Armes Ding - Matias Faldbakken - E-Book

Armes Ding E-Book

Matias Faldbakken

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Beschreibung

»Eines Tages, es ist noch nicht lange her, kam ein Kind aus dem Wald gekrochen. Das arme Ding ...« -
der neue Roman des mehrfach preisgekrönten Kultautors Matias Faldbakkens


Der einsame Waisenjunge Oskar arbeitet für Kost und Logis auf dem Hof von Aud und Olav Blum. Eines Tages entdeckt Oskar im Wald ein völlig verwahrlostes Kind, das er einfängt und mit nach Hause nimmt. Das Kind leidet an Wachstumsstörungen und kann kaum sprechen. Doch unter der Obhut von Oskar entwickelt es sich in rasantem Tempo zu einer hübschen jungen Frau, die die Ordnung auf dem Hof gehörig durcheinanderwirbelt. »Armes Ding« ist eine Liebesfabel und ein Bildungsroman, geschrieben mit großer Fantasie, sprachlicher Energie und einer unverwechselbaren Mischung aus Inbrunst und Ironie. Matias Faldbakken erweist sich einmal mehr als einer der originellsten und interessantesten Autoren unserer Zeit.

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Seitenzahl: 208

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Zum Buch

Ein einsamer Waisenjunge namens Oskar arbeitet hart auf dem abgelegenen Hof von Aud und Olav Blum und bekommt dafür Kost und Logie. Er entdeckt im Wald ein wildes Kind, das er einfängt und mit nach Hause nimmt. Der Junge entpuppt sich als ein Mädchen, das, so erklärt der Dorfarzt nach einer Untersuchung, unter so etwas wie einer pubertären Wachstumshemmung leidet. Das Mädchen sieht aus wie neun oder zehn, ist aber eher achtzehn. Sobald aber der Stress abnimmt, stellt sich ein enormes Wachstum ein. Das Mädchen wächst blitzschnell, blüht auf und wird zu einer Schönheit, erleidet aber auch immer wieder Zusammenbrüche. Die Bauern helfen Oskar, das Mädchen vor den anderen Hofbewohnern zu verbergen. Aber an einem Abend verführt sie Oskar, und die beiden beginnen eine heimliche Affäre. Dieses Verhältnis wird schließlich entdeckt, und sie müssen fliehen. Nach einer abenteuerlichen Reise durch die norwegische Wildnis gelangen sie nach Oslo zu Tommy, dem Sohn von Olav und Auds, der sich von seinen Eltern entfremdet hat. Er nimmt sie bei sich auf. Tommy Blum ist Akademiker und erkennt in dem jungen Pärchen ein großes Potenzial. Vor allem in dem Mädchen. Er will aus ihr Kapital schlagen und führt sie in Oslo aus, wo sie zum exotischen Gesprächsthema der High Society wird, während sich Oskar immer mehr zurückzieht. Und dann eskaliert die Lage …

Zum Autor

MATIASFALDBAKKEN, 1973 geboren, lebt als bildender Künstler in Oslo. 2003 erschien sein aufsehenerregender Debütroman The Cocka Hola Company, der Auftakt der Skandinavische-Misanthropen-Trilogie, die mit Macht und Rebel und Unfun komplettiert wurde. Bühnenfassungen aller drei Romane wurden an diversen deutschen Theatern aufgeführt. Faldbakken gilt zudem als einer der bedeutendsten Gegenwartskünstler Skandinaviens. Seine Werke werden weltweit in den führenden Galerien ausgestellt. Nach längerer Schreibpause erschienen 2017 und 2020 die Romane The Hills und Wir sind fünf, die von Publikum und Presse gefeiert wurden.

Matias Faldbakken

Armes Ding

Roman

Aus dem Norwegischen von Max Stadler

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel STAKKAR bei FORLAGETOKTOBER, Oslo.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe 2022 by Matias Faldbakken

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

unter Verwendung des Originalumschlags von Dan Solbach

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-30814-8V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Kinder auf der Landstraße ist ein guter Titel.

