Arme kleine Anni - Hedwig Courths-Mahler - E-Book

Arme kleine Anni E-Book

Hedwig Courths-Mahler

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Beschreibung

Norbert traut seinen Augen kaum, als er Anni Sundheim auf dem Anwesen seiner Tante wiedersieht. Jene junge Frau von der er seit einer ersten kurzen Begegnung verzaubert war. Doch eine Liebesbeziehung der beiden scheint chancenlos. Denn Norbert ist ein angesehener Majoratsherr und Anni nur eine einfache Gesellschafterin. Damit ihr Geliebter sein privilegiertes Leben weiter fortführen kann, beschließt die junge Frau schließlich schweren Herzens Schloss Saßneck den Rücken zu kehren ...-

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Hedwig Courths-Mahler

Arme kleine Anni

 

Saga

Arme kleine Anni

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1916, 2022 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726950540

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

1

In den Anlagen vor dem Wiesbadener Kochbrunnen promenierten die Kurgäste beim Morgenkonzert. Es war ein wundervoller, klarer Maienmorgen mit Frühlingsluft, Sonnenschein und Blumenduft. Er zauberte ein frohes, hoffnungsvolles Lächeln auf alle jungen und alten Gesichter ringsum. Die Gesunden wurden sich intensiver ihrer Gesundheit bewußt, und den Kranken zog es wie eine Verheißung auf Genesung ins Herz.

Eine Gruppe elegant gekleideter Herren, die wohl nur mit einem leichten Leiden ein wenig kokettierten, stand am Eingang der Kochbrunnenhalle. Sie schlürften mit wichtigen Gesichtern den lauwarmen Quell aus ihren mit Nummer gezeichneten Gläsern. Dabei machten sie Witze über den faden Geschmack, glossierten die Vorübergehenden und lachten so vergnügt, daß man sie unmöglich als »Leidende« bedauern konnte.

Ein schlanker junger Mann, dem man den Offizier in Zivil ansah und der sich beim letzten Manöver ein leichtes Rheuma zugezogen hatte, das er hier mit Bädern und einer Trinkkur kurieren wollte, machte die anderen Herren eifrig auf die vorüberwandelnden weiblichen Schönheiten aufmerksam. Mit sicherem Blick fand er die elegantesten Frühlingstoiletten heraus und gab ihnen gewissermaßen durch seine Bemerkungen eine Zensur. In der Wandelhalle drängten sich die Menschen. Da der Boden in den Anlagen noch etwas feucht war, ergingen sich die Empfindlichen lieber auf dem trockenen Steinfußboden der Halle.

Manche auffallende Persönlichkeit tauchte unter der Menge auf. Der junge Offizier schien sie alle zu kennen und erstattete Bericht. Da sich der Menschenstrom in geordneten Reihen, rechts ausweichend, bewegte, war es leicht, jeden zu bemerken und von jedem bemerkt zu werden. Jetzt beschwingte der Fledermauswalzer die Bewegungen der Promenierenden. Die Herren am Kochbrunneneingang summten die Melodie mit, und der junge Offizier schüttete verstohlen den Rest aus seinem Glas hinter die Büsche: »Fledermauswalzer und Kochbrunnenkur — brr!« sagte er, sich schüttelnd. Die anderen lachten.

»Sekt wäre mir auch lieber«, antwortete ein anderer. Aber sie holten sich doch alle ein frisches Glas Kochbrunnen.

Dann nahmen sie ihren Platz wieder ein. Sie standen noch nicht lange dort, als zwei Damen sich näherten.

»Die Sonne!« flüsterte der Leutnant.

Alle Köpfe wandten sich der jungen Dame zu, auf deren Arm sich eine leidend aussehende Frau von mehr als fünfzig Jahren stützte. Diese beiden Damen waren jeden Morgen am Kochbrunnen. Aber sie sprachen nie mit jemand, schienen niemand zu kennen und von niemand gekannt zu sein. Die junge Dame, die der Leutnant mit »Die Sonne« bezeichnet hatte, rechtfertigte diese schmeichelhafte Bezeichnung durch ihre große Schönheit und den sonnigen Gesichtsausdruck. Gewiß ahnte sie nicht, daß die Herren sich so intensiv mit ihr beschäftigten, jedenfalls achtete sie gar nicht auf sie.

Sie war eine schlanke, anmutige Erscheinung von vielleicht zwanzig Jahren. Liebevoll beugte sie sich zu der älteren, ganz in Schwarz gekleideten Dame hinab und reichte ihr zuweilen das Trinkglas. Dabei lächelte sie so süß und herzbewegend, daß die Herren unruhig von einem Fuß auf den anderen traten. Sie trug ein schlichtes, aber elegantes Straßenkostüm von dunkelblauer Farbe, dazu einen kleidsamen Strohhut. Beide Damen machten unbedingt einen distinguierten Eindruck.

Nach einem kurzen Spaziergang war das Trinkglas geleert. Die junge Dame gab das leere Glas in Verwahrung an der Kasse und kam dabei an der Herrengruppe vorbei. Darauf verließen die Damen langsam die Anlagen.

»Schade!« sagte der eine der Herren seufzend.

»Die Sonne ist untergegangen«, bemerkte der zweite.

Der Leutnant suchte durch eine mokante Bemerkung die Heiterkeit wiederherzustellen. »Wir geben jetzt sicher ein Gemälde ab, das ich ›Nach Sonnenuntergang‹ nennen würde.«

Ein wohlbeleibter Herr klopfte ihn auf die Schulter. »Statt schlechte Witze zu machen, lieber Dewitz, hätten Sie versuchen sollen, herauszukriegen, wer die beiden Damen sind. Sie wissen doch sonst immer alles.«

Dewitz zuckte die Schultern. »Tut mir leid, kein Mensch weiß, wer sie sind. Man sieht sie nirgends in Gesellschaft.«

»Na also, trösten wir uns. Die Sonne geht jeden Morgen von neuem auf, und so wird uns ein Wiedersehen beschieden sein.«

Das Konzert war jetzt zu Ende, und nun verließen auch die Herren die Anlagen. Inzwischen waren die beiden Damen die Taunusstraße entlanggegangen, waren in die Wilhelmstraße eingebogen und schritten unter den Kolonnaden am Theater vorbei zum Kurpark.

»Wollen wir erst ein Weilchen ruhen, liebe Mutter?« fragte die junge Dame liebevoll besorgt.

»Nein, laß uns noch ein Stück weitergehen, Anni, ich fühle mich noch ganz kräftig. Ach, welch ein herrlicher Morgen, mein Kind! Die Sonnenwärme tut mir so gut«, erwiderte die alte Dame, ihr feines, leidendes Gesicht emporhebend.

