Zandrus Schmiede - Marion Zimmer Bradley - E-Book

Zandrus Schmiede E-Book

Marion Zimmer Bradley

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Beschreibung

Bestsellerautorin Marion Zimmer Bradley ("Die Nebel von Avalon") hat mit dem opulenten Darkover-Zyklus eine einzigartige Romanreihe geschaffen: Die fesselnde Geschichte einer geheimnisvollen fremden Welt und ihrer Bewohner ist Kult! Die ferne Welt Darkover im Zeitalter der Hundert Königreiche: Der Kampf gegen den gesetzlosen Bewahrer Deslucido ist vorüber. Doch die Gefahr durch ihn ist noch nicht gebannt: Sein Sohn Eduin lebt – und ist von dem Gedanken besessen, die Fürstenlinie der Hasturs ein für allemal auszulöschen…

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Marion Zimmer Bradley – Der “Darkover”-Romanzyklus bei EdeleBooks:

ISBN 978-3-95530-591-8Die LandungISBN 978-3-95530-598-7Herrin der StürmeISBN 978-3-95530-597-0Herrin der FalkenISBN 978-3-95530-609-0Der Untergang von NeskayaISBN 978-3-95530-608-3Zandrus SchmiedeISBN 978-3-95530-607-6Die Flamme von HaliISBN 978-3-95530-594-9Die Zeit der hundert KönigreicheISBN 978-3-95530-592-5Die Erben von HammerfellISBN 978-3-95530-593-2Die zerbrochene KetteISBN 978-3-95530-603-8Gildenhaus ThendaraISBN 978-3-95530-595-6Die schwarze SchwesternschaftISBN 978-3-95530-596-3An den Feuern von HasturISBN 978-3-95530-588-8Das ZauberschwertISBN 978-3-95530-599-4Der verbotene TurmISBN 978-3-95530-589-5Die Kräfte der ComynISBN 978-3-95530-586-4Die Winde von DarkoverISBN 978-3-95530-601-4Die blutige SonneISBN 978-3-95530-602-1Hasturs ErbeISBN 978-3-95530-585-7Retter des PlanetenISBN 978-3-95530-587-1Das Schwert des AldonesISBN 978-3-95530-600-7Sharras ExilISBN 978-3-95530-590-1Die WeltenzerstörerISBN 978-3-95530-604-5Asharas RückkehrISBN 978-3-95530-606-9Die SchattenmatrixISBN 978-3-95530-605-2Der Sohn des Verräters

Marion Zimmer Bradley mit Deborah J. Ross

Zandrus Schmiede

Ein Darkover Roman

Ins Deutsche übertragen von Michael Nagula

Edel eBooks

Copyright dieser Ausgabe © 2014 by Edel eBooks, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg. Copyright © 2003 by The Marion Zimmer Bradley Literary Works Trust

Copyright First german Edition © 2004 by Verlagsgruppe Randomhouse GmbH, München.

Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel "Zandru's Forge. Book Two of The Cllingfire Trilogy"

Ins Deutsche übertragen von Michael Nagula

Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-608-3

edel.comfacebook.com/edel.ebooks

Dementi

Dem aufmerksamen Leser werden möglicherweise bei einigen Details Unterschiede zu neueren Erzählungen auffallen. Das ist ohne Zweifel auf die fragmentarische Geschichtsschreibung zurückzuführen, die bis zum heutigen Tage anhält. In den Jahren nach der Zeit des Chaos und der Hundert Königreiche gingen viele Zeugnisse verloren, andere wurden durch die mündliche Weitergabe entstellt.

Anmerkung der Autorin

Marion Zimmer Bradley ging mit »ihrer besonderen Welt« Darkover immer sehr großzügig um, und sie ermutigte für ihr Leben gern junge Schriftstellerinnen. Wir waren schon Freundinnen, als sie ihre Anthologien über DARKOVER und die SCHWESTERN-Reihe herauszugeben begann. Meine natürliche literarische »Stimme« und das, wonach sie suchte, passten ungewöhnlich gut zueinander. Sie las immer gern, was ich mit so viel Freude schrieb, und bezeichnete »Brendan Ensolares Tod« (FOUR MOONS OF DARKOVER, USA 1988, dt. DIE VIER MONDE) oft als eine ihrer Lieblingsgeschichten.

Unter meinem Ehenamen Deborah Wheeler veröffentlichte ich weiter Kurzgeschichten in Marions Anthologien und Magazinen und auch in ASIMOV’S, FANTASY AND SCIENCE FICTION, STAR WARS: TALES FROM JABBA’S PALACE (USA 1995, dt. PALAST DER DUNKLEN SONNEN) und SISTERS OF THE NIGHT. Bei DAW BOOKS erschienen meine beiden Science-Fiction-Romane JAYDIUM und NORTHLIGHT.

Als Marions Gesundheitszustand sich verschlechterte, lud sie mich ein, mit ihr an einem oder mehreren Darkover-Romanen zu arbeiten. Wir beschlossen, dass wir, statt die Geschichte des »modernen« Darkover fortzuschreiben, besser in die Zeit des Chaos zurückkehrten. Marion schwebte eine Trilogie vor, die mit dem Hastur-Aufstand und dem Untergang von Neskaya beginnen und über die anhaltende Freundschaft zwischen Varzil dem Guten und Carolin Hastur bis zu dem Feuerbombardement auf Hali und der Ratifizierung des Vertrags führen sollte. Während ich mir so schnell wie möglich Notizen machte, lehnte sie sich zurück, richtete den Blick nach oben und begann die Geschichte mit den Worten: »Also, die Hastur versuchten, die schlimmsten Auswüchse der Laran-Waffen in den Griff zu bekommen, aber ständig wurden neue entwickelt ...« Oder sie sagte: »Varzil und Carolin waren natürlich mit den Geschichten über die unglücklichen Liebenden vertraut, die bei der Zerstörung von Neskaya ihr Leben verloren ...« Das hier ist ihre Geschichte.

Deborah J. Ross

»Es sind nicht die schönen Tage, die unsere Seelen formen, sondern die kalten Winternächte, wenn wir uns in den Gruben von Zandrus Schmiede wiederfinden und feststellen, wer wir wirklich sind.«

– Felicia Leynier

Prolog

Der Knabe kam, um seinem Vater Lebewohl zu sagen, als der Schein verglimmender Holzscheite über dem Feldsteinherd waberte. Er schauderte, dachte an die Nacht draußen und an den Reiter, der käme, um ihn abzuholen. Mit einer Geduld, die weit über die eines Zwölfjährigen hinausging, wartete er auf die Worte seines Vaters, die ihn fortschickten, vielleicht für immer.

Einen langen Augenblick bewegte sich der in zerlumpte Decken gehüllte Mann nicht. Nur die sich langsam und ungleichmäßig hebende und senkende Brust und das Funkeln in seinen Augen zeigten, dass noch Leben in ihm war. Die alte Verletzung seiner Lungen aus einer Zeit, über die er nie ein Wort verlor, hatte ihn früher schon an den Rand des Todes gebracht, und jedes Mal hatte er sich wieder erholt.

Vater, bitte stirb nicht, dachte der Knabe und fragte sich erneut, ob er deshalb fortgeschickt wurde. Nach Arilinn, so weit weg, um unter Bestien und Zauberern zu leben.

»Eduin.« Ein Wispern wie rieselnde Asche. »Mein Sohn.«

Tränen brannten in den Augen des Knaben, aber er kämpfte das Verlangen nieder, sich in die Arme des Vaters zu werfen, sein Gesicht in dem drahtigen grauen Bart zu vergraben, die eisernen Arme um sich zu spüren.

»Ich weiß nicht, ob ich dich jemals wieder sehen werde. Du bist meine letzte Hoffnung.«

»Ich werde dich nicht enttäuschen, Vater.«

Die Schultern des Mannes hoben und senkten sich unter den Deckenschichten. »Und was wirst du tun?«

»Nach Arilinn gehen. Ich werde ein ...« Das Kind stolperte über das unvertraute Wort, »... ein Laranzu. Der mächtigste Zauberer von ganz Darkover.«

»Wie dein Vater vor dir.«

Eduin nickte mit gerunzelter Stirn. Wenn sein Vater der mächtigste Laranzu der Welt gewesen war, warum lebten sie dann in dieser Abgeschiedenheit? Warum hungerten und froren sie dann im Winter und trugen Flickenkleidung? Er wusste, dass die Hasturs damit zu tun hatten. Seine Mutter hatte ihm noch zu Lebzeiten beigebracht, niemals Fragen zu stellen. Aber wenn er jetzt keine Fragen stellte, kam diese Chance vielleicht nie wieder.

Als spürte er seine Fragen, winkte der Vater den Knaben näher und zog ihn in den Schutz eines Arms. »Du bist zu jung für eine solche Bürde, und doch bist du alles, was mir geblieben ist. Deine Brüder ...« Seine Stimme verlor sich.

Sie haben versagt.

»Wer bist du?«, fragte sein Vater in verändertem Ton.

»Nun, Eduin MacEarn, auf diesen Namen hast du mich getauft, Vater.«

»Hör gut zu. Deine Mutter wusste nichts von dem, was ich dir jetzt mitteile. Sie wusste lediglich, dass ich im Krieg verwundet wurde und Frieden und Vergessen suchte. Also nahm ich ihren Namen an und begann hier ein neues Leben. Aber die Vergangenheit muss berichtigt werden.«

Eduin schauderte angesichts der Eröffnung eines großen Geheimnisses.

