Asharas Rückkehr - Marion Zimmer Bradley - E-Book

Asharas Rückkehr E-Book

Marion Zimmer Bradley

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Beschreibung

Bestsellerautorin Marion Zimmer Bradley ("Die Nebel von Avalon") hat mit dem opulenten Darkover-Zyklus eine einzigartige Romanreihe geschaffen: Die fesselnde Geschichte einer geheimnisvollen fremden Welt und ihrer Bewohner ist Kult! Vor Jahrzehnten, nach dem Ende der Sharra-Rebellion, verließ Lew Alton den Planeten Darkover. Jetzt kehrt seine Tochter Margaret, Musikwissenschaftlerin und selbstbewusste Bürgerin der Föderation, zurück, um das Liedgut der unbekannten Welt zu erforschen. In Begleitung einer kühnen Amazone aus dem Gildenhaus der Entsagenden, begibt sich Margaret auf eine gefahrvolle Reise. Mitten in den Hellers ereilt sie die Schwellenkrankheit, an der sie beinahe stirbt. Kaum genesen, gerät sie als Erbin der Domäne Alton in einen Strudel von Macht, Intrigen und Gewalt. Aber auch den Beeinflussungsversuchen Aharas aus dem Jenseits muß sie sich stellen...

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Marion Zimmer Bradley – Der “Darkover”-Romanzyklus bei EdeleBooks:

ISBN 978-3-95530-591-8Die LandungISBN 978-3-95530-598-7Herrin der StürmeISBN 978-3-95530-597-0Herrin der FalkenISBN 978-3-95530-609-0Der Untergang von NeskayaISBN 978-3-95530-608-3Zandrus SchmiedeISBN 978-3-95530-607-6Die Flamme von HaliISBN 978-3-95530-594-9Die Zeit der hundert KönigreicheISBN 978-3-95530-592-5Die Erben von HammerfellISBN 978-3-95530-593-2Die zerbrochene KetteISBN 978-3-95530-603-8Gildenhaus ThendaraISBN 978-3-95530-595-6Die schwarze SchwesternschaftISBN 978-3-95530-596-3An den Feuern von HasturISBN 978-3-95530-588-8Das ZauberschwertISBN 978-3-95530-599-4Der verbotene TurmISBN 978-3-95530-589-5Die Kräfte der ComynISBN 978-3-95530-586-4Die Winde von DarkoverISBN 978-3-95530-601-4Die blutige SonneISBN 978-3-95530-602-1Hasturs ErbeISBN 978-3-95530-585-7Retter des PlanetenISBN 978-3-95530-587-1Das Schwert des AldonesISBN 978-3-95530-600-7Sharras ExilISBN 978-3-95530-590-1Die WeltenzerstörerISBN 978-3-95530-604-5Asharas RückkehrISBN 978-3-95530-606-9Die SchattenmatrixISBN 978-3-95530-605-2Der Sohn des Verräters

Marion Zimmer Bradley 

Asharas Rückkehr

Ein Darkover Roman

Ins Deutsche übertragen von Fred Kinzel

Copyright dieser Ausgabe © 2014 by Edel eBooks, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg. Copyright © 1996 by Marion Zimmer Bradley Copyright First german Edition © 1998 by Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel "Exile's Song" Ins Deutsche übertragen von Fred Kinzel

Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-604-5

edel.comfacebook.com/edel.ebooks

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

1

Es muß eine Möglichkeit geben, wie ich von einem Stern zum anderen reisen kann, ohne daß mir schlecht wird – irgendein Medikament, auf das ich nicht überempfindlich reagiere. Wenn ich nur nicht gegen so vieles allergisch wäre. Hätte ich doch bloß eine Laufbahn als Agronom oder Journalist eingeschlagen.

Die Frau auf der Schubkraft-Liege lächelte grimmig, ohne die Augen zu öffnen, und versuchte, Übelkeit und Schwindelgefühl zu ignorieren. Der Gedanke war nicht neu, und sie hatte ihn bereits viele Male durchgespielt. Jahre zuvor, als sie von zu Hause weggegangen war, um die Universität zu besuchen, hatte sie diese beiden Berufe tatsächlich ins Auge gefaßt, zusammen mit Wirtschaftswissenschaft und verschiedenen anderen, an die sie sich nicht mehr erinnerte. Sie hatte weniger als ein Semester gebraucht, um herauszufinden, daß sie kein Händchen für Landwirtschaft besaß, und fand die Vorstellung abscheulich, über das Unglück anderer Leute zu berichten. Sie hatte kein Geschick im Umgang mit Worten, und Zahlen langweilten sie, obwohl sie sehr gut im Rechnen war und bestimmt eine ganz passable Veruntreuerin geworden wäre. Bei diesem Gedanken wurde ihr Lächeln zum breiten Grinsen, und die Spannung in ihrem Gesicht löste sich ein wenig.

Unter dem türkisfarbenen Ärmelaufschlag ihrer schwarzen Gelehrtenuniform juckten die Pflaster auf ihrer Haut. Eines davon versorgte sie mit Hyperdrom, dem Medikament gegen Raumkrankheit, und das andere sollte ihrer Allergie gegen Hyperdrom entgegenwirken. Wirklich zu dumm, daß sie allergisch war. Ihr Vater war es auch, sie mußte es wohl von ihm geerbt haben. Sie war eben doch seine Tochter, auch wenn sie die meiste Zeit nicht das Gefühl hatte.

Sie bewegte ihren Kopf auf den übelriechenden Kissen ihrer Liege vor und zurück. Diesen Augenblick nutzte ihr feines, aber üppiges rotes Haar, um sich aus dem Knoten zu lösen, zu dem sie es aufgetürmt hatte, und ihr in den Nacken zu rutschen. Sie konnte ihre Anspannung fühlen und versuchte angestrengt, sich zu entspannen. Der schwache Desinfektionsmittelgeruch, der in der stickigen, trockenen Luft des Dritte-Klasse-Abteils hing, war widerlich.

Solange sie die Augen geschlossen hielt, hatte sie die Illusion von Alleinsein und war sich der elf anderen Personen in dem überfüllten Quartier weniger bewußt. Die Nähe von anderen Menschen, Leuten, die genausoviel Angst hatten wie sie selbst, machte die schreckliche, zermürbende Übelkeit, die sie zu ignorieren versuchte, nur noch schlimmer. Es war immer so gewesen, seit jener ersten Abreise von dem Planeten, auf den sie nun zurückkehrte. Sie hatte nur wenige, undeutliche Erinnerungen an ihre Kindheit, die an jene erste Reise jedoch waren lebendiger und stärker als alle anderen. Die Gerüche und Geräusche eines Raumschiffs und eines Magens, in dem Dämonen zu tanzen schienen, waren mit etwas Furchtbarem verknüpft, an das sie sich jedoch nicht klar erinnerte. Sie wurde nie richtig krank, aber endlose Stunden kurz vor dem Erbrechen zu verbringen war genauso schlimm, wenn nicht schlimmer.

Kaum jemand hätte vermutet, daß die Tochter eines Senators der Föderation dritter Klasse reiste. Man nahm eher an, daß solche Leute ein schillerndes Leben mit Festen und Abendgesellschaften in diplomatischen Kreisen führten. Aber sie war eine Stipendiatin der Universität, und Akademiker reisten selten anders. Sie war inzwischen eine erfahrene Reisende, mit zehn ausgedehnten Reisen und mehr als hundert Flügen, aber immer noch weigerte sich ihr Körper, sich an die Medikamente zu gewöhnen, und sie hatte sich mit dieser Unannehmlichkeit abgefunden. Zumindest mußte sie nicht mehr die Qualen des Zwischendecks erdulden, wie bei ihrer ersten allein unternommenen Reise, einem Alptraum mit sechzehn Starts und Landungen zwischen Thetis und Coronis. Und erster Klasse zu reisen, wie sie es einmal getan hatte, war auch nicht viel besser – die Luft stank trotzdem, und die Medikamente trockneten ihren Mund ebenfalls aus.

Ich bin wie ein guter Wein – Reisen bekommt mir gar nicht. Ich wünschte, diese Arznei würde einen wirklich einschlafen lassen, wie sie es angeblich tut. Professor Davidson schnarcht vor sich hin wie ein Baby, der Gute. Wie macht er das nur? Kommt nun die Durchsage für unseren Landeanflug? Ich habe nicht mehr mitgezählt. Ist das der sechste oder der siebte Flug? Mutter der Meere, laß es der siebte sein.

Sie begann »das Spiel« zu spielen. Sie und ihre Stiefmutter Dio hatten es auf jener halb erinnerten, ersten Reise erfunden, als sie noch sehr klein war. Es bestand darin, daß man alle Göttinnen und Götter nannte, die einem einfielen. Als Dio es ihr beigebracht hatte, hatte sie nur wenige gekannt – Zandru und Aldones, Evanda und Avarra. Bis sie ihr Ziel erreicht hatten, konnte sie mehr als hundert aufzählen und kannte einige ihrer Geschichten. Die Liste war angewachsen, während sie älter wurde und lernte, bis sie Namen von Gottheiten enthielt, die bis auf die Zeit zurückgingen, als Terra noch wirklich ein Reich war. Sie hatte die Namen von Gottheiten hinzugefügt, die sie von Mitstudenten erfuhr, Götter von Planeten, die sie besucht hatte, und von Welten, auf denen sie nie gewesen war. Manchmal suchte sie nach Reimen in den Namen oder ordnete sie in alphabetischer Reihenfolge – alles, was sie vom Aufruhr in ihrem Körper ablenkte. Die Namen waren ihr nie ausgegangen, aber sie wußte nicht genau, ob aufgrund der Wiederholungen oder etwas anderem. Jedenfalls war die Übung etwas, worauf sie sich konzentrieren konnte, anstatt auf das Geräusch des großen Schiffes um sie herum zu lauschen und den beißenden Geruch ihrer Mitreisenden zu riechen.