Anni Sundheim streichelte zärtlich die welke Hand, die auf ihrem Arm lag. »Wie froh bin ich, daß du dich heute ein wenig besser fühlst. Gehen wir auch nicht zu schnell?«

Die alte Dame lächelte wehmütig. »Ach, meine Anni, wie schwer mag es dir sein, deine flinken Füße meinem Tempo anzupassen.«

»Gar nicht schwer! Nichts ist mir schwer, was ich dir zuliebe tun kann.«

Sie waren an den Fenstern des Lesesaales vorübergegangen. In einem Korbstuhl an einem der geöffneten Fenster saß eine ältere Dame und las. Unwillkürlich hatte sie den Kopf gehoben, als Mutter und Tochter langsam draußen vorübergingen. Sie hatte gestutzt, als sie in das Gesicht der Mutter blickte. Nun erhob sie sich überrascht und sah ihnen nach.

»Das war doch Bettina — ganz gewiß, das muß Bettina gewesen sein«, sagte sie leise vor sich hin. Kurz entschlossen legte sie die Zeitung auf den Tisch und verließ den Lesesaal.

Schnell überquerte sie den Konzertplatz vor dem Parkteich und bog in den breiten, gutgepflegten Weg ein, der rechts um den Teich in den Kurpark führt. Diesen Weg mußten die beiden Damen eingeschlagen haben.

Bald entdeckte sie die Gesuchten, die auf einer Bank im Sonnenschein Platz genommen hatten. Ohne Zögern schritt sie auf die beiden Damen zu. Dicht neben der Bank blieb sie stehen. Noch ein prüfender Blick traf aus ihren Augen das Gesicht der alten Dame, die sich zu gleicher Zeit überrascht aufrichtete. Auch in ihren Augen blitzte ein Strahl des Erkennens.

»Bettina! Nicht wahr, du bist es!« rief die Angekommene freudig, und zugleich streckten sich die beiden Damen die Hände entgegen.

»Elisabeth — welch ein glücklicher Zufall! Wie freue ich mich, dich einmal wiederzusehen!« erwiderte Frau Bettina Sundheim. Elisabeth von Saßneck neigte ihr frisches Gesicht hinab und küßte Frau Sundheim herzlich auf den Mund. Obwohl sie fast im gleichen Alter waren — sie waren Pensionsfreundinnen gewesen —, erschien Frau von Saßneck bedeutend jünger. Bettina Sundheim hatte ein schweres Leiden früher altern lassen.

»Bleib sitzen, Bettina. Ich sah an deinem Gang, daß du leidend bist. Aber ich erkannte dich sofort, als ich dich am Lesesaal vorübergehen sah, obgleich du dich sehr verändert hast.«

Bettina lächelte wehmütig. »Ja, Elisabeth, ich bin zur Kur hier. Aber du? Du siehst gottlob nicht aus, als bedürftest du einer Kur.«

»Und doch bin auch ich auf ärztliche Verordnung hier, wenn auch mehr, um einem Leiden vorzubeugen. Wenn man über die Fünfzig ist, stellen sich allerhand Gebrechen ein. Ich wollte erst gegen den ärztlichen Befehl revoltieren, weil ich mich gottlob gar nicht krank fühle. Aber nun freue ich mich doch, daß ich gehorsam war. So sehe ich dich doch nach Jahren endlich einmal wieder. Wie lange ist es her, daß wir uns nicht begegnet sind? Fünf Jahre gewiß.«

»Ja, so lange ist es her. Wir haben uns ja leider immer nur nach langen Pausen wiedergesehen. Seit wir als halbflügge Menschen die Pensionszeit hinter uns hatten, sind wir uns nur immer wieder durch glückliche Zufälle auf Reisen begegnet.«

»Das Schicksal hat uns weit auseinandergeführt. Als ich dich vor fünf Jahren in Scheveningen traf, war ich kaum imstande, mich an dem Wiedersehen mit dir zu freuen.«

»Ja, du Arme, da hattest du das größte Leiden deines Lebens zu tragen: du hattest kurz zuvor deinen Sohn verloren.«

Frau von Saßnecks Augen trübten sich. »Seit sechs Jahren beweine ich meinen einzigen, Bettina. Aber inzwischen habe ich noch einen anderen schweren Verlust erlitten. Mein Mann starb vor drei Jahren — er konnte den Verlust unseres Sohnes nicht verwinden.«

»So sind wir beide Witwen, Elisabeth.«

»Wie — auch du?«

»Ja, vor zwei Jahren habe ich meinen Mann verloren — und vieles andere noch. Seit der Zeit bin ich nie mehr gesund gewesen.«

Frau von Saßneck faßte ihre Hände. »Dir hat das Schicksal aber wenigstens dein liebes Töchterchen erhalten. Wie reich bist du noch immer!« sagte sie tröstend. Und dann wandte sie sich an Anni Sundheim, die sich erhoben hatte, um Frau von Saßneck ihren Platz anzubieten. »Verzeihen Sie, wenn ich Sie erst jetzt begrüße, mein liebes Kind. Sie gestatten mir diese Anrede, denn ich kannte Sie schon, als Sie noch ein kleines Mädchen waren. Freilich werden Sie sich meiner kaum noch erinnern. Es war vor ungefähr zehn oder elf Jahren, als wir in Zoppot Bekanntschaft machten. Sie nannten mich damals sehr lieb und vertraulich Tante Elisabeth.«

»Doch, gnädige Frau, ich erinnere mich noch sehr gut jener Zeit. Fragen Sie Mama. Die gütige Tante Elisabeth, die mir eine schöne Puppe schenkte, und ihr Sohn Hans, der mit mir herrliche Sandburgen baute, haben lange meine kindliche Phantasie beschäftigt.«

Frau von Saßneck seufzte. »Ja, liebe Bettina, damals waren wir sehr glücklich und verlebten sonnige Wochen. Und zwei Jahre später trafen wir in Nizza zusammen. Auch da war uns das Leben noch hold. Als wir uns später in Scheveningen begegneten, hatte mich schon der erste harte Schlag getroffen, mein Hans war ertrunken, mit einem Kameraden zusammen, den er hatte retten wollen. Damals konnte ich selbst deine Gesellschaft schwer ertragen.«

»Und nun treffen wir uns nach Jahren wieder hier. Oh, wir haben wohl einander viel zu erzählen. Hast du ein wenig Zeit für mich?«

»Soviel du willst, Bettina. Ich bin ganz allein hier und habe nichts zu tun, als meine leichte Kur zu gebrauchen.«

Frau Sundheim wandte sich an ihre Tochter. »Du kannst die Zeit benützen, dich ein wenig auszulaufen, Anni. Das fehlt dir doch sehr. Geh nur, ich bin ja in guter Gesellschaft und erwarte dich hier.«

Anni sah die Mutter besorgt an. »Wirst du dich auch nicht zu sehr aufregen, liebe Mama?«