»Dein wahrer Name, mein Sohn, ist Eduin Deslucido, und du bist der einzige Erbe eines einst riesigen Königreichs. Dein Onkel war König Damian Deslucido, ein Mann mit einer unübertrefflichen visionären Kraft, Herrscher von Ambervale und Linn ...« Die Namen gingen ihm wie Beschwörungen von der Zunge, »... und Kinally, Verdanta und Falkenhorst und dann Acosta. Aber das ist nun alles dahin, selbst die Erinnerung an diesen großen Mann. Zerstört durch die heimtückischen Hasturs – möge ihre Strafe tausend Jahre währen! In ihrer Gier nach Macht haben sie deinen Onkel und deinen Vetter Belisar abgeschlachtet, der nach ihm König geworden wäre. Sie haben Feuer vom Himmel regnen lassen und zwei Türme in Trümmer gelegt. Sie dachten, ich wäre dabei ebenfalls umgekommen.«

»Nein, Vater, nicht du!«

»Aber Zandru war mir hold, und ich entkam. Ich gelangte hierher, nahm den Namen deiner Mutter an und wartete. Ich dachte, wenn ich wieder bei Kräften wäre, könnte ich in die Welt zurückkehren und die Hastur-Sippe zur Rechenschaft ziehen. Aber«, er deutete mit der freien Hand auf seine Brust, »dieser Körper hat zu viel erlitten.«

Der Atem rasselte in den Lungen des Greises. »Als deine Brüder erwachsen wurden, begann ich zu hoffen, dass ich sie an meiner statt ausschicken könnte. Es waren gute Jungs, liebevolle Söhne. Sie gaben ihr Bestes. Da erkannte ich, dass die Hasturs für einen gewöhnlichen Attentäter zu mächtig waren, egal wie gerecht die Sache war.«

Erneut schauderte Eduin. Er konnte sich an seine Brüder kaum erinnern, nur dass sie groß und stark gewesen waren. Wie sollte er Erfolg haben, wo sie gescheitert waren?

»In alledem liegt ein hohes Maß an Gerechtigkeit«, sagte der Greis mit einem gequälten Lächeln. »Dass du, das Kind von Rumail Deslucido, die Kinder dieser verfluchten Hexe Taniquel Hastur-Acosta vernichten wirst und alle anderen in diesem elenden Nest, die ihr halfen!«

Ein Hustenanfall unterbrach seine Rede. Der Knabe eilte zu dem Tisch auf der anderen Seite des Zimmers und holte einen verschrammten Holzbecher mit Kräuteraufguss.

»Du darfst den Hasturs nie durch Waffengewalt entgegentreten«, sagte der Greis, »das führt nur in die Katastrophe. Kultiviere stattdessen dein Talent. Verdiene dir deinen Platz in den Türmen. Beobachte und lerne. Warte ab. Der richtige Zeitpunkt wird kommen. Du wirst dort Hasturs treffen, davon bin ich überzeugt. Das Laran ist weit verbreitet in dieser Familie, genau wie in unserer. Freunde dich mit ihnen an, erwirb ihr Vertrauen, verschaff dir Zutritt zu ihren Häusern. Aber fürchte nie ihre Kraft. Du hast eine Gabe, die weit mehr wiegt als die ihre. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, werde ich dir beibringen, wie man sie einsetzt.«

Der Greis hielt inne, aber der Knabe wusste, dass noch mehr folgen würde. »Verrate dich nicht, indem du gegen geringere Angehörige dieses Hauses ziehst. Heb dir deine Bemühungen für deine wahren Ziele auf – die Schuldigen und ihre Nachkommen. Die Geister von Damian Deslucido, Prinz Belisar und all derer, die für ihre ruhmreiche Sache starben, zählen auf dich. Ich zähle auf dich!«

Hufgetrappel erklang draußen auf dem Hof. Der Knabe blickte kurz zu dem gefalteten Mantel, der auf dem Bündel neben der Tür lag. Er schlang die Arme um den Vater und wisperte erneut – vielleicht zum letzten Mal:

»Ich werde dich nicht enttäuschen, Vater. Ich enttäusche dich nicht!«

1. Buch

1

Eines Morgens Anfang Herbst schien die große rote Sonne von Darkover am Eingang zum Turm Arilinn schräg auf den Hof. Polierter Granit, in den durchscheinende blaue Steine eingefügt waren, bildete den Boden und zwei Mauern. Alles war so kunstvoll geformt und zusammengesetzt, dass nicht einmal ein Grashalm oder eine Efeuranke Wurzeln schlagen konnte. Steil aufragend, bildeten die Mauern eine Schlucht, in der die Kälte der Nacht erhalten blieb. Auf der anderen Seite umschloss ein anmutiger Torbogen den bunten Schleier, der nur jenen mit echtem Comyn-Blut, Angehörigen der mit psychischen Kräften gesegneten darkovanischen Adelsschicht, den Zutritt gestattete. In dem indirekten Licht des Morgens ähnelte der Schleier einem Wasserfall aus den zerfallenden Farben des Regenbogens.

Als er sich in der finstersten Stunde der Nacht in den Hof geschlichen hatte, war Varzil Ridenow darauf bedacht gewesen, dem Schleier nicht zu nahe zu kommen. Selbst hier, in der Ecke, in der er sich zusammengerollt hatte, um dösend den Tagesanbruch abzuwarten, spürte er, wie dessen Macht an seinen Nerven zerrte.

Hätte es eine andere Möglichkeit gegeben ...

Die Worte hallten in seinen Gedanken wider wie der Refrain einer Ballade. Er war ein Ridenow und besaß die Gabe des Laran, die wahre Donas. Er wusste es schon, seit er zum ersten Mal die Ya-Männer ihre Klagelieder in den fernen Hügeln unter den vier Mittsommermonden hatte singen hören. Damals war er acht Jahre alt gewesen, alt genug, um zu verstehen, dass da etwas war, was man weder sehen noch fassen konnte, und alt genug, um zu wissen, dass er darüber schweigen sollte. Er hatte gesehen, wie sein Vater, Dom Felix Ridenow, bei diesem Thema verstummte und seine Kiefer anspannte. Nun war er sechzehn, älter als die meisten, wenn sie ihre Ausbildung im Turm begannen, und sein Vater hätte die ganze Sache am liebsten vergessen und so getan, als besäße sein jüngster Sohn die Gabe nicht.

Varzil war all die vielen Meilen von seinem Zuhause nach Arilinn gereist, zusammen mit seinem Vater und einigen Angehörigen, um dem Comyn-Rat offiziell vorgestellt zu werden. Sein älterer Bruder Harald, der einmal Klarwasser erben sollte, war vor drei Jahren auf ähnliche Weise begutachtet worden, aber damals war Varzil noch zu jung gewesen, um ihn zu begleiten. Seine derzeitige Anerkennung war eindeutig ein politischer Schachzug, um den Status der Ridenows zu stärken. Viele der anderen großen Häuser betrachteten sie als Emporkömmlinge, kaum zivilisierter als ihre Vorfahren aus den Trockenstädten. Es ärgerte sie, einem Ridenow die Achtung eines Gleichen unter Gleichen entgegenbringen zu müssen.

Der Frieden, den Allart Hastur zwischen seinem Königreich und dem der Ridenows geschlossen hatte, war bisher weder lang noch tief genug gewesen, um die Erinnerung an die blutige Auseinandersetzung, die dem Abkommen vorausgegangen war, vergessen zu lassen. Dom Felix verhielt sich nie anders als ausgesucht höflich gegenüber den Hasturs, aber Varzil spürte ihre Zweifel – ihre Furcht.

Hätte es eine andere Möglichkeit gegeben ...

Dann hätte er sich nicht zu dieser verbrecherisch frühen Stunde aus der Verborgenen Stadt schleichen müssen, um halb erfroren darauf zu warten, dass jemand im Turm ihn einließ. Er hoffte, dass es bald geschähe, bevor seine Abwesenheit entdeckt und die Jagd auf ihn eröffnet wurde. Die Ratssitzung war beinahe vorüber, und viel galt es nicht mehr zu erledigen. Dom Felix würde nicht zögern, nicht, nachdem Katzenmenschen in den Bergen unweit der Schafsweiden gesichtet worden waren.

Varzil schlang den Umhang enger um seine Schultern und achtete darauf, dass seine Zähne nicht mehr so laut klapperten. Der fein gewobene Zwirn war für die höfische Etikette gedacht, nicht als Schutz gegen die Elemente.

Aldones sei Dank, dass es eine klare Nacht war.

In den langen Stunden spürte Varzil das Wirbeln und Tanzen psychischer Kräfte hinter den Turmmauern. Die blendend grelle Energie des Schleiers peinigte seine Nerven und machte ihn empfänglich für das leiseste telepathische Raunen.

Ein Großteil der Arbeit im Turm wurde verrichtet, wenn gewöhnliche Menschen schliefen, um der psychischen Statik der vielen ungeschulten Gemüter möglichst wenig ausgesetzt zu sein. So nahe der Stadt wurde noch der zufälligste Streustrahl oder Gefühlsausbruch, der es kaum wert war, Laran genannt zu werden, zu einer leichten Störung, die sich mit der Zeit verstärkte, hatte man ihm erzählt. Aus diesem Grund standen Türme wie Hali und der jetzt in Trümmern liegende Tramontana abseits menschlicher Siedlungen. In den langen Stunden der Dunkelheit schickten begnadete Arbeiter per Relais Botschaften über hunderte von Meilen und luden gewaltige Laran-Batterien auf, die unzähligen Zwecken dienten, darunter der Energieversorgung von Luftwagen, der Beleuchtung der Königspaläste und dem Abbau kostbarer Minerale; ja sie ermöglichten sogar die behutsame Heilung von Körper und Geist.

