropozäns ist auch eine Dokumentation des Scheiterns und des Selbstbetrugs – sowohl auf gesamtgesellschaftlicher Ebene als auch in Bezug auf die Tätigkeit von Architekt:innen. Denn das nicht näher zu bestimmende Wesen aus der Zukunft (das ich im Weiteren der Einfachheit halber »Aia« nenne) interessiert vor dem Hintergrund von Klimawandel und Ressourcenvernichtung nicht nur, welche Rettungs- und Fluchtversuche von uns unternommen wurden und warum sie gegebenenfalls nicht gelungen sind, sondern auch, welche an und für sich als sinnvoll erachteten Maßnahmen unterlassen wurden.
Schließlich stellt Aia die Frage, welche Schuld Architekt:innen an der Zerstörung der Erde zukommt. Es mag unangenehm und schmerzhaft sein, sich mit einer möglichen zukünftigen Schuld auseinanderzusetzen; es ist aber notwendig, denn das Eingeständnis von Schuld und die Übernahme von Verantwortung sind eine Voraussetzung für Veränderung. Ein Neuanfang, der den Blick auf Architektur in Raum und Zeit jenseits des westlichen, anthropozentrischen Kanons öffnet und übersehene Traditionen und Referenzen entdeckt, ist nötig, um Ausblick auf eine zukünftige Architektur zu geben: eine Architektur, die nicht mehr zerstört, sondern versöhnt. Gesucht werden neue Formen des Zusammenlebens von Menschen, Tieren, Pflanzen und womöglich auch jener Wesen und Existenzformen, deren Wahrnehmung sich der rationalen Begründbarkeit entzieht.
Was also ist das Ziel des hier vorgestellten Unterfangens? Ein klärender Blick auf Geschichte und Gegenwart der Architektur, ergänzt durch einen Blick in die Zukunft, der Gedankengebäude und Luftschlösser vorstellt, die über die schiere Zerstörung des Planeten hinausweisen.
Die Bewohnbarkeit der Welt
In Architektur spiegeln sich die Ideale, Herausforderungen und Konflikte der Zeit, in der sie entstanden ist. Architektur ist ein umkämpftes Feld, weshalb es viele Definitionen gibt, was Architektur ist. Sie ändern sich im Laufe der Zeit und stellen unterschiedliche Aspekte des Bauens in den Vordergrund. Doch unabhängig von der Art, wie auf Gebautes geblickt wird und was bei der jeweiligen Errichtung beabsichtigt war, bleibt eine Eigenschaft von Architektur beständig: Sie materialisiert die Beziehungen der Menschen zur Welt; zu anderen Lebewesen, zu Raum und Zeit. Eine Kernaufgabe von Architektur war bislang die Gestaltung des menschlichen Lebensraums. Oder, ganz kurz gesagt: Architektur ist der Versuch, die Erde für Menschen bewohnbar zu machen.
Die westliche Architekturgeschichte verfügt über ein Idealbild vom Ursprung der Architektur, welches gleichzeitig den Beginn des Wohnens markiert: die »Urhütte«. Sie geht auf den römischen Baumeister und Theoretiker Vitruv zurück, der im 1.Jahrhundert vor unserer Zeit lebte.1Vitruv stellte sich die erste menschliche Wohnstatt als ein einfaches Bauwerk aus Holzstämmen vor, die den ursprünglichen Naturmenschen vor Wind und Wetter schützen und so auch das Siedeln in unwirtlichen Regionen ermöglichen sollte. Das ist, von heute aus gesehen, mit den Debatten um Nachhaltigkeit im Hinterkopf, zunächst ein pittoreskes Bild, dem nichts Bedrohliches innewohnt, schließlich besteht diese Urhütte nur aus Holz und Laub, nachhaltigen Materialien also, deren Nutzung die Umwelt, die natürlichen Ressourcen und die menschlichen Lebensgrundlagen nicht gefährdet.
Doch die Realität der Städte und Landschaften, die im Laufe der Geschichte – insbesondere seit dem 19.Jahrhundert – entstanden sind, ist augenfällig eine andere. Architektur hat dem Menschen nicht nur Schutz vor der Natur geboten, sondern den Planeten bis zur Unkenntlichkeit überformt. Ein einfaches physikalisches Verhältnis macht dies anschaulich: Seit 2021 gibt es mehr menschengemachte Masse als lebendige Biomasse,2 d.h., das Gewicht aller Häuser, Infrastrukturbauten, Maschinen, Konsumgüter etc. übertrifft das Gewicht aller lebenden Tiere und Pflanzen. Dabei spielt Architektur eine große Rolle, denn mehr als die Hälfte dieser menschengemachten Masse sind Bauwerke.3 Der Prozess planetarer Um- und Überformung durch Architektur ist, so scheint es, noch lange nicht abgeschlossen, schließlich wächst die Weltbevölkerung weiter – und damit auch der potentielle (und immer wieder laut proklamierte) Bedarf an weiteren Gebäuden.
Abb. 1: Die Urhütte, wie sie Laugier 1755 als Frontispiz in seinem Essai sur l’architecture zeigte. Sie symbolisierte den Beginn von »Zivilisation«; mit ihr wurde nicht nur die Vorherrschaft über die Natur, sondern auch über andere Gesellschaften und Kulturen legitimiert.
Die Möglichkeit, die Erde umzuformen, hat viele Architekt:innen angetrieben, lange war die Tätigkeit des Bauens mit der Vorstellung von – quasi gottähnlicher – Schöpfungskraft verknüpft. Architektur, so für lange Zeit das Selbstverständnis des Berufsstandes, besiegt die Natur, oder, um einen anderen Begriff zu benutzen, der den Kern von Architektur verdeutlicht: Natur wird durch Architektur domestiziert.
Das Bild der Urhütte ist der Auftakt zu einem großen Programm der Weltumformung. 1734, also mitten im Zeitalter der Aufklärung, beschwor der französische Architekturtheoretiker Marc-Antoine Laugier erneut das Bild der Urhütte – und lud es mit einer neuen gesellschaftspolitischen Bedeutung auf. Die Urhütte symbolisierte für ihn den Übergang des Menschen vom Natur- zum Kulturwesen; mit dem Bau des ersten Hauses begann für ihn die Zivilisation. »Zivilisation« ist, wie der Kulturanthropologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow ausführen, seit der Aufklärung ein Kampfbegriff, der dem kulturell vermeintlich überlegenen Westen dazu dient, die den eigenen, immer wieder lautstark proklamierten Idealen fundamental widersprechende Entrechtung, Ausbeutung und Versklavung vermeintlich weniger entwickelter Gesellschaften zu rechtfertigen.4 Die Urhütte – oder zumindest die auf sie projizierte Vorstellung von »Zivilisation« – ist demnach keineswegs so unschuldig, wie sie zunächst scheinen mag. Von ihr führt eine Linie bis zu den Zerstörungen des Anthropozäns.
Gewalt, Ausbeutung und zerstörerischer Umformung der Erde durch den Menschen steht in der Architekturgeschichte aber auch die Sehnsucht nach einer Harmonie zwischen Mensch und Natur gegenüber. Die Einfachheit der Urhütte taucht deshalb häufig auf, wenn eine Abkehr vom westlichen Zivilisations- und kapitalistischen Wirtschaftsmodell beschworen wird. Ein oft zitiertes Vorbild ist der amerikanische Schriftsteller und Lebensreformer Henry David Thoreau, der sich zu Zeiten der Frühindustrialisierung in eine selbstgebaute Waldhütte zurückzog. Sein 1845 erschienener Bericht Walden wurde eine wichtige Inspiration für Generationen von Aussteiger:innen, die der industrialisierten Welt den Rücken kehren und sich einem – vermeintlich – natürlichen, einfachen Leben zuwenden wollten.
Abb. 2: Le Corbusier, entscheidender Akteur bei der Konzeption der funktionalen Stadt, zog sich gerne in eine kleine, einfache Hütte zurück.
Doch nicht nur Aussteiger:innen suchen die Urhütte. Selbst Le Corbusier, der Architekt, der die Entstehung der funktionalistischen und, so eine häufige Kritik, Entfremdung erzeugenden modernen Architektur entscheidend vorangetrieben hat, zog sich in den Ferien in eine von ihm Le Cabanon genannte kleine Hütte am Mittelmeer zurück. Dass diese kleine Hütte heute zum UNESCO-Welterbe zählt, ist eine Ironie der Architekturgeschichte – oder eben Ausdruck der Einsicht, dass die Flucht aus der Welt, die wir geschaffen haben, Teil unseres Weltverständnisses ist.