Das Schlingern des Schiffes, bei dem sich einem der Magen umstülpte, begann nachzulassen. Das Triebwerk klang anders, irgendein Heulton hörte auf. Bei dem Geräusch wurde sie immer angespannt, denn es bedeutete, daß sie den leeren Raum zwischen den Sternen verließen und in das Gravitationsfeld einer Welt eintraten. Das anhaltende Dröhnen der Landungstriebwerke setzte ein – ein leicht verstimmtes As, bei dem sie zu zittern begann.

Auf der Liege neben ihr schnaubte der Professor prustend, hustete und bewegte sich. Er war wach. Jahre der erzwungenen Nähe zu dem alten Mann hatten ihr jedes Ächzen und jede Geste vertraut werden lassen. Sie mußte nicht die Augen aufmachen, um zu wissen, daß er nun die Finger über einer imaginären Tastatur öffnete und schloß.

Wie sehr wir uns doch aneinander gewöhnt haben, dachte sie. Wahrscheinlich kennt er auch alle kleinen Gewohnheiten von mir. Es war sehr tröstlich, die vertraute Begleitung von Ivor Davidson zu spüren, ihrem Mentor und praktisch auch ihrem Pflegevater. Seine Frau Ida war wie eine Mutter zu ihr gewesen, und sie kam zu dem Schluß, daß sie trotz des gräßlichen Gefühls in ihrer Magengegend eigentlich sehr viel Glück hatte. Sie tat die Arbeit, die sie liebte, in der Gesellschaft eines lieben und geachteten Freundes. Wer wollte mehr verlangen? Der Lautsprecher über ihrer Liege winselte und summte, und Margaret fuhr zusammen. Zum Teufel mit ihren besonders empfindlichen Ohren! Sie hatten ihre Studien, ihr Stipendium und ihre Karriere als Musikwissenschaftlerin ermöglicht. Aber dreimal zum Teufel mit dem saloppen Fernmeldeoffizier, der wahrscheinlich taub war und die letzten drei Landungen zur reinsten Qual gemacht hatte. Nach einem leisen Klicken und einem scharfen Kreischen, bei dem sie vor Unbehagen bebte, begann eine näselnde Tonbandaufzeichnung mit dem Akzent irgendeines Hinterwäldlerplaneten loszudröhnen. Sie war alt und mußte ersetzt werden. Margaret mußte sich zwingen, daß sie zuhörte und das lärmende Ding nicht einfach ausmachte. Dann war die Tonbandaufzeichnung zu Ende, und es ertönte etwas, das an eine menschliche Stimme erinnerte und Standard-Terranisch mit einem fürchterlichen Akzent sprach, bei dem die Worte in die Länge gezogen wurden.

»Wir befinden uns im Landeanflug auf Cottman IV, von den Einheimischen Darkover genannt.« Das Wort hatte einen beinahe geringschätzigen Klang, als stellte sich der Sprecher die Darkovaner als nackte Wilde oder etwas Ähnliches vor. Typisch terranische Arroganz. »Die Passagiere werden gebeten, angeschnallt zu bleiben, bis das Entwarnungssignal ertönt. Für diejenigen Passagiere im Zwischendeck und in der dritten Klasse, die Hilfe benötigen, wird kurz nach der Landung ein Steward bereitstehen.« Nachdem die Stimme die Hinweise für die Passagiere in Standard gesagt hatte, wiederholte sie sie in einem Dutzend anderer Sprachen, wobei sie diejenigen, die Margaret erkannte, schwer verhunzte.

Darkover! Endlich am Ziel. Der Planet ihrer Geburt. Aber der Klang des Wortes löste die seltsame Vorahnung aus, die sie spürte, seit sie erfahren hatte, daß sie hierherkommen würde. Es war etwas Ähnliches wie Angst, und es war völlig unlogisch! Sie war im Zuge ihrer Arbeit mit Ivor schon auf anderen Planeten gewesen, und nie hatte sie so ein schleichendes Unbehagen gespürt.

Margaret holte ein paarmal tief Luft und zwang sich zur Ruhe. Ihre Schultermuskeln waren verspannt und lösten sich nur widerwillig. Aber ihre Entspannungsübungen funktionierten langsam, sie seufzte erleichtert und hörte nicht mehr auf den Lautsprecher. Ihre Gedanken wanderten. Sie war daran gewöhnt, daß man ihr alles ein dutzendmal sagte. Als Bewohnerin einer Kolonie hatte sie eine gesunde Verachtung für die Reglementierungswut der terranischen Föderation. Zwar schätzte sie die technischen Errungenschaften der Terraner, die es ihr erlaubten, die Musik eines Dutzends von Welten in einem einzigen Menschenleben zu studieren, doch sie ertrug ihre Arroganz nur wegen des Stipendiums und der Freiheit, das es ihr bot. Aber sie mochte sie nicht – und würde sie vermutlich nie mögen.

Ihr Vater hätte sie liebend gerne auf eine ganze Reihe von Colleges der Siedler geschickt, aber die Universität von Coronis war nicht darunter gewesen. Sie erinnerte sich noch gut an den Streit, der ausgebrochen war, als sie zum ersten Mal diesen Vorschlag machte. Zu behaupten, ihr Vater habe nicht zugestimmt, wäre ein Meisterstück an Untertreibung, und was es noch schlimmer machte, er wollte nicht erklären, wieso. Dio, ihre Stiefmutter, hatte wie immer eingegriffen, um den Frieden zwischen Vater und Tochter, so gut es ihr möglich war, aufrechtzuerhalten, aber es hatte lange gedauert, eine Zeit voller Angst und brütendem Schweigen, bis der Senator seine Einwilligung gab. Sie wünschte, sie würde ihn besser verstehen – oder zumindest seine seltsame Mischung aus Distanziertheit und wildem Beschützergebaren, das er ihr gegenüber an den Tag legte. Der Alte (wie sie ihn nannte) und Dio waren meistens unterwegs, da sie gezwungen waren, Veranstaltungen des Senats zu besuchen, oder Angelegenheiten der Föderation zu erledigen hatten. Wegen seiner eigenen Allergie auf Hyperdrom kam der Senator nicht sehr häufig nach Thetis zurück, und wenn er da war, ging er ihr nach Möglichkeit aus dem Weg. Es war fast, als würde er sie gleichzeitig lieben und hassen.

Aus einem ihr nicht ersichtlichen Grund wurde Margaret plötzlich an die Zeit erinnert, als sie dreizehn oder vierzehn war. Dio hatte sie angetroffen, wie sie weinend am Meer saß. Sie wußte nicht mehr genau, weswegen sie geweint hatte, aber die Worte, die sie damals gesagt hatte, kamen ihr plötzlich in den Sinn. »Ich bin häßlich«, hatte sie geschluchzt, während ihre Stiefmutter sie zu trösten versuchte. »Vater nimmt mich nie in den Arm und läßt mich nie irgendwo hingehen, weil ich häßlich bin. Warum kann ich nicht so schönes Haar haben wie du? Warum wird meine Haut in der Sonne fleckig? Und du und Vater, ihr seid soviel unterwegs, und wenn ihr zu Hause seid, rührt er mich nie an oder redet mit mir oder irgendwas! Was stimmt nicht mit mir?«

Sie schauderte bei dieser Erinnerung. Im selben Augenblick ließ das Schiff ein gewaltiges Dröhnen hören, gefolgt von einer Art metallischem Seufzen, fast als wäre es müde, und Margaret dankte der Göttin, daß sie nicht mehr dreizehn und den Schrecken der Pubertät ausgesetzt war. Jene Jahre, in denen sie überzeugt gewesen war, die Haltung des Alten ihr gegenüber rühre von etwas her, das sie falsch gemacht oder nicht gekonnt hatte, obwohl Dio ihr erklärte, daß es nichts mit ihr zu tun habe, sondern ausschließlich mit dem Senator selbst. Dio gab sich die größte Mühe, sie zu trösten, und sagte ihr, sie sei nicht häßlich. Sie beharrte darauf, daß der Senator sie auf seine düstere Art tatsächlich liebte. Aber sie hatte es irgendwie nie fertiggebracht, ihr zu erklären, warum er so distanziert war oder warum sie beiden so wenig ähnlich sah. Erst sehr viel später erfuhr sie, daß sie gar nicht Dios Kind war, sondern aus der ersten Ehe des Alten stammte.

Margaret konnte sich noch gut an den Schock erinnern, den diese Enthüllung kurz vor ihrer Abreise zur Universität ausgelöst hatte. Sie hätte sich nie träumen lassen, daß ihr Vater schon einmal verheiratet gewesen war. Es gab so vieles, was sie über ihre eigene Vergangenheit und die ihres Vaters nicht wußte. Sie schauderte und zwang sich, nicht weiter zu denken. Sie war schließlich nicht die Heldin eines Groschenromans, in dem dunkle Geheimnisse im Hintergrund lauern. Aber warum hatte sie dann das starke und schreckliche Gefühl, daß es nicht nur Dinge gab, die sie nicht wußte, sondern auch solche, die sie gar nicht wissen wollte? Unsinn! Sie war nur müde von der langen Reise und krank von der Weltraumarznei.