Varzil war in dieser Nacht schon ein Dutzend Mal eingenickt und wieder aufgeschreckt. Bei jedem Erwachen schienen seine Sinne schärfer geworden zu sein. Kraft seines Geistes spürte er Farben und Melodien, von deren Existenz er nicht einmal etwas geahnt hatte. Er vernahm Stimmen, ein Wort hier und da, Redewendungen, die befrachtet waren mit geheimer Bedeutung und ihn nach mehr lechzend zurückließen. Der regenbogenartige Schleier funkelte nicht mehr in der Ferne, sondern ging ihm widerhallend durch Mark und Bein.

Eine Bewegung erregte Varzils Aufmerksamkeit, ein Schatten unter Schatten. Schlank, in grauen Pelz gekleidet, vorgebeugt wie ein verhutzelter kleiner Mann, schlüpfte eine Gestalt durch den Schleier. Sie blieb stehen, einen leeren Korb fest in den Klauen, und starrte ihn an.

Varzil setzte sich aufrecht und zog den dünnen Umhang noch enger um seine Schultern. Er erkannte in dem Wesen einen Kyrri, die Serrais, das Oberhaupt der Ridenows, sich in geringer Zahl als Diener hielt. Sie sollten telepathisch sehr begabt sein, aber auf jede Annäherung heftig reagieren. Bei seiner Vorbereitung auf den Besuch in Arilinn hatte sein Vater ihn vor ihren schützenden elektrischen Feldern gewarnt. Dennoch streckte er die Hand nach ihm aus.

»Schon in Ordnung«, murmelte er. »Ich tue dir nicht weh.«

Etwas strich über Varzils Hinterkopf, gleichzeitig federleicht und unangenehm, als streichele jemand seine Haut. Aber nein, es geschah im Innern seines Kopfes. Plötzlich durchlief ihn ein Gefühl der Neugier, das ebenso rasch, wie es gekommen war, wieder verflog.

Das Wesen musterte ihn. Wollte es etwas von ihm? Er hatte nichts zu essen – und dann begriff er, dass er als Tier von ihm dachte und nicht als intelligentes, wenn auch nicht unbedingt menschliches Wesen.

Ohne einen Laut eilte der Kyrri davon. Varzil sah, wie er den äußeren Hof überquerte und in eine Seitengasse abbog. Er hatte den Eindruck, auf geheimnisvolle Weise einer Prüfung unterzogen worden zu sein, und wusste nicht, ob er bestanden hatte.

»Sieh doch – da unten!«, rief über ihm eine Stimme. »Irgendein Taugenichts lagert auf unserer Schwelle!«

Varzil reckte den Hals und starrte zu einem Balkon hoch, der zu beiden Seiten des Schleierbogens um den Turm herumführte. Zwei ältere Jungen beugten sich vor und deuteten auf ihn. Sie schienen noch nicht ganz zwanzig zu sein; die Stimmen waren schon tief, die Taillen und Hüften schlank, aber sie hatten noch die Schultern junger Männer.

»Du da! Kerl! Was hast du hier zu suchen?«

Etwas an der Stimme nervte Varzil. Aber vielleicht war es auch nur die Verwirrung über die Begegnung mit dem Kyrri, die ihn zu der gereizten Antwort verleitete: »Was geht euch das an? Ich bin hier, um den Bewahrer des Turms Arilinn zu sprechen, und der seid ihr nicht!«

»Wie kannst du es wagen, so mit uns zu reden!« Der Jüngling auf dem Turm beugte sich weiter vor. »Du unverschämter Nichtsnutz!«

Der zweite Junge zog seinen Freund zurück. »Eduin, du hast nichts davon, ihn zu verspotten. Da unten kann er uns nichts anhaben, und er ist eindeutig kein Straßenbettler. Diese Worte sind deiner nicht würdig.« Er sprach mit dem Akzent eines Tiefland-Aristokraten.

Varzil rappelte sich mit pochendem Herzen auf. Ein Dutzend Entgegnungen kam ihm in den Sinn. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er biss weiter fest die Zähne zusammen, obwohl der Atem durch sie hindurchzischte. Er hatte nicht den größten Teil seines Lebens damit verbracht, weitaus schlimmere Beleidigungen über sich ergehen zu lassen, um jetzt die Nerven zu verlieren.

Was fiel dem Lümmel ein, ihn so herauszufordern? Was stimmte mit ihm nicht? Höflichkeit kostete nichts, aber durch Beleidigungen konnte man sich Feinde machen. Wenn er Erfolg hatte, würden diese Jungs vielleicht seine Mitschüler werden. Aber es spielte ja nur die Meinung einer einzigen Person wirklich eine Rolle – die des Bewahrers.

Er beschloss, kein weiteres Wort darüber zu verlieren, und verbeugte sich vor ihnen. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein, wenn er die Situation nicht verschlimmern wollte.

Der Junge namens Eduin zog sich von dem Balkon zurück und murmelte etwas über angemessenen Respekt gegenüber der Würde des Turms. Varzil riss sich so sehr zusammen, seine Zunge im Zaum zu halten, dass er nicht jedes Wort mitbekam. Aber der andere Jüngling, der, der sich wohlweislich zurückhielt, blieb vor Ort.

Varzil hob den Blick. Die Sonne glitzerte im strahlenden Rot der Haare des anderen Jungen, ließ seine grauen Augen und die regelmäßigen Züge aufleuchten. Beide Turmjungen trugen schlichte Kleidung, Tuniken mit breiten Ledergürteln, ohne einen Hinweis auf ihren Clan oder Rang.

»Kerl«, rief er nach unten, und diesmal war nichts Beleidigendes an dem Wort. Seine Stimme war kräftig und klar, als wäre er als Sänger ausgebildet worden. »Was willst du vom Bewahrer des Turms Arilinn?«

»Ich bin hier ... um dem Turm beizutreten.« Es war heraus.

Für einen langen Moment musterte der Jüngling ihn weiter. Mit einem Nicken und den Worten »Warte hier« verschwand er wieder im Turm.

Varzil ließ den Atem entweichen, von dem er gar nicht gemerkt hatte, dass er ihn angehalten hatte. Während er sich zu beruhigen versuchte, schimmerte der Schleier und teilte sich wie ein irisierender Wasserfall. Ein Mann im lose fallenden weißen Gewand eines Überwachers trat hindurch. Grau beherrschte sein kastanienbraunes Haar, und sein Mund wurde von Linien eingerahmt, die auch unter seinen Augen verliefen. Einige Schritte hinter ihm folgte der Jüngling vom Balkon. Auf diese Nähe erschreckte Varzil die herrische Ausstrahlung des anderen Jungen.

Der Mann im weißen Gewand blieb stehen, und sein Blick schweifte über die Farben von Varzils Umhang, das Gold und Grün seines Clans.

»Vai dom ...«, brach Varzil schließlich das Schweigen. »Ich bin Varzil Ridenow, der jüngere Sohn des Dom Felix von Klarwasser. Ich bin gekommen, um hier eine Ausbildung anzutreten. Wollt Ihr so freundlich sein und mich zum Bewahrer begleiten?«

Der strenge Mund entspannte sich zum Ansatz eines Lächelns. »Junger Sire, nichts hielte ich für angemessener. Ich kann mich ganz sicher nicht erdreisten, die Entscheidung zu treffen, was mit Euch geschehen soll.«

Auf eine entsprechende Geste des Weißgewandeten näherte Varzil sich dem Schleier. Noch nie war er einem so mächtigen Matrixgebilde dermaßen nahe gewesen, nur persönlichen Sternensteinen oder dem telepathischen Dämpfer, den die Leronis im Haushalt der Ridenows immer verwendete, wenn seine Mutter wieder einen ihrer Ohnmachtsanfälle hatte.

Er hob eine Hand, die Finger ausgestreckt, wagte es aber noch nicht, den Schleier zu berühren. Wozu diente er, abgesehen von seiner Schönheit? Zwei Personen – drei, wenn er den Kyrri mitrechnete – hatten ihn passiert, als wäre er ein Gespinst aus Watte.

Er wandte den Kopf und sah, dass der Überwacher ihn eindringlich musterte. Also eine weitere Prüfung. Er hob das Kinn und schritt voran.

Der Schleier sah wie ein dünner Regenbogennebel aus, und er hatte erwartet, dass er sich kühl und vielleicht feucht anfühlte. Sobald er ihn berührte, wallte er vor ihm auf und schloss ihn ein. Er keuchte auf, sog jäh den Atem ein, der den metallischen Beigeschmack eines Gewitters hatte. Seine Haut kribbelte am gesamten Körper, jedes Härchen stellte sich auf. Die kleinen Muskeln um seine Augen zuckten. Er spürte seine Fingerspitzen nicht mehr.

Im nächsten Augenblick stand er zitternd in einem fensterlosen Würfel. Obwohl er sich nicht länger direkt in einem Matrixfeld befand, spürte er die Energie in dem kleinen Raum, als handele es sich ebenfalls um ein Laran-Gebilde. Als er sich umwandte, machte er verschwommen und schattenhaft einige Schemen aus. War das so etwas wie eine Falle? Eine weitere Prüfung?

Dann trat der weiß gewandete Überwacher durch den Regenbogenschleier. Der Jüngling folgte ihm grinsend.

»Ich hab’s dir doch gesagt«, meinte der Jüngling.

Was gesagt?, überlegte Varzil.

