Wir sind fünf - Matias Faldbakken - E-Book

Wir sind fünf E-Book

Matias Faldbakken

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Beschreibung

In der Nähe von Oslo in einem kleinen Ort namens Råset führt Tormod Blystad mit seiner Frau und seinen zwei Kindern ein beschauliches Leben. Nach einer wilden Jugend ist aus Tormod ein verlässlicher Vater und Ehemann geworden. Aber in jeder Familie gibt es eine Lücke, die gefüllt werden muss. So kommt die kleine Hündin Snusken auf den Hof. Die Kinder lieben das Tier sehr, doch eines Tages verschwindet Snusken spurlos. Um seine Kinder zu trösten, mischt Tormod in seiner Werkstatt aus verschiedenen Zutaten ein Ersatzwesen aus Lehm – und fordert damit Kräfte heraus, deren Reichweite er nicht einmal erahnen kann.

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Zum Buch

In der Nähe von Oslo in einem Ort namens Råset führt Tormod Blystad mit seiner Frau und seinen zwei Kindern ein beschauliches Leben. Nach einer wilden Jugend mit Alkohol und Drogen ist aus Tormod ein verlässlicher Vater und Ehemann geworden. Aber in jeder Familie gibt es eine Lücke, die gefüllt werden muss. So kommt der kleine Elchhund Snusken auf den Hof. Besonders die Kinder lieben das Tier sehr, doch eines Tages verschwindet Snusken spurlos. Ein Ersatz muss her, und Tormod beginnt in seiner Werkstatt mit einer merkwürdigen Mischung aus Ton zu experimentieren. Gleichzeitig taucht ein alter Freund auf, ein schlechter Einfluss, und mit viel Bier und Amphetaminen feiern sie das Wiedersehen. Sicher verschanzt in der geschlossenen Männerwelt der Werkstatt, schenken sie dem Tonklumpen ihre volle Aufmerksamkeit. Einem Tonklumpen, der nach und nach ein Eigenleben entwickelt und bald nicht mehr zu kontrollieren ist.

»Matias Faldbakken hat ein Universum geschaffen, das sich jeder Definition entzieht. Und genau diese Unwägbarkeit zieht den Leser in den Bann und macht ›Wir sind fünf‹ zu einem einzigartigen Stück Literatur.« Hamar Arbeiderblad

Zum Autor

Matias Faldbakken, 1973 geboren, lebt als bildender Künstler in Oslo. 2003 erschien sein aufsehenerregender Debütroman »The Cocka Hola Company«, der Auftakt der Skandinavische-Misanthropen-Trilogie, die mit »Macht und Rebel« und »Unfun« komplettiert wurde. Bühnenfassungen aller drei Romane wurden an diversen deutschen Theatern aufgeführt. Faldbakken gilt zudem als einer der bedeutendsten Gegenwartskünstler Skandinaviens. Seine Werke werden weltweit in den führenden Galerien ausgestellt. Nach längerer Schreibpause erschien 2017 bei Heyne sein Roman »The Hills«, der von Publikum und Presse gefeiert wurde.

MATIAS FALDBAKKEN

WIRSINDFÜNF

Roman

Aus dem Norwegischen

von Maximilian Stadler

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Vi er fem

bei Forlaget Oktober, Oslo

Diese Übersetzung wurde mit der finanziellen Unterstützung von NORLA veröffentlicht.

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Copyright © 2019 by Matias Faldbakken

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Kirsten Naegele

Redaktion: Kristof Kurz

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung des Originalumschlags

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26657-8V002

www.heyne-hardcore.de

TEIL 1

1

ESSTEHTEINHAUS in Råset, einem Dorf etwa drei Stunden nördlich der Hauptstadt. Dort wohnte Tormod Blystad mit seiner Familie. Das Haus hatte er selbst gebaut, während Siv mit dem ersten Kind im Bauch stöhnte und litt. Den Jungen tauften sie auf den Namen Alf. Alf erbte zwar nicht das handwerkliche Geschick des Vaters, aber Tormod mochte ihn trotzdem. Ein Mädchen, Helene, blond und hübsch, kam fünf Jahre später zur Welt. Sie hatte einen messerscharfen Verstand und flinke Finger.

Auf Tormod Blystad war Verlass, er kümmerte sich um seine Familie und war ein stattlicher Kerl. Selbst bemerkte er es nicht, und Siv war nach so vielen Jahren blind dafür geworden, aber er sah gut aus. Groß, schlank, kräftig. Er alterte wie ein Stück Eichenholz. Die Leute im Dorf beäugten ihn und tuschelten, wenn die Familie im Laden einkaufte. »Siv hat sich den Besten geangelt«, hieß es. »Siv hat das große Los gezogen.«

In einem Ort wie Råset war die Auswahl an Partnern nicht groß. Viele Alternativen hatten Siv und Tormod nicht gehabt. In jedem Jahrgang gab es nur ein paar Dutzend Jugendliche. Tormod und Siv wurden in der Mittelstufe ein Paar, und dabei blieb es. Tormod reiste nicht, als mondän konnte man ihn nicht bezeichnen. Sein gutes Aussehen wurde nie in die Welt hinausgetragen.

