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Bestsellerautorin Marion Zimmer Bradley ("Die Nebel von Avalon") hat mit dem opulenten Darkover-Zyklus eine einzigartige Romanreihe geschaffen: Die fesselnde Geschichte einer geheimnisvollen fremden Welt und ihrer Bewohner ist Kult! Tief in den schroffen Bergen Darkovers, in der verfallenen Burg der Familie von Rockraven, wird ein Kind geboren, vor dem die Welt eines Tages erzittern wird. Kaum ist Dorilys, die Tochter des Herren von Rockraven, zehn Jahre alt, beginnen sich in ihr die geheimnisvollen Fähigkeiten ihrer Vorfahren zu regen. Denn Dorilys ist die Herrin der Stürme, die allein mit der Kraft ihrer Gedanken die Urgewalten entfesseln kann. Doch wer wird fähig sein, die Herrin der Stürme zu beherrschen?
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Seitenzahl: 694
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Marion Zimmer Bradley
Ins Deutsche übertragen von Bernd Holzrichter
Copyright dieser Ausgabe © 2014 by Edel eBooks, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg. Copyright © 1978 by Marion Zimmer Bradley Copyright First german Edition © 2000 by Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München. Die Originalausgabe erschien 1978 unter dem Titel "Stormqueen!" Ins Deutsche übertragen von Bernd Holzrichter
Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-95530-598-7
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Vorbemerkung der Autorin
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Seit dem dritten oder vierten Darkover-Roman haben mir meine erstaunlich treuen Leser geschrieben und gefragt: »Warum schreiben Sie keinen Roman über das Zeitalter des Chaos?«
Lange Zeit war ich unschlüssig, zögerte, diesem Wunsch nachzukommen. Der Kern der Darkover-Romane schien mir folgender zu sein: das Zusammentreffen der Zivilisationen von Darkover und Terra. Hätte ich den Bitten, über die Zeit »vor der Ankunft der Terraner« zu schreiben, nachgegeben, wäre – so meinte ich – dieser Kern verlorengegangen; was übriggeblieben wäre, hätte große Ähnlichkeit mit tausend anderen Science-Fantasy-Romanen gehabt, die sich mit fremden Welten befassen, deren Bewohner seltsame Kräfte und andere Interessen haben.
Es waren meine Leser, die mich letztendlich dazu überredet haben, dies doch in Angriff zu nehmen. Wenn jeder, der einem Autor schreibt, nur ein Hundertstel von denen repräsentiert, die es nicht tun (und mir wurde gesagt, das Verhältnis sei noch höher), müssen es bislang mehrere tausend sein, die an der Zeit interessiert sind, die als Zeitalter des Chaos bekannt ist; jene Zeit, bevor die Comyn das Bündnis ihrer sieben großen Häuser etabliert hatten, um über die Reiche zu herrschen; und auch die große Zeit der Türme und der merkwürdigen Technologie, die als »Sternenstein« bekannt ist und später zur Wissenschaft der Matrixtechnik wurde.
Leser des Buches »The Forbidden Tower« werden wissen wollen, daß »Herrin der Stürme« sich mit einer Zeit befaßt, bevor Varzil, der Bewahrer von Neskaya, der auch als »der Gute« bekannt ist, die Techniken vervollkommnete, die es Frauen gestatteten, als Bewahrer in den Türmen der Comyn zu dienen.
In »Die Amazonen von Darkover« sagt Lady Rohana:
»Es gab eine Zeit in der Geschichte der Comyn, in der wir die selektive Fortpflanzung einsetzten, um diese Gaben in unserem Rassenerbe festzuschreiben. Es war eine Zeit großer Tyrannei, an die wir nicht gerade mit Stolz zurückdenken.«
Dies hier ist die Geschichte der Männer und Frauen, die unter dieser Tyrannei lebten; eine Geschichte darüber, wie diese Tyrannei ihr Leben und das jener, die nach ihnen kamen, beeinflußte.
Marion Zimmer Bradley
Mit dem Sturm stimmte etwas nicht. Anders konnte Donal ihn nicht einschätzen ... es stimmte etwas nicht. In den Bergen, die man die Hellers nannte, war Hochsommer, und eigentlich dürfte es außer den endlosen Schneegestöbern auf den weiten Höhen über der Baumgrenze und den seltenen wilden Gewittern, die durch die Täler schossen, von Wipfel zu Wipfel sprangen und entwurzelte Bäume und manchmal Brände in den Schneisen ihrer Blitze zurückließen, keine Stürme geben.
Aber obwohl der Himmel blau und wolkenlos war, grollte leiser Donner in der Ferne, und die Luft schien von der Spannung eines Sturms erfüllt. Donal kauerte sich hoch auf den Zinnen zusammen, hielt den Falken in seiner Armbeuge, streichelte den unruhigen Vogel mit einem Finger und summte ihm fast unbewußt eine Melodie vor. Er wußte, daß der in der Luft liegende Sturm und die elektrische Spannung den Falken ängstigten. Er hätte ihn heute nicht aus dem Vogelgatter nehmen dürfen – es würde ihm recht geschehen, wenn der alte Falkner ihn prügelte, und vor einem Jahr noch hätte dieser das auch ohne viel nachzudenken getan. Aber jetzt waren die Verhältnisse anders. Donal war erst zehn, aber in seinem kurzen Leben hatte es bereits viele Veränderungen gegeben.
Die herausragendste davon war, daß im Verlauf weniger Monde die Falkner, Hauslehrer und Reitknechte aufgehört hatten, ihn als »den Bengel« zu bezeichnen und ihn statt dessen mit »junger Herr« ansprachen. Und außerdem hatten sie aufgehört, ihm mit Knüffen, Stößen oder sogar Schlägen Respekt einzubleuen.
Gewiß war das Leben für Donal jetzt leichter, aber das Ausmaß der Veränderung bereitete ihm Unbehagen; denn es war keine Folge seines eigenen Tuns. Es hatte etwas mit der Tatsache zu tun, daß seine Mutter, Aliciane von Rockraven, nun das Bett mit Dom Mikhail, dem Lord von Aldaran, teilte und ihm schon bald ein Kind gebären würde.
Ein einziges Mal, vor langer Zeit (seitdem waren zwei Mittsommerfeste ins Land gegangen), hatte Aliciane mit ihrem Sohn darüber gesprochen.