Der Mann bewegte die Hände, als bediene er etwas, und Varzils Magen sackte durch. Nein, er stand noch auf festem Boden, aber der Raum selbst stieg empor. Im nächsten Augenblick hörte es wieder auf, und sie traten durch einen Torbogen in einer Wand. Der beleuchtete Raum dahinter öffnete sich zu einer breiten Terrasse hin.

So prächtig konnte nicht einmal der Ballsaal der größten Burg auf Darkover sein, dachte Varzil. Wandteppiche bedeckten die Wände, leuchteten in satten Farben und zeigten Szenen mit Jagdgruppen, Chieri, die im Wald unter den vier Monden tanzten, Adler, die hoch über den Hellers ihre Kreise zogen. Die Bodenfliesen bildeten ein kompliziertes Mosaik, das sich dem Blick reichhaltig und beruhigend darbot. Am anderen Ende des Raums verbreitete ein Feuer Wärme und den Geruch von Räucherwerk.

Armsessel und eine lange Bank, auf der sich Kissen türmten, verliefen in einem Halbkreis vor der Feuerstelle. Eine Frau und zwei Männer saßen dort und unterhielten sich mit gedämpfter Stimme. Der Blick der Frau begegnete Varzils. Sie war ungefähr in dem Alter von Varzils Lieblingstante, klein und gedrungen, ohne dick zu sein, und die Falten um ihre Augen erweckten den Eindruck, als wolle sie jeden Moment in Gelächter ausbrechen. Sie stand auf und schickte die Männer mit einer Geste weg, etwas, was keine Frau in Varzils Familie jemals gewagt hätte.

»Auch du, Carlo, fort mit dir«, sagte sie zu dem rothaarigen Jüngling.

»Aber ...«, protestierte er.

Sie verschränkte die Arme vor der ausladenden Brust, die mit einem Schal drapiert war, und brachte ihn zum Schweigen. »Was jetzt geschieht, geht dich nichts an.«

Der Jüngling verbeugte sich mit akurater Höflichkeit und verließ den Raum durch den Torbogen gegenüber, aber nicht, ohne kurz in Varzils Richtung gezwinkert zu haben.

Varzil stockte der Atem. Nach den Jahren der Sehnsucht, den Monaten des Planens, der nächtlichen Flucht und den langen Stunden des Wartens geschah alles viel zu schnell.

Einmal, als er auf der Suche nach Adlerfedern die zerklüfteten Berge bei Serrais hinaufgestiegen war, hatte Varzil den Halt verloren und war einen von Geröll bedeckten Hang hinuntergepurzelt. Felsen und Himmel waren durcheinander gewirbelt, während die Steine aus einem Dutzend verschiedener Richtungen gleichzeitig auf ihn herabgeprasselt waren. Schlitternd war er zum Stillstand gekommen und hatte dort lange Zeit gelegen, keuchend und voll blauer Flecke, erstaunt darüber, dass er noch lebte, während er zum wolkenlosen Himmel hinaufstarrte.

So fühlte er sich auch jetzt wieder, obwohl sein Körper nicht schmerzte. Undeutlich hörte er die Stimme der Frau, die von einem warmen Frühstück sprach. Er spürte auf seinen Schultern ihre Hände, die ihn zu einem Stuhl am Feuer führten.

»Himmlische Evanda, du bist ja halb erfroren!«, rief sie. »Ganz zu schweigen von ...« Varzil konnte ihren nächsten Worten nicht folgen. »... Energon-Kanälen – gerade so, als hättest du zwei Nächte lang pausenlos durchgearbeitet!«

Im nächsten Moment drückte sie ihm einen Becher mit dampfendem Jaco in die Hände. Er spürte die Wärme durch die schwere Keramik mit den raffinierten Einlegearbeiten, die Glätte der Lasur. Der Jaco war mit Honig gesüßt und mit einem Kraut versehen, das er nicht kannte. Er schluckte ihn gehorsam, obwohl er auf der Zunge brannte. Erst da wurde ihm bewusst, wie schrecklich er zitterte.

»Hier, iss das«, sagte die Frau und reichte ihm eine Schale mit einer Art Nussbrei, über den Sahne gegossen war. »Kannst du einen Löffel halten?«

Varzils Finger krampften sich um den Griff. Seine Hand zitterte, aber es gelang ihm, einen Mund voll zu sich zu nehmen. Was auch immer geschah, er würde nicht zulassen, dass man ihn wie ein Kleinkind fütterte.

Der Brei erwies sich als Mischung aus Hafer, Haselnüssen und getrockneten Äpfeln, mit Zimt gewürzt. Er schmeckte köstlich und verband das Erdige des Weizens mit der Knackigkeit der Nüsse und der Saftigkeit von Obst.

Varzils Sicht klärte sich wieder, und seine Hände beruhigten sich. Er dankte der Frau und fügte hinzu: »Das schmeckt großartig.«

»Soll es auch«, sagte sie, was ihn abermals an seine Tante erinnerte. »Iss alles auf. Herr des Lichts, Junge, du siehst aus, als hättest du seit einem Zehntag keine anständige Mahlzeit mehr bekommen!«

Varzil ließ den Löffel sinken. »Ich bin Euch dankbar, Vai domna, aber ich bin nicht hier, um eine Mahlzeit zu erbetteln.« Er hielt ihr die Schale hin.

»So einen stolzen Unfug will ich nicht hören«, entgegnete sie. »Ich bin die Hausmutter aller Novizen hier, und wenn ich sage, esst, dann essen sie. Auch die königlichen. Ist das klar?«

Varzil hatte erst zwei oder drei weitere Löffel genommen, als die Tür gegenüber sich öffnete und ein hoch gewachsener Mann mit breiten Schultern den Raum betrat.

Rost und Silber mischten sich im ordentlich geschnittenen Haupthaar und Bart. Seine Gesichtszüge waren zu unregelmäßig, um auf herkömmliche Weise schön zu wirken, mit seinen übergroßen Ohren und dem schiefen Mund. Der Blick, der Varzil musterte, kam aus Augen, die so blau und dunkel wie Lapislazuli waren. Eine Aura stählerner Macht umgab den Mann.

Dabei trug er gewöhnliche Kleidung, bequem und warm, eine mit hellen Stickereien gesäumte Lederweste über einer von einem Gürtel zusammengehaltenen Linex-Tunika und eine weite Hose, die in wadenhohen Schnürstiefeln steckte. Eine Kette aus dunkelgrauem Metall hing um seinen Hals, die unter seinem Hemd verschwand.

Durch eine andere Tür betraten zwei weitere Männer den Raum. Einer war der Weißgewandete, der Varzil in den Turm gebracht hatte. Der andere trug einen Umhang von einem weichen Dunkelgrün. Dennoch zweifelte Varzil nicht daran, wer hier das Sagen hatte.

Varzil stand auf und verbeugte sich tief vor dem Mann mit den breiten Schultern.

Du bist also der junge Ridenow, der im Turm Arilinn ausgebildet werden will? Die Stimme klang grell wie ein Schwert auf dem Amboss. Noch nie hatte jemand so unmittelbar zu Varzils Geist gesprochen oder mit solch kristallener Klarheit. Selbst die Haushalt-Leronis, die ihn ansatzweise im Gebrauch seines Sternensteins unterrichtet hatte, hatte immer gedämpft geklungen, wie aus einem anderen Zimmer, wenn sie mit ihrem Laran zu ihm gesprochen hatte. Varzil erkannte, dass von allen Prüfungen, die er vielleicht noch ablegen musste, dies die ausschlaggebende und schwerste war. Erneut verbeugte er sich.

»Vai dom, der bin ich.«

»Dann setz dich, damit wir dich ein wenig näher kennen lernen können. Weißt du, wer ich bin?«

»Sire, Ihr seid Auster Syrtis, der Bewahrer des Turms Arilinn.«

»Jedenfalls einer von ihnen.« Ein Lächeln umspielte kurz die Mundwinkel des Mannes. »Wie kommst du darauf, dass ich das bin? Was macht dich so sicher?« Er deutete mit einer Hand auf seine Kleidung, als wolle er auf das Fehlen des traditionellen scharlachroten Gewandes hinweisen.

Hält er mich für einen so blinden Narren?, fragte sich Varzil. Seine Empörung wich, als der Mann unter schallendem Gelächter den Kopf nach hinten riss.

Während der nächsten Stunde saß Varzil vor dem angenehmen Feuer und beantwortete die Fragen der drei Männer. Die Frau, deren Name Lunilla war, saß schweigend in ihrem Sessel und bot den Männern manchmal Jaco und Varzil etwas zu essen an, in einer zeitlichen Abfolge, die nur für sie einen Sinn ergab. Niemand verlor ein Wort darüber.

Varzil zeigte ihnen den Sternenstein, den ihm die Haushalt-Leronis gegeben hatte, einen hellblauen Kristall von der Größe seines Daumennagels. Wie es ihm beigebracht worden war, bewahrte er ihn eingewickelt in Seide auf. Als er ihn herausnahm und in seinen bloßen Fingern hielt, erwachten die verdrehten Fäden der Helligkeit in seinem Innern lodernd zum Leben. Das Muster war zum ersten Mal erschienen, als er sich auf den Stein eingestellt hatte. Nun, unter dem anhaltenden Einfluss der psychischen Energien des Schleiers und des Kreises, spürte er ihn wie ein Lebewesen, das auf seine Berührung reagierte. Der Stein sang ihm etwas vor, tanzte mit ihm.