In einer kritischen Phase in der Oberstufe hätten sich Siv und Tormod fast getrennt. Tormod baute Mist und stürzte ziemlich ab, aber Siv übernahm die Verantwortung und half ihm durch die schwere Zeit. Das vergaß Tormod ihr nie. Zum Dank baute Tormod das Haus für seine Familie.

Die Geschichte beginnt damit, dass Tormod einen Platz an der Fachhochschule bekam, vierzig Minuten von Råset entfernt, genauer gesagt: an einer technischen Hochschule mit Schwerpunkt Elektronik. Er war ein hervorragender Student, beharrlich und gewissenhaft. Fleißig. Akkurat. Aber in seinen Seminaren gab es auch einen Kommilitonen namens Espen, einen schrägen Vogel, der nie den Schnabel halten konnte. Seine krächzende Stimme schien tief aus der Kehle zu kommen. Sein ganzer Name lautete Espen Heggelund, was eigentlich recht charmant klang, bedeutete er doch Vogelkirschenhain – aber der junge Mann kannte kein Benehmen. Er trank häufig und animierte Tormod zu dem einem oder anderen Saufgelage. Bald stellte Tormod fest, dass er eine Neigung zum Trinken hatte, genau wie sein Vater Oscar, der ein einfacher Zimmermann war und ebenfalls in Råset lebte. Der Alkohol entzündete eine Flamme in Tormod, einen Funken, etwas, das er noch nie erlebt hatte. Schnell zeigte sich, dass er sich mit Promille im Blut nicht im Griff hatte. Schlimmer noch: Er war kaum wiederzuerkennen, wenn er trank. Tormod legte seine Scheu ab, wurde gesprächig und lustig. Eins führte zum anderen. Er fing an, Dummheiten zu machen. Eines Tages zerschnitt er seine Schultasche mit einem Faltmesser, das Roar aus dem Schweißer-Kurs gemacht hatte. Grinsend sagte er zu Espen, dass er die Tasche nicht brauche, er sei ja fertig mit der Schule. Als er wieder nüchtern war, kaufte er von seinem eigenen Geld eine neue, ohne seinen Eltern davon zu erzählen. Der nüchterne Tormod verstand den Tormod nicht, der die Tasche zerschnitten hatte. Was für ein Kerl war das? Er riss sich zusammen. Aber nach einer Woche, in der er sich so verhielt, wie es von ihm erwartet wurde, ging er wieder zu Espen und ließ die Sau raus. Ein paar Schluck Bier, und ihm wurde warm hinter den Augen, seine Wangen bekamen Farbe, seine Mundwinkel wanderten nach oben. Ein Schluck Schnaps, und seine Gedanken klarten auf. Seine fleißige Seite, der Teil von ihm, der mehr lernte, als der Lehrplan es verlangte, oder noch stundenlang in der Schreinerei arbeitete, nachdem sein Vater Feierabend gemacht hatte, verschwand zunehmend. Er fing an, dröhnend zu lachen, und sein eigentlich freundliches Lächeln verwandelte sich in ein höhnisches Grinsen.

Nun war es aber so, dass der betrunkene Tormod – der tollkühne Tormod mit dem Faltmesser und dem Feuerzeug, der Spikkeruds Moped klaute, alles mit Filzmarkern bekritzelte und auf Flakstads zum Trocknen aufgehängte Wäsche pinkelte – den nüchternen, biederen Tormod ebenso wenig verstand. Der betrunkene Tormod machte sich über den zuverlässigen Tormod lustig, der gewissenhaft zur Schule ging und sich beim Training verausgabte. Der Tormod, der seinem Vater tatkräftig bei der Arbeit half, kam dem Tormod, der mit Espen becherte, lachhaft vor, ja, geradezu jämmerlich. Und je mehr er trank, desto mehr hasste er den wohlerzogenen Tormod. Die betrunkene und die nüchterne Version von Tormod wurden für die jeweils andere zu einem Ungeheuer.