Stian Grøgaard

TEIL 1

1.

Eines Tages, es ist noch nicht lange her, kam ein Kind aus dem Wald gekrochen. Das arme Ding. Es kletterte den Graben hinauf und stolperte den Feldweg entlang. Was für ein trauriger Anblick.

Das Kind war hässlich und schmutzig. Die verfilzten Haare hingen wie Würste herab, die Stirn war von tiefen Falten zerfurcht. Die Augen über den verkrusteten Nasenlöchern zuckten ängstlich hin und her. Die Lippen waren steif und blau, der Hals viel zu dünn. Das Kind trug Lumpen oder eine zerrissene Weste, unter der ein paar dürre Beine hervorlugten. Die Knie waren breiter als die Oberschenkel und Waden. Das Kind war barfuß, und die übergroßen Füße sahen aus wie nasse Wollsocken. Ab und zu schleiften die Fingerknöchel einer Hand über den Boden. Unter die Achsel hatte die gebeugte kleine Gestalt eine schäbige Mappe geklemmt, vielleicht auch ein Umschlag. Wie ein Tier, das aus dem Unterholz auftaucht, um eine Nachricht zu überbringen.

Oskar ging in die andere Richtung. Er hatte im Tal gearbeitet und war auf dem Weg zurück zum Hof. Jeden Nachmittag, wenn seine Schicht zu Ende war, nahm er denselben Feldweg. Wie immer war er allein. Nur noch drei Kurven und er war zu Hause, wo er sich den Abend lang ausruhen konnte. Da bemerkte er eine Bewegung vor sich, und es war das Kind, das auf allen Vieren hinkte – oder eher auf allen Dreien, einen Arm hatte es wegen der Mappe an die Seite gepresst. Als das Ding Oskar entdeckte, sprang es zurück in den Graben und kroch zwischen die Bäume. Aber Oskar hatte gesehen, was er gesehen hatte, und es war furchtbar. Er erstarrte. Nein, das konnte nicht sein. Hatte ihn die Einsamkeit verrückt gemacht?

Oskar trat an den Rand des Weges und spähte zwischen den Stämmen hindurch. Nach einigen angespannten Sekunden sah er die Gestalt, die in rasendem Tempo davonsprang. Oskar starrte mit offenem Mund hinterher und dachte, es müsse ein kleines Reh sein, ein Kitz. Aber was war mit den Lumpen und der Mappe … was mit dem Gesicht?

An diesem Abend saß Oskar schweigend am Tisch. Wie immer gab es mittwochs Fleischsuppe. Der Hausherr, Olav Blum, der einfach nur Blum genannt wurde, redete wie ein Wasserfall, nur ab und zu unterbrochen von seinen beiden halbwüchsigen Töchtern Karin und Guro, deren schrille Stimmen wie Laserstrahlen in das Gespräch fuhren. Alles war wie immer. Die Herrin des Hauses, Frau Blum, oder Aud, wie sie lieber genannt wurde, tadelte in regelmäßigen Abständen streng die unangemessene Sprache, den Unsinn und die Absurditäten, die Herr Blum und seine Töchter zuhauf von sich gaben. »Was für ein Blödsinn«, sagte sie dann. »Völliger Quatsch.«

Die besonnene Agnes, eine Magd in den Fünfzigern, brachte sie auf den Boden der Tatsachen zurück, wenn es zu wild wurde; alle hörten auf sie. Und dann war da noch Annar, ein alter Mann, der länger auf dem Hof war, als irgendjemand zurückdenken konnte, ein liebenswerter alter Junggeselle. Er sprach nicht viel, konzentrierte sich in der Regel darauf, seine Suppe zu schlürfen und zu schlucken. Löffel für Löffel. Eine leberfarbene Katze schlich um seine Beine, eine grausame Kreatur, die alle auf dem Hof hassten.