»Sei unbesorgt, es wird mir im Gegenteil wohltun, mich einmal auszusprechen.«

Anni zögerte noch und wandte sich an Frau von Saßneck: »Mama ist herzleidend und hat eben erst eine Kur in Nauheim hinter sich. Sie muß nun hier wegen ihres starken Rheumas noch Bäder nehmen und ist recht schwach.«

Frau von Saßneck sah wohlgefällig in Annis schönes Gesicht, in dem deutlich genug die liebevolle Sorge um die Mutter stand. »Gehen Sie nur ruhig und unbesorgt, liebes Kind. Wir wollen nur unsere Erlebnisse austauschen und von alten, frohen Zeiten plaudern. Ich will Ihr Mütterchen gut in acht nehmen.«

Anni gefiel die hübsche, stattliche Frau mit dem frischen, klugen Gesicht und den gütigen Augen sehr. Aus ihrer Kinderzeit stiegen ein paar sonnige Wochen am Ostseestrand wie ein leuchtendes Bild herauf. Schon damals hatte sie das vornehm-gütige Wesen dieser Frau als etwas Köstliches empfunden.

»Dann will ich also bis zu den Tennisplätzen gehen.« Anni ging leichtfüßig davon.

»Welch ein reizendes und bildschönes Geschöpf ist deine Tochter geworden, liebe Bettina. Sie versprach schon als Kind eine Schönheit zu werden. Aber nun bin ich doch überrascht, wie wundervoll sie sich entwickelt hat.«

Bettina Sundheim seufzte. »Ja, sie ist schön. Und was mehr ist — sie ist gesund und klug —, ich darf das sagen, ohne in den Verdacht der Eitelkeit zu geraten. Aber nun erzähle mir von dir, Elisabeth. Wie trägst du das Leben, das dir Mann und Sohn genommen hat?«

»Ja, Bettina — das Leben erschien mir zuerst gar nicht mehr lebenswert. Aber man lernt sich bescheiden.«

»Und hast du nicht mit deinem Gatten deine Heimat verloren? Saßneck war doch Majorat?«

»Nein, die Heimat verlor ich nicht, obwohl Saßneck Majorat ist. Es gibt in Saßneck einen sehr hübschen, idyllischen Witwensitz, mitten im herrlichen Wald an der Parkgrenze. Dort habe ich bis zu meinem Tod unbestrittenes Heimatrecht. Vorläufig wohne ich indes noch im Schloß und kann mich da ganz als Herrin fühlen. Der jetzige Majoratsherr, ein Neffe meines Mannes, hat nicht Vater und Mutter mehr und ist noch unverheiratet. Mein Mann hat ihn bald nach dem Tode unseres Sohnes nach Saßneck kommen lassen, weil er sich sehr leidend fühlte. Norbert hat schon damals begonnen, für meinen Mann die Geschäfte zu führen. Und im steten Zusammensein ist er uns wie ein Sohn ans Herz gewachsen. Als mein Mann starb, hat er mir treulich zur Seite gestanden. Manchmal ist mir zumute, als habe mir der liebe Gott in ihm einen Ersatz für meinen Hans gegeben. Er hat es nicht gelitten, daß ich mich auf meinen Witwensitz zurückziehe, ich soll die Herrin seines Hauses bleiben, bis er sich verheiratet. Es ist mein Wunsch, daß dies bald geschieht, denn man wird alt und sehnt sich nach Ruhe.«

»Du siehst aber gottlob noch gar nicht ruhebedürftig aus, Elisabeth.«

»Ja, mein Körper ist immer sehr robust gewesen — sonst hätte mich wohl mein Herzeleid niederwerfen müssen. Es gab Zeiten, da ich mehr für meinen Verstand als für meinen Körper fürchten mußte. Als man mir meinen Hans kalt und starr nach Hause brachte — ach, laß mich davon schweigen. Du kannst mir das zum Glück nicht nachfühlen, denn du besitzest dein Kind noch und kannst dich seiner Jugend freuen.«

Bettinas blasses Gesicht rötete sich jäh, und in ihren Augen lag ein seltener Ausdruck. »Nein — das kann ich dir wohl nicht nachfühlen«, sagte sie leise, »noch viel weniger, als du denkst.«

Frau von Saßneck blickte betroffen auf die Freundin, deren Augen verloren ins Weite blickten. Aber diese richtete sich nun schnell auf, als würfe sie eine Last von sich. Dann sagte sie bittend: »Sprich weiter, Elisabeth!«

»Sonst habe ich kaum Wichtiges zu berichten. Ich habe mich mit dem Leben abgefunden, und obwohl es mir unglaublich schien, gibt es auch für mich noch manche gute, frohe Stunde. Man muß nur genügsam sein, dann findet man sich auch in Trübsal und Kummer zurecht. Aber erzähle mir von dir. Mein Schicksal kennst du nun in großen Umrissen. Seit ich hier neben dir sitze, ist es mir unverständlich, daß ich dich im Egoismus meines Schmerz fast vergaß in den letzten Jahren. Und doch habe ich, wie immer, wenn wir irgendwo auf unserem Lebensweg zusammentrafen, das Gefühl, daß wir einander verstehen. Du hast immer meinem Herzen nahegestanden.«

»So wie du mir, Elisabeth. Gedacht habe ich deiner auch in den letzten Jahren sehr oft. Aber für eine regelmäßige Korrespondenz sind wir beide nicht geschaffen. Briefe sind ja auch nur ein kümmerlicher Notbehelf. Im Glück findet man die Worte zu schal; und im Unglück wird man schweigsam. Erst wenn man sich Auge in Auge gegenübersteht, dann kann man sich aussprechen.«

»Ja, Bettina, so ist es. Wir beide waren uns trotzdem unserer Freundschaft bewußt. Und nun sprich von dir. Auch du mußt inzwischen Leid getragen haben. Als ich dich das letztemal sah, blickten deine Augen anders als jetzt.«

»Ja, Elisabeth. Inzwischen haben viele bittere Tränen den Glanz meiner Augen verlöscht. Mein Leben ist seither so ganz anders geworden. Von der alten Bettina Sundheim ist nichts übriggeblieben als ein kümmerlicher Schatten. Und doch ist mein Geschick in wenigen Worten berichtet. Soviel Leid sich auch in diese letzten Jahre drängte — faßt man es in Worte, wundert man sich, wie schnell es dann abgetan ist. Als ich vor fünf Jahren in Scheveningen Abschied von dir nahm, ahnte ich nicht, daß ich dir heute als gebrochene Frau gegenübersitzen würde. Und hätten wir uns nicht hier in Wiesbaden getroffen — wer weiß, ob uns dann noch ein Wiedersehen beschieden wäre. Denn meine Tage sind gezählt.«

Frau von Saßneck erschrak. »Bettina — so schlimm steht es um dich?«

Frau Sundheim lächelte resigniert. »Ja, Elisabeth, ein schweres Herzleiden, das mit allerlei anderen Leiden Hand in Hand geht, macht meinen Körper hinfällig. Jeder Tag kann meinem Leben ein Ende machen. Ich bin darauf vorbereitet und würde es mit Ruhe erwarten — wenn Anni nicht wäre. Aber laß dir erzählen. Vor etwa vier Jahren ließ sich mein Mann, um einen geschäftlichen Verlust schnell wieder zu decken, in gefährliche Minenspekulationen ein. Er erhoffte einen enormen Gewinn und ließ sich verleiten, fast sein ganzes Vermögen in dieser Spekulation anzulegen. Ich wußte nichts von diesem Unternehmen, lebte sorglos in unserem schönen, alten Haus in Hamburg und verließ mich wie stets auf die Klugheit und Umsicht meines Mannes. Ich hatte auch mein ganzes Vermögen in seine Hände gegeben.