Nein, es war mehr als das. Sie kehrte zu dem Planeten zurück, auf dem sie vor mehr als fünfundzwanzig terranischen Jahren zur Welt gekommen war. Margaret hatte nur äußerst undeutliche Erinnerungen an ihn, und doch löste allein der Gedanke ein leises Unbehagen, leichte Kopfschmerzen und ein Gefühl wie vor einem Gewitter aus. Vieles an der Sache war sehr verwirrend. Ihr Vater war der Senator für Darkover, aber er lebte nicht dort, und soviel sie wußte, hatte er nie wieder einen Fuß auf den Planeten gesetzt, seit er ihn vor über zwanzig Jahren verlassen hatte. Die Mutter, die sie den größten Teil ihres Lebens gekannt hatte, war in Wirklichkeit nicht ihre Mutter und weigerte sich hartnäckig, mehr als bloße Gemeinplätze über ihre richtige Mutter zu enthüllen.

Einen Augenblick lang herrschte Stille, bis auf den glücklicherweise tonreinen Akkord des Entwarnungssignals. Dann folgte das Klappern, mit dem ein ungeschickter Techniker die Landedurchsage einschob, und das Geschnatter im Abteil, als sich die Passagiere gegenseitig von der offenkundigen Tatsache ihrer Ankunft unterrichteten. Es war fast, als würden sie erst dann etwas glauben, wenn sie es jemandem erzählt hatten.

»Wir sind im Raumhafen Thendara auf Cottman IV gelandet. Passagiere mit diesem Zielort werden nun abgefertigt und können von Bord gehen. Wir halten hier nur kurz, deshalb werden Passagiere zur Weiterreise nach Wolf – Phi Coronis IV gebeten, nicht von Bord zu gehen, sondern angeschnallt zu bleiben. Passagiere nach Sagan’s Star, Quital und Greenwich werden gebeten, hier von Bord zu gehen und einen uniformierten Angestellten des Raumfahrtunternehmens bezüglich des Transits zu ihrem Zielort zu befragen. Bitte machen Sie sich unverzüglich zum Ausstieg bereit. Ein Arzt wird sofort in Ihre Kabine kommen und allen weiterreisenden und neu hinzugekommenen Passagieren Hyperdrom verabreichen. Ich wiederhole: Wir sind auf dem Raumhafen Thendara gelandet; Passagiere nach ...« Die Stimme leierte immer weiter.

Margaret ignorierte ihre schwachen Kopfschmerzen und das Verlangen, einen Lappen in den Lautsprecher zu stopfen. Sie ignorierte das Jucken der Hautpflaster an ihrem linken Handgelenk. Statt dessen begann sie die Gurte zu öffnen, die sie auf der Liege festhielten; sie konnte es kaum erwarten, dem Geruch und den Geräuschen des Raumschiffs zu entkommen. Allerdings hatte sie es nicht ganz so eilig wie sonst. Dieses Gefühl der Bedrohung blieb in ihrem Hinterkopf, und sie mußte ihre Aufmerksamkeit zwanghaft davon ablenken. Sobald sie nicht mehr angeschnallt war, wandte sie sich ihrem Begleiter zu.

Professor Davidson fummelte unbeholfen an seinen Haltegurten herum. Seine Augen waren ein bißchen glasig von den Medikamenten, und wie üblich war er leicht desorientiert. Sie sah ihn mit einer Schnalle kämpfen und biß sich auf die Lippen. Das erste, was ihr aufgefallen war, als sie ihn kennenlernte, waren seine Hände gewesen – wunderschöne Hände wie die eines Engels in einem alten Gemälde. Nun waren sie krumm und steif und kaum noch in der Lage, die einfachsten Griffe auf einer Gitarre zu bewältigen. Es schien über Nacht gekommen zu sein, aber wahrscheinlich war es langsamer gegangen. Davidson konnte beinahe jedes Instrument spielen, das für humanoide Lebensformen entwickelt worden war – und sogar ein paar für nicht-humanoide –, aber er war immer schon ein Tolpatsch bei einfachen Dingen wie Verschlüssen und Schnallen gewesen, und er haßte es, wenn sie ihn auf seine Unbeholfenheit ansprach. Schließlich sah er sie hilfesuchend an, besiegt von dem blöden Ding. Sie setzte sich auf – ein wenig benommen vom plötzlichen Blutdruckabfall – und kam ihm zu Hilfe.

»Was würde ich nur ohne dich tun?« fragte er, und sein zerfurchtes, nußbraunes Gesicht verzog sich zu diesem Lächeln, das nie ihre Wirkung auf sie verfehlte, auch wenn sie sich über ihn ärgerte.

»Eine andere Assistentin einstellen, was sonst«, antwortete sie trocken. Seine zunehmende Abhängigkeit von ihr bedrückte sie mehr, als sie zugeben wollte. Es war, als hätte ihr einjähriger Aufenthalt auf Relegan ihm die letzte Lebenskraft entzogen und die vertrocknete Hülse eines Mannes zurückgelassen. Sie zwang sich dazu, sich ihre Hilflosigkeit und Wut über seinen raschen Verfall nicht anmerken zu lassen. Sie schuldete Ivor Davidson mehr, als sie je gutmachen konnte. Während ihres ersten, schrecklichen Jahrs auf der Universität, als sie sich abstrampelte, ein Studienfach zu finden, das sie nicht langweilte oder frustrierte, war sie Ivor in der Bibliothek begegnet. Sie hatte leise vor sich hin gesungen – sehr zum Verdruß von einigen Studenten, die in der Nähe saßen –, ohne daß es ihr bewußt gewesen wäre. Er hatte sie unter seine Fittiche genommen, sie mit einer Art wilder Gründlichkeit geprüft und dann bei sich zu Hause wohnen lassen. Ivor und Ida hatten sie sowohl als Musikerin als auch als Frau großgezogen und ihr ein Selbstbewußtsein vermittelt, das sie bei Dio und dem Alten nie erlangt hatte. Zuletzt hatte er ein unbeschränktes Forschungsstipendiat für sie herausgeholt und sie erst zu seinem Schützling und dann zu seiner Assistentin gemacht. Eine solche Stellung war in Universitätskreisen hoch angesehen, und sie wußte, daß sie sehr viel Glück gehabt hatte. Sie erschauerte leicht, als sie daran dachte, wie unsicher sie damals gewesen war. Es hatte sie einen großen Teil ihrer Energie gekostet, der unerklärlichen Kombination aus Distanz und übertriebener Fürsorge zu entkommen, die ihr Vater an den Tag legte. Die Davidsons hatten sie so freundlich aufgenommen wie Generationen von Studenten vor ihr. Ida hatte ihr die Umgangsformen der Universitätskultur beigebracht, und Ivor hatte sie Musikkunde und seine Leidenschaft für dieses Fach gelehrt. Beide hatten ihr eine bedingungslose Zuneigung entgegengebracht, die sie bisher nie kennengelernt hatte und der sie zunächst mißtraute. Aber die Beharrlichkeit der beiden hatte gesiegt, und irgendwann in diesem Prozeß hatte Margaret aufgehört, ein wildes Siedlermädchen zu sein, und war eine geachtete Forscherin geworden. Sie hatte sich nichts dergleichen vorgestellt, als sie noch auf Thetis lebte, aber ihr gefiel die Arbeit, und sie mochte den alten Knaben.

Mehr als ein Jahrzehnt waren die Davidsons ihre Familie gewesen, und sie fühlte sich als Glückskind, weil sie die beiden gefunden hatte. Thetis, ihre Heimatwelt, verdrängte sie in ein Hinterzimmer ihres Bewußtseins und erinnerte sich nur daran, wenn sie die verschiedenen Formulare ausfüllen mußte, nach denen die terranische Bürokratie süchtig zu sein schien. Sie gab sich große Mühe, alle Erinnerungen an ihren Vater zu tilgen, diesen verbitterten, schweigsamen, einarmigen Mann, und selbst an ihre freundliche, lachende Stiefmutter, die so bereitwillig den Hintergrund für die Launen des Senators abgab.

Wenn sie sich ihre Kindheit ins Gedächtnis rief, erinnerte sie sich für gewöhnlich nur an die angenehmen Dinge. Das Tosen der Wasser von Thetis an der Küste der Insel, auf der sie wohnten, und der Duft der Blumen, die im Frühjahr vor ihrer Haustür blühten; der Geschmack des ersten Delphina, den sie im Sommer fingen; das intensive Blau der Azurinen, der thetischen Hochzeitsblumen, die sich im hellen Haar der Paare kringelten. Bei der Farbe von Azurinen schnürte sich ihr immer die Kehle zu, aus einem Grund, den sie nicht erklären konnte. Margaret hatte einen ziemlich großen Vorrat an solchen Bildern, denn sie war sehr viel allein gewesen in ihrer Kindheit. Der Senator war monatelang ohne Unterbrechung weg gewesen, sehr zu ihrer schuldbewußten Erleichterung.

»Nein, das glaube ich nicht, meine Liebe.« Ivor Davidsons Stimme unterbrach ihre sorgenvolle Träumerei. »Ich glaube nicht, daß ich mich noch einmal an jemanden gewöhnen könnte. Ich hoffe, ich muß es auch nicht. Egoistisch von mir, ich weiß. Ich sollte an dich denken, an deine Zukunft, nicht an meine. Eine schöne junge Frau wie du sollte einen Liebhaber oder mehrere haben, sollte Kinder bekommen, statt die Marotten und Launen eines alten Mannes zu ertragen. Aber die Wahrheit ist, daß ich ohne dich nicht zurechtkäme – und ich bin sehr froh, daß du hier bei mir bist.«

Margaret sah ihn mit jähem Unbehagen an. Ihr kam zu Bewußtsein, daß sie bisher absichtlich übersehen hatte, wie alt er geworden war, daß sie seine zunehmende Hinfälligkeit geleugnet hatte. Alt mit fünfundneunzig – wie zu prähistorischen Zeiten. Die letzte Verjüngungsbehandlung hatte nicht gegriffen, nicht funktioniert. Seine Hände, seine Engelshände wurden zu Stein, und sie konnte es kaum ertragen. Ivor, bitte hör auf, alt zu werden ...