»Hör mir genau zu, Donal, denn ich werde dies nur ein einziges Mal und dann nie wieder sagen. Das Leben ist nicht leicht für eine schutzlose Frau.« Donals Vater war in einem der kleinen Kriege gestorben, die sich zwischen den Vasallen der Gebirgsfürsten entzündet hatten, und so besaß er keinerlei Erinnerung an ihn; ihr gemeinsames Leben hatte sich seitdem als unbeachtete Beziehung in den Heimen immer anderer Verwandter abgespielt. Donal hatte die abgelegte Kleidung dieses oder jenes Cousins getragen, war immer auf dem schlechtesten Pferd aus den Stallungen geritten, hatte unbeachtet herumgelungert, wenn Cousins und männliche Familienmitglieder die Waffenkunst erlernten, und versucht, möglichst viel durch Zuhören aufzuschnappen.
»Ich könnte dich in Pflege geben. Dein Vater hat Verwandte in den Hügeln, und du könntest dort aufwachsen, um bei einem von ihnen in den Dienst zu treten. Nur gäbe es dann für mich nichts, außer Küchenmädchen oder Näherin zu sein oder im besten Fall Sängerin im Haushalt eines Fremden. Aber ich bin zu jung, um dies Los erträglich zu finden. Daher bin ich als Sängerin in die Dienste Lady Deonaras getreten; sie ist schwächlich und gealtert und hat keine lebenden Kinder geboren. Man sagt von Lord Aldaran, er habe ein Auge für die Schönheit der Frauen. Und ich bin schön, Donal.«
Donal hatte Aliciane heftig umarmt; sie war wirklich sehr schön, eine schlanke, mädchenhafte Frau mit flammend hellem Haar und grauen Augen, die für die Mutter eines achtjährigen Burschen zu jung aussah.
»Was ich im Begriff bin zu tun, tue ich zumindest teilweise für dich, Donal. Meine Verwandtschaft hat mich dafür verstoßen; verdamme mich nicht, wenn die, die das nicht verstehen, schlecht von mir sprechen.«
Es sah in der Tat anfangs so aus, als hätte Aliciane es eher zum Besten ihres Sohnes als zu ihrem eigenen getan; Lady Deonara war zwar freundlich, zeigte aber die Reizbarkeit aller chronisch Kranken. Aliciane war bescheiden und zurückhaltend geblieben, hatte Deonaras Strenge und den boshaften Neid der anderen Frauen gutmütig und gelassen auf sich genommen. Aber Donal besaß nun zum ersten Mal in seinem Leben maßgeschneiderte Kleidung, ein eigenes Pferd, einen eigenen Falken und lernte bei den Hauslehrern und Waffenmeistern von Lord Aldarans Schützlingen und Pagen.
In diesem Sommer war Lady Deonara erneut von einem totgeborenen Sohn entbunden worden; woraufhin Mikhail, Lord von Aldaran, Aliciane von Rockraven zur Barragana genommen und ihr geschworen hatte, daß ihr Kind – ob männlich oder weiblich – gesetzlich anerkannt und so lange als Erbe seiner Linie gelten solle, bis er eines Tages Vater eines ehelichen Kindes werden würde. Sie war die anerkannte Favoritin Lord Aldarans – selbst Deonara, die sie für ihres Fürsten Bett ausgewählt hatte, liebte sie – und Donal konnte von ihrer hervorragenden Stellung profitieren. Einmal hatte Lord Mikhail, grauhaarig und furchteinflößend, ihn sogar zu sich rufen lassen und ihm mitgeteilt, daß Hauslehrer und Waffenmeister Gutes über ihn berichteten. Dann hatte er ihn in eine freundliche Umarmung gezogen. »Ich wünschte in der Tat, du seist von meinem Blut, Pflegesohn. Wenn deine Mutter mir solch einen Sohn gebiert, werde ich sehr zufrieden sein.«
Donal hatte gestammelt, »Ich danke Euch, Verwandter«, ohne jedoch den Mut zu haben, den alten Mann »Pflegevater« zu nennen. Jung wie er war, wußte er doch, daß er – sollte seine Mutter Lord Aldaran ein lebendes Kind gebären – der Halbbruder von Aldarans Erbe sein würde. Die Änderung seines Status war bereits außergewöhnlich und bemerkenswert gewesen.
Aber der drohende Sturm ... er erschien Donal wie ein böses Omen für die bevorstehende Geburt. Er schauderte; ein Sommer seltsamer Stürme lag hinter ihnen, mit Blitzstrahlen aus dem Nirgendwo und nie verstummendem Grollen und Krachen. Ohne zu wissen warum, verband Donal den Sturm mit Ärger – dem Ärger seines Großvaters Lord Rockraven, als dieser von der Entscheidung seiner Tochter erfahren hatte. Verloren in einer Ecke kauernd hatte Donal mit anhören müssen, wie Lord Rockraven sie als Flittchen und Hure beschimpfte. Er hatte seine Mutter mit Namen belegt, die Donal noch weniger verstand. An diesem Tag war die Stimme des alten Mannes vom Donner fast verschluckt worden, während er in der Stimme seiner Mutter das Krachen zorniger Blitze vernahm, als sie zurückgeschrien hatte: »Was soll ich denn tun, Vater? Zu Hause warten, meine Wäsche stopfen und mich und meinen Sohn von deiner erbärmlichen Ehre ernähren? Soll ich mit ansehen, wie Donal aufwächst, um ein gedungener Söldner zu werden? Oder in deinem Garten nach seinem Brei graben? Du verschmähst Lady Aldarans Angebot ...«
»Nicht Lady Aldaran ist es, die ich verschmähe«, schnaubte ihr Vater, »aber sie ist es nicht, der du dienen wirst, und das weißt du so gut wie ich!«
»Hast du ein besseres Angebot für mich gefunden? Soll ich einen Hufschmied oder einen Köhler heiraten? Lieber bin ich die Barragana Aldarans als die Ehefrau eines Kesselflickers oder Lumpensammlers!«
Donal wußte, daß er von seinem Großvater nichts zu erwarten hatte. Rockraven war nie ein reiches oder mächtiges Haus gewesen; es war verarmt, weil der alte Lord für vier Söhne und drei Töchter sorgen mußte, von denen Aliciane die jüngste war. Einmal hatte sie voll Bitterkeit gesagt, wenn ein Mann keine Söhne habe, sei dies eine Tragödie; besäße er aber zu viele, dann sei es um so schlimmer für ihn, denn er müsse dann mit ansehen, wie sie sich um seinen Besitz stritten.