Oskar war neunzehn, ein stiller Kerl mit drahtigem blondem Haar. Ja, die Haare hingen schnurgerade herunter, nur vorne an der Stirn standen sie ab. Als Knecht leistete er ordentliche Arbeit auf dem Hof der Blums. Ein »Knecht« zu sein, war sein täglich Brot, alle nannten ihn »Bursche« oder »der Bursche«. Oskar machte nie viel Wind um sich und es kam nicht selten vor, dass er einfach nur stumm dasaß, aber Olav Blum, ein großer Mann von fünfzig Jahren, ließ sich davon nicht täuschen. Er sah, dass der Bursche sich an diesem Abend noch tiefer als sonst in sein Schneckenhaus zurückgezogen hatte und noch weniger als sonst sagte. In einer Gesprächspause stellte Blum sein Glas ab und machte von seiner scharfen Zunge Gebrauch.

»Was geht dir durch den Kopf, Bursche?«

»Ach, nicht viel«, sagte Oskar.

Blum setzte sich aufrecht hin und zog die Schultern zurück. »Du grübelst doch über etwas nach, das dir unangenehm ist«, sagte er mit zusammengekniffenen Augen.

Oskar räusperte sich und sah ihn verwirrt an.

»Na ja«, sagte Blum. »Du brauchst nur zu fragen, wenn du Hilfe brauchst.«

Damit wandte er sich wieder seinen Töchtern zu.

Schon am nächsten Tag war der Bursche wieder im Tal und arbeitete wie immer. Ohne seine Arbeit war er nichts. Er schuftete unter der heißen Sonne, der Schweiß rann ihm den verbrannten Nacken hinunter. Aber mit seinen Gedanken war er heute nicht da, er war nicht bei der Arbeit, er war wieder auf dem Feldweg, wo er einen Blick auf das schreckliche Wesen erhascht hatte.

Verdammt, das war wirklich seltsam, dachte er.

Als der Abend nahte und seine Arbeit beendet war, legte er das Werkzeug nieder und machte sich auf den Weg zum Hof, wobei er diesmal besonders langsam ging. Er machte kurze, leise Schritte. Er spähte durch die Baumstämme, aber der Wald war still, nichts lauerte hinter den Fichten. Doch dann: ein plötzliches Knacken, ein dumpfer Aufschlag auf dem Waldboden. Oskar blieb wie angewurzelt stehen. Er starrte auf die Stelle, einen moosbewachsenen Stein, eine Wurzel und einen Erdhügel, die sich ineinander verhakt hatten. Er hatte nur zwei der drei Brötchen gegessen, die er für die Mittagspause mitgenommen hatte, und nun fischte er mit klopfendem Herzen und zitternden Händen lautlos das letzte heraus. Er riss es in zwei Hälften und warf die eine Hälfte an die besagte Stelle vor sich, wobei die Wurst wie ein Diskus zur Seite flog. Mit jugendlicher Geschmeidigkeit ging er im Dreck in die Hocke und verharrte wie eine Statue. Nichts. Die Minuten verstrichen. Allmählich spürte er ein Brennen in den Knien und Schmerzen im Rücken. Nein, es war bestimmt nur ein Vogel gewesen. Oskar warf die zweite Hälfte des Brötchens ein Stück weiter zwischen die Bäume und wartete, aber wieder geschah nichts. Pff. Er musste los, bevor sie sich wunderten, wo er blieb. Es war Donnerstag, und Donnerstag war Fleischtag – dazu war noch nie jemand zu spät gekommen.

In diesem Augenblick bemerkte er hinter dem Erdhügel eine ruckartige Bewegung, ein knochiger Körper blitzte kurz auf. Trotz eines Ekelanfalls stürzte Oskar vor, entschlossen, den kleinen Kerl zu fangen.