»Unsinn!« Sie sprach forsch, um ihre Gefühle zu verbergen. »Dieses Dreckszeug von Hyperdrom macht Sie immer melancholisch. Sehen wir zu, daß wir aus diesem fliegenden Sarg hinauskommen.« Diese letzte Bemerkung, die sie unglücklicherweise in ihrer vollen Stimme, der ausgebildeten Stimme einer Sängerin, gemacht hatte, trug ihr einen bösen Blick von einem der Weiterreisenden ein. Sie spürte, wie sie bis in die Haarspitzen rot wurde, und senkte die Stimme, bevor sie weitersprach. »Nach einem Drink und einem Bad fühlen Sie sich besser.« Cottman IV wurde in der kleinen Informationsschrift, die sie aufgetrieben hatte, als primitiv beschrieben, aber Margaret wußte sehr gut, daß das in der terranischen Amtssprache nur das Fehlen einer Telekommunikationszelle an jeder Ecke und eines Videogeräts in jedem Heim bedeutete.

Margaret war zu müde, um sich darüber aufzuregen. Sie hängte sich ihre Reisetasche um und die von Ivor dazu, dann griff sie nach den nur scheinbar zu engen Allwettermänteln. Das einzige, worauf sie sich freute, war aus ihrer verhaßten Gelehrtenuniform herauszukommen und das anzuziehen, was die Einheimischen trugen. An der Universität runzelte man die Stirn, wenn die Forschungsstipendiaten »verwilderten«, aber sie war erfahren genug, um zu wissen, daß man bei der Feldforschung, in diesem Fall dem Sammeln von Musikproben der Einheimischen, am weitesten kam, wenn man so normal wie möglich auftrat. Deshalb war sie hier, und die verstaubten Regeln sollte der Teufel holen.

Sie gingen in den grünen Korridor. Er führte vor ihnen spiralförmig nach unten, und Margarets Übelkeit kehrte mit Macht zurück. Sie hielt die Mäntel fest in beiden Händen. Nach einer Ewigkeit auf Treppen und schrägen Rampen und in Korridoren, deren wechselnde Wandfarben nur für die Erbauer des Raumschiffs eine Bedeutung hatten, kamen sie an ein Tor, das auf eine breite Rollbahn führte.

Ein plötzlicher eisiger Windstoß, in den ein paar Tropfen Feuchtigkeit gemischt waren, brannte ihnen in den Augen. Der Wind drang durch den Stoff ihrer Uniform und kühlte sie völlig aus. Margaret blieb stehen, ohne auf das Gemurmel einer Person hinter ihr zu achten, und legte Ivor den Mantel über die Schultern. Der ungeduldige Passagier, der hinter ihnen gegangen war, brummte und überholte sie. Sie sah ihm nach, wie er auf die Ansammlung von quadratischen und unheilvoll aussehenden, imperialen Gebäuden auf der anderen Seite des Rollfelds zuschritt.

Hinter den Gebäuden erstreckte sich ein Horizont, der ihr auf unheimliche Weise vertraut war. Die große rote Sonne stand tief am Horizont, aber ob sie aufging oder unterging, konnte sie nicht sagen. Ihr normalerweise zuverlässiger Orientierungssinn schien nicht zu funktionieren. Sie wußte nicht, welche Ortszeit gerade war, obwohl sie es bei der Landedurchsage wahrscheinlich erwähnt hatten. Zu dumm. Sie hätte besser aufpassen sollen!

Die Sonne war ein blutiger Klecks am Himmel und ätzte die nahen Gebäude karminrot. Margaret blinzelte in die Sonne, und das Déjà-vu-Gefühl ließ sie beinahe stolpern. Tränen traten ihr in die Augen; sie blinzelte sie rasch weg und redete sich ein, daß ihr nur der Wind in den Augen brannte.

Wieso nicht? Immerhin bin ich hier zur Welt gekommen. Ich war zwar nicht mehr hier, seit ich vier oder fünf war, aber so merkwürdig ist es nun nicht, daß ich die Sonne wiedererkenne, auch wenn ich keine Reaktion erwartet habe. Mein Vater ist der Senator von Darkover. Wie sollte ich diese Sonne nicht kennen! Der dumpfe Kopfschmerz, ein Überbleibsel von dem Hyperdrom, nahm plötzlich zu. Sie flüsterte eine erstklassige Auswahl von Flüchen in dem Sprachengemisch, das sie beherrschte, und beeilte sich, um den Professor einzuholen. Jeder Schritt machte den stechenden Schmerz schlimmer, und sie warf einen Blick auf die Sonne zurück. Es schien ihr, als fürchtete sie sich tief im Innern vor dieser Sonne, weil sie Erinnerungen wecken könnte, die sie lieber ruhen lassen sollte.

Sie fanden das Abfertigungsgebäude und stellten sich in die Schlange, die sich inzwischen gebildet hatte. Jetzt, da sie nicht mehr dem böigen Wind und der Sonne ausgesetzt war, ließ Margarets Kopfweh nach, und sie kam zu dem Schluß, daß sie noch müder sein mußte, als sie gedacht hatte. Ein gelangweilter Angestellter stempelte ihre Papiere und Genehmigungen und deutete zu einem weiteren Korridor, der beinahe identisch mit denen war, die sie bereits durchschritten hatten.

Schließlich sah sie ein Schild, das ihnen den Weg zur Gepäckhalle wies. Ihre spärlichen Gepäckstücke und die Schaumstoffkisten mit Ivors Gitarre und Margarets kleiner Harfe lagen auf einer Laufbühne. Sie brach die Siegel auf und zog Meter um Meter von dem biologisch abbaubaren, grauen Verpackungsband heraus. Es war ein fürchterliches Zeug, aber etwas anderes war auf einem Planeten der Kategorie D nicht erlaubt. Selbst in der verblassenden Sonne von Darkover würde es nach wenigen Stunden zu ein paar Gramm rückstandfrei verbrennendem Abfall schrumpfen. Sie warf es in den dafür bestimmten Container, löste die beiden medizinischen Pflaster von ihrem Handgelenk und warf sie ebenfalls hinein. Sie gab Ivor den Koffer mit seinem Instrument und hängte sich die Harfe in ihrer Stoffhülle über die Schulter. Dann hob sie die beiden Reisetaschen hoch. Ivor wechselte seine Gitarre von einer Hand in die andere, während sie einen Packesel aus sich machte. Sie wußte, daß ihm selbst das minimale Gewicht des Instruments Schmerzen bereitete, aber er bestand darauf, es selbst zu tragen. Die Gitarre war fast zweihundert Jahre alt und von der Hand eines längst verstorbenen Meisters gebaut worden, und Ivor hielt sie in Ehren, wie ein anderer Mann eine Frau lieben mochte.

Sie folgten Gängen und Pfeilen, bis sie schließlich in eine kühle Abenddämmerung hinaustraten. Margaret fühlte sich geringfügig wohler, weil sie nun eine Vorstellung davon hatte, wie spät es war. Jetzt mußten sie nur noch das Haus in der Altstadt von Thendara finden, in dem sie wohnen sollten, bevor die Gehsteige für die Nacht hochgeklappt wurden.

Vor ihnen war eine hohe Mauer aus terranischen Betonblöcken. Durch eine bogenförmige Öffnung sah sie einen gepflasterten Platz, der im Schein von Fackeln lag und einen scharfen Kontrast zu den grellen Flutlichtern bildete. Die beiden Lichtquellen überschnitten sich und erzeugten riesenhafte Schatten.

Dann traf sie ein kalter Windstoß, und Margaret schluckte schwer; die Haare wehten ihr ins Gesicht. Sie setzte ihre Last ab und stopfte sich die Haare gewaltsam in den Kragen ihrer Uniform, wo sie ihren Hals kitzelten. Welche Erleichterung, etwas zu haben, worüber sie sich ärgern konnte! Dann nahm sie ihr Gepäck wieder auf und marschierte in Richtung Ausgang, während Ivor müde hinter ihr her trabte.

2

Hinter dem Tor stellte Margaret die Taschen wieder ab und zog ihren Mantel an. Ivors Mantel schlang sie so gut wie möglich um die Gitarre. Sie wußte, nach Sonnenuntergang würde es noch viel kälter werden, und nach der tropischen Wärme von Relegan tat die Kälte beinahe weh. Ivor sah sie an, und aus jeder Furche seines Gesichts sprach das pure Elend. Noch nie hatte er so alt und müde und krank ausgesehen. Sie wandte ihren Blick rasch ab.

Margaret hielt nach irgendeinem Transportmittel Ausschau, einem Karren oder einer Rikscha vielleicht. Bei den meisten Raumhäfen war hier der Taxistand, aber sie entdeckte nur ein paar Jünglinge mit lebhaften Augen, die mit Pullovern, Hosen und halblangen Mänteln bekleidet waren. Sie ertappte sich dabei, wie sie sowohl interessiert als auch argwöhnisch auf die Gruppe starrte. Die Jungen erwiderten ihren Blick mit offener Neugier.

»Heh, gnädige Dame, brauchen Sie Hilfe mit Ihrem Zeug?« rief einer im Kauderwelsch der Handelsstädte. Offenbar ging er davon aus, daß sie seine Sprache nicht kannte, und glaubte, die Lücke mit lauterem Sprechen schließen zu können. Sie verstand gerade noch, was er meinte, obwohl sein Akzent breiter war als auf ihren Tonbändern. Sein Begleiter packte ihn rauh und flüsterte eindringlich etwas, dann trat er mit einer linkischen Verbeugung vor.