Heute ist es das Tiny House, auf das viele ihren Wunsch nach einer Balance zwischen Nähe zu und Abgrenzung von Natur projizieren. Die Einfachheit der Urhütte, mit der der Mensch sich vor der Natur schützt, ohne den Kontakt zu ihr zu verlieren, scheint ein historisch durchgängiger Idealtyp des Wohnens zu sein.
»Wohnen« ist ein Zentralbegriff, wenn es um das Verhältnis der Menschen zur Welt geht. Expert:innen dafür sind Architekt:innen. Sie wissen, wie man Räume so gestaltet, dass Menschen sich darin wohlfühlen, oder: wie man die Welt bewohnbar macht. So zumindest das Idealbild. Denn die mit dem Bild der Urhütte verbundenen romantischen Vorstellungen haben wenig gemein mit der Architekturpraxis der Gegenwart. Architektur ist inzwischen zu einem zentralen Treiber der grundlegenden Veränderungen des Erdsystems geworden, die u.a. zum Klimawandel führten.
Abb. 3: Martin Heidegger verbrachte viel Zeit in einer einsamen Hütte im Schwarzwald.
Ein Philosoph, der grundlegend über das »Wohnen« nachgedacht hat, war Martin Heidegger. 1951 formulierte er grundlegende Überlegungen zum Verhältnis von Architektur und dem »Wohnen« auf der einen und dem »Sein« auf der anderen Seite.5 »Wohnen«, »Bauen« und »Sein«, so Heidegger, der in einer einsamen Hütte im Schwarzwald wohnte, hätten die gleiche etymologische Wurzel. Er definierte »Wohnen« deshalb als die »Art, wie du bist und ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde sind«.6 Die Vorstellung von Bauen, die er daraus ableitete, reichte weit über die klassischen Aufgaben von Architekt:innen hinaus. »Das alte Wort bauen, das sagt, der Mensch sei, insofern er wohne, dieses Wort bauen bedeutet nun aber auch zugleich: hegen und pflegen.«7 Er ging sogar noch weiter: »Die Sterblichen wohnen, insofern sie die Erde retten. […] Die Erde retten ist mehr als sie ausnützen oder gar abmühen. Das Retten der Erde meistert die Erde nicht und macht sich die Erde nicht untertan, von wo nur ein Schritt ist zur schrankenlosen Ausbeutung.«8 Auch wenn Heidegger das »Pflegen«, »Hegen« und »Retten« wohl kaum im heutigen, ökologischen Sinne verstanden hatte, hinterfragte er das Selbstverständnis von Architektur, indem er ihre Widersprüchlichkeit offenlegte. Auf der einen Seite die grundlegende Seinsform des Bauens und Wohnens als Art, wie wir in der Welt sind, auf der anderen Seite die offensichtliche Unfähigkeit, die Welt zu hegen, zu pflegen, zu retten.
Rettung vor der Selbstzerstörung wird auch von der inzwischen zum common sense gewordenen »Nachhaltigkeit« erhofft. Nachhaltigkeit bedeutet, wie es der sogenannte Brundtland-Bericht der UN schon 1987 ausführte, dass bei der Befriedigung der »menschlichen Bedürfnisse der Gegenwart« nicht riskiert werden dürfe, dass »künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können«.9 Trotz allen Beschwörungen dieses neuen Ideals hat sich die oben skizzierte Widersprüchlichkeit zwischen Welterhaltungswunsch und anhaltender Weltzerstörung bislang noch nicht aufgelöst. Nichtsdestotrotz wird Nachhaltigkeit als Zukunft ermöglichendes Handlungsziel propagiert; in der Architektur geht es dabei meist um Baumaterialien, Energieeinsparung und die Dauerhaftigkeit von Gebäuden. Doch es ist offenkundig, dass diese Bemühungen nicht ausreichen, weshalb beispielsweise der Stadtforscher Johannes Novy, stellvertretend für viele andere, die über die Zukunftsfähigkeit von Architektur nachdenken, selbstkritisch konstatiert: »Wir können es uns nicht leisten, nur grüner zu bauen. Wir müssen weniger bauen.«10
Möglicherweise ist es auch der Begriff der Nachhaltigkeit selbst, der zur Disposition gestellt werden muss. Schließlich bezieht er sich auf das, was bestehen bleiben soll, statt zu fragen, was wir besser unterlassen sollten.11 Einen Vorschlag für einen anderen Zugang zu Zukunft macht – sich dabei ausdrücklich auf Heidegger beziehend – der aus Indien stammende Historiker Dipesh Chakrabarty. Er meint: »Der Schlüsselbegriff […], den man der Idee der Nachhaltigkeit im globalen Denken entgegensetzen könnte, ist Bewohnbarkeit.« Diese Bewohnbarkeit bezieht er nicht allein auf Menschen, sondern auf alle Lebewesen. »Ihr zentrales Anliegen ist das Leben – komplexes vielzelliges Leben im Allgemeinen.«12
Die Bewohnbarkeit führt uns zurück zur Architektur. Und zu Vitruv. Bei ihm begann mit der Urhütte die Architektur – und damit die Bewohnung des Planeten. Architektur macht die Erde bewohnbar. Doch vor dem Hintergrund zerstörerischer Eingriffe des Menschen in Biotope und das gesamte Erdsystem, dem anthropogenen Klimawandel und Ressourcenvernichtung ist mehr und mehr anzuzweifeln, ob – beziehungsweise für wen – die Erde in Zukunft noch bewohnbar sein wird. Für viele Tier- und Pflanzenarten ist sie es bereits nicht mehr. »Die zentrale Frage des Bewohnbarkeitsproblems ist«, so Chakrabarty weiter, »was einen Planeten zu einem freundlichen Umfeld für die dauerhafte Existenz komplexen Lebens macht.«13
Die Vorstellung, dass Architektur, wie wir sie kennen, die Erde bewohnbar macht, ist hinfällig geworden. Schlimmer noch: Für und durch Architektur werden Unmengen an Ressourcen und Energie verbraucht. So lassen sich weltweit laut der UN rund 38 Prozent des globalen CO2-Ausstoßes auf das Bauwesen zurückführen14 – und die Emissionen steigen weiter an.15 Architektur, wie sie heute überwiegend praktiziert wird, führt zur Unbewohnbarkeit. »Die Institutionen«, so bringt Chakrabarty die nicht nur für die Architektur geltende Paradoxie der Gegenwart auf den Punkt, »die bisher von den Menschen zur Absicherung des menschlichen Lebens genutzt worden sind, haben einen Verbreitungs- und Entwicklungsgrad erreicht, der eben diese Grundvoraussetzung menschlicher Politik – die Absicherung menschlichen Lebens – untergräbt.«16
Wir alle wissen, dass unsere Form des Lebens und Wohnens – also der durch Architektur und Städtebau ermöglichte Lebensstil mitsamt all unserer »Gewohnheiten« – überaus zerstörerisch ist. Wir müssen unsere Gewohnheiten, um mit der aus Indien stammenden, postkolonialen Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak zu sprechen, »verlernen«17 – um anschließend eine neue Form von Wohnen und Bauen, von Umgang mit der Welt, zu erlernen. »Die eigentliche Not des Wohnens beruht darin, daß die Sterblichen«, so nochmals Heidegger, »das Wohnen erst lernen müssen.«18
Vor dem Hintergrund des Anthropozäns müssen wir einen neuen Blick auf Architektur entwickeln: Sie steht nicht mehr (nur) für Bewohnbarkeit, sondern (auch) für Unbewohnbarkeit. Sie trägt dazu bei, dass unsere Lebensgrundlagen zerstört werden. Sie ist kein rein schöpferischer, sondern auch ein destruktiver Akt. Wir stehen also vor einem grundlegenden Paradox: Die bisherigen Versuche, den Planeten mit und durch Architektur bewohnbar zu machen, führten zum Gegenteil. Wenn Architektur nicht das Ende von Zivilisation herbeiführen will, sondern die Bewohnbarkeit des Planeten ermöglichen soll, müssen wir Architektur neu erfinden.