Es folgte ein wilder Sprint durch die Nadelbäume. Oskar war keine lahme Ente – er war neunzehn, in der Blüte seiner Jugend, mit explosiver Kraft in Waden und Schenkeln –, aber würde das reichen, um das kleine Ding zu fangen? Es jagte in einem Höllentempo zwischen den Bäumen hindurch, eher auf vier als auf zwei Beinen, oder eher auf drei als auf vier, weil es die Mappe unter den Arm geklemmt hatte. Mithilfe von Ober- und Unterkörper, oder besser gesagt Vorder- und Hinterläufen, bewegte es sich im Zickzack zwischen den Stämmen hindurch. Oskar hechtete mit Schwung über den Rand des Straßengrabens und stieß sich von den Wurzeln und Pflanzenbüscheln ab, aber nach fünfzehn Sekunden Sprint wusste er, dass es aussichtslos war. Er hatte keine Chance. Er wurde langsamer und ließ den Vogel fliegen, das Kind rennen, galoppieren, wie auch immer man es bezeichnen wollte, und es verschwand zwischen den grauen Zweigen in Richtung Osten, wie schon am Tag zuvor. Oskar verstand gar nichts mehr. Ein Kind? Es war doch ein Kind, oder? Wäre er irgendwo anders auf der Welt gewesen, hätte er es für einen Affen gehalten, aber er war noch nie irgendwo anders gewesen, und hier gab es keine Affen. Nein, in Norwegen gibt es keine Tiere mit flachen Gesichtern und nach vorne gerichteten Augen. Das war ein Kind, und das Kind war wild.

Im Bauernhaus, dessen weißer Putz von der Fassade blätterte, hatte sich die ganze Bande zum Essen niedergelassen, das Fleischgericht wurde serviert. Nur Oskar fehlte. Der Bursche hatte sich heimlich, ohne Erlaubnis, in das spartanische, nicht beheizbare Zimmer des alten Annar geschlichen, das sich neben seinem eigenen und zwei Türen von dem der zuverlässigen Agnes entfernt in der kleinen, engen, den Hilfskräften vorbehaltenen Hütte auf einem flachen Hügel hinter dem Hof befand. Er nahm ein Buch aus Annars Regal.

Der alte Annar war wirklich alt. Er war aus einer anderen Zeit und behauptete, 1880 geboren zu sein. Würde diese Geschichte im Jahr 1980 spielen, wäre Annar hundert Jahre alt. Nicht, dass es 1980 gewesen wäre, insofern ist es unmöglich, genau zu sagen, wann es war. Aber sollte es 1980 gewesen sein, wäre Annar hundert Jahre alt gewesen. Im Alter von zehn Jahren, also 1890, hätte Annar selbst einen Hundertjährigen treffen können. Und das war auch der Fall, zumindest hatte es Oskar so gehört, was wiederum bedeutete, dass der alte Mann, den Annar angeblich damals getroffen hatte, im Jahr 1790 geboren war. Jedes Mal, wenn Oskar Annar ansah und dieser mit seinen glasigen Augen zu ihm aufblickte, dachte Oskar daran, dass diese Augen einst in ein Augenpaar aus dem achtzehnten Jahrhundert geblickt hatten. Der kleine Annar hatte dem Dorfältesten damals höflich seine kleinen Patschehändchen gereicht und seine Finger um eine Hand geschlossen, die sich Ende des 18. Jahrhunderts zum ersten Mal geöffnet hatte. Auch daran musste Oskar immer wieder denken, wenn er Annars Hände sah oder in seine hellblauen Augen blickte.

Die Finger des alten Fossils waren inzwischen arthritisch gekrümmt, seine Beine langsam und seine Augen schwach. Das wusste Oskar, deshalb hatte er es gewagt, sich in Annars eiskaltes Zimmer zu schleichen, zu dem wackeligen Metallregal; die Gefahr, erwischt zu werden, war gering. Annars Bücherregal bot eine reiche Auswahl. Oskar nahm ein staubiges, vergilbtes Buch mit dem Titel Leben in Lappland und schlich damit zurück in sein Zimmer, wo er es unter der dünnen Matratze seines kleinen Holzbettes versteckte. Dann ging er, tief in Gedanken versunken, über den Hof zurück.