Während all dieser Zeit war Tormod mit Siv Danielsen zusammen. Sie war hübsch, nach den hiesigen Verhältnissen. Kein anderes Mädchen hatte so schönes Haar. In der Mittelstufe hatte er im Klassenzimmer direkt hinter ihr gesessen und sie angestarrt, wenn sie sich streckte und ihre goldene Mähne schüttelte. Siv war in der Lage, jeden Lehrer in Grund und Boden zu reden, nicht mit Fakten, sondern mit gesundem Menschenverstand und Vernunft. Aber Espen meinte trotzdem, dass sie eigentlich keine besonderen Qualitäten besitze. Espen urteilte gnadenlos über Siv, und wenn Tormod blau war, stimmte er ihm zu. »Was ist mit ihren Beinen?«, fragte Espen ab und zu, worauf Tormod bloß den Kopf schüttelte und lachte. Denn Siv hatte tatsächlich X-Beine und lief über den großen Onkel. »Stupsnase«, wurde sie von manchen genannt. »Sie hat viel Zahnfleisch«, sagten andere. Was sogar stimmte: Wenn Siv lächelte, was selten genug vorkam, entblößte sie in gleichem Maß Zahnfleisch und Zähne. Aber all das war natürlich gemein, denn Siv hatte ja nichts Falsches getan, und sobald Tormod seinen Rausch ausgeschlafen hatte, wurde er von Gewissensbissen geplagt. Siv war doch so nett. Ihr Haar war ein Traum. Wie konnte aus einem Körper nur etwas so Wunderschönes gewachsen sein?

Tormod bestrafte sich für seine Exzesse, indem er unter der Woche besonders hart arbeitete. Um Buße zu tun, nahm er eine Aufgabe nach der anderen auf sich. Aber das Wochenende lockte immer wieder, und Espen war zur Stelle, lud ihn ein, schenkte ihm das Glas voll, stieß an. Es folgte eine maßlose Saufrunde nach der anderen, bei denen sie Heavy Metal auf Kassette hörten. Slayer, Manowar und Saxon, manchmal Misfits oder sogar Hüsker Dü; in Råset sah man es mit den Kategorien nicht so eng wie die Snobs in der Hauptstadt. So ging das ein halbes Jahr lang, dann noch eines.

Nach einem Jahr der versoffenen Wochenenden fingen Tormod und Espen an, auch unter der Woche zu trinken. Verkatert in die Schule zu gehen, kriegt man hin, wenn man jung ist, die Leber noch gesund und das Weiß der Augen noch weiß. Aber die Saufgelage wurden immer häufiger, und bald waren sie nahezu konstant betrunken. Im zweiten Jahr an der Fachhochschule tauchte Tormod (und Espen) fast nur noch in diesem Zustand auf. Anfangs hatte Tormod noch im Unterricht geglänzt, doch jetzt ließ er stark nach. Er nahm die Lehrer nicht mehr ernst, vor allem den klein gewachsenen, leicht autoritären Jørstad, der Informatik unterrichtete. Er vergaß seine Bücher, nickte ein und reagierte frech, wenn er ermahnt wurde. Er brach völlig unangebracht in Gelächter aus und sorgte stets für eine unangenehme Atmosphäre. Um seinen Tisch herum roch es nach Schnaps und Übermut.

In einer Nacht im Frühjahr, es war ein Mittwoch, soffen Tormod, Espen und ein paar andere bis fünf Uhr morgens. Sie motzten und meckerten über die Schule, die um Viertel nach acht begann. Boble, ein Junge aus dem Nachbardorf, der die Schule geschmissen hatte, um sich ganz aufs Biertrinken und Motorradfahren – er hatte eine schicke Honda CB 125 – konzentrieren zu können, schlug ihnen vor, den Inhalt eines kleinen Tütchens zu testen, das er dabeihatte. Es handelte sich um Amphetamine. »Zieht euch das Zeug durch die Nase«, sagte Boble. Gesagt, getan. Tormod wurde erst ein wenig übel, sein Magen verkrampfte sich, doch dann durchzuckte ihn ein Blitz, und alles schien sich zu öffnen. Etwas Derartiges hatte der Junge aus Råset noch nie gefühlt. Eine Kraft schien ihn gleichzeitig nach innen und nach außen zu pressen. Diese fantastische Substanz gab ihm das Gefühl, endlich irgendwo angekommen zu sein. Hier gehörte er her. Er hatte nach Hause gefunden, wie man so sagt. Es wurde mehr Pulver geschnupft, inhaliert. Tormod war wie elektrisiert, völlig aufgekratzt rannte er in die Schule.