Aber jeder Mensch macht einmal einen Fehler. Kurzum, die Spekulation ging fehl, mein Mann verlor sein ganzes Vermögen. Zu gleicher Zeit fallierte ein Bankhaus, wobei meinen Mann abermals ein enormer Verlust traf. Wir waren über Nacht arm geworden. Der reiche Senator Sundheim war ein Bettler, die Minen erwiesen sich als wertlos. Das ertrug mein Mann nicht. In der Verzweiflung jener Stunde schoß er sich eine Kugel durch den Kopf.«

Sie schwieg erschöpft. Frau von Saßneck faßte erschrocken nach ihrer Hand. »O du Arme, auf so schreckliche Weise verlorst du deinen Gatten?«

Bettina wischte sich mit zitternder Hand über die Augen.

»Ja, so verlor ich ihn, den ich so unendlich geliebt habe. Er war in jener schrecklichen Stunde nicht Herr seiner selbst, sonst hätte er mir das nicht angetan, sondern hätte gemeinsam mit mir das Unabänderliche getragen. Nach seinem Tod war ich wie gelähmt. Es brach nun alles über mich herein. Unser Haus wurde verkauft, die Dienerschaft entlassen, Pferde und Wagen, Auto und unsere kleine Villa versteigert. Auch meinen Schmuck gab ich in die Masse, nur damit alle Verpflichtungen gedeckt und meines Mannes Name vor Schmach bewahrt blieben. Auch Anni gab alles hin, was sie besaß und was einigen Wert hatte. Gottlob konnten alle Gläubiger befriedigt werden. Aber uns blieb nichts als einige Koffer mit Wäsche und Kleidern und etwa zweitausend Mark in bar. Damit verließen wir Hamburg, wo wir in Glück und Glanz gelebt hatten. Freunde boten uns ihre Hilfe an, aber wir waren noch zu stolz, sie anzunehmen. Und wir wollten nicht als Bettler in Hamburg leben. So gingen wir nach Berlin und richteten uns in einer Vorstadt ein sehr bescheidenes Heim ein. Einige Wochen mußten wir vorher in einer Pension leben. Anni war in jener schrecklichen Zeit ein Segen für mich. Sie ließ sich nicht unterkriegen vom Schicksal. ›Ich habe so viel gelernt, das will ich nun verwerten. Du sollst sehen, ich finde in Berlin schon eine Arbeit, die uns zu Brot verhilft‹, sagte sie tapfer. Ganz so schlimm sollte es aber doch nicht werden. In der Zeit, da mein Mann fast eine Million in jenen unglückseligen Minenaktien anlegte, hatte er vielleicht in einer Stunde trüber Ahnungen, etwa hunderttausend Mark einer Rentenbank übergeben für mich, ohne mir etwas davon mitzuteilen. Hatte er wohl daran gedacht, daß seine Spekulationen mißglücken könnten, oder war es Eingebung einer bedenklichen Stunde gewesen, wer weiß. In unsere große Not hinein kam da nun plötzlich die erste fällige Rente an mich. Sie beträgt über sechstausend Mark jährlich, erlischt aber mit meinem Tode.

Diese sechstausend Mark erschienen uns in unserer schlimmen Lage als eine sehr große Summe. Früher hatte ich mehr nur für meine Kleidung ausgegeben, jetzt bildete sie unser gesamtes Einkommen. Und du siehst, Elisabeth, wir bringen es sogar fertig, noch Badereisen davon für mich zu erübrigen. Anni ist ein so tüchtiges Hausmütterchen geworden. Sie arbeitet den größten Teil unserer Garderobe selbst, modernisierte die Sachen, die wir von früher noch besitzen, und versteht so gut zu wirtschaften, wie ich selbst das nie fertigbringen würde. Mit Hilfe einer Putzfrau führt sie unseren kleinen Haushalt musterhaft und pflegt mich mit einer Aufopferung und Hingabe, die mich oft zu Tränen rühren. Es geht alles gut, und ich wollte mich gar nicht beklagen, wenn mich eben nicht die Sorge um Annis Zukunft drückte. Wenn ich sterbe, fällt die Rente fort, und sie bleibt mittellos zurück. Wohl hat sie eine vorzügliche Erziehung genossen, und sie sagt mir hundertmal: ›Sorge dich nicht um mich, mein Mütterchen, ich bin gesund und stark und fürchte mich nicht vor dem Kampf ums Dasein.‹ Aber das sagt sie wohl nur, um mich zu beruhigen. Sie ist ja nicht für den Lebenskampf erzogen worden, ist viel zu fein empfindend und weich, um sich darin nicht tausend Wunden zu holen. So verläßt mich die Sorge um das Kind nicht einen Augenblick.«

Frau von Saßneck streichelte ihre Hand. »Arme Bettina — und von alledem wußte ich nichts! Konntest du dich nicht an mich wenden, als du ganz hilflos warst?«

»Nein, Elisabeth, ich mußte allein damit fertig werden. Nie war ich stolzer, als da ich glaubte, arm wie eine Bettlerin zu sein. Und ich spreche auch nur so offen mit dir über alles, weil ich weiß, daß du mich verstehst in meiner Sorge um das Kind.«

»Das tue ich gewiß, Bettina. Aber sage mir, habt ihr denn keine Verwandten mehr, die sich deines Kindes annehmen können?«

Frau Sundheim lächelte schmerzlich, dann seufzte sie. »Es leben noch einige Vettern von uns, aber sie sind nicht in sehr glänzenden Verhältnissen. Und dann — von dieser Seite wird Anni niemals Hilfe kommen. Bin ich doch mit diesen Verwandten gerade Annis wegen völlig zerfallen, schon seit Jahren.«

»Deiner Tochter wegen? Darf man wissen, warum?«

»Ja, Elisabeth, dir will ich es sagen. Ich will dir etwas anvertrauen, was ich bisher auch dir gegenüber wie ein Geheimnis hütete. Meine Vettern hatten wohl, da unsere Ehe kinderlos blieb, damit gerechnet, daß sie unsere Erben würden. Solange sie darauf hoffen konnten, waren sie alle sehr lieb und herzlich zu uns.«