In der Stube war es schummrig und alle saßen beim Essen. Oskar kam als Letzter und hielt den Blick gesenkt. Blum saß am Kopfende des Tisches und grinste wie immer, aber in diesem Grinsen, wie die Leute auf dem Hof genau wussten, lag auch etwas Höhnisches, ein Hauch von Verachtung. Man könnte sagen, dass er einen Krümel zwischen den großen Vorderzähnen festhielt, und die Doppeldeutigkeit seines Grinsens war geradezu körperlich spürbar – nicht zuletzt für Oskar. Der unbeholfene, aber fleißige Bursche wurde jeden Tag angegrinst.

»Da ist er ja«, sagte Blum, und es wurde still im Raum.

»Ja«, murmelte Oskar.

Blum starrte den Neunzehnjährigen an. Es war klar, dass der Bursche mit seinen Gedanken woanders war, und Blum wollte wissen, wo. Wo der Bursche in Gedanken war. Wo.

»Langer Tag heute?«

»Bald werden sie kürzer«, sagte Oskar.

»Dann kannst du sicher ein bisschen Fleisch vertragen«, sagte Blum.

Das war das Zeichen für Agnes. Sie legte Oskar drei Scheiben Fleisch auf den Teller. Dann goss sie so viel heiße Soße darüber, dass die leckeren Scheiben darin schwammen.

Oskar nahm Messer und Gabel in seine plumpen Fäuste, schnitt das Fleisch in grobe Würfel und führte sie in gleichmäßigem Tempo zum Mund, wobei er sie mehr verschlang als kaute. Die anderen setzten ihre Unterhaltungen fort. Zuerst sprachen sie über die Reparatur des Autos. Dann erzählten die Mädchen kichernd von ihrem Lehrer, dessen Pyjama in der ersten Stunde unter seiner Cordhose hervorgelugt hatte. Wahrscheinlich hatte er am Vorabend zu viel getrunken, mutmaßten sie. Schließlich grunzte Blum noch ein paar unflätige Worte über Smith-Pedersen vom Gutshof. So ging es jeden Tag. Jeden Tag gab es etwas, das Blums Groll gegen Smith-Pedersen schürte. Etwas, das den alten Groll verstärkte. Etwas, das den Groll wachsen ließ. Sein Ärger über das Gut brauchte ein Ventil. Kein Abendessen bei den Blums war komplett ohne eine abfällige Bemerkung über den Gutshof und diesen verdammten Angeber Smith-Pedersen.

2.

Um zehn Uhr wurde es still auf dem Hof, denn der nächste Tag begann um fünf Uhr morgens. Oskar lag still da und las etwa eine Stunde lang in dem Buch, das er sich heimlich ausgeliehen hatte, bevor er langsam und widerwillig wieder aufstand. Der Dielenboden knarrte und ächzte, als er die Treppe hinunterging, aber er musste halt mal aufs Scheißhaus, hätte Oskar gesagt, wenn die gute alte Agnes ihren Kopf aus dem Zimmer gestreckt und ihn gefragt hätte. Nicht, dass er das Wort »Scheißhaus« jemals benutzt hätte, nein, Oskar war ein höflicher junger Mann, er tat es nur in Gedanken, um sich selbst aufzumuntern. Er schlüpfte durch die Hintertür hinaus, ging an der Wand entlang bis zum westlichen Ende des Innenhofs, wo er sich in die Küche des Bauernhauses schlich. Herr und Frau Blum, der Besitzer des Hofs und seine Frau, schliefen im Ostflügel gegenüber. Oskar nahm einen ganzen Brotlaib aus dem Vorratsschrank und eine bernsteinfarbene Flasche mit den Worten »DOSIL und Morphium« auf dem Etikett aus dem Medizinschränkchen. Oskar wusste nicht, dass der Name vom griechischen Gott des Schlafes und der Träume stammte, dafür wusste er nur zu gut, was sich in dem Fläschchen befand. Aus dem Werkzeugschrank holte er ein Seil, eine dünne Nylonschnur, Sackleinen, eine Axt und eine Taschenlampe.