Als letztes seiner Kinder war Aliciane mit einem jungen Mann ohne Titel verheiratet worden, der knapp ein Jahr nach ihrer Heirat gestorben war und Aliciane und den gerade geborenen Donal zurückgelassen hatte, der nun im Haus eines Fremden aufgezogen werden mußte.
Jetzt, als er auf den Zinnen von Burg Aldaran kauerte und den klaren, von unerklärlichen Blitzen erfüllten Himmel betrachtete, weitete Donal sein Bewußtsein nach außen – er konnte die Linien der Elektrizität und das merkwürdige Schimmern im Magnetfeld des Sturms beinahe sehen. Gelegentlich war er fähig gewesen, den Blitz zu rufen; einmal, als ein Sturm wütete, hatte er sich damit vergnügt, den großen Blitzschlag dorthin zu lenken, wo er ihn haben wollte. Es gelang ihm nicht immer, und er konnte es nicht allzuoft tun, sonst würde er krank und schwach werden. Einmal, als er (ohne zu wissen wie) durch die Haut gefühlt hatte, daß der nächste Blitz in den Baum, unter dem er stand, einschlagen würde, hatte er etwas in seinem Innern ausgestreckt. Ein unsichtbares Körperglied hatte die Kette explodierender Kraft ergriffen und sie in eine andere Richtung geschleudert. Der Blitz war zischend in einen Strauch eingeschlagen, hatte ihn zu einem Haufen geschwärzter Blätter verschmolzen und eine kreisförmige Grasfläche versengt, während Donal schwindlig und mit trübem Blick zu Boden gesunken war. Der Schmerz hatte seinen Kopf beinahe in Stücke bersten lassen, und er war tagelang nicht in der Lage gewesen, richtig zu sehen. Aliciane hatte ihn daraufhin umarmt und ermahnt.
»Mein Bruder Caryl konnte das auch, aber er starb in jungen Jahren«, sagte sie zu ihm. »Es gab eine Zeit, da die Leroni in Hali versuchten, die Fähigkeit der Sturmkontrolle in unser Laran hineinzuzüchten, aber es war zu gefährlich. Ich kann die Donnergewalten zwar ein wenig sehen, aber nicht beeinflussen. Sei auf der Hut, Donal. Nutze diese Gabe nur, um Leben zu retten. Ich möchte meinen Sohn nicht von den Blitzen, die zu beherrschen er anstrebt, verbrannt sehen.« Und sie hatte ihn mit ungewöhnlicher Herzlichkeit erneut umarmt.
Laran. Gespräche über die Gabe der außersensorischen Kräfte, denen sich die Bergfürsten – ja, sogar auch die weit draußen in den Tiefländern lebenden – so intensiv widmeten, hatten seine Kindheit stets begleitet. Wenn er wirklich eine außergewöhnliche Gabe, etwa die der Telepathie oder die Fähigkeit, Falken, Hunden oder Eichelhähern seinen Willen aufzuzwingen, besäße, wäre er in die Zuchtlisten der Leroni aufgenommen worden, jener Zauberinnen, die Aufzeichnungen über die Elternschaften derjenigen anfertigten, in denen das Blut von Hastur und Cassilda, den legendären Vorfahren der begabten Familien, floß. Aber er besaß keine. Er konnte ein wenig Sturm-Sehen und spürte, wenn Gewitter sich zusammenbrauten oder Waldbrände zuschlugen. Eines Tages, wenn er etwas älter war, würde er seinen Platz als Feuerwächter einnehmen. Es würde hilfreich für ihn sein, zu wissen, wohin sich das Feuer als nächstes bewegte. Aber seine Fähigkeit war nur eine mindere Gabe und keiner Fortzüchtung wert. Selbst in Hali hatte man schon vor Generationen davon abgelassen, und Donal wußte – ohne sich darüber im klaren zu sein, woher –, daß dies ein Grund für das Nichtweiterblühen der Rockraven-Familie war.
Aber dieser Sturm lag weit jenseits seiner Kräfte. Irgendwie schien er sich, ohne von Wolken oder Regen begleitet zu sein, über der Burg zu sammeln. Mutter, dachte er, es hat mit meiner Mutter zu tun. Er wünschte sich, den Mut zu haben, durch die erschreckende und zunehmende Bewußtheit des Sturms zu ihr zu laufen, sich zu vergewissern, daß mit ihr alles in Ordnung war. Aber ein Junge von zehn Jahren konnte nicht wie ein kleines Kind zu seiner Mutter rennen, um auf ihrem Schoß zu sitzen. Außerdem war Aliciane, die sich wenige Tage vor ihrer Niederkunft befand, schwerfällig und unbeholfen geworden. Es würde unmöglich sein, sie jetzt mit seinen Ängsten und Sorgen zu behelligen.
Besonnen nahm er den Falken wieder auf und trug ihn die Treppenstufen hinab. In einer Luft, von Blitzen und diesem merkwürdigen und unerhörten Sturm erfüllt, konnte er ihn nicht frei fliegen lassen. Der Himmel war blau (es sah nach einem guten Tag für Falken aus), aber Donal konnte die schweren und drängenden magnetischen Ströme in der Luft und das mächtige Knistern der Elektrizität fühlen.
Ist es meiner Mutter Angst, die die Luft mit Blitzen füllt, so wie es bisweilen der Zorn meines Großvaters tat? Plötzlich wurde er von seiner eigenen Angst überwältigt. Er wußte wie jedermann, daß Frauen manchmal während einer Geburt starben. Er hatte sich Mühe gegeben, nicht daran zu denken, aber jetzt, von der Angst um seine Mutter überwältigt, konnte er das Knistern seiner eigenen Angst im Blitzschlag fühlen. Noch nie hatte Donal sich so jung und hilflos gefühlt. Er wünschte sich sehnlichst an den ärmlichen Hof von Rockraven zurück. Selbst die in Lumpen gekleidete und unbeachtete Existenz als armer Cousin in der Festung irgendeines Verwandten wäre ihm jetzt recht gewesen. Zitternd brachte er den Falken zu den Käfigen zurück. Den Tadel des Falkners akzeptierte er mit solcher Ergebenheit, daß der alte Mann glaubte, der Junge müsse krank sein.