Das Päckchen mit dem Pulver sorgte dafür, dass der furchtlose, maßlose Tormod, den man auf vielen Partys erlebt hatte, mit dem zurückhaltenden, hart arbeitenden Tormod aus der Schule und der Tischlerei verschmolz. Aus den beiden Männern wurde einer. Tormod spürte einen massiven Energieschub. Alles erschien plötzlich kristallklar. Er ging zur Tafel, griff nach der Kreide und korrigierte mir nichts, dir nichts die Berechnungen des Lehrers. Jørstad hatte gegen ihn keine Chance. Im Informatikunterricht programmierte Tormod einen einfachen Roboterarm, und in einer Doppelstunde gelang es ihm, einen Fehler in der Software zu beheben, die die kinematischen Ketten steuerte. Jørstad war so beeindruckt, dass er mehrere Kollegen dazuholte. »Schaut euch Tormod an«, sagte er. Keiner hatte dem Schüler mit dem Softwarefehler helfen können, und jetzt standen sie daneben und sahen ihm zu, wie er die Probleme selbst löste: Das von Tormod entworfene Programm steuerte den mechanischen Arm reibungslos. Tormod wirkte ganz ruhig, erledigte seine Aufgaben aber mit Feuereifer.

Woche für Woche baten Espen und Tormod ihren Kumpel Boble, ihnen mehr Pulver zu besorgen – »Sprintspikes«, wie sie dazu sagten; »Speed«, »Paste«, »Pep-Pillen« oder schlicht »Pep«. Sie schnupften es täglich, nur ab und an legten sie eine Pause ein, um mal auszuschlafen. Espen kam immer seltener zur Schule, aber Tormod wollte unbedingt zum Unterricht, wenn er high war. Seine Fähigkeiten schienen tausendfach geschärft. So gut war er noch nie gewesen. Es war, als gebe es keine Grenzen für den Jungen. Bald schon reichte der Lehrplan nicht mehr aus, und Jørstad, der zwar alt und schwach, aber kein Dummkopf war, griff zum Hörer und rief einen Kollegen an, der als Professor an der Universität in der Hauptstadt arbeitete. Er bat ihn um zusätzliche Aufgaben für seinen Studenten. Er brauche weiteren Stoff für den Unterricht, meinte er. Tormod glänzte sowohl in praktischer wie in theoretischer Elektronik, er verfügte über phänomenale Programmierkenntnisse und ein tiefes Verständnis für die Mechanismen der Energieerzeugung und -versorgung und war außergewöhnlich kreativ, wenn es darum ging, Informatik, Elektronik und Kinetik zu kombinieren. Er war schlicht und einfach ein großes Talent.

2

ZUBEGINNDES dritten Jahres an der Fachhochschule schickte Jørstad seinem Kollegen von der Universität einige von Tormods Arbeiten (oder besser gesagt: Erfindungen). »Das musst du dir ansehen«, drängte er in dem Begleitschreiben. Der Kollege schien beeindruckt und antwortete, er wolle den Studenten kennenlernen. Ob er in die Stadt kommen könne? Es sei vielleicht machbar, ein Praktikum im Labor der Fakultät zu organisieren. Der Junge sei offenbar hochtalentiert.

Mittlerweile hatte Tormod sechs volle Monate unter dem Einfluss von Pep hinter sich. Er hielt sich ganz gut, aber nach und nach traten ein paar Ticks auf. Er fing an zu stieren, seine Augen wurden rund wie Murmeln. Seine Zähne klapperten, wenn sie nicht knirschten, und wenn er mit dem Lötkolben arbeitete oder an einem besonders komplexen Schaltkreis tüftelte, sperrte er den Mund seltsam weit auf. Es ließ ihn wie einen Irren aussehen. Von Zeit zu Zeit hatte er heftige Ausbrüche. Er stieß seinen Schreibtisch um, wenn ihm nicht gelang, was er sich vorgenommen hatte, stürmte aus dem Raum und verschwand einfach. Einmal warf er in einem seiner Wutanfälle eine ganze Reihe von Reagenzgläsern zu Boden, wo sie klirrend zerbarsten. Seine Kommilitonen starrten ihn ungläubig an. Dem schwachen alten Jørstad platzte der Kragen. »Es reicht!«, krächzte er. Tormod rannte aus dem Zimmer. Jørstad rief ihm hinterher, dass er den Vorfall seinen Eltern melden müsse.

Tormods Vater, Oscar Blystad, der in jüngeren Jahren selbst oft ziemlich tief ins Glas geschaut hatte, wurde am nächsten Tag zu einem Eltern-Lehrer-Gespräch in die Schule bestellt. Tormod hätte auch dabei sein sollen, aber er tauchte nicht auf. Wo er war? Oscar hatte keine Ahnung. »Tormod war seit drei Tagen nicht mehr zu Hause«, sagte er. »Wir wissen auch nicht, wo er steckt.« Vielleicht bei »dem Mädel«, Siv Danielsen, aber die Danielsens besaßen kein Telefon. »Geht der Junge denn zur Schule?«, fragte der Vater. »Oh ja, jeden Tag«, erwiderte Jørstad. »Na dann«, sagte Oscar und nickte. Die beiden Männer saßen sich in Jørstads Büro gegenüber und blickten einander an. Jørstad versuchte umständlich, die Lage zu erklären. »Tormod ist unser bester Student, aber in letzter Zeit benimmt er sich merkwürdig.« »Ist er betrunken?« Nein, das glaubte Jørstad nicht. Nicht mehr. Eine Zeit lang schon, aber jetzt nicht mehr. »Mmm«, brummte Oscar. Er hatte sich dazu seine eigene Meinung gebildet. Die Arbeit war damals das Erste gewesen, das darunter gelitten hatte, wenn sie es »krachen ließen«, wie sie es zu nennen pflegten. Es leuchtete ihm nicht ein, wie Tormod in einem derartigen Zustand so produktiv sein konnte.