Varzil beantwortete Fragen und vollführte einige schlichte Laran-Übungen, die sehr denen ähnelten, die ihm die Leronis der Ridenows beigebracht hatten. Ohne seinen Sternenstein war er nicht sehr psychokinetisch begabt, obwohl er durch Konzentration eine kleine Feder zum Erzittern bringen konnte. Es bereitete ihm keine Mühe, Fragen zu verstehen, die lediglich gedacht und nicht laut gesprochen wurden. Gefühlsmäßige und Stimmungsschwankungen erschienen ihm so klar und deutlich wie auf verschiedenen Instrumenten gespielte musikalische Phrasen.

Als die Prüfung ihren Verlauf nahm, spürte Varzil, dass den unschuldig klingenden Fragen ein bedenklicher Unterton anhaftete. Bei ein oder zwei Gelegenheiten schnappte er im Ansatz einen rasch wieder verborgenen Gedanken auf und begriff, dass es nicht um die Qualität seines Laran ging.

Immer wieder drehten sich die Fragen darum, wie er hierher gekommen war und ob sein Vater von diesem Besuch wusste und seinen Segen erteilt hatte. Der Bewahrer fragte nie direkt, und doch haftete seinen Worten Misstrauen an. Vielleicht fürchteten sie, dass er aus einem anderen als dem genannten Grund gekommen sein könnte – um sich bei ihnen einzuschleichen, ihre Geheimnisse zu erfahren oder sie auf sonst eine Weise zu schwächen.

Aber sie mussten in seinen Gedanken doch die Wahrheit lesen ...

Allmählich dämmerte es ihm. Ja, sie waren misstrauisch, aber nur deshalb, weil sie ihn für krank hielten, und fürchteten, dass er der harten Ausbildung nicht standhalten könnte. Da Varzil ein Sohn Ridenows war, konnte sein Tod schwere Folgen haben. Seine Familie könnte sich gegen Hastur oder Asturias wenden, Vergeltung üben und so das Gleichgewicht der Macht zerstören. Seit den letzten Kriegen waren die politischen Verhältnisse prekär. Arilinn könnte in die Auseinandersetzung hineingezogen werden ...

Ich lasse mich nicht zu einer Schachfigur im Spiel eines kleinen Lords machen!

Mitten in einer Frage des Grüngewandeten erhob Varzil sich und verbeugte sich.

»Vai dom’yn«, sagte er in einem so ernsten Ton, dass der Mann sich im Satz unterbrach. »Ich beantworte gern alle Fragen zu meinem Hintergrund oder meiner Eignung für die Turmarbeit. Ihr habt ein Recht, solche Dinge zu wissen. Aber ...« Und hier verließ ihn beinahe der Mut. »... aber Ihr müsst mich auf der Grundlage meiner Fähigkeiten ablehnen oder zulassen. Ich bin aus eigenem Antrieb gekommen, niemand hat mich geschickt. Andere mögen ihr Laran missbrauchen, um Intrigen zu schmieden und zu spionieren, aber ich nicht«, sagte er und starrte Auster eindringlich an.

»Kinder wenden sich nicht auf diese Art an einen Bewahrer des Turms Arilinn!«, keuchte Lunilla. Der Grüngewandete runzelte die Stirn, aber Auster beugte sich vor und musterte Varzil noch eingehender mit diesen durchdringend blauen Augen.

»Nein, schon in Ordnung«, sagte Auster. »Er hat wie ein Mann gesprochen, also verdient er auch die Antwort eines Mannes. Junger Ridenow, du hast unleugbar Talent, aber du bist auch aus eigenem Antrieb, ohne Erlaubnis deines Vaters und gegen seinen Wunsch, zu uns gekommen. Wir sind nicht darauf vorbereitet, dir unter diesen Umständen hier einen Platz anzubieten. In diesen schwierigen Zeiten können wir nicht einfach jeden aufnehmen, der Laran besitzt. Wir von den Türmen müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um uns von den größeren Ereignissen der Welt fern zu halten.«

Hoffnungslos erkannte Varzil, dass er richtig vermutet hatte. Um zum Turm Arilinn zugelassen zu werden, bedurfte es weit mehr als des Wunsches und der Fähigkeiten. Nichts, was er sagte, konnte daran etwas ändern.

»Du scheinst von den Krankheiten, die beim Erwachen des Laran so häufig auftreten, verschont geblieben zu sein«, sagte der weißgewandete Überwacher, »sodass es nicht dringend geboten erscheint, durch die Ausbildung dein Leben oder deine geistige Gesundheit zu retten. Es liegt auch keine Notsituation vor, die es rechtfertigen würde, sich über die Wünsche deines Vaters hinwegzusetzen. Die Ausbildung, die du bereits durch die Leronis in eurer Familie erfahren hast, müsste genügen.«

Auster erhob sich und gab damit das Zeichen, dass das Gespräch beendet war. Benommen stand Varzil da, als die Leronyn den Raum verließen, alle bis auf den Weißgewandeten. Er bedeutete Varzil, ihm zu folgen. Sie kehrten auf dem gleichen Weg zurück, begaben sich wieder in den seltsamen, von der Matrix errichteten Schacht wie zuvor, geleitet von rituellen Handbewegungen.

Beim Abschied sagte der Überwacher mit leiser Stimme zu Varzil: »Es war mir eine Freude, mit dir zu frühstücken. Mit dem Segen der Götter wird es dir wohl ergehen. Du wirst viele Söhne zeugen und deiner Familie Ehre machen.«

Aber die Vergeudung meiner Fähigkeiten ... Jäh schloss der Mann seine geistigen Pforten.

Ungeachtet persönlicher Gefühle würde der Laranzu sich nie gegen das Urteil des Bewahrers aussprechen.

Varzil schoss durch den Kopf, dass er den Turm im nächsten Augenblick verlassen würde. Er musste einen Weg zurück finden. Er wollte so viele Fragen stellen, so viel wissen! Die Worte blieben ihm im Hals stecken, als die Sekunden verrannen. Plötzlich stellte er fest, dass er am Eingang des Turms Arilinn stand und das Morgenlicht die Straßen der Stadt erfüllte. Als er sich umdrehte, hatte sich das Tor geschlossen.

2

Von seinem Turmfenster aus beobachtete Carolin Hastur, den die meisten immer noch wie in der Kinderzeit Carlo nannten, den seltsamen jungen Mann, der vor dem Tor von Arilinn stand. Der Junge stand aufrecht da, hatte die Fäuste geballt und atmete schwer. Carolin selbst war nicht dazu berufen, im Turm zu arbeiten, aber er konnte dieses Talent in anderen erkennen. Und er hatte nie zuvor solche Leidenschaft, solche Intensität gesehen wie bei diesem schlanken Jungen dort drunten.

Carolin verfügte nur über geringes Laran und war ohnehin nicht sonderlich daran interessiert, sich in einem Turm einzuschließen. Er war hier nur für kurze Zeit, denn sein Schicksal war bereits am Tag seiner Geburt beschlossen gewesen. Man hatte ihn im Frühjahr, als er siebzehn geworden war, nach Arilinn geschickt, damit er dort die Ausbildung erhielt, die einem jungen Mann seines Standes angemessen war.

Als er nun den Jungen dort unten sah, sah, wie die knochigen Schultern sich hoben und senkten, wie jeder einzelne Muskel angespannt war, wusste Carolin, dass der Junge für den Turm geboren war wie er selbst für den Thron. Er erinnerte sich daran, wie er mit den Kyrri gesprochen hatte, nicht nur in Worten, sondern auch mit einer sanften geistigen Berührung, die selbst Carolin spüren konnte. Hatte man ihn wirklich endgültig weggeschickt? Für gewöhnlich wurde jeder potenzielle Schüler, der sich im Turm meldete, gastfreundlich aufgenommen und begutachtet. Carolin wusste von einem oder zwei Fällen, in denen die Bewahrer einen begabten Jungen zu einem anderen Turm geschickt hatten. Jeder Kreis strebte nach einem Gleichgewicht unterschiedlicher Fähigkeiten und Begabungen.

Der Bewahrer muss einen guten Grund gehabt haben, ihn einfach so wegzuschicken, dachte er. Und wenn ich danach frage, würde er mir nur sagen, dass ich mich aus Dingen heraushalten soll, die mich nichts angehen. Er setzte sich auf die Fensterbank und wünschte sich, es wäre wirklich so einfach, diese schlanke, entschlossene Gestalt aus seinen Gedanken zu verbannen.

Die Außenwand seines Zimmers war gekrümmt wie der Turm, und das Bett war in die einzige gerade Wand eingebaut. Zwischen den beiden Fenstern befanden sich Haken, an denen Umhänge und andere Kleidungsstücke hingen. Eine kleine Truhe aus geschnitztem Schwarzdornholz bot mehr als genug Raum für Carolins Habe. Weil er ein Hastur war, verfügte er auch über ein kleines Kohlebecken und einen Schreibtisch. Anders als die meisten anderen Novizen konnte er lesen, und man hatte ihn auch in anderen Dingen unterrichtet, die ein Prinz wissen musste. Ein Luftwagen stand ihm zu Verfügung, in einem Stall drunten im Ort wartete ein Pferd, und er hatte viele andere seinem Rang entsprechende Privilegien.

Eine Ausgabe von Roald Mclnerys Militärstrategie lag offen auf dem Schreibtisch. Carolin ging zum Tisch und klappte das Buch zu, denn der schwerfällige Stil ärgerte ihn. Der Inhalt an sich war recht interessant, wenn man sich erst einmal durch die antiquierte Sprache gekämpft hatte. Mclnery hatte vernünftige Ideen über Befestigungsanlagen, Nachschublinien und die Aufstellung von Truppen. Aber er hielt Laran-Waffen auch für eine vollkommen natürliche Erweiterung der üblichen Bewaffnung. Einige der Waffen, die er beschrieb, kannte Carolin nicht, aber andere waren einem königlichen Erben in diesen chaotischen Zeiten nur zu gut vertraut. Telepathisch mit ihren Ausbildern verbundene Vögel konnten die Position einer feindlichen Armee ausspähen, Haftfeuer verwandelte Mensch und Tier in lebendige Fackeln, Relais übermittelten Botschaften schneller, als es mit Hilfe von Pferden oder sogar Luftwagen möglich gewesen wäre, und kleine Kreise von Leronyn konnten sogar den Geist des Feindes beherrschen.