Teil I
Architekturen der CO2-Emission
»Der Historiker, besonders der Architekturhistoriker, muß in engem Kontakt mit heutigen Auffassungen stehen. Nur wenn er vom Geist seiner Zeit durchdrungen ist, kann er Züge der Vergangenheit aufdecken, die vom Blickpunkt früherer Generationen nicht sichtbar waren.«1
Sigfried Giedion
»Ein einziges, ein x-beliebiges Gebäude reicht aus, um daran die ganze Pathologie der menschlichen Gesellschaft zu entwickeln.«2
Hermann Funke
Der Begriff Anthropozän wird heute nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in breiteren, kulturellen Diskursen genutzt, um kleinmaßstäbliche, aber dennoch zerstörerische Eingriffe des Menschen in natürliche Prozesse zu benennen – auch wenn diese nicht zur Veränderung des gesamten Erdsystems führen. Die Menschheit diskutiert also unter dem Begriff Anthropozän ihr eigenes Verhältnis zur Welt neu und wird sich des Ausmaßes an Zerstörung bewusst, das sie zu verantworten hat. Diese Architekturgeschichte des Anthropozäns beginnt deshalb als Geschichte der Zerstörung.
Am Anfang steht die Kategorisierung. Welche Ereignisse, welche handelnden Personen und welche Artefakte – in der Architekturgeschichte: welche Entwürfe, Planungen, Realisierungen – sind zentral? Um die »Züge der Vergangenheit auf[zu]decken, die vom Blickpunkt früherer Generationen nicht sichtbar waren«,3 bietet sich vor dem Hintergrund der Sorge vor Klimawandel und Ressourcenvernichtung als Kriterium die zentrale Kenngröße der Gegenwart an: das Treibhausgas CO2.
In den Umweltwissenschaften ist gut belegt, in welchen gesellschaftlichen Bereichen das meiste CO2 entsteht. Bei diesen sogenannten Treibern gibt es eine klare Hierarchie: In Deutschland – wie in allen Industrieländern – war 2023 der größte CO2-Emittent die Energiewirtschaft (38 Prozent), gefolgt von Industrie (21 Prozent), Mobilität (18 Prozent), Wohnen (10 Prozent), Landwirtschaft (8 Prozent), Handel (4 Prozent) und schließlich dem Müll (1 Prozent).4
In »Zerstörung«, dem ersten Teil dieser spekulativen Archäologie, wirft Aia einen Blick auf die Architekturen der sieben zentralen Treiber des Klimawandels. Dabei geht es nicht um eine überblickhafte Gesamtschau, sondern um exemplarische Betrachtungen, denn ein »einziges, ein x-beliebiges Gebäude reicht aus«, wie der deutsche Architekturkritiker Hermann Funke polemisch pointierte, »um daran die ganze Pathologie der menschlichen Gesellschaft zu entwickeln«.5
Die Architektur der fossilen Energiegewinnung und ihre Transformation • Die Utopie der grenzenlosen Verfügbarkeit • Rekultivierung von Landschaft als unsichtbare Architektur • Regenerative Energiequellen und die Paradoxien der Skalierung • Die Religion einer strahlenden Zukunft
Das Anthropozän ist von Energie besessen. Seit dem Beginn der industriellen Revolution im ausgehenden 18.Jahrhundert nimmt der globale Energieverbrauch exponentiell zu. Parallel dazu hat sich auch die Vorstellung davon verschoben, was der Ursprung der Architektur sei. So markiert bei Gottfried Semper, dem Stararchitekten des 19.Jahrhunderts, nicht mehr die Urhütte den Beginn der Architektur, sondern »die Errichtung der Feuerstätte«. Sie ist auch der Ausgangspunkt für die Entstehung von Gesellschaft, denn, so Semper, um »den Herd versammelten sich die ersten Gruppen, an ihm knüpften sich die ersten Bündnisse, an ihm wurden die ersten rohen Religionsbegriffe zu Kulturgebräuchen formuliert«. Der Herd, so Semper (der damals von unseren heutigen Diskussionen um Erderwärmung noch nichts ahnen konnte, wenngleich man ihm ob der folgenden Aussage prophetische Gaben zuschreiben möchte), ist deshalb »das erste und wichtigste, das moralische Element der Baukunst«.6
Die Bedeutung von Energie nahm mit der Modernisierung weiter zu, an die Stelle des archaischen Herds trat das Kraftwerk. Mitte des 20.Jahrhunderts gab es eine besonders signifikante Steigerung des Energieverbrauchs. Lange war dieser Anstieg positiv belegt, er stand für wirtschaftliches Wachstum und – vor allem in den westlichen Gesellschaften – für zunehmenden Wohlstand für viele. Es gab in den 1950er Jahren sogar anthropologische Theorien, die den Entwicklungsstand einer Zivilisation an der Höhe ihres Energieverbrauchs festmachen wollten – je größer der Verbrauch, desto höher die Entwicklungsstufe.7
Trotz der großen gesellschaftlichen Bedeutung von Energie wird den für deren Gewinnung notwendigen Bauten in Theorie, Geschichte und Praxis der modernen Architektur bislang keine besondere Bedeutung zugemessen.8 In der Moderne sind Kraftwerke – anders als zum Beispiel die Bildungsorte Museum, Konzerthaus oder Bibliothek – kein prestigeträchtiger Gebäudetyp; die wirtschaftlich-gesellschaftliche Relevanz von Energiebauten korrespondiert nicht mit der symbolisch-architektonischen. Das liegt auch daran, dass Industriearchitekturen – ob Kraftwerke, Fördertürme, Ölbohrplattformen, Terminals, Raffinerien oder Tankanlagen – meist nicht in zentralen Lagen verortet sind, sondern aus ästhetischen, technischen und manchmal auch sicherheitspolitischen Gründen an den Rand urbaner Agglomerationen oder in den ländlichen Raum geschoben und so aus der alltäglichen Sichtbarkeit der meisten Menschen verbannt wurden. Und selbst da, wo sie sichtbar sind, wird ihnen nicht die gestalterische Aufmerksamkeit zuteil, die ihrer Bedeutung für das Funktionieren unserer Gesellschaft entsprechen würde. Die Versorgung mit Energie ist – architektonisch gesehen – ein blinder Fleck.
Abb. 4: Der 1929-1932 erbaute Schacht XII der Zeche Zollverein in Essen sollte durch seine moderne Formensprache als neues Wahrzeichen fungieren.
Natürlich gibt es Ausnahmen, zuweilen wurden auch Funktionsbauten der Energiewirtschaft mit architektonischer Aufmerksamkeit bedacht. Ein Beispiel dafür findet sich in Essen, der »Hauptstadt« des Ruhrgebiets. Die 1851 gegründete Zeche Zollverein war einst Europas größte Anlage zur Gewinnung von Steinkohle. Die dortigen Bauten zeugen vom Selbstverständnis verschiedener Epochen, für eine Architekturgeschichte des Anthropozäns besonders spannend ist Schacht XII, eine Erweiterung aus den späten 1920er Jahren. Die 1929-1932 errichtete Anlage besteht aus einfachen kubischen Körpern; das konstruktive Grundgerüst aus rot lackierten Stahlrahmen ist sichtbar, die Gefache sind mit geschosshohen Glasflächen und rotem Backstein ausgekleidet – die Architektur strahlt die klare und sachliche Sprache der Klassischen Moderne aus. Dem entsprechend proklamierten 1929 die beiden verantwortlichen Architekten, Fritz Schupp und Martin Kremmer: »Wir müssen erkennen, dass die Industrie mit ihren gewaltigen Bauten nicht mehr ein störendes Glied in unserem Stadtbild und in der Landschaft ist, sondern ein Symbol […], das jeder Bürger mit […] großem Stolz dem Fremden zeigen soll.«9 Durchgesetzt hat sich diese Haltung nicht, im Gegenteil: Das Wesen der Globalisierung ist, die sozialen und ökologischen Kosten der Industrie zu externalisieren. Die dreckige Arbeit findet inzwischen auch nicht mehr an den Rändern der westlichen Städte, sondern in ärmeren Weltgegenden statt. Dem reichen Westen bleibt von der Moderne ihre Überhöhung: Die Immobilienfirma, die die Zeche Zollverein heute vermarktet, bewirbt den Schacht XII mit dem Slogan »Bauhaus-Gedanke in XXL«.10
1986 wurde die Zeche geschlossen und umgehend unter Denkmalschutz gestellt. Konzepte für eine Nachnutzung entstanden, Eventisierung und Tourismus sollten die Industrie ersetzen. Architektur nahm dabei eine herausgehobene Rolle ein, verschiedene Stararchitekt:innen wurden engagiert. 1996-1997 baute beispielsweise Norman Foster das Kesselhaus zum Ausstellungsraum um, Rem Koolhaas entwickelte einen Masterplan für eine Eventlandschaft. 2001 wurde die Zeche Zollverein zum UNESCO-Welterbe erklärt, heute gibt es dort ein breites Kultur- und Erlebnisangebot, vom Designmuseum über Kunstausstellungen bis hin zu Weihnachtsmarkt und Rollschuhbahn. Aus einem Ort der Umweltzerstörung, die die Grundlage für den Wohlstand vieler war, soll – so das propagierte Zukunftsnarrativ – eine »Designstadt« werden, also etwas zwischen Erholung, leichter Unterhaltung und Kreativwirtschaft.