Weit weg, in den Räumen der Frauen, hörte Aliciane das unablässige Grollen des Donners; undeutlicher als Donal spürte sie das Merkwürdige an diesem Sturm. Und sie fürchtete sich.
Die Rockravens waren aus dem intensiven Zuchtprogramm für die Laran-Gaben ausgesondert worden. Wie die meisten ihrer Generation hielt Aliciane dieses Zuchtprogramm für eine abscheuliche Tyrannei. In diesen Tagen würde kein freies Bergvolk erdulden, daß man Menschen im Hinblick auf wünschenswerte Eigenschaften wie Vieh heranzüchtete.
Und doch hatte sie ihr Leben in zwanglosen Gesprächen über tödliche Gene, rezessive Merkmale und Blutlinien, die das erwünschte Laran in sich trugen, verbracht. Wie konnte eine Frau ein Kind ohne Angst gebären? Aber hier war sie nun in Erwartung der Geburt eines Kindes, das Aldarans Erbe werden konnte, und im Bewußtsein, daß sein Grund, sie zu wählen, weder ihrer Schönheit – wenngleich sie ohne Eitelkeit wußte, daß sie es ihrem Aussehen verdankte, daß sein Blick auf sie gefallen war – noch der vorzüglichen Stimme, die sie zu Lady Deonaras bevorzugter Balladensängerin gemacht hatte, zuzuschreiben war. Aldaran wußte, daß sie einen kräftigen, mit Laran begabten Sohn geboren, damit ihre Fruchtbarkeit unter Beweis gestellt hatte und die Geburt eines Kindes überleben konnte.
Oder besser: Ich habe sie einmal überlebt. Aber beweist das mehr, als daß ich Glück hatte?
Als reagiere es auf ihre Angst, strampelte das ungeborene Kind heftig. Aliciane ließ eine Hand über die Saiten der Rryl, einer kleinen Harfe, die sie im Schoß hielt, gleiten und hielt das Instrument mit der anderen fest. Sie spürte die beruhigende Wirkung der Schwingungen. Als sie zu spielen begann, spürte sie Unruhe unter den Frauen, die zu ihrem Beistand anwesend waren. Lady Deonara liebte ihre Sängerin aufrichtig und hatte in diesen letzten Tagen ihre geschicktesten Ammen und Kammerzofen geschickt. Mikhail, Lord Aldaran, kam in ihr Zimmer. Er war ein großer Mann in der Blüte seines Lebens, wenn auch sein Haar vor der Zeit ergraut und er weit älter war als Aliciane, die erst im letzten Frühjahr ihren vierundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Sein Schritt klang schwer in diesem ruhigen Raum, er hörte sich eher nach dem Tritt genagelter Schuhe auf dem Schlachtfeld an.
»Spielst du zu deinem eigenen Vergnügen, Aliciane? Ich hatte geglaubt, eine Musikantin gewänne ihre größte Freude aus dem Applaus, und doch finde ich dich hier, für dich und deine Frauen spielend«, sagte er lächelnd und zog einen zierlichen Stuhl heran, um sich neben sie zu setzen. »Wie steht es um dich, mein kostbarer Schatz?«
»Ich fühle mich wohl, aber auch müde«, sagte sie lächelnd. »Es ist ein unruhiges Kind, und ich spiele zum Teil deshalb, weil die Musik eine beruhigende Wirkung auf es ausübt. Vielleicht überträgt sich meine Beruhigung aber auch nur auf das Kind.«
»Das mag wohl sein«, sagte er und fuhr, als sie die Harfe zur Seite legte, fort: »Nein, Aliciane, singe nur, falls du nicht zu müde bist.«
»Wie du wünschst, mein Fürst.« Sie entlockte den Saiten der Harfe einige Akkorde und sang mit weicher Stimme ein Liebeslied aus den weiten Hügeln:
»Wo bist du jetzt?
Woher zieht mein Geliebter?
Nicht über die Hügel, nicht am Ufer des Meeres,
nicht weit draußen über die See,
Liebster, wo bist du jetzt?
Dunkel die Nacht, und ich bin so müde,
Liebster, wann kann ich die Suche beenden?
Dunkelheit überall, über und unter mir,
Wo weilt er, mein Liebster?«
Mikhail beugte sich zu der Frau hinunter, seine schwere Hand fuhr sachte über ihr leuchtendes Haar. »Ein grämliches Lied«, sagte er sanft, »und so deprimierend. Ist Liebe für dich wirklich eine Sache der Traurigkeit, meine Aliciane?«
»Nein, das ist sie nicht«, widersprach Aliciane und täuschte eine Fröhlichkeit vor, die sie nicht fühlte. Ängste und Zweifel waren für verwöhnte Ehefrauen da, nicht für eine Barragana, deren Stellung davon abhing, daß sie ihren Fürsten entspannte und mit Charme und Schönheit bei guter Laune hielt. Für sie zählte ihre Kunstfertigkeit als Unterhalterin. »Aber die schönsten Liebeslieder singen nun einmal von Kummer und Liebe, mein Fürst. Würde es dich mehr erfreuen, wenn ich Lieder vom Lachen und der Kühnheit sänge?«
»Mich erfreut alles, was du singst, mein Schatz«, sagte Mikhail freundlich. »Wenn du erschöpft oder bekümmert bist, brauchst du mir keine Fröhlichkeit vorzuspielen, Carya.« Er sah das Aufflackern von Mißtrauen in ihren Augen und dachte: Zu meinem eigenen Vorteil bin ich zu feinfühlig. Es muß angenehm sein, sich der Gedanken der anderen nie zu bewußt zu sein. Liebt Aliciane mich aufrichtig? Oder schätzt sie nur ihre Stellung als meine anerkannte Favoritin? Und selbst wenn sie mich liebt: Ist es um meiner selbst willen, oder nur, weil ich reich und mächtig bin und ihr Sicherheit geben kann? Er gab den Frauen einen Wink, und sie zogen sich ans entgegengesetzte Ende des langen Zimmers zurück, um ihn mit seiner Mätresse allein zu lassen. Zwar waren sie weiterhin anwesend, um der Anstandsregel, daß eine Frau, die im Begriff war, ein Kind zur Welt zu bringen, nie ohne Beistand sein sollte, Genüge zu tun, befanden sich aber außer Hörweite.