Jørstad erzählte Oscar Blystad, dass man Tormod zu einem Vorstellungsgespräch in die Hauptstadt eingeladen hatte, dass er sich dort aber nicht so danebenbenehmen könne. »Wozu soll das gut sein?«, wollte der Vater wissen. Jørstad berichtete von dem befreundeten Professor und dem möglichen Praktikum. »Aber er braucht eine anständige Arbeit«, sagte Oscar. »Er kann nicht den ganzen Tag wie ein Pfau in einem Büro in der Stadt hocken und dummes Zeug von sich geben.« »Tormod besitzt ein seltenes Talent«, sagte Jørstad. »Es wäre unverzeihlich, sein Potenzial nicht auszuschöpfen.« Oscar räusperte sich und erwiderte dann: »Sie dürfen dem Jungen das Handwerk nicht wegnehmen.«

Tormod war währenddessen bei Siv. Wie jedes Mal trieben sie es stundenlang. Durch das Pep-Pulver war er ständig geil, und weil Siv damals noch auf Sex stand, taten sie kaum etwas anderes. Ihr war dabei durchaus bewusst, dass ihr Freund langsam den Halt verlor. »Sei kein Idiot, und hör auf zu schwänzen, Tormod«, sagte sie, nachdem er sich leergevögelt hatte. »Ich muss zu Espen«, erwiderte Tormod. »Nein, Tormod, nicht zu Espen«, flehte Siv, aber es half nichts. Tormod stürmte zur Tür hinaus, und Siv blieb zurück und schaute ihm mit großen Augen hinterher. Sie schluchzte und wimmerte, riss sich aber schnell wieder am Riemen. Tormod war der Mann, den sie wollte, und so lockte sie ihn hartnäckig und entschlossen immer wieder in ihr Haus zurück. Ihre spezielle Mischung aus Wärme und klaren Regeln schien ihn zu besänftigen – wenn er bei Siv war, kam Tormod zur Ruhe. Er verbrachte den Abend und die Nacht mit ihr, und Siv löste das Wirrwarr, in das er sich verstrickt hatte. Aber dann traf er Espen wieder, schnupfte mehr Pulver und feierte weiter. Aus dem ruhigen, vertrauenswürdigen Tormod war ein Vollzeit-Junkie geworden.

So ging es das ganze dritte Studienjahr weiter. Tormod war zweifellos der beste Student, jeder wusste das, aber durch seinen Eigensinn und die ständigen Fehlzeiten fiel er in mehreren Fächern durch und stand am Ende ohne Diplom da. Aus dem Praktikum in der Hauptstadt wurde nie etwas. Jørstad wagte es nicht, seinem Freund, dem angesehenen Universitätsprofessor, einen derart unberechenbaren Achtzehnjährigen zu schicken. Der Professor war zwar von den Erfindungen des Jungen so beeindruckt gewesen, dass er Jørstad mehrmals daran erinnerte, aber dieser erklärte ihm – wahrheitsgemäß –, dass Tormod neben der Spur war, dass er neben sich stand. Er sei zu einer tickenden Zeitbombe geworden. Ja, Jørstad benutzte tatsächlich das Wort »Zeitbombe« als Beschreibung für den Jungen aus Råset.

Als der Herbst kam, blieb Tormod keine andere Wahl, als in der Tischlerei seines Vaters anzufangen. Er tauchte zwar jeden Tag pünktlich zu seiner Schicht auf, schien aber von allen guten Geistern verlassen. »Ist bei dir eine Schraube locker, oder was?«, fragte Oscar ihn. Er wurde aus dem Verhalten seines Sohns, der die Statur seiner Mutter geerbt hatte, einfach nicht schlau. Sie stammte aus einer Familie mit großen, kräftigen Männern, während Oscar klein und gedrungen war. Tormod gab seinem Vater keine Antwort, wandte ihm achtlos den Rücken zu und schoss mit der Nagelpistole auf die Wand. Er war immer noch muskulös und breitschultrig, hatte schlanke Hüften unter dem Overall und trug einen Werkzeuggürtel, was ihm eine trichterförmige Statur verlieh, aber konnte es sein, dass seine Zähne anfingen zu faulen? Am nächsten Tag fragte ihn sein Vater erneut: »Tormod, stimmt etwas nicht mit deinem Kopf?« Als Tormod wieder nicht reagierte, sah Oscar rot. Er war noch nie sehr geduldig gewesen. »Wenn du mir nicht einmal so eine einfache Frage beantworten kannst, hast du hier nichts zu suchen«, sagte er. Tormod ließ die Nagelpistole fallen und ging wortlos davon.