Aber selbst die mächtigen Türme von Neskaya und Tramontana hatten sich nicht vor den Auseinandersetzungen und dem Chaos der Außenwelt schützen können. Sie hatten sich Generationen zuvor auf den Befehl ihrer jeweiligen Lehnsherren in den Krieg eingemischt und sich schließlich gegenseitig zerstört. Die meisten ihrer hervorragend ausgebildeten und hochbegabten Arbeiter waren getötet oder geistig verkrüppelt worden.

Niemand war vollkommen sicher, wie das geschehen war, aber die Balladen berichteten, dass Neskaya dabei gewesen war, eine neue, Schrecken erregende Waffe zu entwickeln, die durch eine kritische Auseinandersetzung versehentlich ausgelöst worden war. Es hieß, dass in den Trümmern immer noch unheimliche bläuliche Flammen zuckten, die von der Substanz der Steine lebten.

Carolin hatte einmal eine Überlebende dieses schrecklichen Kampfes kennen gelernt, eine entfernte Hastur-Base, die Leronis in Tramontana gewesen war. Die alte Lady Bronwyn war dem Schlimmsten entkommen, aber als Carolin sie nach den Ereignissen fragte, hatte sie ihn derart verzweifelt angesehen, dass es sein kleines Jungenherz beinahe zerrissen hätte. Sie hatte nicht geantwortet; ihre Miene hatte genügt.

Geschichten darüber, wie die Türme in den Krieg zwischen Hastur und einem skrupellos ehrgeizigen Nachbarn, Deslucido von Ambervale, hineingezogen worden waren, kursierten immer noch in den Schlafsälen der Jungen. Es hieß, der Bewahrer von Neskaya sei in eine Leronis von Tramontana verliebt gewesen und hätte sich den Befehlen seines Herrn zum Trotz geopfert, um seine Geliebte zu retten; aber dieses Opfer war vergeblich gewesen, denn beide waren verbrannt. Carolin wusste immer noch nicht, ob das stimmte oder ob die anderen Geschichten, die in den langen Winternächten im Flüsterton an der Feuerstelle erzählt wurden, zutrafen, aber er wünschte sich, es wäre so.

Auch nach dem Sieg über Ambervale und alle von ihm eroberten Provinzen herrschte auf Darkover nur ein recht unbehaglicher Friede. Es gab immer noch hundert einzelne Königreiche. Die größeren versuchten, die kleineren zu erobern, und zersplitterten sich dann wieder in endlosen Erbfolgeauseinandersetzungen und Aufständen. Von frühester Kindheit an hatte Carolin gehört, wie die Lords seiner eigenen Familie sich stritten, debattierten und sich anstrengten, den schlimmsten Missbrauch von Laran-Waffen zu verhindern. Er erinnerte sich daran, wie sein Onkel Rafael wieder und wieder gesagt hatte: »Es muss doch eine Möglichkeit geben.«

Die Ruinen der Türme und die Verwüstung des Sees von Hali – das Ergebnis einer alten Katastrophe, die als »Zusammenbruch« bekannt war – waren stumme Zeugen des Versagens dieser Vertreter einer gemäßigten Politik. Carolin schüttelte die finsteren Gedanken ab. Er stand vor seiner Tür, die Hand berührte den Riegel, als wäre er schlafgewandelt. Als er wieder ans Fenster zurückkehrte, war der Ridenow-Junge verschwunden, aber Carolin wusste mit untrüglicher Sicherheit, dass sie einander wieder sehen würden.

Er ging die Treppe hinunter und quer durch den Hauptraum in das kleinere Zimmer, wo der Nachmittagsunterricht über die Grundlagen des Überwachens stattfinden sollte. Als er an den älteren Arbeitern vorbeikam, die zusammen vor der kalten Feuerstelle saßen, fing er einen Gesprächsfetzen auf.

»... Ridenow ...«

»... wer ihn wohl geschickt hat?«

Als sie ihn bemerkten, brachen die beiden das Gespräch ab. Die dunkeläugige Marella blickte zu Carolin auf und lächelte. Sie war nur ein paar Jahre älter als er und hatte beim Mittsommerfest, einen Zehntag, nachdem er in Arilinn eingetroffen war, mit ihm geflirtet. Trotz seiner Bemühungen, sich anständig zu verhalten, hatte sie eine Weile in seinen Träumen eine große Rolle gespielt. Carolin wusste, dass sie sich ihrer Wirkung auf ihn vollkommen bewusst war, denn am Hof seines Großvaters war er schon öfter das Ziel weiblicher Verführungsversuche gewesen. Die Kombination von Jugend, gutem Aussehen und einer Krone zog die Damen an wie eine Honigwabe Skorpionameisen. Nur mit seiner Verwandten Maura Elhalyn und mit Jandria, der Base seines Pflegebruders Orain, konnte er unbeschwert umgehen, aber sie waren zu Hause in Carcosa.

Der Mann, mit dem Marella sich unterhalten hatte, ein älterer Arbeiter namens Richardo, der sein steinernes Gesicht nie zu einem Lächeln verzog, stand auf. Er nickte Carolin zu und eilte davon. Marella errötete und folgte ihm, sodass Carolin keine Gelegenheit hatte, Fragen zu stellen.

Das war vielleicht auch ganz gut so. Er war lange genug in Arilinn gewesen, um zu wissen, dass Telepathen anderen Anstandsregeln folgten als gewöhnliche Menschen. Vieles konnte nicht geheim bleiben, zum Beispiel sexuelle Anziehung. Wenn Menschen in solcher Intimität zusammenlebten, konnte schon ein flüchtiger Körperkontakt ebenso viel Ärger hervorrufen wie ein offener Angriff. Aber keine der Anstandsregeln des Turms half gegen Carolins angeborene Neugier. Es war ein Makel, gegen den er schon lange und ohne großen Erfolg ankämpfte.

Obwohl Carolins Familie, die Hasturs von Carcosa, den Herrn des Lichts anbeteten, wie es sich für Comyn gehörte, hatte er auch die Lehren der Cristoforos studiert. Ein Gebet war ihm im Hinblick auf seinen eigenen Charakter besonders angemessen erschienen: Gewähre mir, o Träger der Lasten der Welt, zu wissen, was zu wissen du mir gewährst ... Manchmal bedeutete das, seine Nase aus Angelegenheiten herauszuhalten, die dieser Nase – oder gar dem ganzen Kopf – gefährlich werden konnten. Bei anderen Gelegenheiten, wie dieser, schien das Gebet nahe zu legen, dass es richtig und verantwortungsbewusst war herauszufinden, was los war, auch wenn es sich über das Wie und Wann ausschwieg.

Am Hof seines Onkels verging kaum ein Augenblick ohne Intrigen. Politische Unterströmungen waren so zahlreich und wechselhaft wie Staubpartikel in der Luft. Carolin hatte gelernt, geduldig zu sein – und dass eine leere, unschuldige Miene recht nützlich sein konnte. Er würde es mit der Zeit schon herausfinden.

Carolin konzentrierte sich auf die Aufgabe, die vor ihm lag: Sternenstein-Übungen für Anfänger. Der Unterricht fand in einem kleinen, luftigen Zimmer statt, das im Frühsommer, als er in Arilinn eingetroffen war, angenehm gewesen war, sich jetzt aber einfach nur zugig anfühlte. In einem weiteren Monat würden sie hier alle zusätzliche Kleidung gegen die Kälte tragen müssen.

Er nahm zusammen mit den anderen Schülern, drei jungen Männern, die er nicht gut kannte, seinen Platz am Arbeitstisch ein. Ihre Lehrerin war Cerriana, eine junge Frau mit feuerrotem Haar, die keinerlei Interesse an Jungen im Alter ihres kleinen Bruders hatte. Sie arbeitete als Überwacherin, während sie ihre eigene Ausbildung fortsetzte.

Valentina, die jüngste der Novizen, war nicht anwesend. Vielleicht war sie wieder krank. Wie viele aus ihrer Familie, den Aillards, war sie von zarter Gesundheit, und man hatte Valentina in der Hoffnung nach Arilinn geschickt, dass sie die Schwellenkrankheit mit kundiger Hilfe vielleicht überleben würde. Carolin hatte selbst ein wenig unter dieser Krankheit gelitten und ein paar Monate mit Übelkeit, Schwindelgefühl und aufbrausendem Temperament hinter sich. Man hatte ihm erzählt, dass die gleiche Krankheit bei Schülern mit ausgeprägterem Talent oft lebensbedrohlich wurde. Die Kombination von erwachendem Laran und der sexuellen Energie der Heranwachsenden, die durch die gleichen Energon-Kanäle im Körper verliefen, konnte zu fatalen Überladungen führen. Fidelis, der oberste Überwacher, hatte erwähnt, dass Laran sich höchstens ein- oder zweimal in einer Generation schon früher zeigte, und nur wenn es von außergewöhnlicher Kraft war. In diesen Fällen erwachte das Laran bereits in der Kindheit und so vollständig und unbeschwert, dass es keine Probleme gab.