»Ich traue nicht allen diesen Frauen«, sagte er.
»Lady Deonara hat mich aufrichtig gern, glaube ich. Sie würde niemals jemanden in meine Nähe lassen, der mir oder meinem Kind etwas Übles will«, sagte Aliciane.
»Deonara? Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte Mikhail und dachte daran, daß sie nun zweimal zehn Jahre Lady von Aldaran war und seinen brennenden Wunsch nach einem Kind, dem künftigen Erben seines Besitzes, teilte. Sie konnte ihm jetzt nicht einmal mehr die Hoffnung darauf versprechen. Und so hatte sie die Nachricht begrüßt, daß er gewillt war, Aliciane, die zu ihren eigenen Günstlingen gehörte, in Herz und Bett aufzunehmen. »Aber ich habe Feinde, die nicht zu diesem Haushalt gehören, und nur zu einfach ist es, einen Spion mit Laran einzuschmuggeln, der alles, was hier geschieht, dem enthüllen kann, der mir Böses will. Ich habe Verwandte, die viel dafür geben würden, die Geburt eines lebenden Erben meiner Linie zu verhindern. Ich wundere mich nicht, daß du bleich aussiehst, mein Schatz. Es ist sehr schwer, eine Verderbtheit als gegeben anzunehmen, die einem kleinen Kind schaden würde, aber ich bin mir nie sicher gewesen, ob Deonara nicht das Opfer von jemandem war, der die ungeborenen Kinder in ihrem Leib tötete. Das ist gar nicht so schwer; selbst eine geringe Kunstfertigkeit mit der Matrix oder dem Laran kann die schwache Verbindung des Kindes zum Leben zerreißen.«
»Jeder, der mir etwas antun wollte, Mikhail, müßte von deinem Versprechen, daß mein Kind gesetzlich anerkannt wird, wissen und sein böses Handeln auch gegen mich richten«, sagte Aliciane besänftigend, »und doch habe ich dieses Kind ohne Krankheit getragen. Deine Furcht ist grundlos, Liebster.«
»Mögen die Götter geben, daß du recht hast! Aber ich habe Feinde, die vor nichts zurückschrecken. Bevor dein Kind geboren wird, werde ich eine Leronis bitten, alle auf die Probe zu stellen. Ich wünsche bei deiner Niederkunft die Anwesenheit keiner Frau, die nicht unter dem Wahrheitszauber schwören kann, daß sie dir gut gesonnen ist. Ein böser Wunsch kann dem Kampf eines neugeborenen Kindes um das Leben ein plötzliches Ende geben.«
»Gewiß ist diese Kraft des Laran selten, mein Fürst.«
»Nicht so selten, wie ich es wünschte«, sagte Mikhail. »Und seit kurzem habe ich merkwürdige Gedanken. Ich halte diese Gaben für eine Waffe, die meine Hand abschneiden können. Ich habe Zauberei benutzt, um Feuer und Chaos auf meine Feinde zu schleudern; jetzt fühle ich, daß sie die Kraft dazu besitzen, sie auch gegen mich zu richten. Als ich jung war, empfand ich das Laran als eine Gabe der Götter; als hätten sie mich berufen, dieses Land zu beherrschen und mir diese Gabe verliehen, um meine Herrschaft zu stärken. Aber jetzt, da ich älter werde, halte ich es für einen Fluch, nicht für einen Segen.«
»So alt bist du nicht, mein Fürst, und sicher würde niemand deine Herrschaft bedrohen.«
»Offen wagt es niemand, Aliciane. Aber ich bin allein unter denen, die darauf warten, daß ich kinderlos sterbe. Ich werde noch manchen Kampf auszufechten haben ... Mögen die Götter geben, daß dein Kind ein Sohn ist, Carya.«
Aliciane begann zu zittern. »Und wenn nicht ... mein Fürst ...«
»Nun, dann, Schatz, wirst du mir ein weiteres gebären«, sagte Lord Aldaran freundlich. »Selbst wenn du das nicht tust, werde ich eine Tochter haben, deren Begabung mein Vermögen sein wird und mir starke Verbündete verschafft. Selbst ein weibliches Kind würde meine Stellung stärken. Und dein Sohn wird ihr Pflegebruder und Friedensstifter sein, ein Schild im Streit und ein starker Arm. Ich liebe deinen Sohn aufrichtig, Aliciane.«
»Ich weiß.« Wie konnte sie auf diese Weise in eine Falle geraten ... herauszufinden, daß sie den Mann liebte, den sie zuerst nur mit den Vorzügen ihrer Stimme und ihrer Schönheit zu betören gedachte?
Mikhail war freundlich und ehrenhaft, er hatte ihr den Hof gemacht, als er sie als gesetzmäßiges Opfer hätte nehmen können, und ihr ungefragt versichert, daß Donals Zukunft gesichert sei, selbst wenn es ihr mißlingen sollte, ihm einen eigenen Sohn zu schenken. Bei ihm fühlte sie sich sicher. Sie hatte ihn lieben und um ihn zu fürchten gelernt.
In meiner eigenen Falle gefangen!
Beinahe lachend sagte sie: »So viele Versicherungen benötige ich nicht. Ich habe nie Zweifel an dir gehegt.«
Er akzeptierte es mit der lächelnden Höflichkeit eines Telepathen.