Abb. 5: Zollverein-School, Sanaa, 2006: Eine private Designschule soll die Entstehung einer neuen Kreativindustrie befördern, die Spektakelarchitektur als Instrument der Identitätsstiftung fungieren. Die Schule ist inzwischen insolvent, das Gebäude ein Sanierungsfall.
Ein Höhepunkt dieser Neuerfindung war 2006 die Fertigstellung einer Designschule durch das japanische Architekturbüro Sanaa (Kazuyo Sejima und Ryūe Nishizawa) und die Anlage einer Parklandschaft, die die Versöhnung von Industrie und Natur symbolisieren sollte. Die private Designschule, die ursprünglich als Nutzerin des Gebäudes vorgesehen war, ist mittlerweile insolvent, die in Essen ansässige staatliche Kunstuniversität ist als Nachmieterin eingesprungen. Das Gebäude selbst, ein pseudominimalistischer weißer Betonkubus mit frei angeordneten, großflächigen Fenstern – architektonisch ambitioniert, aber letztlich dysfunktional –, ist inzwischen ein Sanierungsfall.
Neue Funktionen für nicht mehr benötigte Infrastrukturen der Energieproduktion – also eine Transformation von Industrie in Konsum, Entertainment und Kreativität – werden auch an anderen Orten gesucht. Kein Welterbe, aber dennoch bekannter als die Zeche Zollverein, ist die 1952 vom damals berühmten britischen Architekten Giles Gilbert Scott gebaute Bankside Power Station in London. Das Ölkraftwerk versorgte bis 1981 Teile der Stadt mit Strom, stand dann lange leer, bis es 1993-2000 von Herzog & De Meuron – wie Foster, Koolhaas und Sanaa international agierende Baukünstler – zur Tate Gallery of Modern Art, einem Museum für zeitgenössische internationale Kunst, umgebaut wurde.
Abb. 6: Die Kunst als neue Energiequelle: In The weather project erhellt Olafur Eliasson mit einer künstlichen Sonne das ehemalige Kraftwerk; der in Nebel getauchte Klimawandel wird zur ekstatisch-sinnlichen Erfahrung stilisiert.
Eine mit zwei Millionen Besuchern äußerst erfolgreiche Ausstellung war das 2003 gezeigte The weather project des isländisch-dänischen Künstlers Olafur Eliasson, der die Simulation einer glühenden Sonne nebst Nebelmaschine unter einer dafür eigens gebauten Spiegeldecke in die ehemalige Turbinenhalle platzierte. Die Installation wurde damals als »einer der größten Momente der zeitgenössischen Kunst« tituliert;11 sie markiert die Popularisierung einer Kunst, die den Klimawandel thematisiert – und ihn gleichzeitig handhabbar erscheinen lässt, weil in der Kunst von Olafur Eliasson dramatische Phänomene auf eine ästhetische Erfahrung reduziert und so konsumierbar werden. So bleibt die Tate Modern der Tradition des Kraftwerks verhaftet, in dem der Mensch Naturkräfte verdichtet, beherrscht und seinen eigenen Zwecken unterwirft. Die Vorstellung, fossile Energie durch Kunst zu ersetzen, fasziniert nicht nur in London; 2024 wurde mit dem Powerhouse Art in New York ein neues Museum eröffnet, das sich in einem ehemaligen, ebenfalls von Herzog & De Meuron umgebauten Kohlekraftwerk befindet.
Eine andere Form der Nachnutzung wurde für ein weiteres Londoner Kraftwerk gefunden, die 1933 ebenfalls von Scott entworfene Battersea Power Station. Den Auftrag für dieses technische Gebäude hatte der dem Historismus und dem Art déco verpflichtete Architekt erhalten, weil die Leitung des am gegenüberliegenden Ufer der Themse liegenden National Art Museum verhindern wollte, dass ein zu profaner Bau den eigenen Standort abwertet. So entstand eine durch vier markante Türme an eine Kathedrale erinnernde Industriearchitektur (Fun Fact: Scott hatte 1903 die neogotische Kathedrale von Liverpool gebaut), die bis 1983 in Betrieb blieb. Das mittlerweile zu einem architektonischen Wahrzeichen von London gewordene Kraftwerksgebäude wurde nach jahrelangem Leerstand 2013-2022 von Norman Foster und dem ebenso berühmten Frank Gehry umgebaut. In dem Gebäude befinden sich nun Wohnungen, Büros und in der früheren Turbinenhalle eine Shopping Mall. Hauptmieter der Büroflächen ist das Tech-Unternehmen Apple. Bevor in das ehemalige Kraftwerk Wohn-, Büro- und Verkaufsflächen eingebaut wurden, gab es auch andere Nutzungskonzepte; ein Museum für Architektur war geplant, aber auch ein Umbau zum Fußballstadion für den FC Chelsea wurde erwogen, also für einen Fußballverein, dessen damaliger Besitzer sein Vermögen unter anderem mit Erdölhandel gewonnen hat.
Der Umbau der Kraftwerke steht für die Transformation, die sich die im Anthropozän reich gewordenen spätkapitalistischen Gesellschaften des Westens für eine postfossile Zukunft erträumen: Schöne Kunst, digitales Entertainment und unbegrenzter Konsum sollen als Geldquelle, Sinnstifter und (symbolischer) Energiespender Öl, Gas und Kohle ersetzen. So bleiben Energie und die westliche Konsumgesellschaft miteinander auch architektonisch eng verbunden.
Ob mit diesen immateriellen Formen von Produktivität das Wohlstandslevel der Gegenwart gehalten werden kann, ist fraglich; unbestreitbar ist aber, dass der westliche Wohlfahrts- und Wohlstandsstaat der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts – für den eine prominente Rolle von Kunst und Kultur im öffentlichen Leben und ein breites, niedrigschwelliges Konsum- und Unterhaltungsangebot mit Fernsehen, Shopping Mall und Freizeitpark konstituierend sind – ohne die durch fossile Energie ermöglichte Produktivitätssteigerung nicht möglich gewesen wäre.
Der durch Verbrennung generierte Wohlstand hat zwei signifikante architektonische Repräsentanten: das Headquarter-Hochhaus in Downtown, in dem die ökonomischen Gewinne der Ressourcenausbeutung akkumuliert werden, und der Bungalow mit Auffahrt und Garage in Suburbia (auf den wir später zu sprechen kommen werden). Eine Konzernzentrale, die die Archäolog:innen sicherlich auf ihrer Liste der interessanten Zufallsfunde verzeichnen würden, ist das Rockefeller Center in New York. Es war zu seiner Erbauungszeit eine beeindruckende Zukunftsvision, ein Vorbote jener Vorstellung von gutem Leben, wie es durch – vermeintlich – unbegrenzt verfügbare fossile Rohstoffe nach dem Zweiten Weltkrieg möglich wurde. Der 1931-1940 erbaute Gebäudekomplex sollte mehr sein als eine Ansammlung von Hochhäusern; er war nicht als reines Geschäfts- und Verwaltungsgebäude geplant, sondern auch als öffentlicher Ort für »Erholung und Unterhaltung«.12 Obwohl privat finanziert, sah Giedion im Rockefeller Center einen der Gemeinschaft dienenden Bau, der mit »frei angeordneten« Baukörpern und »offenen Räumen« in eine aus damaliger Sicht bessere Zukunft wies.13 30 Jahre nach Giedion erkannte Rem Koolhaas im Rockefeller Center nur noch »utopisches Fragment«14 – Überreste einer, wie wir heute feststellen müssen, Utopie des entgrenzten Hedonismus, der auf Ausbeutung und Raubbau beruht und deshalb nicht nur auf Kosten der Gegenwart, sondern auch auf die der Zukunft geht. Das Geld, das die Rockefeller-Familie in diese Immobilie investierte, stammte aus dem Ölgeschäft, das sie zur ersten Milliardärsfamilie der USA gemacht hatte.
Abb. 7: Ein goldglänzender Prometheus erinnert vor dem Rockefeller Center in New York daran, woher der Reichtum der Familie stammt – und welche Strafe dafür droht.