Mit der für sie typischen methodischen Sorgfalt führte Cerriana die Schüler durch die Übungen dieses Morgens. Zunächst holten alle ihre Sternensteine heraus und begannen wie üblich damit, sie einfach nur anzuschauen und die Muster von blauem Licht zu beobachten.

Wie alle Angehörigen seiner Familie hatte Carolin einen Stein von hervorragender Qualität erhalten, von mittlerer Größe, aber schön geschnitten, klar und schwach leuchtend. Als er ihn nun in die nackte Hand nahm, wurde der Stein wärmer. Sein Sternenstein war erheblich heller geworden, seit er in Arilinn war, das Leuchten intensiver. Manchmal spürte er die kristalline Struktur, die seine eigenen natürlichen Fähigkeiten konzentrieren und stärken würde. Cerriana sagte, je mehr er mit dem Stein arbeitete, desto besser würde sich der Stein auf ihn einstimmen.

Nach diesen Vorübungen legte Cerriana ein paar Gegenstände vor sie auf den Tisch, Federn, dünne Silbermünzen, kleine hölzerne Würfel und Pflöcke, und verteilte sie unter die Schüler. Die Aufgabe bestand darin, den Geist mit Hilfe der Sternensteine auf den Gegenstand zu konzentrieren, mit dem Ziel, den Gegenstand entweder schweben zu lassen oder über den Tisch zu schieben.

Carolin als Anfänger arbeitete immer noch mit Federn. Als man ihm die Aufgabe zum ersten Mal gestellt hatte, war es ihm unmöglich vorgekommen, aber nun begann er langsam zu begreifen, worum es ging, obwohl es ihm immer noch nicht gelungen war, die Feder auch nur zum Beben zu bringen. Er hatte den Fehler gemacht, sie direkt anzuschauen, als könnte er sie durch reine Willenskraft schweben lassen. Jetzt sah er sie nur lange genug an, um sich ihr Aussehen einzuprägen: die Größe, die Farbe, die Biegung des Kiels, die Struktur der Daunen. Dann schaute er tief in seinen Sternenstein und schuf ein geistiges Bild der Feder. Er versuchte sich vorzustellen, wie die Luft darunter sich erhob, ähnlich den Hitzewellen über einem Feld im Sommer.

Die Feder bebte und kippte zur Seite. Carolin spürte winzige Luftströmungen, die sich gegen ihr Gewicht stemmten. Diesmal beschloss er, die Aufmerksamkeit auf die Luft zu richten, die nach oben wirbelte.

Soll die Feder doch gehen, wohin sie will, sagte er sich.

Die Luft fühlte sich heiß und aufregend an. Er dachte an Sturmwolken, Berge aus grau werdendem Weiß, die sich blähten und bald den ganzen Himmel erfüllten. Ein Geschmack und rasches Licht wie von einem Blitz zuckten durch seine Sinne.

»Carolin!«

Er fuhr zusammen, und sein Blick wurde wieder klar. Die Feder lag immer noch auf dem Tisch. Dann begann sie zu brennen.

Herr des Lichts!

Ohne nachzudenken schlug Carolin nach der Feder. Die Flammen gingen sofort aus, aber er verbrannte sich die Finger. Mit einem leisen Aufschrei umklammerte er seine Hand. Sein Sternenstein rollte über den Tisch. Cerriana fing ihn auf, bevor er von der Kante fallen konnte.

Feuer brach in Carolins Schädel aus. Er konnte seine verbrannte Hand nicht mehr spüren. Einen schrecklichen Augenblick erstarrte seine Lunge, und er konnte nicht atmen. In der Ferne hörte er wirre Stimmen.

Im nächsten Augenblick wurde ihm etwas Kleines, Kühles in die Hand gedrückt. Nun konnte er wieder atmen. Auch sein Augenlicht kehrte zurück, und er sah Cerrianas Augen. Sie waren dunkel vor Sorge. Ihre Hand lag auf seiner und bog seine Finger um den Sternenstein.

»Was ...« Was ist geschehen?

»Ich habe deinen Sternenstein berührt. Ich muss dich jetzt überwachen, um mich zu überzeugen, dass du keinen Schaden genommen hast.«

Carolins Augen brannten, und er war zutiefst erschüttert. Er war dankbar, als Cerriana die anderen Schüler wegschickte. Er wollte einfach nur allein sein. Er umklammerte den Sternenstein und drückte ihn ans Herz. Die Finger, mit denen er die brennende Feder berührt hatte, taten weh. Die Muskeln in seinem Bauch zuckten. Aber er war ein Hastur und Erbe des Throns, und es gehörte sich nicht, sich wie ein jammerndes Kind zu benehmen.

Es war nur ein Augenblick vergangen. Cerriana wartete. Als Überwacherin, die in Arilinn ausgebildet worden war, beachtete sie die Regeln peinlich genau. Das hier war kein Notfall; sie würde nicht gegen Carolins Willen in die Energiefelder seines Körpers eindringen. Schließlich hob er den Kopf und bedeutete ihr, dass er bereit war.

Als sie arbeitete, durchfluteten Erleichterung und Wohlgefühl seinen ganzen Körper. Gereizte Nerven entspannten sich, die Verbrennungen an seinen Fingern kühlten sich ab. Sein Herzschlag wurde regelmäßiger, und er konnte wieder freier atmen.

Kurze Zeit später verkündete sie mit einem Lächeln, dass ihm weder das Feuer noch ihr zufälliger Kontakt mit seinem Sternenstein Schaden zugefügt hatten.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Carolin. Körperlich ging es ihm gut genug, wenn man von der schwächer werdenden Hitze an seiner Handfläche einmal absah, aber er konnte immer noch nicht wieder richtig denken. Sein Kopf schien voller Daunen zu sein. »Auch andere haben schon meinen Stein berührt – Hanna zu Hause, du und Fidelis und Auster hier. Es ist nie zu einer solchen Reaktion gekommen.«

»In diesem Stadium ist es auch für gewöhnlich recht sicher«, antwortete Cerriana. »Nur wenige Novizen sind intensiv genug auf ihren Stein eingestimmt, dass es ein Risiko wäre, wenn ein ausgebildeter Überwacher den Stein berührt. Zu Beginn des Unterrichts heute traf das auch für dich zu. Aber was du getan hast, muss den Prozess beschleunigt haben.«

Sie sah nachdenklich aus. »Manchmal gibt es einen Stillstand in der Laran-Entwicklung, und dann einen Kaskaden-Effekt. Der Kontakt mit einem Telepathen, der als Katalysator fungiert, kann so etwas verursachen.«

Sie lehnte sich zurück und betrachtete ihn jetzt wieder etwas gefasster. »Hör gut zu, Carolin. Das hier ist sehr wichtig. Nun, da du auf deine Matrix eingestellt bist, darfst du sie von keinem anderen außer einem Bewahrer berühren lassen, und auch dann sollte es dein eigener Bewahrer sein. Ich kann das nicht deutlich genug betonen. Obwohl ich dazu ausgebildet bin, das körperliche und geistige Wohlbefinden der mir Anvertrauten zu überwachen, bin ich nur eine Überwacherin. Ich hätte dich selbst mit den besten Absichten ernsthaft verletzen können. Der einzige Grund, wieso das nicht geschehen ist, besteht darin, dass ich deinen Stein nur einen kurzen Augenblick festgehalten habe. Verstehst du das?«

»Oh«, sagte er mit einem dünnen Lächeln. »Ich habe nicht vor, diese Erfahrung zu wiederholen.«

Mit immer noch leicht zitternden Händen steckte er den Sternenstein zurück in den Beutel isolierender Seide.

Cerriana nickte ernst. »Ich glaube nicht, dass du die Fähigkeit zur Psychokinese hast. Es bleibt allerdings die Frage, ob du dazu begabt bist, Feuer zu entfachen, oder ob das hier ...« Sie zeigte auf die Überreste der verbrannten Feder auf dem Tisch. »... nur durch die Energien entstanden ist, als du deinen Sternenstein auf dich abgestimmt hast.«

»Nun«, sagte Carolin mit seiner üblichen Unbeschwertheit, »beides wäre allemal besser, als weiter diese verdammten Federn anzustarren.«

Am nächsten Morgen machten sich Carolin und Eduin zusammen mit einem Kyrri auf nach Arilinn-Stadt, wo sie den Markt besuchen wollten. Da nur Nichtmenschen und Comyn den Schleier durchdringen konnten, wechselten sich alle bei den täglichen Haushaltsarbeiten ab, und selbst die jüngsten Novizen machten mit. Der Herbsttag war frisch. Der Regen der vergangenen Nacht hatte allen Staub aus der Luft gewaschen, und die Stadt glitzerte. Hinter ihr ragten die Zwillingsgipfel mit schimmernden Spitzen auf.

Carolin blieb an der Stelle stehen, wo der Ridenow-Junge gestanden hatte. Auf dem von Jahrhunderten glatt geschliffenen Stein war zwar keine sichtbare Spur geblieben, kein Fleck und keine andere Markierung, aber Carolin spürte dennoch so etwas wie eine Präsenz, so intensiv, dass er hätte schwören können, dass sich tatsächlich jemand hier aufhielt. Bilder zuckten durch seinen Kopf, halb Erinnerung, halb etwas anderes. Wieder sah er den Jungen vor sich, nicht so jung, wie er zunächst angenommen hatte, nur dünn und klein für sein Alter, das Gesicht bleich und sehr ernst.