»Darf ich Ihnen zu Diensten sein, Domna?« Das hörte sich eher nach dem an, was sie gehört hatte, und Margaret fühlte sich etwas weniger hilflos. Die Verbeugung irritierte sie, ebenso wie die plötzliche Verhaltensänderung, aber sie war zu müde, um jetzt darüber nachzudenken.

»Ich hatte gehofft, eine Art Transportmittel zu finden«, stotterte sie. Der erste Junge, der größere, schien das sehr lustig zu finden. »Einen Wagen oder ein Pferd vielleicht.«

»Hier kriegen Sie keins«, stellte er mit der Endgültigkeit von sehr jungen Leuten fest.

Margaret kam sich lächerlich vor und war ein bißchen wütend. »Nein, natürlich nicht.«

Der zweite Junge warf dem ersten einen finsteren Blick zu. »Ich könnte einen Pferdewagen holen, aber es ist einfacher zu Fuß. Das Rasthaus ist gleich da drüben.« Er zeigte zur Ecke des Platzes. Vielleicht hundert Meter entfernt gab es eine häßliche Ansammlung von Gebäuden, deren Architektur typisch terranisch war – festungsartig und abweisend.

»Wir wohnen nicht im Rasthaus«, sagte sie langsam, wobei sie ihren Mund zu Mustern formte, die ihr auf der Zunge zu hegen schienen, aber schwer herauszubringen waren. Früher einmal mußte sie die Sprache fließend beherrscht haben, soweit jedenfalls bei einer Fünfjährigen davon die Rede sein konnte, aber da weder der Alte noch Dio auf Thetis etwas anderes als Standard-Terranisch sprachen, hatte sie beinahe alles vergessen. Schlimmer noch: Als sie sich die Sprachkassetten anhörte, schien sich ihr Verstand dagegen zu sträuben, die Worte zu begreifen, und sie mußte sich anstrengen wie noch nie.

»Kennst du den Weg zur Musikstraße?« Sie war sich sicher, daß mit ihrer Formulierung etwas nicht stimmte, aber der Junge verstand offenbar, was sie meinte. Seine Augen weiteten sich ein wenig. Beinahe hörte sie ihn denken: Wiesowollen die dahin? Zum Teufel mit ihrer regen Phantasie.

»Ja, Domna.« Die Antwort war höflich, aber sie sah dem Burschen an, daß er sehr neugierig war.

»Ist es weit? Mein Begleiter ist sehr müde. Wir haben eine lange Reise hinter uns.« Wenn das keine Meisterleistung an Untertreibung war.

»Nicht allzu weit, wenn es Ihnen nichts ausmacht, zu gehen. Für Terraner ist es ziemlich weit. Was wollen Sie denn in der Musikstraße?«

Ein Windstoß fuhr ihr ins Genick, fing die losen Strähnen ihres Haars, und die letzten Haarnadeln hinter dem Ohr rutschten heraus. Seidene rote Strähnen wehten ihr vors Gesicht. Die Jungen schauten belustigt zu, wie Margaret die Taschen absetzte und nach ihren Haaren griff. Unter ein paar kleineren Flüchen, von denen sie hoffte, daß sie niemand verstand, packte sie die wehenden Strähnen und zog sie mit klammen Fingern nach hinten. Sie drehte sie zu einem Knoten zusammen, und einer der Burschen hob die zu Boden gefallenen Haarnadeln auf und reichte sie ihr. Zu den wenigen Dingen, die Margarets Stiefmutter ihr über ihren Heimatplaneten erzählt hatte, gehörte, daß offen getragenes Haar ein Zeichen für ein gewöhnliches Strichmädchen war, eine Einladung für Ärger. Komisch, dachte sie, daß Dio ihr ausgerechnet das erzählt hatte. »Wir wohnen in der Musikstraße bei Meister Everard. Kennt ihr den Weg dorthin?«

»Wir können Sie hinbringen.« Es war der zweite Junge, der sprach. Er war durchaus höflich, aber Margaret fühlte sich unwohl. Ihre Taschen enthielten nur wenig Kleidung, aber alle ihre Schallplatten und Aufnahmegeräte. Auf einem Low-Tech-Planeten wie Darkover waren das unschätzbare Werte. Ganz zu schweigen davon, daß der Teufel los war, wenn sie gestohlen wurden. Sie und Ivor waren ersetzbar; um ihre Ausrüstung wiederzuerlangen, müßten sie jedoch einen Alptraum an Papierkrieg ausfechten. Bei dem Gedanken wurde sie, wie so oft, wütend über die terranische Arroganz und Bevormundung.

Margaret wußte, daß sie zu müde war, um noch klar denken zu können, und ihr Angstgefühl hatte sie bestimmt dem Schlafentzug zu verdanken. Verwunderlich war das nicht. Sie hatte seit Tagen nicht richtig geschlafen.

Der zweite Junge war dunkel und hatte ein ehrliches Gesicht, aber nach den vielen Monaten mit Nicht-Humanoiden traute sie ihrer Beurteilung von Gesichtern nicht mehr. Und Betrüger haben von Haus aus ein ehrliches Gesicht, das ist ihr Handwerkszeug. Es wurde mit jeder Minute kälter, und sie konnte nicht länger unentschlossen hier herumstehen. Ivor hielt es auf keinen Fall aus, selbst wenn sie es konnte.

»Voran, MacDuff«, sagte sie energischer, als ihr zumute war. Sie hob die beiden Taschen selbst auf, immer noch auf der Hut, falls diese beiden scheinbar netten Jungen in Wirklichkeit Diebe waren.

»Nö«, antwortete der Dunkelhaarige. »Ich kenn keine Macduffs. MacDoevid heiß ich. Kennst du irgendwelche Macduffs, Geremy?«

»Ich nicht«, sagte Geremy und deutete auf Margarets Gepäck. »Sollen wir Ihnen helfen?«

»MacDoevid, hm?« Margaret ignorierte sein Angebot aus reiner Sturheit. »Professor, ist das ein Verwandter von Ihnen?« Der alte Mann zwang sich zu einem schwachen Lächeln. Er hatte Schwierigkeiten, dem Wortwechsel zwischen Margaret und den Jungen zu folgen, und man sah es seinem Gesicht an.

Ivor antwortete nicht sofort, aber dann schien er ihre Frage zu verstehen. Sie wußte, daß es immer einige Zeit dauerte, bis die Laute einen Sinn für ihn ergaben. »Vielleicht. Die Söhne Davids waren schon immer ein weit verstreuter Stamm«, sagte er mit einem ehrlichen Grinsen, als fände er die ganze Sache äußerst erheiternd.

MacDoevid hielt den Kopf schräg und schaute den alten Mann an. »Was hat er gesagt?« Seine Augen glitzerten interessiert, Neugier und Intelligenz verband sich in ihnen.

Margaret seufzte. Ivor tat sich am Anfang immer fürchterlich schwer, einen Dialekt der Einheimischen zu lernen. Margaret war unter anderem auch deshalb unschätzbar für ihn, weil sie neue Sprachen rasch begriff. Sie wußte, daß das, was sie gelernt hatte, nur grundlegend und stark vereinfachend war. Die Sprachkassetten hatten typische Sätze enthalten, die arrogante terranische Touristen für wichtig hielten: »Wo ist der Raumhafen? Wieviel kostet das?« Und andere ähnlich geistlose, aber universelle Sätze. Nichtsdestoweniger hatte sie eine elementare Kenntnis der darkovanischen Alltagssprache erhalten. Ivor hatte eine Diskette mit komplexen musikalischen Fachausdrücken bekommen, aber wegen ihrer überstürzten Abreise hatte sie noch keine Gelegenheit gehabt, sie anzuhören. Abgesehen davon hätten ihnen musikalische Fachausdrücke bei den Burschen hier wenig genützt.

Margaret holte tief Luft und zwang sich, langsam zu gehen, obwohl sie sich wegen des kühlen Abendwinds lieber beeilt hätte. »Darf ich vorstellen«, sagte sie und wählte ihre Worte mit Bedacht. »Professor Davidson, das ist der kleine MacDoevid. Ihr seht, eure Namen sind verwandt.« Sie betonte die Vokale, so daß der junge Mann sie hören konnte, und wurde mit großen Augen und einem Kopfnicken belohnt. Er hatte verstanden. Offenbar ein heller Bursche.

»Ha, wenn ich das meinem Vater erzähle«, antwortete er. »Aber was ist das, ›Professor‹?«

Margaret wurde bewußt, daß sie mangels ausreichendem Wortschatz den terranischen Titel benutzt hatte. Sie hatte bei dem wenigen, was sie bisher gelernt hatte, nichts von einer Universität oder einem College auf Darkover gehört. Eine unmittelbare Entsprechung gab es deshalb nicht. Ihr müdes Hirn suchte eine Weile nach Worten, bis sie darauf kam, daß die Antwort eigentlich ganz einfach war. »Er ist Lehrer. Für Musik.« Sie war sehr zufrieden mit sich. Das beantwortete die Frage des Jungen und erklärte gleichzeitig, warum sie in die Musikstraße wollten.

Ivor sah sie müde und verloren an. Er schaffte es nie, eine verstümmelte Version von irgendeiner Sprache zu beherrschen. Für gewöhnlich murmelte er wochenlang vor sich hin wie ein Analphabet und erwartete, daß Margaret alles übersetzte, und dann wachte er eines Morgens auf, konnte die Sprache fast wie ein Einheimischer und plapperte drauflos, um die verlorene Zeit aufzuholen. Aber dafür wird er nicht lange genug hier sein.