Die Fassaden des Rockefeller Centers sind mit Muschelkalk verkleidet, in dem sich 300 Millionen Jahre alte Fossilien befinden – ungefähr genauso alt wie das Öl, mit dem der Bau des Gebäudes finanziert wurde. Dass ihrem Reichtum etwas Maßloses innewohnte, scheint den Rockefellers bewusst gewesen zu sein. Das Center wurde reichlich mit Kunst ausgestattet, auf der Plaza, also im frei zugänglichen urbanen Raum, ist eine goldene Prometheus-Skulptur aufgestellt, ein Abbild jenes Gottes also, der in der griechischen Mythologie den Menschen das Feuer brachte und dafür von Göttervater Zeus grausam bestraft wurde.
Das Unternehmen der Rockefellers, die Standard Oil Company, ging später in Exxon auf, jener Firma, die bereits in den 1970er Jahren aufgrund eigener, damals geheim gehaltener wissenschaftlicher Studien von der anthropogenen Erderwärmung wusste und, ihren ökonomischen Interessen folgend, nicht nur ihr Geschäftsmodell fortsetzte, sondern Klimaleugner finanziell förderte.15 Auch das ist ein Wesenszug des Anthropozäns: Wissen und Handeln stehen oft in diametralem Widerspruch. Seit den 2010er Jahren hat sich die Rockefeller-Familie mit ihren Investments auch der Bekämpfung des Klimawandels zugewandt.16 Vielleicht hofft sie, den von ihr angerichteten Schaden ein Stück weit wiedergutzumachen, auf dass ihr dereinst ebenso verziehen wird wie Prometheus.
Die Kunst, etwas Dreckiges wie Öl und Kohle zu Geld und Gold zu machen, erfordert einen Preis, der an anderer Stelle zu zahlen ist. Deshalb gibt es noch einen anderen Zugang, den CO2-Treiber »Energiegewinnung« architektonisch zu verorten – sofern wir Architektur nicht nur als Gebäude, sondern als Gesamtheit des durch menschliche Eingriffe umgestalteten Raums begreifen. Dann zählen die zerstörten Landschaften, die die Förderung von Öl, Gas und Kohle hervorbringen, zur Architektur des Anthropozäns.
Mehr und mehr wird versucht, diese umgangssprachlich oft als Mondlandschaften bezeichneten Räume wieder in einen natürlichen Zustand zurückzuführen oder zumindest den zerstörerischen menschlichen Eingriff unsichtbar zu machen – durchaus mit viel Aufwand und langen Zeithorizonten. Im nordrhein-westfälischen Hambach liegt die größte Braunkohlegrube Europas. Sie soll in den zweitgrößten See Deutschlands verwandelt werden. Rund vierzig Jahre wird es dauen, bis das bis zu 365 Meter tiefe Loch mit Wasser aus dem Rhein gefüllt ist. In Ostdeutschland sind bereits viele derartige Seen als Braunkohlefolgelandschaften entstanden.
Aber es gibt auch andere Strategien der Rekultivierung, sie reichen von aktiver Bewaldung bis hin zum vorsätzlichen Sich-selbst-Überlassen. Die Renaturierungen kombinieren ökologische und ökonomische Aspekte. Zum einen sollen die entstehenden Landschaften touristisch attraktiv sein und so den von Deindustrialisierung betroffenen Regionen eine neue wirtschaftliche Perspektive eröffnen (Stichwort Seenlandschaften); zum anderen bergen Renaturierungen ein großes ökologisches Potential. Die Landschaften wurden für den Abbau der Energieträger entsiedelt; auf den großen, nahezu menschenleeren Flächen können sich deshalb Tier- und Pflanzenarten ansiedeln, die in der stark besiedelten und bewirtschafteten Kulturlandschaft der Gegenwart keine Überlebenschancen mehr haben – der Rekultivierung ist eine merkwürdige Paradoxie eingeschrieben.
Nicht nur die Landschaft, sondern auch die Vorstellungen von Wachstum, Fortschritt, Innovation transformieren sich; es scheint, als würde der zerstörerische menschliche Eingriff nicht nur rückgängig gemacht werden können, sondern als würde die neu entstehende postindustrielle Landschaft – nach welchen Kriterien auch immer – besser, schöner, natürlicher sein als die vor-industrielle: Ist das der zarte Beginn eines Postanthropozäns, ein Vorbild für eine architektonische Praxis des Rückzugs?
Die Rekultivierung allein wird für ein Postanthropozän, so es dies überhaupt geben kann, nicht ausreichen. Will man auf Energie nicht verzichten, braucht es Alternativen zu Kohle, Öl und Gas. Doch auch Wind-, Solar- oder Wasserkraft wohnt eine Paradoxie inne, für die noch keine angemessene gestalterische Lösung gefunden wurde: Die eigentlich rettende Technologie führt, so sie in großem Maßstab eingesetzt wird, ebenfalls zu Zerstörung.
Die wohl älteste von Menschen genutzte CO2-freie Energiequelle ist Wasserkraft. Schon Vitruv beschrieb den Bau von technischen Anlagen wie Wassermühlen als Aufgabe von Architekt:innen. Wir alle kennen die pittoresken Bilder von ländlichen Wassermühlen; sie wecken andere Gefühle als die großangelegten Wasserkraftwerke. Diese wurden zwar zu Beginn der Moderne als stolze Repräsentanten der menschlichen Naturbeherrschung durch Technik gefeiert, seit dem Entstehen der Ökobewegung in den 1970er Jahren werden sie, zumindest im globalen Westen, eher mit Gewalt und Zerstörung verbunden. Für die Anlage von Stauseen, in denen der für den Antrieb der Kraftwerke notwendige Wasserdruck erzeugt wird, müssen häufig Anwohner:innen vertrieben und Biotope vernichtet werden; die ökologischen Folgen betreffen nicht nur die Gebiete, die überschwemmt werden, sondern auch den weiteren Verlauf der Flüsse. Die romantischen Bilder, die alte Wassermühlen evozieren, erzeugen moderne Wasserkraftwerke nicht.
Während die vormodernen Wasserkraftanlagen den Fluss des Wassers in die Drehbewegung des Mühlsteins umsetzten, wird er in der Moderne für die Gewinnung von Strom genutzt. Ab Ende des 19.Jahrhunderts wurden die ersten großen Wasserkraftwerke gebaut; zum einen, weil es Bedarf an elektrischem Strom gab, zum anderen, weil effizientere Turbinen entwickelt worden waren und mit Beton ein geeignetes Baumaterial für derartige Großbauwerke zur Verfügung stand. Doch die damit errungene Fähigkeit scheint den Erbauern unheimlich gewesen zu sein, die frühen Wasserkraftwerke greifen – wie andere Industriebauten des späten 19. und frühen 20.Jahrhunderts auch – häufig historistische Motive und tradierte Materialien auf, als wollten sie sich versichern, dass mit einer entfesselten Technik keine neue, unheimliche Zeit anbräche: Die Staumauern aus Beton wurden mit Natur- oder Ziegelstein verkleidet und mit eklektizistischen Bögen und Türmchen dekoriert. Häufig wurden Kraftwerke auch Kirchen nachgebildet, nur dass sich im Hauptschiff kein Altar, sondern die Turbinen befanden. Energie, die neue Religion, sollte gebührend geehrt werden – vielleicht auch, damit sie dem Menschen nicht wie ein wütender Gott zürne und ihre Kraft gegen ihn wende. Und solange man dafür noch keine neue Sprache gefunden hatte, griff man auf die tradierte zurück.
Abb. 8: 1928-1952 propagierte der Architekt Hermann Sörgel die teilweise Trockenlegung des Mittelmeeres und gleichzeitige Flutung von Teilen Afrikas.
Der radikalste Vorschlag von Energiegewinnung durch Wasser, der gleichzeitig das immense zerstörerische Potential auch der regenerativen Energiequellen aufzeigt, ist das Projekt Atlantropa von Hermann Sörgel. Der Architekt verfolgte ab 1928 die Idee, gigantische Staumauern an der Meerenge von Gibraltar und bei den Dardanellen zu errichten, um das Mittelmeer von Atlantik und Schwarzem Meer abzutrennen. Die Wasserverdunstung im Mittelmeer würde zu einer Absenkung des Wasserspiegels führen, durch die so entstehende Höhendifferenz zu den bestehenden Zuflüssen könne mit Wasserkraftwerken genug Strom gewonnen werden, um ganz Europa zu versorgen. Ab etwa 1935 bezog Sörgel auch Afrika in seine Planungen ein, hier sollten durch Aufstauung neue Binnenmeere entstehen, mit denen Sörgel die Sahara bewässern wollte.