»Aber Frauen sind in solchen Tagen furchtsam, und jetzt ist es gewiß, daß Deonara mir kein Kind mehr gebären wird, selbst wenn ich sie nach so vielen Tragödien darum bäte. Weißt du, wie es ist, Aliciane, wenn du die Kinder, nach denen du dich sehntest und die du schon liebtest, bevor sie geboren wurden, sterben siehst, noch ehe sie einen Atemzug getan haben? Als wir verheiratet wurden, habe ich Deonara nicht geliebt. Ich hatte ihr Gesicht nie gesehen, denn wir wurden einander wegen eines Familienbündnisses versprochen. Aber wir haben zusammen viel ertragen, und auch wenn es dir merkwürdig erscheint, mein Kind: Liebe kann aus geteiltem Leid ebensogut entstehen wie aus geteilter Freude.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Ich liebe dich sehr, Carya Mea, aber es lag weder an deiner Schönheit noch der Pracht deiner Stimme, daß ich dich erwählte. Wußtest du, daß Deonara nicht meine erste Frau ist?«
»Nein, mein Fürst.«
»Zum ersten Mal wurde ich verheiratet, als ich ein junger Mann war; Clariza Leynier gebar mir zwei Söhne und eine Tochter, alle gesund und stark ... Schwer ist es, Kinder bei der Geburt zu verlieren, aber es ist noch schwerer, Söhne und Töchter zu verlieren, die fast zu Erwachsenen herangereift sind. Und doch verlor ich sie – einen nach dem andern, als sie heranwuchsen. Ich verlor alle drei beim plötzlichen Einsetzen des Laran – sie starben an Krämpfen, der Geißel unseres Geschlechts. Ich selbst war kurz davor, an tiefer Verzweiflung zu sterben.«
»Mein Bruder Caryl ist so gestorben«, flüsterte Aliciane.
»Ich weiß. Aber er war nur einer aus eurer Linie, und dein Vater hatte viele Söhne und Töchter. Du selbst hast mir gesagt, daß dein Laran nicht während der Pubertät zum Vorschein kam, sondern daß du von Kindesbeinen an langsam in es hineingewachsen bist, wie viele vom Geschlecht der Rockraven. Und ich weiß, daß dies in deiner Familie dominant ist. Donal ist kaum zehn Jahre alt, und wenn ich auch nicht glaube, daß sein Laran schon voll entwickelt ist, besitzt er doch viel davon und wird zumindest nicht auf der Schwelle sterben. Ich wußte, daß ich mich um deine Kinder nicht zu ängstigen brauche. Auch Deonara entstammt einer Blutlinie, in der das Laran früh einsetzte, aber keines der Kinder, die sie mir geboren hat, lebte lange genug, daß man erkennen konnte, ob es Laran besaß oder nicht.«
Alicianes Gesicht zeigte deutliche Bestürzung, und Lord Aldaran legte seinen Arm zärtlich um ihre Schulter. »Was ist, mein Liebes?«
»Mein Leben lang habe ich Abscheu davor empfunden – Menschen wie Vieh zu züchten!«
»Der Mensch ist das einzige Tier, das nicht daran denkt, seine Rasse zu verbessern«, sagte Mikhail leidenschaftlich. »Wir kontrollieren das Wetter, bauen Burgen und Straßen mit der Kraft unseres Laran, erforschen immer größere Gaben des Geistes – sollten wir nicht danach streben, uns ebenso zu verbessern, wie unsere Welt und unsere Umgebung?« Dann wurde sein Gesichtsausdruck weich. »Aber ich verstehe, daß eine Frau, die so jung ist wie du, nicht in Kategorien von Generationen und Jahrhunderten denkt. Solange man jung ist, denkt man lediglich an sich und seine Kinder, aber in meinem Alter ist es natürlich, auch all jene mit einzubeziehen, die nach uns kommen werden, wenn wir und unsere Kinder seit Jahrhunderten dahingegangen sind. Aber solche Dinge sollten erst dann etwas für dich sein, wenn du an sie denken möchtest. Jetzt denk an deine Tochter, Liebes, und daran, daß wir sie bald in unseren Armen halten werden.«
Aliciane zuckte zusammen und fragte leise: »Dann weißt du also, daß ich ein Mädchen gebären werde. Und du bist nicht böse?«
»Ich sagte dir, daß ich nicht böse sein würde. Wenn ich betrübt bin, dann nur deshalb, weil du mir nicht genügend vertrautest und es mir nicht gleich sagtest, als du es erfuhrst«, sagte Mikhail, aber seine Worte waren dabei so sanft, daß sie kaum einen Vorwurf offenbarten. »Komm, Aliciane, vergiß deine Befürchtungen: Wenn du mir keinen Sohn schenkst, so hast du mir doch einen starken Pflegesohn gegeben – und deine Tochter wird eine mächtige Kraft sein, um mir einen Schwiegersohn zu bringen. Und sie wird Laran haben.«
Aliciane lächelte und erwiderte seinen Kuß; aber sie war immer noch ängstlich gespannt, als sie das ferne Knistern des ungewöhnlichen Sommerdonners hörte, der mit den Wellen ihrer Angst zu kommen und zu gehen schien. Kann es sein, daß Donal sich vor dem, was dieses Kind für ihn bedeutet, fürchtet? fragte sie sich. In diesem Augenblick wünschte Aliciane sich leidenschaftlich, die Gabe der Zukunftsschau zu besitzen, das Laran des Aldaran-Clans, um wirklich zu wissen, daß alles gut werden würde.
Hier ist die Verräterin!« Aliciane zitterte vor dem Zorn in Lord Aldarans Stimme, als er wütend in ihr Zimmer trat und mit beiden Händen eine Frau vor sich her stieß. Hinter ihm erschien eine Leronis, die Zauberin seines Haushalts, die die Matrix – einen blauen Sternenstein – trug, die die Kräfte ihres Laran verstärkte. Sie kam auf Zehenspitzen; eine zerbrechliche, hellhaarige Frau, deren blasse Gesichtszüge von dem durch sie entfachten Aufruhr verzerrt waren.