Es war Spätsommer, daher wurde es nie ganz dunkel, und so brauchte er keine Taschenlampe, um die Schlingen zu legen. In Leben in Lappland war ein Kapitel darüber, wie man Schlingen zum Fangen wilder Rentiere in Waldgebieten legte. Beim Überfliegen des Kapitels hatte er erfahren, dass die Lappländer für diese Falle ein eigenes Wort besaßen: àkkis. Man musste sich eine Stelle im Wald suchen, wo gerodet wurde und die umgestürzten Bäume eine Art Zaun oder Gatter bildeten. Dort legte man die Schlingen in die Lücken zwischen den Stämmen. Das Hindernis sollte so lang wie möglich sein, damit das Tier gezwungen war, daran entlangzulaufen, bis es eine Öffnung fand, in der es sich dann in der Schlinge verfing. Oskar wusste schon, wo er seine Falle am besten aufstellte. Er schulterte sein Werkzeug und ging über das Feld in den Wald.

Schnell hatte er die geeignete Stelle für seine Falle gefunden: eine Barriere aus Ästen und kleinen Bäumen und eine Öffnung, die er mit der Axt etwas vergrößerte. Auf der einen Seite des Durchlasses stand eine Birke, auf der anderen rammte er einen Ast in den Boden, den er zu einem scharfen Pflock geschnitzt hatte. Zwischen den Pflock, den Baumstamm und zwei weitere Befestigungspunkte spannte er eine Schlinge. Das Tier – oder was auch immer es war – würde hineinrennen und dadurch die aus einem einzelnen Strohhalm gebundene Schlaufe durchreißen, die die Schlinge daran hinderte, sich zusammenzuziehen. Um zu verhindern, dass sich junge Rentiere oder andere kleine Tiere in die Falle verirrten, spannte Oskar zwei dünne Nylonschnüre kreuzweise über die Öffnung. Bevor er die Schnur erst in die eine und dann in die andere Richtung straffte, riss er den Brotlaib in zwei Hälften und kippte die ganze Flasche DOSIL darüber aus. Er ließ den Köder an einer verlockenden Stelle in der Schlinge zurück und ging nach Hause, um noch ein paar Stunden zu schlafen.

Am kühlen Morgen stieg die Sonne über den Horizont, ein Hauch von Herbst lag in der Luft. Oskar hatte kaum die Augen geschlossen, schon musste er wieder aufstehen. Bei Tagesanbruch ging er mit Agnes hinunter ins Tal. Agnes war auf dem Weg zu einem anderen Bauern, um Gemüse zu kaufen. Sie verabschiedeten sich voneinander, als sie den Rand des Feldes erreichten. Oskar nahm seine Sense in die Hand, arbeitete aber nur die drei Minuten, die es dauerte, bis Agnes hinter der Biegung des Weges verschwunden war, der zu dem Bauern führte. Dann ließ er das Werkzeug fallen und ging in die entgegengesetzte Richtung, betrat das Dickicht und bog an der Salzlecke nach links ab. Er kletterte den steilen Hang hinauf zur Rodung, näherte sich der Stelle diesmal von der anderen Seite und musste den Zaun aus Ästen und Bäumen gegen den Uhrzeigersinn umrunden.