Jetzt war er allein mit Espen und dem Pep-Pulver. Und Siv natürlich. Siv gab ihn nicht auf, ertrug wacker die Launen ihres zügellosen Freundes. »Tormod, was NIMMST du da immer für ein Pulver?«, schimpfte sie. Eine Antwort bekam sie nicht. Siv machte inzwischen eine Friseurlehre, und sie hatte in der Dorfmitte eine Wohnung gefunden, winzig zwar, aber es war ihre. Siv war von zu Hause ausgezogen, kaum dass sie achtzehn war, um ihrer streitsüchtigen Mutter zu entfliehen, die ihr ständig auf den Wecker ging. Sie war nicht der Typ, der lange zauderte. Kurz darauf lernte sie Autofahren und zeigte Tormod stolz den laminierten Führerschein. Er stierte mit seinen vergrößerten Pupillen darauf und gratulierte ihr. Im Grunde beschränkte sich Tormods Leben zu dieser Zeit auf drei Aktivitäten: monotones Computerspielen, endlosen Sex mit Siv und den Drogenkonsum mit Espen. Manchmal war er den ganzen Tag weg, manchmal sogar zwei, und Siv kam fast um vor Sorge. Sie klemmte sich den Hörer ans Ohr und telefonierte mit ihrer Freundin Anita, eine halbe Stunde, noch eine halbe Stunde, aber die Mutmaßungen, die sie dabei anstellten, brachten sie nicht weiter. Sie ahnten nicht, wie weit Espen und Tormod bereits abgedriftet waren. Sie wussten nichts von dem provisorischen Labor in Tønnesens Hütte, wo die beiden in aufgeschnittenen Plastiktonnen Erkältungsmedikamente auflösten und mit Pseudoephedrin, rotem Phosphor, Lauge und so weiter mischten, um gewaltige hausgemachte Highs zu produzieren. Sie sollten nie erfahren, dass Espen und Tormod in der Nacht bei Mattisen gewesen waren, als dieser sich umgebracht hatte, oder dass sie Morten Borgen eines Nachts nach einer Auseinandersetzung im wahrsten Sinne des Wortes gefoltert hatten. All diese Dinge blieben geheim.

Eines Freitags tauchte Tormod gegen drei Uhr morgens bei Siv auf. Sie erzählte später, sie sei gerade dabei gewesen, sich ihren Lieblingsfilm anzusehen, eine Teenager-Romanze mit dem Titel Can’t Buy Me Love, als sie die Wohnungstür aufgehen hörte. Wie sie bei seinem Anblick erschrak! Siv taumelte rückwärts gegen den Fernsehtisch und stieß ihre Diet Coke um, die sich auf den Teppich ergoss. Tormod hatte eine große Platzwunde auf der Stirn. Sein Pullover – oder »Jumper«, wie Siv dazu sagte – war blutgetränkt. Tormod war in einen Streit geraten – mit einem Mann namens Stubberud, von den meisten »Stubberush« genannt, weil er so viel schnupfte, und der hatte ihm erst einen bösen Kopfstoß verpasst und ihm dann eine Flasche über den Schädel gezogen. »Jetzt reicht’s!«, rief Siv, packte ein paar Klamotten, zerrte Tormod zu ihrem Ford Fiesta und fuhr ihn in die Notaufnahme, wo die Ärzte die Augenbraue mit elf Stichen nähten. Außerdem verabreichten sie ihm Diazepam und Aktivkohle, weil er so erregt war und leicht psychotisch wirkte. Tormod beruhigte sich allmählich, und Siv ließ ihn kurz allein, um zum Haus ihrer Eltern zu fahren. Im Flur schnappte sie sich den Schlüssel zum Ferienhaus, dann holte sie ein paar vakuumverpackte Lebensmittel und Konserven aus der Speisekammer. Als ihre Mutter im Nachthemd erschien und fragte, was der »Höllenlärm« solle, schlug Siv ihr die Tür vor der Nase zu. Auf der zwei Stunden langen Fahrt durch Østerdalen hielt sie sich penibel an die Geschwindigkeitsbegrenzungen. Zu Tormod sagte sie, dass sie in der Hütte bleiben würden, bis alles ausgestanden wäre.