»Ach so, ich verstehe — als dann nach einigen Jahren dein Töchterchen geboren wurde, haben sie es nicht sehr freudig begrüßt.«

Bettina schwieg eine Weile. Dann atmete sie tief auf und sagte leise: »Damit hätten sie sich wohl abgefunden, aber — nun sollst du mein Geheimnis hören — Anni ist nicht meine Tochter.«

»Nicht deine Tochter? Bettina — das verstehe ich nicht!«

»Ich habe es immer verschwiegen, Elisabeth. Das höchste Glück des Weibes sollte mir versagt bleiben, nachdem ich ein totes Kind zur Welt gebracht hatte. Der Arzt sagte mir schon damals, daß ich nie wieder Mutter werden könnte. Ich trug es wie einen ewig wachen Schmerz, sehnte ich mich doch unsagbar nach einem Kinde. Aber nie gab ich meiner Klage Worte, nicht einmal meinem Mann gegenüber. Nun, den Schmerz habe ich verwunden, seit Anni mein liebes Kind geworden ist. Sie ist uns, meinem Mann und mir, wie ein eigenes Kind ans Herz gewachsen. Und wenn ich sie auch nicht geboren habe — so habe ich ihr doch das Leben gerettet. Ich war mit meinem Mann auf einer Reise. In Frankfurt am Main hielten wir uns einige Tage auf. Eines Nachmittags gingen wir durch die Anlagen. Ich blieb stehen und sah einem Häuflein Kinder beim Spielen zu. Da läuft plötzlich ein niedliches, kleines Mädchen von den anderen fort, mit unsicheren und doch flinken Füßen — mitten auf den Fahrweg. Im selben Augenblick kommt ein schwerer Wagen in schneller Fahrt herbei. Dicht vor dem Wagen fällt das Kindchen nieder — noch ein Augenblick, und es mußte zermalmt unter den Rädern liegen. Wie ich neben das Kind kam — ich weiß es heute nicht mehr. Ich raffte es auf, werde in demselben Moment samt dem Kind von meinem Mann zurückgerissen. Da stand ich nun, das zitternde Kind auf dem Arm. Es schlang die Ärmchen fest um meinen Hals, drückte das erschreckte Gesichtchen an meine Wange und stammelte in süßem Kauderwelsch allerlei unverständliche, kosende Laute. Ich stand wie unter einem Zauberbann. Fest und zärtlich preßte ich das Kind an mich, und mir war, als hätte ich ihm das Leben gegeben, als wäre es mein. Inzwischen war eine junge Frau erschrocken herbeigeeilt, die aufgeregt erklärte, daß das Kind eine Waise und bei ihr in Pflege gegeben sei. Dies Wort berührte mich wie eine frohe Botschaft. Ich sah beseligt in das liebreizende Kindergesicht und war fest entschlossen, die kleine Waise an Kindes Statt anzunehmen. Wir notierten uns die Adresse der Frau. Ich bestürmte meinen Mann mit Bitten, und er willigte schließlich ein, das Kind zu adoptieren, da unsere Ehe doch kinderlos bleiben würde. Am nächsten Tag suchten wir die Frau auf. Sie erzählte uns nun, daß die Kleine die Tochter eines Elektromechanikers sei, der mit seiner Frau bei einer Bootsfahrt auf dem Main ertrunken war. Der Großvater des Kindes, der allein stand, hatte es der Frau in Pflege gegeben, war aber vor kurzem auch gestorben. Nur weil Anni der Frau leid tat, hatte sie sie bisher nicht ins Waisenhaus gegeben. Nun legten wir der Frau unsere Verhältnisse dar, sagten ihr, daß es die Kleine sehr gut haben sollte, und schenkten ihr fünftausend Mark. Da übergab sie uns das Kind. Siehst du, Elisabeth, so kam ich zu meinem Kinde, und ich habe es wohl geliebt, wie man ein eigenes lieben muß.«

»Und du hast der armen Waise die Mutter ersetzt, meine liebe Bettina.«

»Soviel in meiner Macht stand, ja. Aber du kannst dir wohl nun denken, daß meine Verwandten in Anni stets einen unberechtigten Eindringling gesehen haben. Und wenn auch nun das Vermögen, nach dem sie trachteten, in nichts zerronnen ist, so werden sie Anni doch immer anrechnen, daß sie es war, die es erben sollte. Nie werden sie etwas für Anni tun, das weiß ich gewiß.«

»Nun begreife ich allerdings deine Sorgen, meine arme Bettina. Doch da sehe ich deine Tochter zurückkommen. Und du hast dich nun doch vielleicht mehr erregt, als dir gut ist.«

»Nein, es war mir eine Wohltat, mich einmal auszusprechen.«

»Und ich hoffe, es stehen uns noch mehr solche Stunden bevor, Bettina. Wie lange bleibst du in Wiesbaden?«

»Noch gut drei Wochen.«

»So lange bleibe ich bestimmt auch noch. Und wir wollen diese Zeit ausnutzen, nicht wahr? Ich lebe hier ganz zurückgezogen, habe auch kein Verlangen nach oberflächlichem Verkehr. Aber du und ich, Bettina — ich denke, wir haben uns noch viel zu sagen. Nicht wahr, du gestattest, daß ich mich dir und deiner Tochter anschließe?«

»Von Herzen gern, Elisabeth, wenn du mit zwei Frauen verkehren willst, die sich in sehr bescheidenen Verhältnissen bewegen müssen.«

Frau von Saßneck schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Meine Bettina sollte mich genauer kennen. Unsere Freundschaft ist, Gott sei Dank, zu echt, um an solchen Äußerlichkeiten zu scheitern. Ich freue mich so sehr, dich gefunden zu haben. Und ich freue mich auf die Gesellschaft deiner Tochter. Sieh nur, welch ein herrliches Geschöpf — wie der Frühling selbst schreitet sie auf uns zu. Das Herz wird einem warm bei ihrem Anblick.«

Inzwischen war Anni herangekommen. Ihre Augen leuchteten, und die Wangen waren rosig angehaucht. Besorgt beugte sie sich sofort zur Mutter hinab und sah ihr forschend in das Gesicht.

»Du hast dich dennoch erregt, liebe Mama, ich sehe es dir an«, sagte sie leise und faßte ängstlich nach dem Puls der Mutter.