Oskar erreichte die Lichtung. Das Seil war verschwunden. Ein Hochgefühl packte ihn, und er spürte, wie sich seine Sinne schärften. Er schien klarer sehen zu können, je näher er der Falle kam. Das Adrenalin, auch Notfallhormon genannt, bereitete ihn auf eine plötzliche und intensive Anstrengung vor. Seine Pupillen weiteten sich, die Adern in den mobilisierten Muskeln schwollen an, Bronchien und Nasenlöcher weiteten sich. Die grundlegenden Funktionen des Organismus übernahmen die Kontrolle, jede Faser war gespannt im wahrsten Sinne des Wortes – sein Körper bereitete sich auf die Jagd vor. Die Luft roch nach Gestrüpp und Oskar spürte ein kaltes, aufregendes Gefühl in der Magengegend. Was hatte er gefangen?

Oskar war vorbereitet, und das war auch gut so, denn als er nähertrat, sah er eine kleine Gestalt am Boden liegen. Es war ein junges, ausgehungertes, schmutziges Wesen mit rissigen Fersen. Die Gliedmaßen waren erschreckend dünn. Eine zerknitterte Mappe lag im Farn. Das Seil hatte sich fest um seine Hüften geschlungen, und das Brot war zerkrümelt und teilweise aufgegessen. Es war ein Kind, ein Menschenkind. Es war das Schlimmste, was Oskar je gesehen hatte, und es war seine Beute.

3.

Oskar wickelte das Bündel in Leinen und schleppte es nach Hause. Mein Gott, wie das Ding stank. Oskar prüfte Puls und Atem; er vermutete, dass das Kind eine Erwachsenendosis DOSIL geschluckt hatte, denn es war bewusstlos, aber nicht tot. Er musste es schnell irgendwo verstecken, bevor es aufwachte und außer sich geriet, doch wo versteckte man etwas, das so erbärmlich stank? Der Kuhstall, der Schuppen und die Garage waren keine gute Wahl, da ging ständig jemand ein und aus. Er warf sich das Bündel über die eine und schlang das Seil über die andere Schulter. Die Mappe hatte er in der Mitte gefaltet und sich hinten in die Hose gesteckt. Die Axt hing von seinem Gürtel. Oskar hatte vor, eine Art Gehege im Wald zu bauen, wo er das Kind in sicherer Entfernung vom Hof beobachten konnte, bevor er es ins Haus brachte. Einen Zwinger wie für Jungtiere mit einem Dach aus dünnen Baumstämmen, ähnlich einer großen Fischfalle oder einer Hummerreuse, nur auf dem Trockenen, in dem er das Kind halten konnte. Oskar hatte die Idee, den Rahmen des Geheges, oder wie immer man es nennen wollte, aus ausreichend dicken Baumstämmen zu bauen, die er schnell fällen und zusammenbinden konnte, zum Beispiel in der Nähe der jungen Birken auf der Anhöhe Kobberhøyden. Kochen konnte er nicht gut, aber er war ein ausgezeichneter Handwerker. Ein solches Gestell aus Birkenholz hätte er schnell gebaut. War das die richtige Bezeichnung dafür? Schließlich fiel ihm der passende Begriff ein: »Käfig«, so hieß das Wort. Aber war es wirklich eine gute Idee, das Ding in einen Käfig zu stecken? Oskar stieg der Geruch des Körpers, der auf seinen Schultern lag, in die Nase. Er fragte sich, ob es wirklich richtig war, das Wesen in einen Käfig zu sperren. Er stellte in Gedanken eine Liste mit Vor- und Nachteilen auf, und schnell wurde ihm klar, dass es keine gute Idee war. Stattdessen traf Oskar eine wichtige und verantwortungsvolle Entscheidung. Er würde das kleine Ding mit nach Hause nehmen, es in sein Zimmer, seine Kammer, sein Kabuff sperren und den anderen erzählen, was er gefunden hatte. Dann könnten sie gemeinsam überlegen, was sie mit ihm machten, sobald es aufwachte.

4.