Und so kam es auch. Über zwei Wochen blieben sie in der Hütte. Viermal fuhr Siv die vierzig Minuten hinunter zum Gemüsehändler im Dorf, um Essen zu holen, aber sonst gingen sie nicht vor die Tür. Tormod fing an, wie ein Schwein zu schwitzen und wälzte sich in seinem Schlafsack hin und her. Er war in einem schrecklichen Zustand. Er schimpfte und verfluchte Siv. Er stöhnte laut. Ihm war furchtbar übel. Siv machte ihm Pfefferminztee mit Zitrone, ein Hausmittel, das seine Qualen linderte. Coca-Cola, ein weiteres Hausmittel, half auch ein wenig, die Magenkrämpfe ließen langsam nach. Sie verhätschelte ihn nicht, aber sie war geduldig, hartnäckig und entschlossen. Eisern ließ sie Tormods Beschimpfungen an sich abprallen, und wenn er zwischen den Anfällen einschlief oder vielmehr zusammenbrach, streichelte sie seinen massigen Leib stundenlang. Tormod war etwas Besonderes.

Als das Pep seinen Griff lockerte, kehrte langsam der sanfte und einfühlsame Tormod zurück, wo auch immer er sich in den vergangenen Jahren versteckt hatte. Er wandte sich Siv zu und sagte: »Siv, ich hatte mich in das absolute Gegenteil meiner selbst verwandelt, aber jetzt bin ich zurück. Wenn ich jemals wieder so werden sollte – so verwandelt – und irgendetwas anderes behaupte als das, was ich dir jetzt sage, dann hör nicht auf mich. Glaub mir nicht. Das hier ist mein wahres Ich.«

3

TORMODRISSSICH gründlich zusammen. Wie ein Hund mit eingezogenem Schwanz kehrte er zu seinem Vater zurück, entschuldigte sich und versicherte, dass er sich von diesem Tag an auf seine Arbeit und Siv und sonst nichts konzentrieren würde. Oscar nahm die Entschuldigung an, machte jedoch klar, dass Tormod sich keinen Unfug mehr leisten könne. »Wir brauchen hier keine Clowns«, sagte er. Tormod nickte. »Du kannst deine Probleme nicht einfach so ins Dorf tragen.« Tormod seufzte und schuftete fortan doppelt so hart, um alles wiedergutzumachen.

Dorftratsch hält sich zäh, man braucht Geduld. Tormod war gebrandmarkt: Er wusste, dass jeder Fehltritt bemerkt und weitererzählt würde – das Dorf war gnadenlos. Jede Verbindung mit dem anderen Tormod musste gekappt und durch Ehrlichkeit und harte Arbeit ersetzt werden. Er brach jeglichen Kontakt zu Espen Heggelund ab und hing auch nicht mehr mit Boble oder Stubberush herum. Siv entfernte allen Alkohol aus ihrer Wohnung. Sobald Tormod den Wunsch, das Bedürfnis, das Verlangen verspürte, was in der Regel abends geschah oder wenn das Wochenende vor der Tür stand, zwang er sich, an Siv und ihre gemeinsame Zukunft zu denken.

Nachdem er ein paar Jahre lang wie ein Pferd geackert hatte, beschloss Tormod, in sich selbst zu investieren. Siv und er bekamen einen Kredit von der Bank und über Oscars Unternehmen Baumaterialien zum Einkaufspreis. Sie erwarben ein karges Stückchen Land am Rand von Råset, und Tormod ging ans Werk: Er räumte das Grundstück frei, entfernte Baumstümpfe und ebnete den Boden. Im Frühsommer heirateten die beiden in der Kirche von Råset. Bei der anschließenden Feier im Rathaus hielt Tormod eine kurze Rede, in der er Siv als sein »Fundament« bezeichnete.

Der starke Tormod baute das komplette Haus wortwörtlich mit seinen eigenen Händen – Hände, die immer kräftiger und rauer wurden, reifer. Das Haus, das er zimmerte, war ein sehr schönes funktionalistisches Holzhaus, auch Byggmesterfunkis oder Folkefunkis genannt. Zusammen mit seinem Vater hatte er schon einmal ein ähnliches errichtet, er wusste also, wie er es machen musste. Währenddessen lebten sie in Sivs beengter Wohnung. Siv hatte in der Zwischenzeit mit drei Freundinnen einen kleinen Friseursalon in der Dorfmitte eröffnet, wo sie für einen mageren Lohn Haare schnitt. Das Leben als Dorffriseurin ging ihr schon bald auf den Geist.

Das Grundstück, auf dem das Haus stehen sollte, war mehrere Monate lang eine Baustelle, der Garten bestand nur aus Erde und Schlamm, überall waren alle möglichen Dinge unter Planen gestapelt. Doch dann nahm es allmählich Gestalt an, und an Weihnachten stand das ganze Gebäude. Ehe Siv es sich versah, war alles so weit eingerichtet, dass sie ins Erdgeschoss ziehen konnten. Alles war neu und roch nach frischem Holz. Mit dem Bau der Garage und der Werkstatt wollte Tormod im Frühling beginnen, wenn der Schnee geschmolzen war. Darauf freute er sich schon sehr.