Während Carolin zusah, veränderten sich Varzils Züge zu denen eines älteren Jungen, dann eines reifen Mannes. Er war immer noch schlank, hielt sich aber mit dem ruhigen Selbstvertrauen, das Carolin von erfahrenen Schwertkämpfern kannte. Silber glitzerte in seinem Haar, und er hatte Falten um Augen und Mund. Ein Ausdruck von Mitgefühl, verwoben mit Traurigkeit, lag auf seinen Zügen. Er trug ein dunkles, locker gegürtetes Gewand, aber Carolin konnte die Farbe nicht erkennen, denn nun verblasste die Vision wieder. Varzil hob eine Hand zum Gruß, und ein Edelsteinring blitzte weiß.

Dann verschwand die Vision, und Carolin stand da, mit seinem Marktkorb in der Hand.

»Mach schon, Carlo«, sagte Eduin. Er benutzte den Spitznamen aus Carolins Kinderzeit, obwohl sie einander nicht besonders gut kannten. Carolin war erst ein paar Monate in Arilinn, während Eduin seine Ausbildung bereits vor vier Jahren begonnen hatte. Das hatte genügt, dass Eduin sich seines eigenen Werts sehr bewusst war. Er würde in den Türmen bleiben und wahrscheinlich ein sehr fähiger Matrixmechaniker oder Techniker werden, vielleicht sogar ein Bewahrer, wenn er sich der Disziplin unterwerfen würde.

Carolin blieb zurück. Er zweifelte nicht an dem, was er gesehen hatte. Er war kein Laranzu, aber in seinen Adern floss echtes Comyn-Blut. Die geistige Macht war für ihn ebenso wirklich wie alles, was er anfassen konnte, und daher konnte er jetzt nicht mehr einfach mit den alltäglichen Aufgaben dieses Morgens fortfahren, als wäre nichts geschehen.

»Geh voraus«, sagte er zerstreut. »Ich komme gleich nach.«

»Aber Carlo, wir sind ohnehin schon spät dran! Die besten süßen Kürbisse werden schon weg sein.«

»Nicht, wenn du sie als Erster erwischst!«

Eduin ging davon, und der Kyrri folgte ihm. Ein paar Minuten später war Carolin wieder im Turm und im Flur, der zu den Gemächern des Bewahrers führte. Zwei ältere Techniker wollten gerade hineingehen. Einer war Gavin Elhalyn, dessen Stellung im Turm beinahe der von Auster entsprach. Er war auch ein entfernter Verwandter von Carolin.

»Ich muss mit Auster sprechen«, erklärte Carolin. »Es ist wichtig.«

Gavin verzog das Gesicht, eindeutig hin- und hergerissen zwischen seiner Verantwortung und der Blutsverwandtschaft mit Carolin. Er war Comyn und Laranzu, aber Carolin würde eines Tages König sein.

Lerrys reagierte als Erster. »Was immer es auch sein mag, Junge, es kann warten. Auster persönlich hat uns zu sich gerufen.«

Carolin verkniff sich eine Antwort, erkannte aber zu spät, wie sinnlos das war. Immerhin befanden sie sich in einem Turm, in dem die Leute im Geist so frei sprachen wie mit ihrem Mund. Er verstand langsam, wieso man ihn nach Arilinn geschickt hatte. Es ging nicht darum, sein bescheidenes Laran zu kultivieren, sondern ihn auf die hohen Anforderungen des Königtums vorzubereiten. Zu Hause hatte er gelernt, auf seine Worte zu achten; hier im Turm würde er lernen, sogar seine Gedanken zu beherrschen.

»Schon gut.« Auster öffnete die Tür. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Erschöpfung ab, aber seine Augen strahlten wie stets. »Carlo wird uns nur immer wieder plagen, bis er losgeworden ist, was er sagen wollte. Das liegt in der Familie. Die Hasturs haben nie leicht aufgegeben. Kommt herein, alle, und ich werde den Jungen gleich anhören.«

Auster kehrte zu seinem üblichen Platz, einem gepolsterten Sessel, zurück. Die beiden anderen Männer stellten sich zu beiden Seiten der Tür auf, als warteten sie auf Befehle.

Solange er Auster als einen entfernten Vetter seiner Tante Ramona Castamir betrachtet hatte, hatte Carolin nicht daran gezweifelt, dass er mit seiner Bitte Erfolg haben würde. Aber nun leuchtete Austers scharlachrotes Amtsgewand im Licht, das von den Überresten des kleinen Feuers ausging, welches gegen die Kälte der Herbstnacht entzündet worden war. Carolin erinnerte sich daran, dass er einen der mächtigsten Männer auf Darkover vor sich hatte, und innerhalb der Mauern des Turms war Austers Wort alles, was zählte.

Es gibt mehr als nur eine Art von Macht, sagte er sich. Genau, wie es mehr als nur eine Art von Wahrheit gibt.

Ein vierter Mann wartete bereits im Zimmer und machte einen sehr ungeduldigen Eindruck. Carolin erkannte ihn nicht, bemerkte nur die Qualität seiner Kleidung: eine gesteppte Samtjacke mit Pelzbesätzen, Reithosen aus dicker Wolle über Stiefeln aus butterweichem Leder, feine Spitze an den Manschetten und am Hals sowie eine Kette aus Gold- und Kupfergliedern um seinen Hals. Carolin wusste sofort, dass er einen Mann von Autorität vor sich hatte.

Der Mann selbst bedachte ihn mit einem abschätzenden Blick. Etwas wisperte wortlos durch Carolins Kopf. Die Miene des Mannes veränderte sich nicht, aber Carolin spürte die innere Veränderung, konnte beinahe seine Gedanken hören: Das ist also der Hastur-Welpe.

Carolin, verblüfft über die feindselige Unterströmung, ließ sich einen Moment Zeit, um das Gesicht des älteren Mannes zu betrachten. Hatte er einen Feind vor sich? Seine Lehrer hatten ihm stets eingeschärft, sich sowohl Namen als auch Erscheinungsbild von Menschen zu merken. Aber nein, er konnte keine Spur von etwas Vertrautem erkennen.

In diesem Augenblick verspürte er das Aufwallen angestrengt beherrschten Zorns. Wie können sie es wagen? Wie können sie es wagen, an meinen Absichten zu zweifeln?

Weder Auster noch Gavin ließen sich anmerken, dass sie die Gedanken des Mannes gespürt hatten, aber der ganze Raum vibrierte vor Spannung.

»Ich habe es Euch bereits gesagt«, erklärte der ältere Mann. »Mein Sohn ist aus eigenem Entschluss gekommen, ohne mein Wissen oder meine Zustimmung.« Und nur Aldones weiß, wie viel Ärger wir dadurch haben werden! »Nichts, was Ihr sagen könnt, wird meine Entscheidung ändern.«

»Ihr... Ihr seid der Vater des Jungen, der heute früh hier war, um in den Turm aufgenommen zu werden«, sagte Carolin.

Der Mann nickte und antwortete höflich: »Ich bin Felix Ridenow.«

»Wir danken Euch, dass Ihr so freundlich wart, mit uns zu sprechen«, erklärte Auster. »Und wir werden selbstverständlich alle Faktoren bedenken, die in diesem Fall eine Rolle spielen.«

»Es gibt nichts weiter zu bedenken, Vai Tenerézu. Das unüberlegte Abenteuer meines Sohns ist vorüber. Er kehrt mit mir nach Hause zurück wie geplant. Ich wünsche Euch einen guten Tag.«

Gavin und Lerrys eskortierten Dom Felix mit makelloser Höflichkeit und ebenso unmissverständlichem Misstrauen aus dem Zimmer.

Was war hier los? Mit einem Schaudern wurde es Carolin klar. Ganz gleich, wie begabt dieser Varzil sein mag, sie misstrauen ihm einfach, weil er ein Ridenow ist! Und sein eigener Vater will ihn nicht in den Turm lassen, und das ebenfalls aus politischen Gründen. Diese Fehde hätte schon lange beigelegt werden müssen!

Carolin war mit höfischen Intrigen aufgewachsen, aber er hatte immer geglaubt, dass die Türme über solche Kleinlichkeiten erhaben waren. Die Ungerechtigkeit brannte wie Gift unter seiner Haut.

Varzil war so voller Leidenschaft gewesen. Selbst von seiner Position oben auf dem Balkon hatte Carolin das gespürt. Varzil war durch den Schleier geschritten und hatte auf diese Weise bewiesen, dass er von reinem Comyn-Blut war; und die Kyrri hatten ihm geantwortet. Das taten sie nicht oft. Und nun tat Auster sein Potenzial und all diese Entschlossenheit einfach ab, verhörte diesen würdigen Mann, den Vater des Jungen, und das alles aus politischen Gründen – es war einfach ungerecht! Und mehr als das, es war nicht ehrenhaft.

Auster verlagerte das Gewicht und bedeutete Carolin sich hinzusetzen. »Du machst dir Sorgen um den Ridenow-Jungen?«

Carolin setzte sich und nickte. »Ich weiß, es steht mir nicht zu, Eure Entscheidungen in Frage zu stellen, aber es ist ... es ist falsch, ihn wegzuschicken.«

»Falsch?« Auster zog die Brauen hoch, aber nicht im Zorn.

Carolin, der wusste, dass Auster die Emotion hinter seinem Gedanken auffangen würde, wenn schon nicht die genauen Worte, sah dem Bewahrer direkt ins Gesicht. »Ich denke einfach, dass es ungerecht ist, ihm wegen seiner Herkunft nicht einmal eine Chance zu gehen.«

»Ausgerechnet du, ein Hastur, sagst so etwas?«

Carolin wurde zornig. Kann ich denn nie vergessen, wer ich bin? Muss ich meine Freunde entsprechend ihrer Herkunft wählen statt nach ihrem Charakter?