»Nur ein wenig, Anni — ich bin schon wieder ganz ruhig.«

»Ist dir auch nicht kalt geworden?«

»Nein, nein, gewiß nicht.«

»Aber du mußt nun noch ein Stück gehen, Mama.«

»Ja, mein Kind. Begleitest du uns, Elisabeth?«

»Gern, wenn ich nicht störe.«

»O nein, im Gegenteil. Ich denke, wir haben noch viel Stoff zum Plaudern, und wir wollen die Zeit unseres Beisammenseins doch gut ausnützen. Komm, Anni, gib mir deinen Arm. Warst du bei den Tennisplätzen?«

»Ja, Mama«, erwiderte Anni, der Mutter beim Aufstehen helfend. »Es wurde fleißig gespielt — und teilweise sehr gut. Ich habe eine ganze Weile zugesehen.«

»Sicher mit sehnsüchtigen Augen, meine Anni.«

Das junge Mädchen errötete. »Ach ja — du kennst ja meine Passion. Aber es ist sehr gut, wenn man sich nicht alle Wünsche erfüllen kann. Man wird sonst übermütig«, sagte sie lächelnd.

Frau Sundheim wandte sich an ihre Freundin. »Anni ist eine vorzügliche Tennisspielerin und war früher als Partnerin sehr gesucht und begehrt. Überhaupt, sie wurde von allen Seiten gefeiert und umschwärmt. Das ist nun alles anders geworden.«

Frau von Saßneck sah mit gütigem Lächeln in Annis Gesicht. »Ich kann mir nicht denken, daß das jetzt anders sein würde, wenn dein Töchterchen wieder in Gesellschaft käme.«

»Wozu sie aber leider gar keine Gelegenheit mehr hat.«

»Ach, Mütterchen, sag das nur nicht so traurig. Du mußt nicht denken, daß ich die große Gesellschaft von früher entbehre.«

»Bei Ihrer Jugend wäre das aber nur natürlich, liebes Kind«, sagte Frau von Saßneck.

Über Annis sonniges Gesicht flog ein Schatten. Mit ihren wundervollen, veilchenblauen Augen sah sie ernst in Frau von Saßnecks Gesicht. »Für mich gibt es jetzt nur ein Bestreben: meiner lieben, teuren Mutter das Leben erträglich zu machen. In diesem Wunsch gehe ich so voll und ganz auf, daß ich für etwas anderes keinen Sinn mehr habe. Früher, als ich gedankenlos und vergnügt in dem geselligen Strom schwamm, habe ich mir zuweilen eine ernste, schwere Aufgabe gewünscht, die mich vor Verflachung bewahrte. Nun habe ich eine Aufgabe gefunden. Und ich lebe mit Mama in einer so innigen Gemeinschaft, daß ich wirklich oberflächliche Freuden nicht entbehre. Vielleicht, weil ich früher zuviel davon hatte.«

»Und wie alt ist diese kleine Philosophin?« fragte Frau von Saßneck lächelnd.

»Fast einundzwanzig Jahre, gnädige Frau.«

»Ei, ich bin wohl in Ungnade gefallen, daß Sie mir den vertraulichen Titel von früher vorenthalten. Ich hieß doch einmal für Sie Tante Elisabeth.«

»Darf ich denn auch jetzt diese vertrauliche Anrede gebrauchen?«

»Wenn Sie mir eine Freude machen wollen, liebe Anni — ich bin es schon von anderen Seiten gewohnt, Tante Elisabeth genannt zu werden. Und was man einmal geschenkt hat, soll man doch nicht zurückziehen.«

»Oh, ich bin sehr stolz darauf, daß Sie mir erlauben, Sie Tante Elisabeth zu nennen.«

 

In den nächsten Wochen waren die drei Damen täglich zusammen. Frau von Saßneck hatte so die beste Gelegenheit, Anni Sundheim näher kennenzulernen, und das sonnige Wesen des Mädchens wirkte wie ein Zauber auf sie. Nicht nur Annis Äußeres, ihre Schönheit und Anmut, sondern auch ihre bewundernswerten Charakterzüge nahmen sie mehr und mehr gefangen. Jeden Tag freute sie sich von neuem auf das Zusammentreffen mit ihr. Eines Tages, als Frau von Saßneck mit Bettina Sundheim allein war, sagte sie:

»Du bist beneidenswert, Bettina! Ich wollte, ich hätte solch ein liebes Töchterchen, das mich so umsorgte, mich hegte und pflegte, wie es Anni mit dir tut. Ganz jung und froh wird einem ums Herz, wenn man sie sieht. Ich habe seit meines Mannes Tod schon wiederholt Versuche gemacht mit einer jungen Gesellschafterin. Wenn ich erst in mein Witwenhäuschen übersiedle, muß ich doch jemand um mich haben. Aber meine Versuche schlugen fehl. Ich bin eine Frau mit ausgeprägten Sympathien und Antipathien. Wenn ich einen Menschen gern mag, schließe ich ihn für immer ins Herz. Ist mir aber jemand unsympathisch, dann hilft alle Mühe nichts — er bleibt es. Und so habe ich mich der Reihe nach mit vier jungen Damen herumgequält und konnte nicht warm werden. Eine Zeitlang hielt ich’s immer aus, ich wollte mich zwingen. Aber es ging nicht. Mein Neffe neckt mich damit, sobald ich einen neuen Versuch wagen will. Und so habe ich es vorläufig aufgeschoben. Aber wenn ich ein so goldiges Geschöpf gefunden hätte wie deine Anni, dann wäre mir geholfen gewesen.«

Frau Sundheim hob mit zagendem, unsicherem Ausdruck die Augen zu der Freundin empor. »Ist das dein Ernst, Elisabeth? Gefällt dir Anni wirklich so gut?«

»Gefallen? Ach, das ist ein schwacher Ausdruck, Bettina. Ich habe das Kind in diesen Wochen herzlich lieb gewonnen. Denkst du, ich will dir eine gedankenlose Schmeichelei über dein Töchterchen sagen? Das ist doch nicht meine Art. Nein, es ist mein ehrliches Empfinden, Anni ist mir sehr lieb geworden. Das Herz wird mir warm, wenn ich sie nur sehe. Und wenn sie, wie eben jetzt, von dir zu einem Spaziergang beurlaubt ist, sehe ich nicht weniger sehnsüchtig als du ihrer Rückkehr entgegen.«