Kurz vor Ostern kam Siv mit einem Clearblue-Test zu Tormod und eröffnete ihm, dass sie schwanger war. Beide waren zweiundzwanzig – ein gutes Alter, um Kinder zu bekommen. Tormod hatte das Gefühl, dass sich alle Puzzlestücke zusammenfügten. Er hatte es geschafft, ein solides Bollwerk gegen alles zu errichten, was ihn in Zukunft in Versuchung führen oder bedrohen könnte.

Siv machte die Schwangerschaft sehr zu schaffen, und sie ließ sich schnellstens krankschreiben. Tormod hatte vollstes Verständnis für die geschwollenen Knöchel, die Beckenschmerzen, die Übelkeit und den unstillbaren Hunger. Siv hatte Appetit auf alles Mögliche, meistens von der weniger gesunden Sorte, schaufelte so viel in sich hinein, wie sie konnte, und spülte das Ganze mit einer beträchtlichen Menge Café Latte hinunter. Dadurch fühlte sich ihr Magen aufgebläht und aufgedunsen an, was ihr aufs Gemüt schlug. Tormod richtete im Wohnzimmer eine feine Fernsehecke mit einer bequemen Couch und einer guten Internet-Verbindung ein. Hier verbrachte Siv ihre Tage, fütterte den Fötus und sich selbst, während Tormod zur Arbeit ging. Auch im Frühsommer saß sie an den meisten Abenden dort, während Tormod die Werkstatt, die Garage und den Carport baute, eins neben dem anderen stolz am Ende der Auffahrt thronend. In der Schlussphase der Schwangerschaft hatte Siv einige Kilos zusätzlich zum Babygewicht zugelegt, und sie fühlte sich mies und unbeweglich. Sie wirkte auch dunkler – man könnte sagen, sie war in mehr als einer Hinsicht schwerer geworden. Aus diesem Grund beschloss sie, sich etwas Gutes zu gönnen, und bat Merete vom Salon, ihr einen neuen Look zu verpassen. Ihr Haar habe die Elastizität verloren, sagte sie, und ihre blonden (nun ein wenig dunkleren) Locken fühlten sich schlaff an. Tormod hatte immer eine Schwäche für Sivs Haar gehabt – für ihn symbolisierte es ihre ganze Charakterstärke und Willenskraft –, aber auf einmal sah sie nicht mehr wie die Siv aus, die er seit Schulzeiten kannte. Ihr pilzförmig geschnittenes Haar mit dem diagonalen Pony war im Nacken kurz gehalten. Die neue Frisur sah ungefähr drei Tage lang schick aus, dann hörte Siv auf, sich die Haare zu stylen. Waren sie früher schwungvoll und kräftig über ihre Schultern herabgefallen, ähnelten sie jetzt sprödem Heu. Haare sind nur ein oberflächliches Merkmal, sagte sich Tormod, vielleicht nicht in genau diesen Worten, aber so ähnlich. Er fragte sich, ob Sivs Kraft und Stärke in seiner Vorstellung womöglich zu sehr mit ihrem Haar verknüpft waren. So oder so, sie war schwanger, zumal mit seinem Kind. So viel zu Kraft und Stärke, murmelte er in sich hinein. Es gab Schlimmeres als diese neue Frisur, und Siv vollbrachte gerade ein Wunder: Sie machte ein Baby.

Wenig später wurde Alf geboren, und er war vielleicht nicht das hübscheste Kind – der Kleine hatte die breite Stirn von Sivs Mutter –, aber er war Tormods Ein und Alles. Der große Kopf hatte Siv während der Geburt heftige Probleme bereitet, sie war völlig am Ende und schluckte schachtelweise Kodein. Stöhnend hockte oder lag sie da und stillte das Baby nur elf Wochen lang, bevor sie ihre geschundenen Euter (ihre eigenen Worte) endgültig zurück in den BH packte. Milch zu produzieren, koste zu viel Energie, meinte sie. Tormod wusste, dass es sowohl harte physische als auch psychische Arbeit war, rund um die Uhr zu stillen, und er hatte keine Einwände, als sie, vielleicht ein bisschen früh, Folgemilch auf die Einkaufsliste schrieb – mit dem Fläschchen konnte Tormod sie nachts entlasten. Durch das Stillen hatte Siv in den ersten Monaten ernste Schlafprobleme entwickelt und war die meiste Zeit völlig erschöpft. »Ich brauche ein bisschen Schlaf«, sagte sie und legte sich mehrmals am Tag hin.