Atlantropa erscheint aus heutiger Sicht als offenkundig megalomanes Technikphantasma, doch Sörgel, der das Projekt bis zu seinem Tod verfolgte, konnte damals viele renommierte Architekten für seine Idee begeistern. Entwurfsskizzen für in Atlantropa notwendige Bauwerke fertigte u.a. Peter Behrens an, der als Architekt und Designer über viele Jahre das Erscheinungsbild der AEG (damals eines der größten deutschen Industrieunternehmen) prägte und in dessen Büro bedeutende Architekten wie Walter Gropius, Le Corbusier und Ludwig Mies van der Rohe gearbeitet hatten. Das Mittelmeer trockenzulegen erschien in den 1930er und 1940er Jahren nicht als Spinnerei, sondern stellte für viele eine wünschenswerte Zukunftsperspektive dar.
Die gleiche Ambivalenz zwischen Beschaulichkeit und Monstrosität wie bei der Wasserkraft ließe sich auch anhand anderer Bauten regenerativer Energiegewinnung aufzeigen. Das Gegenüber zur hippiesken Selbstbauanleitung für eine kleine Solaranlage sind die zeitgenössischen Solarparks, und die pittoreske historische Windmühle korrespondiert mit einem Off-Shore-Windkraftpark. Ob Wasser-, Wind- oder Solarkraft: Wenn der Energiebedarf, den wir bislang durch die Verbrennung fossiler Rohstoffe gedeckt haben, regenerativ gestillt werden soll, werden natürliche und naturnahe Lebensräume zerstört.
Nach dem Zweiten Weltkrieg glaubten viele, die Atomkraft könne das Energieproblem lösen, sie sahen in ihr eine saubere und unerschöpfliche Energiequelle – trotz der Verheerungen ihrer militärischen und der Risiken ihrer zivilen Nutzung. Doch gegen die vermeintlich zukunftsweisende Technologie formte sich früh Kritik. So markierte für die Philosophin Hannah Arendt die zivile Nutzung der Atomkraft einen Paradigmenwechsel im menschlichen Verhältnis zur Natur, wie sie 1958 in Vita activa ausführt: »Anstatt die menschliche Welt vorsichtig gegen die Elementargewalten der Natur abzuschirmen, […] haben wir im Gegenteil gerade diese Kräfte in ihrer Elementargewalt mitten in unsere Welt geleitet.«17 Dass der Mensch diese Elementargewalt nicht zähmen kann, haben die Unfälle von Harrisburg über Tschernobyl bis Fukushima gezeigt, dennoch ist die Wirkmacht der »Utopie der umfassenden Elektrifizierung durch unerschöpfliche Atomkraft«,18 wie der Architekturtheoretiker Thilo Hilpert den strahlenden Zukunftsglauben persiflierte, im globalen Kontext noch virulent: Stand 2024 hat China 41, Russland 14 und Indien 12 Atomkraftwerke in Planung, und auch in den USA und der EU sehen viele in der Atomenergie einen wichtigen Baustein für eine CO2-neutrale Zukunft.19 Dass eine Technik, deren Risikohaftigkeit und Zerstörungskraft schon mehrfach nachvollzogen werden konnte, weiter genutzt wird, demonstriert drei Wesenszüge des Menschen im Anthropozän: Täuschung, Verdrängung und Ignoranz.
Am 16.Juli 1945 wurde in der Wüste von New Mexico die erste Atombombe gezündet, bekanntlich so erfolgreich, dass bald darauf Hiroshima und Nagasaki zerstört und bis zu 120000 Menschen direkt getötet wurden. Der Codename für die Zündung der ersten Atombombe lautete Trinity. Dreifaltigkeit bezeichnet in der christlichen Vorstellung die Einheit von Gott, Vater und Heiligem Geist. Dies als Codenamen zu wählen, gleicht einer Apotheose der Technologie und ihrer Macher – denen also schon früh bewusst gewesen zu sein scheint, dass die Möglichkeit, die Erde zu zerstören, das Selbstverständnis der Menschheit grundlegend verändern würde. Ein anderes Testgebiet der US Army liegt in einer Wüste unweit von Las Vegas, weshalb das Glücksspielparadies in den 1950er Jahren auch Atomic City genannt wurde. 1951 bis 1962 fanden auf der Nevada Test Site 119 oberirdische, bis 1992 über tausend unterirdische Atombombentests statt. Die Explosionen waren für die Besucher:innen des hundert Kilometer entfernt gelegenen Casino-Paradieses eine beliebte Attraktion. Sie fanden alle drei Wochen statt und wurden von Bomb Parties mit Picknicks und Paraden begleitet.20 Die Lust am Glücksspiel als Symbol des Kapitalismus und die Begeisterung für Atompilze als Ausdruck der Dominanz des american way of life scheinen eng beieinandergelegen zu haben. Noch heute ist die Nevada Test Site, ein Gebiet ungefähr so groß wie das Saarland, militärisches Sperrgebiet. Inzwischen ist geplant, in dem Areal ein Endlager für Atommüll einzurichten, direkt unter dem Yucca Mountain, einem Berg, der den hier vor ihrer Vertreibung ansässigen Native Americans als heilig gilt.
Abb. 9: Claude Parent war einer der wenigen berühmten Architekten, die Atomkraftwerke entwarfen, hier das nach seinen Entwürfen errichtete Kraftwerk Cattenom.
Obwohl Atomenergie lange als gesellschaftliches Zukunftsversprechen galt, haben sich nur wenige Architekt:innen mit der Gestaltung von Atomkraftwerken befasst. Der einzige renommierte Architekt, der sich der zivilen Nutzung der neuen Energie verschrieben hat, war der »Supermodernist«21 Claude Parent. Er war zeitweilig Mitarbeiter von Le Corbusier und bildete 1963-1968 mit dem Philosophen Paul Virilio die Gruppe Architecture Principe. Parent wurde 1974 von der französischen Energiebehörde EDF beauftragt, zwölf Atomkraftwerke zu entwerfen. Für diesen Auftrag entwickelte er zunächst vier unterschiedliche Typologien, darunter eine, die er als »Tempel« und eine, die er als »Organ« bezeichnete. Zur Realisierung ausgewählt wurden vom Auftraggeber allerdings die beiden anderen Typologien: die »Schichtung« und die »Haube«.22 Allen vier Typologien war gemeinsam, dass sie eine neue Verbindung von Landschaft und Architektur hervorbringen und zusätzlich – dem Rockefeller Center nicht unähnlich – mit Einrichtungen für Unterhaltung und Freizeit verknüpft werden sollten. Schließlich realisierte Parent in Frankreich zwei Atomkraftwerke (ohne Unterhaltungs- und Freizeiteinrichtungen), von denen Cattenom mit seinen vier elegant geschwungenen Kühltürmen wohl das bekannteste ist.
Hiroshima ist bereits UNESCO-Welterbe, das Trinity-Testgelände seit 1975 National Historic Landmark. Seit dem Beschluss, in Deutschland keine Atomkraft mehr nutzen zu wollen, wird darüber nachgedacht, welche Atomkraftwerke als Denkmal erhalten23 und zu was die anderen transformiert werden24 könnten. Vielleicht bietet sich die gleiche Strategie an wie bei den Kohle-, Öl- und Gaskraftwerken, denn die Verknüpfung von Atomkraft und Entertainment ist nicht auf Las Vegas und die Typologien von Parent begrenzt. Wunderland Kalkar heißt ein deutscher Themenpark, der 1995 in einem nie in Betrieb gegangenen Atomkraftwerk am Niederrhein als Nachnutzung eingerichtet wurde; hier gibt es Achterbahn und Kettenkarussell, Hotel und Tagungsräume. Höhepunkt ist die Kletterwand am ehemaligen Kühlturm.
Auch im ukrainischen Prypjat befindet sich ein großer Freizeitpark; wenige Tage vor der geplanten Eröffnung ereignete sich das Reaktorunglück von Tschernobyl. Die Bilder des nie genutzten und langsam verfallenden Parks in der Geisterstadt sind in vielen Publikationen über Tschernobyl Sinnbild für die Zerstörung, die Atomkatastrophen anrichten.25 Kernkraftwerke, diese Tempel einer nach Energie süchtigen Gesellschaft, suchen anscheinend die Nähe zur leichten Unterhaltung, zur kulturellen Aufwertung und zur spirituellen Überhöhung, die Hilpert deshalb als »Strategie der sakralen Gewandung« bezeichnet.26 Unser Umgang mit der Produktion von Energie, so scheint es, ist nicht besonders rational. Wie in jeder Religion liegen Strafe und Ekstase nah beieinander – als wäre Energie ein herrischer Gott, der Zutritt zum Paradies gewähren, aber auch die Sintflut über uns kommen lassen kann.