Bettina atmete tief auf und erfaßte die Hand der Freundin. »Elisabeth, deine Worte ermutigen mich, eine Bitte auszusprechen. Für mich selbst würde ich nicht tun, was ich jetzt für Anni tun will. Sieh, ich fühle mich für ihr Wohl verantwortlich, fast mehr, als wenn sie meine eigene Tochter wäre. Wir haben sie durch die Adoption aus den bescheidenen Verhältnissen gerissen, denen sie entstammte, und sie in Ansprüchen erzogen, wie wir sie für unsere Erbin natürlich fanden. Erst nach meines Mannes Tod und dem Zusammenbruch habe ich ihr enthüllt, daß sie nicht meine Tochter ist. Sie hat den Wechsel der Verhältnisse heldenhaft ertragen und erbat es sich wie eine Gnade von mir, daß sie für mich arbeiten dürfe. Ohne Murren hat sie alles Schwere über sich ergehen lassen, alles hat sie hingegeben, ohne sich zu besinnen. Und wenn ich nun um ihre Zukunft bange, so sucht sie mich lächelnd zu beruhigen. Wohl ist sie energisch, klug und zielbewußt, wohl hilft sie mir jetzt mit ihrem goldigen Frohsinn über alles Trübe hinweg, aber ich weiß doch, was ihr bevorsteht, wenn ich die Augen schließe. Ihre Schönheit wird ihr das Fortkommen nur erschweren und sie in Gefahren bringen, von denen sie in ihrer Herzensreinheit keine Ahnung hat. Und deshalb bin ich in Angst und Sorge um sie. Deine gütigen Worte von vorhin ermutigen mich nun zu einer großen Bitte. Wenn sie dir unbescheiden erscheint, schreibe es meiner Angst zugute. Wenn ich eines Tages plötzlich sterben sollte —, ich weiß, daß es sehr schnell kommen kann —, würdest du dich dann in der ersten Zeit Annis annehmen? Würdest du das Kind bei dir aufnehmen, bis sich eine passende Stelle für sie gefunden hat, und ihr vielleicht durch deine Empfehlung dazu behilflich sein?«

Frau von Saßneck drückte ihr fest die Hand. Ihre schönen klugen Augen leuchteten voll Güte und Herzlichkeit.

»Sorge dich nicht länger, liebe Seele. Nicht nur für kurze Zeit soll dann Anni bei mir bleiben, sondern solange sie will — für immer. Du solltest mir nicht dafür danken, denn ich kann ja nur dabei gewinnen. Mir graut vor der Einsamkeit meines Witwenhäuschens, wenn mein Neffe erst eine Frau nach Saßneck bringt. Und keine liebere Gesellschaft könnte ich mir denken als Anni. Deiner Bitte hätte es gar nicht bedurft — du bist damit meinen geheimsten Wünschen entgegengekommen. Diesen Wünschen wollte ich nur nicht Ausdruck geben, den ich hoffe, meine Bettina, daß du trotz deiner Befürchtungen noch recht lange am Leben bleibst. Aber mein Wort darauf — sollte es anders kommen, so soll Anni bei mir eine Heimat finden.«

Wortlos, ergriffen drückte Bettina die Hand der Freundin. Erst nach einer Weile vermochte sie wieder zu sprechen.

»Ich danke dir, Elisabeth, danke dir aus tiefstem Herzen. Und du wirst deine Güte nie bereuen. Anni wird dich zufriedenstellen. Es ist ja keine Muttereitelkeit, wenn ich dir das sage. Wohl habe ich Anni erzogen, aber ihre Anlagen waren die besten. Obwohl sie aus bescheidenen Verhältnissen stammt, ist sie an Wesen und Charakter von wahrer Vornehmheit. Es hat mich oft in Staunen versetzt, wie sicher und taktvoll sie stets in allen Lagen den richtigen Ton traf. Schon als Kind war sie sehr feinfühlend. Nie habe ich Auswüchse ihres Charakters beschneiden müssen. Sie war lustig, ja übermütig, aber nie unfein. Mein Mann nannte sie oft im Scherz ›Kleine Aristokratin‹, weil sie gegen alles Niedrige und Häßliche eine starke Abneigung hatte. Wohl hat auch sie ihre kleinen Fehler und Eigenheiten, aber selbst diese wirken liebenswürdig. So kann sie bis zur Narrheit fest auf etwas verharren, was sie für recht erkannt hat, und geht nicht davon ab, auch wenn sie damit weh tun muß. Und dann besitzt sie einen fast krankhaften Stolz — der hat sich in den Tagen der Not bei ihr ausgeprägt. Sie mag niemand verpflichtet sein, den sie nicht von Herzen liebt. Ihre Wahrheitsliebe kann sich bis zur Schroffheit steigern. Schon als Kind nahm sie lieber die härtesten Strafen auf sich, als daß sie sich durch eine Unwahrheit abgewendet hätte. Alles in allem, meine liebe Elisabeth, sie ist ein wertvoller Mensch, und wenn du sie als Gesellschafterin engagierst, so wirst du mit ihr zufrieden sein, zumal sie vielseitig gebildet ist und auch sehr geschickte Hände hat.«

Frau von Saßneck lächelte. »Ich habe mir in diesen Wochen schon selbst ein Urteil über Anni gebildet, und auf meine Menschenkenntnis bilde ich mir etwas ein. Ich weiß, daß ich nie eine Gesellschafterin finden würde, die mir sympathischer und lieber sein könnte.«

»Ach, Elisabeth, welche schwere Sorge hast du von mir genommen! Ich bin dir so dankbar.«

»Beschäme mich doch nicht, Bettina. Es ist viel mehr Egoismus, als du denkst, hinter meinem Eingehen auf deine Bitte. Habe ich dich doch im stillen beneiden müssen um dein Töchterchen. Aber nun sprechen wir nicht mehr davon. Du sollst jetzt nur daran denken, daß du dich erholst. Und du darfst dich nicht aufregen. Wenn Anni zurückkommt, bekommen wir sonst beide Schelte von ihr.«

»Aber du erlaubst, daß ich Anni mitteile, was du mir versprochen hast?«

»Gewiß, Bettina, gern. Und nun mußt auch du mir eine Bitte erfüllen.«

»Unbedenklich jede, die zu erfüllen in meiner Macht steht.«

»Gut. Also, du mußt mich diesen Sommer mit Anni auf Schloß Saßneck besuchen, auf längere Zeit.«

Bettinas Gesicht rötete sich. »Nein, das hieße deine Güte mißbrauchen.«

»Ei — ein glattes Nein nach der vielversprechenden Versicherung! Das ist ungerecht von dir, Bettina. Sieh, bisher hatten wir beide nie so ausschließlich Zeit für uns wie jetzt. Unsere Pflichten führten jede ihren eigenen Weg. Jetzt aber sind wir beide — leider Gottes — so ziemlich pflichtenlos, und niemand hält uns mehr ab, daß wir uns einmal auf längere Zeit einander widmen. Und nirgends kann das so leicht und ohne Umstände geschehen wie in Saßneck. Du würdest mir eine große Freude machen, wenn du mir mit Anni in den Sommermonaten Gesellschaft leisten würdest.«

Frau Sundheim sah zagend und unruhig zu ihr auf. »Elisabeth — willst du mir da nicht nur aus Mitleid zu einer billigen Sommerfrische verhelfen?«

»Aber Bettina — welch ein Gedanke!« wehrte Frau von Saßneck vorwurfsvoll ab.