Margaret tadelte sich sofort. Wo kam denn dieser Gedanke her? Sie glaubte nicht an böse Vorahnungen; das war unlogisch und unwissenschaftlich. Sie war nur müde und um ihren Begleiter besorgt. Und sie fror und hatte Hunger, was ihre düsteren Gedanken noch verstärkte. Sie würden ein Jahr oder länger auf Darkover sein, und Ivor ging es bestimmt gut, wenn sie ihn erst in die Musikstraße gebracht hatte. Wenn sie nur diese Angst abschütteln könnte, die seit Wochen an ihr nagte. Sie wäre bestimmt weniger ängstlich, wenn es ihr gelungen wäre, mit Dio Kontakt aufzunehmen. Warum hatte ihre Stiefmutter keines ihrer teuren Telefaxe beantwortet? Bisher hatte sie immer reagiert. Was, wenn etwas nicht in Ordnung mit ihr war? Oder mit dem Alten? Hör auf, dir unnötige Sorgen zu machen, sagte sie sich wütend.

Sie hatten die Mauer, die den Raumhafen umgab, hinter sich gelassen und kamen nun an einem grauen Gebäude aus Stein vorüber, bei dessen Anblick Margaret eine Gänsehaut bekam. Es war vierschrötig, still und scheußlich, und die Fenster zur Straße waren vergittert. »Was ist das? Ein Gefängnis?« Noch während sie die Frage stellte, wußte sie, daß es kein Gefängnis war. Das Gebäude hatte etwas äußerst Vertrautes und Schändliches an sich.

»Nö, da tun sie die übriggebliebenen Kinder hin. Die Terraner sind sehr komisch. Sie stecken die Kinder da rein und lassen sie dort.« Geremys Stimme triefte vor Mißbilligung.

»Er meint, das hier ist das Waisenhaus, Domna.« MacDoevids Stimme klang eine Spur tiefer als Geremys in der zunehmenden Dunkelheit.

Sie sah jetzt ein beleuchtetes Schild an dem Gebäude. Das John-Reade-Waisenhaus für die Kinder von Raumfahrern. Natürlich! Hinter diesen vergitterten Fenstern hatte sie einmal gewohnt, als sie klein, allein und hilflos war. Aber ihr Vater war kein Raumfahrer. Er war ein Senator des Imperiums. Und soviel sie wußte, war er auch nie Raumfahrer gewesen, die ganze Sache ergab also keinen Sinn. Warum konnte sie sich nicht erinnern? Trotz der kühlen Luft trat ihr der Schweiß auf die Stirn. Warum nur, warum waren der Alte und Dio so geheimniskrämerisch gewesen?

Schluß damit! Es muß Gründe gegeben haben, wahrscheinlich gute Gründe, warum sie mir nie etwas über diesen Planeten erzählt haben. Und sie haben wohl angenommen, daß ich nie nach Darkover zurückkehren würde. Sie wissen nicht einmal, daß ich jetzt hier bin, es sei denn, sie haben meine letzte Nachricht doch bekommen. Wahrscheinlich glauben sie, ich lasse es mir an der Universität gutgehen oder bin irgendwo unterwegs und mache musikalische Forschungen. Und wahrscheinlich haben sie keine Ahnung, daß ich sie genau jetzt brauche. Der Alte ist mit dem Senat beschäftigt, und Dio ist ... Nein, da muß ich mir etwas einbilden. Dio geht es gut, alles in Ordnung. Trotz ihres verstandesmäßigen Beharrens darauf, daß es ihrer Stiefmutter gutgehe, hatte Margaret das ungute Gefühl, daß irgend etwas ganz und gar nicht stimmte, und zwar jetzt, in diesem Augenblick.

»Du Idiot«, sagte MacDoevid und stieß seinen Begleiter an. »Selber übriggebliebenes Kind! Spiel dich hier nicht auf, sonst sag ich Tantchen, wie unhöflich du warst, und wenn sie dich durchgekloppt hat, dann darfst du nicht mehr mit zu den Schiffen!«

»Kommt ihr beiden jeden Tag hierher?« fragte Margaret. Sie war zu erschöpft und durcheinander, um den Versuch zu unternehmen, aus dieser kleinen Szene schlau zu werden.

»Nö, Domna. Nur wenn ein Passagierschiff kommt. Hier landen ’ne Menge Schiffe, aber die meisten sind keine, wo Leute drauf sind.« Margarets müdes Hirn brauchte einen Moment, bis sie begriff, daß er Fracht- und Transitschiffe meinte, die Darkover wesentlich häufiger besuchten als Passagierschiffe. Darkover hatte eine gute Lage als Knotenpunkt, aber die meisten Transitpassagiere verließen den Raumhafen nicht. »Wir kriegen Geld fürs Gepäck schleppen«, winkte er mit dem Zaunpfahl und zeigte auf die Taschen, die sie eigensinnig festhielt. »Der Offizier muß uns kennen. Er sagt uns, wenn eins kommt, weil er uns kennt, und weiß, daß wir ehrlich sind. Fremde könnten Diebe sein«, fügte er an, als wüßte er, daß sie ihr Gepäck nicht herausrücken wollte, weil sie genau davor Angst hatte.

Margaret verstand die Andeutungen des Jungen ganz genau und wünschte, es fiele ihr leichter, ihm zu trauen. Sie hatte ein wenig einheimisches Geld in ihrer Gürtelbörse. Sie hatte die Universitäts-Filiale von Rothschild εt Tanaka, Geldwechsler, von ihrem Bestand an cottmanischer Währung leergeräumt. Es handelte sich um den Gegenwert von etwa zwölf Durchschnittseinkommen. Was das in der hiesigen Wirtschaft bedeutete, konnte sie nur raten. Sie bemühte sich, ihre müden Gedanken in nützliche Bahnen zu lenken. Was sollte sie den beiden für ihre Dienste als Führer geben, immer vorausgesetzt, sie führten sie nicht in eine dunkle Gasse und raubten sie aus? Sie verbannte diesen Gedanken als unhöflich. Geremy würde sich bestimmt nicht scheuen, es ihr zu sagen, wenn sie zu knauserig war. Er schien sich nicht leicht unterkriegen zu lassen, und sie beneidete ihn um sein Selbstvertrauen.

Vor sich sah sie eine weitere Mauer, eine niedrigere diesmal. Sie schien das abscheuliche Waisenhaus von der restlichen Stadt zu trennen. Sie kamen durch einen Torbogen, in dem ein Wächter in schwarzem Leder behaglich herumlümmelte. Er winkte den Jungen zu, als wären sie ein vertrauter Anblick, und schaute Margaret und den Professor nur gleichgültig an. Sie vermutete, er bekam die wenigen Touristen, die es hier gab, ausnahmslos alle zu sehen. Sobald sie den Torbogen passiert hatten, fanden sie sich auf Pflasterstraßen inmitten steinerner Häuser wieder. Die Straßen liefen in unmöglichen Winkeln zusammen. Kein Wunder, daß es keine Fahrzeuge gab! Diese Straßen waren zu eng für jedes terrranische Auto. Die Kälte war nun schneidend und schien ihr trotz des Mantels bis auf die Knochen zu dringen. Der etwas mürrische Angestellte beim Reisedienst der Universität hatte ihr widerwillig die Auskunft gegeben, es sei Frühling auf Cottman IV, was sie an warmes, mildes Wetter denken ließ, nicht an diese eisige Wirklichkeit. Sie beneidete die Jungen um ihre bequemen Wolljacken. Als ich hier gelebt habe, muß ich auch Wollsachen und Pelze getragen haben. Ich glaube, ich hatte eine Pelzjacke, als ich sehr klein war – komisch, daran habe ich mich bis jetzt nie erinnert. Sie war rostbraun, so wie das Haar meiner Mutter.

Margaret schüttelte sich. Welch seltsamer Einfall, daß ihre Jacke dieselbe Farbe hatte wie das Haar ihrer Mutter. Die Erinnerung war flüchtig, schwach und zum Verrücktwerden, und sie erschauerte. Dann kräuselte ein kleines Grinsen ihre Lippen. Sie wünschte, sie hätte jetzt eine Pelzjacke!

Margaret versuchte, das Unbehagen zu verscheuchen, das die Erinnerung an diese Jacke auslöste. Statt dessen fiel ihr etwas ein, was Dio vor Jahren zu ihr gesagt hatte. »Die Terraner können zwischen den Sternen hin und her jagen, aber sie müssen erst noch eine synthetische Faser erfinden, die so bequem ist wie Wolle oder Seide. Ich wünschte allerdings, sie gäben den Versuch endlich auf!« Danach fühlte sie sich ein wenig besser, auch wenn sie das am Körper klebende Material ihrer Gelehrtenuniform verfluchte. Der Theorie zufolge war sie in jedem Klima und bei jedem Wetter angenehm zu tragen. Wie viele Theorien funktionierte auch diese im Labor besser als in der Praxis und war typisch für die Technikbegeisterung der Terraner und ihre Geringschätzung der Natur. »Allwettertauglich« war ein Konzept, das sich – ähnlich wie »eine Größe für alle« – wahrscheinlich irgendein Idiot ausgedacht hatte, der nie aus der klimatisierten Umgebung einer terranischen Forschungsanlage herausgekommen war. Trotz ihrer Erschöpfung fühlte sich Margaret ein bißchen wohler. Es hatte etwas sehr Befriedigendes, sich im Geiste über die Terraner und ihre Vorliebe für das Unnatürliche lustig zu machen.