Wahrscheinlich wird Aia die aufgelassenen Entertainmentparks, die Kletterwände an den Kühltürmen und die zu Ausstellungsräumen oder Shopping Malls umgebauten Turbinenhallen als Zeugen unseres Umgangs mit Energieproduktion ansehen – insbesondere jene archäologischen Artefakte, die mit einem verwitterten Warnhinweis versehen sind, dass das Betreten des Betriebsgeländes lebensgefährlich ist.
Die Geburtsstätte des Anthropozäns • Das Quadrivium der Architektur • Die Natur beherrschen • Das falsche Versprechen der Betonarchitektur • Gefangen im globalen Netz
In Deutschland ist die Industrie mit rund 21 Prozent der zweitgrößte Emittent von CO2. Doch ihre Bedeutung für die Entstehung des Anthropozäns lässt sich nicht allein anhand des prozentualen Anteils am Ausstoß von Treibhausgasen bemessen, sie reicht weit darüber hinaus, ist nicht nur mit Umweltzerstörung verknüpft, sondern auch mit sozialer Ungleichheit, gesellschaftlichen Ordnungen und politischen Umwälzungen. Beim Wort »Industrie« treten uns Fabriken mit rauchenden Schloten vor Augen, wir haben laute Maschinen im Ohr, wir denken an Kapitalismus, an Ausbeutung und Entfremdung, wir sehen das Fließband und vergegenwärtigen uns die Mechanisierung der Welt: lauter Merkmale der als »Industrialisierung« bezeichneten Entwicklung, die im 19.Jahrhundert einsetzte und uns in die Gegenwart des Anthropozäns geführt hat. Von manchen wird deshalb die 1769 von James Watt patentierte Weiterentwicklung der Dampfmaschine nicht nur als Beginn der Industrialisierung, sondern auch als Geburtsstunde des Anthropozäns angesehen.27
Nach dieser historischen Einordnung wäre die Fabrik die Geburtsstätte des Anthropozäns, weil an diesem Ort die Dampfmaschine – nachdem sie zunächst in der Kohleförderung eingesetzt worden war – ihren Durchbruch hatte. Die maschinenbetriebene Fabrik hat etliche architektonische Repräsentanten, in vielen Städten finden sich noch heute aus dem 19.Jahrhundert stammende Industriebauten mit den für damals so typischen Backsteinwänden und eisernen Dachkonstruktionen; in den wenigsten dieser Gebäude sind noch Produktionsmaschinen untergebracht, manche sind noch als Lagerhallen in Nutzung, einige stehen leer und sind von außen mit Graffiti besprüht, andere wurden in den letzten Jahren zu schicken Wohnlofts oder Büroräumen umgebaut.
Die die Industrialisierung vorantreibende Maschine war aber nicht nur eine funktionale Entität, die die moderne Lebenswelt ermöglicht (und erzeugt) hat, sondern auch symbolisch aufgeladen – und dementsprechend auch ein Topos der Architektur. Der italienische Architekt Antonio Sant’Elia forderte 1919 in seinem Manifest der futuristischen Architektur: »Das futuristische Haus muss wie eine gigantische Maschine werden.«28Le Corbusier griff diese Idee auf und sprach ab 1921 von Häusern als »Wohnmaschinen«. Zwar distanzierte er sich später von dieser Metapher, aber die Vorstellung, dass der moderne Mensch – wenn wir mit Heidegger das Wohnen als grundlegende Form des Seins begreifen – selbst Teil einer Maschine ist, ist seit der Zwischenkriegszeit in die moderne Architektur eingeschrieben.
Und schließlich bestimmte die Maschine auch die Vorstellung, wie Architektur produziert werden soll. Industrielles Bauen und Vorfertigung, so eine Idealvorstellung der Moderne, ermöglichten eine kostengünstige Produktion von Gebäuden, wodurch für mehr Menschen guter Wohnraum zur Verfügung gestellt werden könnte. Die Realität des Bauens war und ist eine andere: Die Architektur der Klassischen Moderne war technisch bei weitem nicht so avanciert, wie die immer wieder proklamierten Vorstellungen von Massenfertigung glauben machen wollten – und auch die Architekturproduktion der Gegenwart ist mehr hands-on und weniger Hightech, als viele vermuten würden. Dennoch versuchten Industrieunternehmen immer wieder, das Bauwesen zu revolutionieren, und auch die auf Handwerk basierende, traditionelle Bauwirtschaft wollte ihre Arbeitsabläufe rationalisieren. »Die moderne Bewegung in der Architektur«, so die Architektursoziologin Christine Hannemann, »entwickelte im Anschluss an die Prinzipien der durch Frederick W. Taylor und Henry Ford revolutionierten Massenproduktion eine ›Philosophie‹ des industrialisierten Massenwohnbaus.«29 Diese Entwicklung war aber nicht nur ökonomisch motiviert, sondern immer wieder mit der Idee sozialer Emanzipation verbunden. Durch neue Technologien sollte guter und kostengünstiger Wohnraum für die breite Masse ermöglicht werden.
Abb. 10: In den 1920er Jahren experimentierten auch die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke in Dessau mit dem industriellen Häuserbau, hier ein Fertighaus, das 1927 in Kooperation mit dem Bauhaus entstand.
In Deutschland wurde dieses Neue Bauen vom 1919 gegründeten Bauhaus propagiert. In der zunächst in Weimar, dann von 1925-1932 in Dessau und nach der dortigen Schließung durch die Nationalsozialisten noch bis zur 1933 erfolgten endgültigen Auflösung in Berlin tätigen Architektur- und Gestaltungshochschule sollten, so formulierte es 1924 der Gründungsdirektor Walter Gropius, »Kunst und Technik eine neue Einheit« eingehen. Das Bauhaus gilt als einer der zentralen Ursprungsorte der Moderne; zum einen, weil dort funktionalistische Gestaltung und industrieller Großsiedlungsbau vorgedacht und vorangetrieben wurden, zum anderen, weil viele Bauhäusler:innen vor nationalsozialistischer Verfolgung fliehen mussten und dabei die Idee des industrialisierten Bauens in alle Welt trugen.
Die Innovationskraft der Bauhauslehre lässt sich an zwei noch heute zu besichtigenden Beispielen gut veranschaulichen. Als Walter Gropius die Mustersiedlung Dessau-Törten baute, organisierte er die Baustelle wie die Fertigungsstraße einer Fabrik, mit auf Schienen fahrenden Baumaschinen.30 Zeitgleich entwarfen die beiden Bauhäusler Georg Muche und Richard Paulick in – einer damals noch unüblichen – Kooperation zwischen der staatlichen Hochschule und dem privatwirtschaftlichen Flugzeughersteller Junkers ein Stahlhaus. Es wurde, technisch äußerst fortschrittlich, aus vom Industrieunternehmen vorproduzierten Elementen errichtet: Es war genauso modern wie ein Flugzeug.
Aber nicht nur in Dessau, auch an anderen Orten wurden neue Methoden industrialisierten Bauens erprobt. In Frankfurt etwa wurde 1926 von Ernst May, einem anderen herausragenden Protagonisten des Neuen Bauens, eine Häuserfabrik initiiert, in der aus Sand, Bims und Zement standardisierte Platten für das städtische Wohnungsbauprogramm vorgefertigt wurden. All diese Ansätze der Rationalisierung des Bauens blieben aber aus ökonomischen Gründen in der Experimentierphase: In der von Wirtschaftskrisen geprägten Weimarer Republik war menschliche Arbeitskraft schlichtweg billiger als maschinelle.
Abb. 11: Mit der Hausbaumaschine wollte der Bauhäusler Ernst Neufert 1941 das Wohnungsproblem nach dem erhofften »Endsieg« lösen.