»Verzeihe mir, aber er liegt so nahe. Und seit ich verarmte, bin ich empfindlich geworden. Ich möchte um keinen Preis der Welt jemand lästig fallen, auch dir nicht.«

»Darauf sollte ich dir jede Antwort schuldig bleiben und mich in gekränktes Stillschweigen hüllen.«

»Verzeihe mir, Elisabeth. Kannst du mich in diesem Punkt nicht verstehen, wie sonst in allen anderen?«

»Doch, ich kann dich verstehen. Aber du brauchst wirklich keinen dich bedrückenden Hintergedanken bei meiner Bitte zu suchen. Ich möchte dich so gern einmal auf längere Zeit bei mir haben. Und ich wollte, ich hätte so liebe Gäste auf Saßneck.«

»Und dein Neffe? Was wird er dazu sagen?«

»Ach, der wird sich freuen, daß ich Gesellschaft habe. Und wenn Anni eine gute Tennisspielerin ist, wird er sie mit Vergnügen zur Partnerin erwählen. Er ist passionierter Tennisspieler, und wir haben einen sehr schönen Platz. Also, vor Norbert brauchst du dich nicht zu bangen. Willst du aber durchaus nicht seine Gastfreimdschaft in Anspruch nehmen, so bringe ich euch im Witwenhäuschen unter, da bist du dann auch ganz ungestört, wenn es mal ein wenig lebhaft in Saßneck ist. Denn an Gästen fehlt es uns nie. Also, du wirst kommen, ja?«

»Ja, Elisabeth — ich werde deine so gütige Einladung annehmen.«

Die beiden Damen waren allein in dem mit goldfarbigem Seidendamast ausgestatteten Konversationszimmer des Kurhauses.

Jetzt hörten sie schnelle, leichte Schritte herbeikommen, und gleich darauf stand Anni vor ihnen. »Da bin ich wieder. War ich zu lange aus? Ach, es war herrlich! Ich bin fast bis zur Sonnenburg gelaufen, oben auf der Höhe.«

Ihre Augen leuchteten, und die Wangen glühten vom schnellen Lauf durch das feuchte Frühlingswetter. Sie küßte die Mutter auf die Wange und beugte sich über Frau von Saßnecks Hand.

»War Mama brav, Tante Elisabeth?« erkundigte sie sich schelmisch.

»Sehr brav. Wir haben uns nur über angenehme Dinge unterhalten.«

»Das ist recht. Und jetzt kommt die Sonne durch. Da kann Mama doch noch ein wenig ins Freie. Nur ein Weilchen müssen wir noch warten.«

»So setzen Sie sich zu uns, liebe Anni, und hören Sie, was wir beide für ein Komplott geschlossen haben.«

Anni lachte. »Ach, wenn Sie mit im Komplott sind, Tante Elisabeth, dann ist sicher etwas Gutes dabei herausgekommen.«

»Sind Sie dessen so sicher?«

»Ganz sicher. Ich sehe es auch schon an Mamas Augen, daß sie mir etwas Erfreuliches mitzuteilen hat.«

Frau Sundheim nickte lächelnd. »Du hast es erraten, Anni, es ist etwas sehr Erfreuliches. Erst einmal sind wir beide für diesen Sommer nach Schloß Saßneck eingeladen, und dann — ach, mein liebes Kind, erschrick nicht, wenn ich weine, es sind nur Freudentränen — Tante Elisabeth will dir, wenn ich eines Tages nicht mehr sein werde, in Saßneck eine Heimat bieten. Du sollst als ihre Gesellschafterin bei ihr leben.«

Anni wurde blaß. Das feine, kluge Gesicht mit dem lebensfrischen Ausdruck verlor das sonnige Lächeln. Mit unsicherer Hand strich sie ein paar von den goldbraunen Locken, die der Maiwind zerzaust hatte, zurück.

»Nun, liebes Kind, Sie sind ja ganz verstummt. Was sagen Sie zu unserem Komplott?«

Anni umarmte plötzlich ihre Mutter und küßte sie. Dann beugte sie sich über Frau von Saßnecks Hand.

»Ich kann nichts sagen, als daß Sie die gütigste Frau sind, die mir außer meiner lieben Mutter im Leben begegnet ist. Und auf einen Besuch in Saßneck würde ich mich sehr freuen, weil ich Sie dann wiedersehen darf, Tante Elisabeth. Aber das andere — daß ich mich einst von Mama trennen muß — das ist mir so über die Maßen quälend — ich möchte den Gedanken weit, weit von mir weisen«, sagte sie mit verhaltener Stimme.

»Aber Kind, wir müssen ihn doch ins Auge fassen. Du mußt vernünftig sein.«

»Ja, liebste Mama, das will ich auch. Und wenn mich Tante Elisabeth wirklich brauchen kann, wenn ich bei ihr einen Pflichtenkreis finde, dann sage ich mit tiefer Dankbarkeit ja zu diesem Vorschlag.«

»Davon sollen Sie sich überzeugen, liebe Anni, wenn Sie mich diesen Sommer mit Ihrer Mutter besuchen. Es gibt in Saßneck Arbeit für Sie in Menge, und ich suche schon so lange nach einer geeigneten Persönlichkeit«, sagte Frau von Saßneck und sah entzückt in Annis schönes, erregtes Gesicht.

Plötzlich kam ihr ein Gedanke, der sie ein wenig beunruhigte. Wenn Annis Schönheit und Liebreiz schon auf sie einen so tiefen Eindruck machte, wie würde sie dann auf ihren Neffen Norbert wirken? War es nicht vielleicht gefährlich, wenn sie Anni nach Saßneck brachte?

Aber sie scheuchte diesen Gedanken schnell wieder von sich. Norbert hatte mit ruhigem Herzen schon mancher schönen Frau gegenübergestanden. Und dann war er zu vernünftig und vornehm denkend, um sich einem Mädchen, das unter ihrem Schutz stand, mit leichtsinnigen Gedanken zu nähern. Zu ernsten Beziehungen aber würde es nie zwischen den beiden kommen können, denn Norbert war durch die Hausgesetze gezwungen, nur eine ebenbürtige Ehe einzugehen. — Und Anni? Norbert war freilich der Mann, ein junges Mädchenherz zu beeindrucken. Es war deshalb wohl gut, sie wissen zu lassen, wie die Verhältnisse lagen. Dann würde sie ihr Herz gleich zu Anfang im Zaum halten und sich nicht irgendwelchen trügerischen Hoffnungen hingeben. So beschwichtigte Elisabeth von Saßneck die aufsteigende Unruhe.

Sie brachte bald die Rede auf ihren Neffen und berichtete, wie sehr sie wünschte, daß er heiraten möge. »Vorläufig hat er jedoch noch keine Lust dazu, und dann ist auch für ihn die Auswahl nicht eben groß, da er nur eine Dame heiraten darf, die ihm ebenbürtig ist und eine bestimmte Anzahl Ahnen aufweisen kann«, sagte sie zum Schluß.