»Wie würde es euch gefallen, Meister MacDoevid, mir morgen behilflich zu sein? Es wäre nach der Schule.«

Beide Burschen sahen sie an, und Margaret wurde bewußt, daß sie den gleichen Nachnamen hatten. Es war diesmal nicht der dunkelhaarige, der ihr antwortete, sondern der hellere und größere Junge. Er hatte beinahe rotes Haar im flackernden Schein der Fackeln und lächelte sie scheu an. »Mein Vater ist Meister MacDoevid, Domna. Ich heiße einfach nur Geremy. Ich geh nich zur Schule, Domna, aber es wäre mir eine Ehre, Euch zu Diensten zu sein.« Er beäugte sie im Licht, das sich aus einer nahe gelegenen Weinhandlung ergoß. Sie schaute zu dem Schild vor dem Laden hinauf und sah eine Art Baum, der eine Krone trug. Bis zu diesem Augenblick hatte sie sich die tatsächliche Bedeutung des Ausdrucks »prä-alphabetisch« gar nicht bewußtgemacht, mit dem die darkovanische Kultur in den spärlichen Informationsschriften, die sie besaß, beschrieben wurde. Es war eben eine Sache, etwas rein verstandesmäßig begriffen zu haben, und eine andere, der Wirklichkeit zu begegnen.

Margaret war einigermaßen von sich selbst überrascht, weil sie unbewußt davon ausgegangen war, daß junge Menschen tagsüber zur Schule gingen, obwohl sie eigentlich wußte, daß das auf vielen Planeten nicht der Fall war. Sie war eine Gelehrte geworden, und wenngleich sie und Ivor in den letzten zehn Jahren eine Menge praktische Forschungsarbeit geleistet hatten, sah sie die Dinge noch mit den Augen einer Studierenden, nicht eines Mädchens von Thetis oder Darkover. Und irgendwie hatte sie sich vorgestellt, daß ihr Geburtsplanet mehr wie die Universität oder wie Thetis sein würde. Es war eine zutiefst verwirrende Erkenntnis, daß er nicht so war, und sie würde einige Zeit brauchen, um gewisse Dinge zu überdenken.

Irgend etwas irritierte sie, und sie versuchte dahinterzukommen, was es war. Es dauerte eine Weile, aber dann begriff sie: Es war der Ehrentitel, den der Bursche hartnäckig gebrauchte. Domna. Sie hatte Mestra gelernt, was Frau oder Fräulein entsprach. Der Ausdruck, den Geremy benutzte, bedeutete hingegen soviel wie »edle Dame«. Warum nannte er sie so? Und warum hatte sie so ein sonderbares Gefühl dabei, fast als könnte sie sich an jemanden erinnern, der mit diesem Titel angeredet wurde. Ihr Verstand war zu müde, um daraus schlau zu werden.

»Ich muß Kleidung kaufen – warme Sachen für mich und meinen Lehrer. Wißt ihr, wo ich die bekomme?«

Nun grinste er. »Und ob. Wir sind beide aus der Nähnadelstraße, und wir kennen uns mit Kleidung aus.« Er seufzte. »Unsere Väter sind in dem Geschäft. Und ich bringe Sie zu MacEwan; er ist der beste Schneider in der Nähnadelstraße. Er wird stolz darauf sein, Sie als Kunden zu haben, Domna.« »Er ist außerdem unser Onkel«, murmelte der andere Junge so leise, daß Margaret es fast überhört hätte.

»Ein guter Kaufmann läßt das Geschäft immer in der Familie, wo er kann«, sagte sie friedfertig. Sie wurde nicht recht schlau aus dem dunkleren Jungen, der extrem neugierig und gleichzeitig feindlich wirkte. Geremy schien ein freundlicher Bursche zu sein, und sein Cousin – diesen Verwandtschaftsgrad mußten sie haben, wenn sie beide Neffen von diesem MacEwan waren – war das krasse Gegenteil. Sie war nur zu müde, um klar denken zu können. Sie konnte seine Erregung beinahe spüren wie den Wind, der ihre Haut reizte, aber sie konnte sich den Grund dafür nicht vorstellen. Seine verschlagenen Gesichtszüge, die spitze Nase und die durchdringenden Augen drückten gleichzeitig Vorsicht und Hoffnung aus. Vielleicht war eine Frau in der Familie von einem Terraner verführt oder entehrt worden. Das kam auf humanoiden Welten nur zu oft vor. Die Terraner waren berüchtigt für ihren mangelnden Respekt den jeweiligen Sitten eines Planeten gegenüber. Unerwünschte oder vaterlose Kinder waren überall im alten Gebiet des Imperiums gang und gäbe ... wo immer Terraner sich kreuzen konnten, taten sie es. Und Low-Tech-Planeten waren nicht gerade berühmt für Empfängnisverhütung.

»Geremy ist ein Stiefellecker«, brummelte der verschlagen blickende Junge.

»Und Ethan streitet gern. Wahrscheinlich wird er einmal Richter.«

»Nein, nein«, protestierte Ethan. »Ich werde ...« Margaret sah den Hunger und das Verlangen in seinen Augen. Sie hatte diesen Blick oft gesehen, wenn sie ihre vorgeschriebenen Unterrichtsstunden halten mußte. In ihm kam ein Wunsch zum Ausdruck, der so kostbar war, daß seine bloße Erwähnung schmerzte.

»Ethan kommt bei der Färbergilde in die Lehre, aber in Wirklichkeit will er Raumfahrer werden.« Geremy erhielt für diese Enthüllung einen heftigen Faustschlag an die Schulter.

Margaret lachte nicht. Ethans Gesicht war deutlich anzusehen, daß er genau damit gerechnet hatte. Die Jungs waren nett, dachte sie. Vielleicht hätte sie solche Brüder, wenn der Alte und Dio weitere Kinder bekommen hätten. Sie hatte zwar nie den Wunsch gehabt, zwischen den Sternen zu reisen, aber sie konnte verstehen, daß der junge Mann etwas anderes machen wollte, als der Familientradition zu folgen. Als junges Mädchen hatte sie sich gewiß nicht vorgestellt, daß sie später einmal Musik von Planeten sammeln würde, von denen sie noch nie gehört hatte, aber sie hatte sich bestimmt auch nicht gewünscht, Ehefrau oder Mutter zu werden.

Margaret wußte außerdem, daß sie in Ethans Alter eher gestorben wäre, als ihr heimliches Ziel zu verraten, nämlich Tänzerin oder eine berühmte Schauspielerin zu werden. Sie konnte jetzt über sich selbst lachen, aber sie würde niemals diesen Jungen auslachen, dem es todernst mit seinem Wunsch war.

»Es ist sehr schwer, Raumfahrer zu werden«, sagte sie ernst. »Als erstes brauchst du eine gute Bildung, mit besonderem Schwerpunkt auf Mathematik.« Ethan betrachtete sie vorsichtig, versuchte sie einzuschätzen, so wie sie es kurz vorher mit ihm gemacht hatte. Er kam offenbar zu dem Schluß, daß sie ihn ernst nahm, und schien ein ganzes Stück zu wachsen. Ein Mond ging auf und warf dunkle Schatten unter die Augen des Jungen. Der Mond sah wie ein Amethyst vor dem dunklen Himmel aus, und sie überlegte angestrengt, wie er hieß. Ihr müdes Hirn verweigerte die Zusammenarbeit.

Geremy betrachtete sie nachdenklich. »Sind Sie Terranerin?« »Sei nicht albern«, sagte Ethan. »Das sieht doch jeder, daß sie keine ist.«

»Nein, ich komme von einer Welt namens Thetis«, sagte sie. »Eine hübsche Welt mit vielen Wasserfällen und Ozeanen. Wir leben auf Inseln, über die warme Winde wehen, die nach Salz und Blumen duften.« Margaret wurde plötzlich von starkem Heimweh nach der Wärme von Thetis überfallen. »Ich weiß nicht einmal, welcher Stern dort oben Thetis ist. Ich habe allerdings viele Welten besucht. Ich bin Musikerin.«

»Sie waren auf vielen Planeten? Bitte lassen Sie mich Ihre Tasche tragen. Würden Sie – können Sie mir alles erzählen?« Ethan lächelte zu ihr auf und war wie verwandelt. Sein Gesicht glühte vor Interesse.

Margaret löste ihren Griff und vergaß ihre Befürchtungen. Sie kannte diese Wanderlust; manchmal kam es ihr vor, als wäre sie ein allgemein verbreiteter Trieb unter den Kindern von Terra. Sie hatte selbst eine Spur davon, obwohl sie das Reisen als solches verabscheute. Erst sprach sie stockend und suchte nach den richtigen Worten. Dann gab es einen plötzlichen Sprung vorwärts, als hätte sie einen geheimen Sprachvorrat entdeckt, der sich irgendwo in den Windungen ihres Gehirns versteckt hatte. Es war, als würde eine Schranke fallen. Sie benutzte Worte, die in dem begrenzten Wortschatz der Disketten gar nicht vorgekommen waren. Und es waren weniger die Worte, die sie verblüfften, sondern der Sprachrhythmus, der ihr plötzlich so leicht über die Lippen kam.

Nach einigen Minuten wurde Margaret klar, daß ihr Wortschatz größer war, als sich durch ihre ersten fünf Lebensjahre auf Darkover erklären ließ. Das war kein Kindervokabular, sondern das eines Erwachsenen. Schließlich nahm sie an, daß sie nachts gehört haben mußte, wie sich Dio und der Alte unterhielten. Die Wände der Häuser auf Thetis sind dünn und leicht, damit der Wind hindurchstreichen kann, und sie hatte wohl auf diese Weise den süßen Rhythmus der Sprache gelernt, während sie schlief. Wahrscheinlich hätte sie geschnattert wie eine Elster, wenn sie schon früher die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Elster. Das war einer von Ivors Namen für sie, mit denen er sie aus ihrer Ernsthaftigkeit lockte, wenn sie niedergeschlagen war.