Ohne es überbewerten zu wollen oder sich damit zu lange aufzuhalten, so sollte man doch vielleicht erwähnen, dass Oskar eine schwierige Vergangenheit hinter sich hatte, obwohl er erst neunzehn Jahre alt war. Er kam nämlich aus erbärmlichen Verhältnissen. In seinen ersten Lebensjahren war sein häusliches Umfeld so zerrüttet gewesen, dass es ein Risiko, geradezu eine Gefahr für den kleinen Jungen dargestellt hatte. Schließlich war Oskar bei einer anderen Familie untergebracht worden: bei den Blums. In seinem Elternhaus hatte eine ungesunde, erdrückende Atmosphäre geherrscht, und deshalb war Oskar im Alter von nur zwölf Jahren auf den Hof der Blums umgesiedelt worden. Jetzt war er neunzehn und der Hof bot ihm Unterkunft und Verpflegung, relative Stabilität und einen wöchentlichen Lohn für die Arbeitsstunden, die er mit seinem gesunden jungen Körper leistete.

Der Hof war ein Selbstversorgerbetrieb mit einer Schar Schweinen, zehn Ziegen, einigen Kühen und Hühnern. Sogar eigener Käse wurde hergestellt. Für Oskar war der Hof nicht nur ein Zuhause, sondern auch eine Art Institution, für die er hart arbeitete.

Für die Familie Blum war Oskar eine wertvolle Arbeitskraft. Herr Blum schätzte seinen kühlen Kopf, sah in ihm aber sonst nicht mehr als einen »Burschen«. Frau Blum, gepflegt, kultiviert, gesittet und leicht verbittert, war zwar freundlich zu Oskar, sonst aber eher schmallippig. Sie dachte in erster Linie an sich selbst. Auch ihre beiden halbwüchsigen Töchter Karin und Guro nahmen Oskar kaum wahr. Sie waren zwar keine Zwillinge, aber dennoch mehr oder weniger identisch, so wie ein und dasselbe Wort in zwei verschiedenen Schriftarten – beispielsweise Futura und Bodoni. So konnte man am ehesten den Unterschied zwischen Karin und Guro Blum beschreiben. Doch um welches Wort handelte es sich? Außerdem. Die beiden Mädchen waren so etwas wie die Personifizierung des Wortes »außerdem«. Oskar war für sie praktisch unsichtbar, sie hatten keine nennenswerte Beziehung zu ihm. In ihren Augen war Oskar eher ein Werkzeug als eine Person. Wie ein Karren, oder eine Sense, mit der man Gras mähte. Ein Schleifstein. Er störte nicht, im Gegenteil. Aber nichts an ihm ging über seine Nützlichkeit hinaus, weder im metaphysischen noch jedem anderen Sinne. Angeblich hatten sie einen älteren Bruder, aber Oskar hatte ihn noch nicht kennengelernt. Bei Tisch wurde nicht über ihn gesprochen, aber es gab Gerüchte über Streit und Entfremdung, vermutlich lebte er in der Stadt.

Agnes war tüchtig, entschlossen, nachdenklich und fleißig. Sie war eine geschickte Weberin und sehr wortgewandt, die Güte in Person. Und auch wenn sie ein kindliches, fröhliches Gesicht hatte, fast wie ein Baby mit Falten, so war sie doch eine Autorität, vor allem in emotionaler Hinsicht, wenn auch immer sehr überarbeitet. Als Oskar erstmals auf den Hof kam, hatte Agnes das schwache Funkeln in seinen Augen bemerkt, aber außer einer kurzen Zeit des Hausunterrichts hatten sie und der Bursche nicht viel miteinander zu tun gehabt.

Oskar führte wie viele andere junge Männer ein Leben in stiller Verzweiflung. Um es offen zu sagen: Oskar war niederschmetternd einsam. Er war schon immer allein gewesen, und als jener vernachlässigte, verstoßene, einsame Jugendliche – Pflegekind, Bauernjunge, Bursche – lief er mit seinem Fund, seiner Beute, einem bewusstlosen Kind über der Schulter, über den Hof.

5.