»Mayra«, sagte Aliciane bestürzt, »ich hielt dich für meine Freundin und die Lady Deonaras. Was ist dir widerfahren, daß du statt dessen meine Feindin und die meines Kindes bist?«
Mayra – sie war eine von Deonaras Ankleidefrauen, eine stämmige Frau mittleren Alters – stand furchtsam und dennoch trotzig zwischen Lord Aldarans kräftigen Händen. »Von dem, was diese Zauberhexe über mich sagt, weiß ich nichts. Ist sie vielleicht auf meine Stellung eifersüchtig, da sie selbst nichts zu tun hat, als sich in den Geist der Privilegierten einzuschleichen?«
»Es wird dir nicht von Nutzen sein, mich mit Schimpfnamen zu belegen«, sagte die Leronis Margali. »Ich habe all diesen Frauen nur eine Frage gestellt, und zwar mit Hilfe des Wahrheitszaubers, damit ich es in meinem Kopf hören konnte, falls sie logen: ›Gilt deine Treue Mikhail, Lord Aldaran, oder der Vai Domna, seiner Lady Deonara?‹ Erwiderten sie Nein, oder sagten sie mit Zweifel oder einer Verneinung ihrer Gedanken Ja, fragte ich sie – und das wieder unter dem Wahrheitszauber –, ob ihre Treue dem Ehemann, dem Vater, oder dem Hausherrn gelte. Im Falle dieser Frau bekam ich keine ehrliche Antwort, sondern nur die Erkenntnis, daß sie alles verschleierte. Und daher teilte ich Lord Aldaran mit, daß – vorausgesetzt, es gibt eine Verräterin unter den Frauen – nur sie diese sein könne.«
Mikhail ließ die Frau los und drehte sie, ohne unsanft dabei zu werden herum, daß sie ihm ins Gesicht blickte. Er sagte: »Es ist wahr, daß du lange in meinen Diensten gestanden hast, Mayra. Deonara behandelte dich stets mit der Freundlichkeit einer Pflegeschwester. Bin ich es, dem du Böses willst, oder meiner Lady?«
»Meine Lady ist immer freundlich zu mir gewesen, und ich bin erbost, sie für eine andere beiseite geschoben zu sehen«, sagte Mayra mit zitternder Stimme. Die Leronis hinter ihr sagte in leidenschaftslosem Tonfall: »Nein, Lord Aldaran, auch jetzt spricht sie nicht die Wahrheit. Sie hegt weder Liebe für Euch noch für Eure Lady.«
»Sie lügt!« Mayras Stimme wurde fast zu einem Kreischen. »Sie lügt! Ich wünsche euch nichts Übles, Fürst, außer dem, was Ihr selbst über Euch brachtet, indem ihr die Hündin von Rockraven in euer Bett genommen habt. Diese Viper ist es, die eure Männlichkeit verhext hat!«
»Ruhe!« Lord Aldaran bebte. Es schien, als wolle er die Frau schlagen, aber sein Wort allein genügte. Jeder in Reichweite wurde von Stummheit ergriffen, und Aliciane zitterte. Nur ein einziges Mal hatte sie Mikhail die – wie es in der Sprache des Laran hieß – Befehlsstimme gebrauchen hören. Es gab nicht viele Menschen, die genügend Kontrolle über ihr Laran besaßen, um sie anzuwenden; sie war keine angeborene Gabe, sondern erforderte sowohl Talent als auch ein ausgeklügeltes Training. Und wenn Mikhail, Lord Aldaran, mit dieser Stimme Ruhe anordnete, war niemand in Hörweite dazu in der Lage, ein Wort herauszubringen.
Die Stille im Zimmer war so extrem, daß Aliciane die leisesten Geräusche hören konnte: Kleine Insekten, die im Holzwerk der Wände knisterten, das furchtsame Atmen der Frauen, das weit entfernte Rollen des Donners. Es scheint, dachte sie, daß wir den ganzen Sommer über Donner hatten. Mehr als je zuvor ... An was für einen Unsinn ich doch denke, wo vor mir eine Frau steht, die meinen Tod hätte bedeuten können, hätte man sie an meinem Kindbett dienen lassen ...
Mikhail blickte die Frau, die zitternd dastand und sich an der Lehne eines Stuhls aufrecht hielt, an. Dann sagte er zu der Leronis: »Hilf Lady Aliciane. Hilf ihr, sich zu setzen, oder sich aufs Bett niederzulegen, wenn sie sich dadurch besser fühlt ...« Aliciane spürte, wie Margalis kräftige Hände sie stützten, ihr in den Stuhl halfen und schüttelte sich ärgerlich, voller Haß auf die physische Schwäche, die sie nicht zu kontrollieren vermochte.
Dieses Kind zehrt an meiner Kraft, wie Donal es nie getan hat ... Warum bin ich so geschwächt? Ist es der böse Wille dieser Frau, ihre Zaubersprüche ...? Margali legte ihre Hände auf Alicianes Stirn, und sie spürte die besänftigende Ruhe, die sie ausstrahlten. Sie versuchte, sich unter der Berührung zu entspannen, gleichmäßig zu atmen und die heftige Unruhe, die sie in den Bewegungen des Kindes in ihrem Leib spürte, zu besänftigen. Arme Kleine ... auch sie ist geängstigt, und kein Wunder ...
Lord Aldarans Stimme sagte: »Mayra, sage mir, warum du mir Böses willst und versuchst, Lady Aliciane oder ihrem Kind Schaden zu bringen!«
»Ich soll Euch das sagen?«
»Du weißt, daß du das tun wirst«, sagte Mikhail von Aldaran. »Du wirst uns sogar mehr sagen, als du selbst je geglaubt hast – ob freiwillig und ohne Schmerzen zu erleiden – oder unter anderen Bedingungen. Ich liebe es nicht, wenn man Frauen foltert, Mayra, aber ich bin ebensowenig bereit, in meinem Zimmer eine Skorpionameise zu beherbergen! Erspare uns diesen Konflikt.« Mayra sah ihn stumm und trotzig an. Mikhail zuckte kaum merklich die Achseln. Eine Starre, die Aliciane kannte – und der sich zu widersetzen sie nicht gewagt hätte erfaßte sein Gesicht. Er fuhr fort: »Du entscheidest es selbst, Mayra. Margali, bring deinen Sternenstein. Nein, es ist besser, wenn du Kirizani holen läßt.«
Aliciane zitterte, obwohl Mikhail sich auf seine eigene Art gnädig erwies. Kiriseth war eine aus einem halben Dutzend Drogen und den Harzen der Kirisethblume, deren Pollen den Wahnsinn brachten, wenn der Geisterwind durch die Hügel blies, destillierte Mixtur. Kirizani war jener Bestandteil des Harzes, der die Schranken gegen einen telepathischen Kontakt niederriß und die Gedanken für jeden, der in sie eindrang, bloßlegte. Die Droge war weniger schlimm als die Folter, und doch ... Sie schrak zurück, als sie die wütende Entschlossenheit auf Mikhails Gesicht und den lächelnden Trotz der Frau Mayra sah. Als das Kirizani gebracht wurde – eine helle Flüssigkeit in einer durchsichtigen Ampulle –, standen alle schweigend da.