Wie brüchig das mit der Industrialisierung des Bauens verbundene Emanzipationsnarrativ war, zeigt sich an der Hausbaumaschine von Ernst Neufert. Der Begründer der Normierung des Bauwesens war einer der ersten Studierenden am Bauhaus gewesen und später Büroleiter von Walter Gropius; sowohl im »Dritten Reich« als auch in der Bundesrepublik avancierte er zu einem der führenden Architekten. Für den Aufbau der kriegszerstörten Städte nach dem erhofften »Endsieg« konzipierte er 1941 eine gigantische »Hausbaumaschine«, die im Jahr 600000 Wohnungen errichten können sollte.31 Die reisende »Fabrikhalle«, so Neufert in seiner Bauordnungslehre, »fährt zur nächsten Baustelle und läßt das gegossene Haus sauber, wie aus der Eierschale gepellt, zurück.«32 Das industriell gefertigte Haus, das Haus aus der Fabrik, ist in der Moderne ein Glücksversprechen – ganz unabhängig von den politischen Zielsetzungen der jeweils Herrschenden.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Industrialisierung des Bauens voll zum Tragen – auch für deren Protagonisten aus der Vorkriegszeit. Ernst May wurde 1956 Leiter der Planungsabteilung der Neuen Heimat und war am Bau zahlreicher Großsiedlungen in Westdeutschland beteiligt, Walter Gropius baute in West-Berlin ab 1962 die später in Gropiusstadt umbenannte Großwohnsiedlung Britz-Buckow-Rudow, Richard Paulick wurde einer der bedeutendsten Architekten der DDR, 1963 bis 1970 war er Chefarchitekt von Halle-Neustadt, einer für 70000 Bewohner:innen ausgelegten Stadtneugründung.
Industrielle Vorfertigung im Bauwesen scheint auch heute noch eine attraktive Zukunft zu versprechen. 2021 gründete der dänische Architekt Bjarke Ingels, mit seinem Büro BIG einer der Stars der globalen Baubranche und Vertreter eines kapitalistischen Ökooptimismus, mit zwei Geschäftspartnern das Unternehmen Nabr, das den Wohnungsbau durch – selbstredend ökologisch nachhaltige – industrielle Vorfertigung revolutionieren will: »Wenn wir die Art und Weise, wie wir unsere Häuser und Städte bauen, neu denken«, so Ingels, »können wir ein gesundes Leben zum Standard machen, nicht nur für die einzelnen Bewohner, sondern auch für die Kommunen und schließlich für den gesamten Planeten.«33 Die Logik der Industrialisierung, die die planetaren Probleme der Gegenwart hervorgebracht hat, soll nun also das Werkzeug sein, das diese Probleme wieder beseitigt.
»Architektur ist heute von vier Grundprodukten abhängig: Stahl, Beton, Glas und Kunststoff«, so der amerikanische Architekturhistoriker Mark Jarzombek. »Jedes ist eine ökonomische Kennzahl der hyperindustriellen Welt, in der wir leben.« Diese Welt bezeichnet Jarzombek in Anlehnung an die von Antike bis Mittelalter gebräuchliche Bezeichnung für die vier angewandten Künste Musik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie als das »goldene Zeitalter des industriellen Quadrivium-Komplexes«.34
Um das industrielle Quadrivium und seine ökologische Bedeutung besser zu verstehen, lohnt ein Blick auf die verschiedenen Bereiche der Industrie und den jeweiligen Anteil an den CO2-Emissionen. 28 Prozent der industriell bedingten Treibhausgase entstehen in der Stahlindustrie, weil das Schmelzen von Stahl und Eisen bei hohen Temperaturen erfolgt und entsprechend energieintensiv ist. Von diesem Stahl wird über ein Drittel auf dem Bau verwendet und ein Viertel in der Automobilindustrie.35 Mit 20 Prozent zweitgrößte Emittenten der deutschen Industrie sind die Raffinerien, in denen Rohöl zu Benzin, Diesel, Kerosin (Produkte, deren Emissionen man zu einem Gutteil auch dem Sektor »Verkehr« zuordnen könnte) und Heizöl (Emissionen, die man auch dem Bereich »Wohnen« zuordnen könnte) verarbeitet wird. Raffinerien sind der »Kontaktraum«, so der deutsche Kulturhistoriker Benjamin Steininger, in »dem die Moderne ihrer fossilen Basis begegnet«.36 Das globale Netzwerk von Erdölförderanlagen, Verladehäfen, Raffinerien und Pipelines wird sicherlich das Interesse künftiger Archäolog:innen wecken. Platz 3 (18 Prozent) beim CO2-Ausstoß der Industrie nimmt die Produktion von Zement ein (aus Zement wird Beton hergestellt), dicht gefolgt von der chemischen Industrie, die aus raffiniertem Erdöl diverse Kunststoffe herstellt. Auch diese benötigt man im Bauwesen, nämlich für Kleb-, Dämm- und Dichtungsstoffe.
In der Summe verantwortet das Baugewerbe also rund ein Drittel der industriellen Emissionen. Alternative Materialien – wie die vormodernen Werkstoffe Holz, Stroh und Lehm – spielen (noch) keine wirklich relevante Rolle.
Stahlbeton, der für die CO2-Emission hauptverantwortliche Baustoff, hat in den vergangenen rund 150 Jahren eine erstaunliche Karriere erfahren, da er kostengünstig, haltbar und vielfältig einsetzbar ist. Für den Erfolg von Beton gibt es drei Gründe: Beton ist billig; weil Wasser, Sand, Kies und Kalk fast überall in großen Mengen und zu geringen Kosten abgebaut werden können (Sand ist inzwischen allerdings zu einer Mangelware geworden und wird deshalb teilweise von einer global agierenden »Sandmafia« illegal extrahiert);37 bauen mit Stahlbeton ist einfach, weil für die Verarbeitung keine aufwendigen Technologien nötig sind; und Beton ist vielseitig einsetzbar, weil sich das flüssige Material in fast jede Form bringen lässt.
Beton hat das Angesicht der Welt verändert. Fast die Hälfte der heutigen Technosphäre – also der menschgemachten Masse – besteht aus Beton.38 Es ist schwierig, die unvorstellbaren Mengen von Beton, die jedes Jahr verbaut werden, anschaulich darzustellen. Hier dennoch ein Versuch: Die globale Jahresproduktion betrug 2020 vier Milliarden Kubikmeter,39 damit könnte man ganz Deutschland mit einer 3,5 Zentimeter dicken Betonschicht überziehen – und das Jahr für Jahr. Aus Perspektive der Nachhaltigkeit (Stichworte wären Wiederverwertbarkeit und Materialkreisläufe) ist neben der hohen CO2-Emission auch das, was lange als Vorteil von Beton galt, heute sein Nachteil: Er ist so gut wie nicht recyclebar, was einmal aus Beton gebaut ist, steht lange. Zukünftige Gesellschaften werden das Anthropozän jedenfalls auch am Beton erkennen.
Wenn wir heute vom Anthropozän sprechen, vergessen wir schnell, dass die Menschen sich lange als der Natur unterworfen, als den Naturgewalten hilflos ausgesetzt erlebt haben – und stets gegen sie ankämpfen mussten. Aquädukte, Deiche, Kanäle, Tunnel – die Geschichte des Bauens strotzt vor ingenieurstechnischen Meisterleistungen, mit denen der Natur ein Schnippchen geschlagen werden sollte und auch oft genug geschlagen wurde. Mit Beton wurden diese Bemühungen sowohl in der Größe als auch in der Anzahl in vorher unvorstellbarem Maße skalierbar. Und so spiegelt sich in vielen Betonbauten die angestrebte »Herrschaft über die Naturkräfte« wider,40 die 1928 der Architekt, Stadtplaner und spätere Bauhausmeister Ludwig Hilberseimer dem Baumaterial voller Begeisterung in seinem Buch Beton als Gestalter zuschrieb. Beton war der perfekte Erfüllungsgehilfe des prometheischen Selbstverständnisses der Moderne – was sich an Bauten wie Staudämmen, Sperrwerken und Kanalisierungen ablesen lässt. Der billige und zugleich fast unverwüstliche Stahlbeton versprach, die Natur endlich umfassend zu bändigen und den Bedürfnissen der Menschen zu unterwerfen.
Abb. 12: Um Überschwemmungen zu verhindern, wurde der Los Angeles River im 20.Jahrhundert komplett in einem Betonbett kanalisiert. Geplant wurde die Maßnahme vom US-Militär.
Ein symptomatisches Beispiel dafür ist der Los Angeles River. Er floss einst, wie der Name sagt, durch Los Angeles. Um Überschwemmungen zu vermeiden, wurde er im 20.Jahrhundert in ein Betonbett verlegt. So entstand ein hässlicher, trostloser und, so der amerikanische Geograf Blake Gumprecht, »missbrauchter« Raum.41