Alle diese Gedanken jagten durch ihr Gehirn, während sie von Thetis erzählte, vom Universitätsplaneten Coronis, auf dem sie studiert hatte, von Rigel Neun und dem Kongreß der Konföderation, wo ihr Vater an der Gesetzgebung der Terranischen Föderation mitwirkte. Sie erzählte ihnen von Relegan, dem letzten Planeten, den sie und Ivor besucht hatten, und von allem anderen, was ihrem müden Gehirn einfiel.

Der Junge meinte es so ernst, daß Margaret nicht einmal in Versuchung kam, ihm irgendwelche Abenteuergeschichten aufzutischen. Er bombardierte sie mit Fragen über Metalle und Mechanik, und sie war zum ersten Mal froh, daß alle Studenten im ersten Jahr einen Kurs über »Grundzüge der Technik von großen Raumschiffen« belegen mußten. Reines Eigeninteresse, natürlich. Die gesamte Föderation bemannte ihre Raumschiffe, indem sie die Neugier von Kindern wie Ethan nährte. Sie sagte ihm nicht, daß er ohne das Werkzeug des Lesens und Schreibens seine Welt nie verlassen würde; die schlichten Schilder vor den Läden brachten sie zu der Annahme, daß ihm beides hier nicht zugänglich war.

Die Straßen schienen nun ein wenig breiter zu werden. Die Gebäude waren aus roh behauenem Stein, mit hell gestrichenen Holztüren. Es roch nach nassem Stein, Tierexkrementen und Müll. Sie kamen an einem Gasthaus vorbei, und der Essensgeruch war unwiderstehlich. Margaret wurde bewußt, daß sie inzwischen sehr hungrig war. Der Duft kam ihr sogar bekannt vor. Fast konnte sie das Gericht benennen, obwohl sie es nicht mehr gegessen hatte, seit sie klein war. Es hieß ja, daß das Mittelhirn – von dem der Geruchssinn ein ursprünglicher Teil war – nichts mehr vergaß. Vielleicht stimmte es.

Sie ignorierte Hunger und Müdigkeit und fuhr fort, den Jungen zu erheitern oder zu unterweisen. Professor Davidson stolperte neben ihr her und hörte schweigend zu. Geremy hatte es irgendwie fertiggebracht, seine kostbare Gitarre für ihn tragen zu dürfen, und lieh ihm nun auch seinen Arm.

»Ist es noch weit, Margaret? Ich glaube, ich bin ein bißchen außer Atem.«

»Ich weiß es nicht. Ethan, wie weit ist es noch zur Musikstraße?«

»Nur noch eine Straße, vai Domna.« Das war ein neuer Ehrentitel. Sie wußte vage, daß er soviel wie »Hochverehrte Dame« bedeutete und der gleiche war, wie er für eine Prinzessin oder eine Bewahrerin benutzt wurde. Was, zum Teufel, ist eine Bewahrerin? Sie hatte das Gefühl, als befände sich die Antwort an den Rändern ihres Bewußtseins und wäre lebenswichtig, doch sie konnte sie in ihrer Erschöpfung nicht fassen.

»Nur noch ein kleines Stück, Ivor.« Sie sprach dem Professor zuliebe Standard, dann wandte sie sich wieder Geremy zu und fuhr in ihrem stark verbesserten Darkovanisch fort. »Gut, daß wir bald aus der Kälte und dem Regen herauskommen.« Ein eisiger Nieselregen hatte inzwischen eingesetzt. »Wir haben das letzte Jahr auf einem sehr warmen Planeten verbracht, und er tut sich schwer, versteht ihr.« Hier ist es kälter als in Zandrus Hölle ... Er hat Peitschen oder so etwas, oder?

Diese halben Erinnerungen machten sie langsam rasend. Sie konnte nicht mehr unterscheiden, was sie noch von früher wußte und was sie von den Sprach- und Kulturdisketten aufgeschnappt hatte. Sie gab es auf und wünschte, ihr Geist gäbe Ruhe, bis sie satt und ausgeschlafen war. »Es scheint schon sehr spät zu sein. Machen sich eure Eltern keine Sorgen?« Die Burschen kamen ihr noch sehr jung vor, und die dunklen Straßen sahen aus, als wären sie voller möglicher Gefahren.

»O nein. Zur Tuchstraße, wo wir wohnen, sind es nur ein paar Minuten. Es ist noch nicht einmal eine Stunde nach Sonnenuntergang, wenn wir im Haus sein müssen.«

»Und du, Ethan?«

»Ich wohne direkt neben Geremy; unsere Väter sind Brüder. He, wir kennen uns jetzt alle mit Namen. Außer Ihren, Domna.«

»Stimmt. Ich vergaß mich vorzustellen. Ich heiße Margaret Alton.« Sie sprach ihren Nachnamen beinahe so aus, als würde er »Elton« geschrieben, so wie er auf dem Video oder der Universität ausgesprochen wurde und wie sie es seit Jahren gewohnt war.

»Alton. Das ist ein guter alter Name.« Er sagte den Namen so, wie es ihr Vater getan hatte, und Margaret fühlte eine Art Kribbeln, als sie ihn korrekt ausgesprochen hörte. Ethan schien ebenfalls sehr beeindruckt zu sein, und Margaret fragte sich, ob er wußte, daß ihr Vater der Senator von Darkover war. Wahrscheinlich. Sie war einfach zu müde, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

Ich wußte, sie ist eine Comynara – ich wußte es einfach!

Die Worte drangen in ihren Geist wie eine Nadel und erschreckten sie. Dergleichen war ihr früher schon gelegentlich widerfahren, vor allem, wenn sie müde war, aber noch nie mit solcher Klarheit und Deutlichkeit. Margaret sah beide Jungen an, aber sie konnte nicht feststellen, welcher von ihnen die Worte gedacht hatte, und es spielte wohl auch keine Rolle. »Ist es noch weit?«

»Nein«, sagte Ethan. »Hier sind wir schon.« Sie bogen in eine enge Straße ein, in der vor beinahe jedem Haus ein Schild mit den verschiedensten Musikinstrumenten hing.

»Die Straße der Musikanten«, verkündete er mit einer kleinen Verbeugung und einer Handbewegung wie ein Zauberer. Er war so zufrieden mit sich, daß Margaret trotz ihrer Erschöpfung lachen mußte, und der junge Bursche lachte mit ihr.

3

Zu beiden Seiten säumten Häuser die Straße, und die meisten Türen waren mit Bildern von einer verblüffenden Vielfalt an Musikinstrumenten bemalt. Margaret identifizierte eine Art Harfe, eine Auswahl an hölzernen Flöten und etwas, das entfernt einer Geige ähnelte. Die Form des Instruments war anders, mehr in die Länge gezogen, genug, daß der Ton sich geringfügig von allem unterscheiden mußte, was sie kannte. Die Straße wurde von flackernden Fackeln und dem Mond nur schlecht beleuchtet, aber sie sah Holzspäne und anderes Zeug auf den groben Pflastersteinen herumliegen.

Hinter einer Tür, oder vielleicht auch hinter dem großen, mit Läden verschlossenen Fenster neben der Tür, war eine Gruppe zu hören, die mit Streichinstrumenten übte. Jemand verspielte sich kläglich; Margaret zuckte zusammen. Wie zur Antwort ertönte das ärgerliche Dröhnen einer gewaltigen Baßstimme. »Das ist Meister Rodrigo«, erklärte Geremy, der seine anfängliche Steifheit abgelegt hatte. »Er ist ein fürchterlicher Tyrann, aber es heißt, er wird der neue Zunftmeister nach Meister Everard, weil er ein besserer Musiker ist als Everards Sohn Erald. Er ist wirklich gut. Ich habe ihn bei der letzten Wintersonnenwende singen hören, und ich bekam von oben bis unten eine Gänsehaut. Er ist der beste Sänger in Thendara, außer Ellynyn Ardais – und Ellynyn ist Comyn und ein Emmasca, deshalb hat er freilich eine wundervolle Stimme.«

Margaret dachte über diese Worte nach. Sie hatten sich nicht auf der Kassette »Handelssprache von Thendara City« befunden, aber sie war sich ziemlich sicher, daß sie wußte, was Emmasca bedeutete. Sie hatte die berühmten Kastraten des Vergnügungsplaneten Vainwal gehört und wünschte sich fast, Kastrationen wären auch auf anderen Welten erlaubt. Es waren die schönsten Stimmen des Imperiums. Waren sie auf Darkover erlaubt? Oder kamen diese Sänger hier schon so zur Welt? Der andere Ausdruck blieb ein Rätsel, denn sie kannte ihn zwar, aber irgend etwas schien zu verhindern, daß sie seine Bedeutung verstand.

Dann bemerkte sie, daß Ivor nicht mehr neben ihr war. Sie schaute umher und sah den Professor unter einem der Schilder stehen und die seltsam geformte Geige darauf betrachten. Margaret schüttelte den Kopf, ging zu ihm zurück und trieb ihn mit sanfter Gewalt weiter. Er murmelte glücklich vor sich hin, stellte sich Fragen und beantwortete sie sogleich.

Als sie die geduldig wartenden Jungen wieder eingeholt hatten, fragte Margaret: »Dann wird der Posten des Zunftmeisters also im allgemeinen vom Vater an den Sohn weitergegeben?« Ihr Gehirn mochte müde sein, aber ihre Zunge schien automatisch weiter Fragen zu stellen.