Mikhail entkorkte sie und sagte ruhig: »Wirst du es ohne Widerstand nehmen, Mayra, oder sollen die Frauen dich festhalten und es in deine Kehle gießen, so wie man einem Pferd eine Arznei einflößt?«
Das Blut schoß in Mayras Wangen; sie spuckte ihn an. »Ihr glaubt, Ihr könntet mich mit Hexerei und Drogen zum Sprechen bringen, Lord Mikhail? Ha – ich verachte Euch! Ihr bedürft meines üblen Willens nicht –, in Eurem Haus und im Leib Eurer verfluchten Mätresse lauert schon genug! Der Tag wird kommen, an dem ihr darum betet, kinderlos gestorben zu sein – aber trotzdem wird es keine weiteren mehr geben! Ihr werdet keine andere mehr mit ins Bett nehmen, sondern genauso weiterleben, wie seit dem Tage, an dem Ihr die Hündin von Rockraven mit ihrer Hexentochter schwanger machtet! Meine Arbeit ist getan, Vai Dom!« Sie schleuderte ihm den respektvollen Ausdruck mit höhnischem Spott entgegen. »Mehr Zeit brauche ich nicht! Von diesem Tag an werdet Ihr weder eine Tochter noch einen Sohn zeugen können. Eure Lenden werden leer sein wie ein vom Winter getöteter Baum! Und Ihr werdet weinen und beten ...«
»Bringt diese Todesfee zum Schweigen!« sagte Mikhail. Margali löste sich von der kraftlosen Aliciane und hob ihre Juwelen-Matrix, aber die Frau spuckte ein zweites Mal aus, lachte hysterisch, keuchte und stürzte zu Boden. Während die anderen fassungslos schwiegen, ging Margali auf sie zu und legte mechanisch eine Hand auf ihre Brust.
»Lord Aldaran, sie ist tot! Man muß sie dazu konditioniert haben, bei einem Verhör zu sterben.«
Bestürzt und mit unbeantworteten Fragen auf den Lippen starrte Aldaran auf den leblosen Körper der Frau. Er sagte: »Jetzt werden wir weder erfahren, was sie getan hat, noch wer der Feind ist, der sie hierhergeschickt hat. Ich nehme es auf meinen Eid, daß Deonara nichts von ihr wußte.«
Als enthielten seine Worte eine Frage, legte Margali ihre Hand auf das blaue Juwel und sagte bedachtsam: »Bei meinem Leben, Lord Aldaran, Lady Deonara hegt keine bösen Wünsche gegen Lady Alicianes Kind. Oft genug hat sie mir gesagt, wie sehr sie sich für Euch und Aliciane freut. Und ich weiß, wann ich die Wahrheit höre.«
Mikhail nickte, aber Aliciane bemerkte, daß die Linien um seinen Mund ausgeprägter wurden. Wenn Deonara, eifersüchtig auf Lord Aldarans Hingabe, Aliciane hätte schaden wollen, wäre es zumindest verständlich gewesen. Aber wer, so fragte sie sich in ihrer geringen Kenntnis über die Fehden und Machtkämpfe von Aldaran, konnte einem Mann, der so edel wie Mikhail war, Böses wollen? Wer konnte eine Spionin in die Reihen der Kammerfrauen seiner Frau einschleusen, um dem Kind einer Barragana Schaden zuzufügen oder Laran-verstärkte Flüche gegen seine Männlichkeit zu schleudern?
»Bringt sie fort«, sagte Aldaran schließlich. Er hatte seine Stimme noch nicht völlig unter Kontrolle. »Hängt ihre Leiche an die Zinnen der Burg, damit die Kyorebni sie zerfetzen können. Sie hat die Bestattungsfeier einer treuen Dienerin nicht verdient.« Er wartete regungslos das Erscheinen der hochgewachsenen Wächter ab, die kamen, um Mayras toten Körper wegzutragen, auszukleiden und aufzuhängen, damit die großen Raubvögel ihn auseinanderrissen. Aliciane hörte in der Ferne das Krachen des immer näher kommenden Donners. Aldaran trat zu ihr, seine Stimme war weich vor Zärtlichkeit.
»Hab keine Furcht mehr, mein Schatz; sie ist dahingegangen, und mit ihr ihr böser Wille. Wir werden weiterleben und ihre Flüche verlachen, mein Liebling.« Er sank in einen neben ihr stehenden Sessel und nahm mit zärtlichem Griff ihre Hand. Durch die Berührung spürte Aliciane, daß er besorgt und erschreckt war. Aber sie war nicht stark genug, ihn wieder zu beruhigen. Sie fühlte sich wie vor einer erneuten Ohnmacht. In ihren Ohren hallten Mayras Flüche wie die zurückgeworfenen Echos in den Canyons rund um Rockraven, in die sie als Kind, aus Freude daran, die eigene Stimme tausendfach vermehrt aus allen Windrichtungen zurückkommen zu hören, hineingeschrien hatte.
Ihr werdet weder Sohn noch Tochter zeugen ... Eure Lenden werden leer sein wie ein vom Winter getöteter Baum ... Der Tag wird kommen, an dem Ihr darum betet, kinderlos gestorben zu sein ... Die widerhallenden Laute schwollen an und überwältigten sie. Aliciane lag tief in ihrem Sessel, nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren.
»Aliciane, Aliciane ...« Sie spürte seine starken Arme, wurde aufgehoben und zu Bett getragen. Er legte sie auf die Kissen nieder, setzte sich neben sie und streichelte sanft ihr Gesicht.
»Du darfst dich nicht vor einem Schatten erschrecken, Aliciane.«
Zitternd sagte sie das erste, was ihr in den Sinn kam: »Sie hat deine Männlichkeit mit einem Fluch belegt, mein Fürst.«
»Ich fühle mich nicht sehr gefährdet«, gab Mikhail mit einem Lächeln zurück.
»Aber ... ich habe es selbst bemerkt und mich gewundert ... du hast, seitdem ich so schwer bin, keine andere in dein Bett genommen, wie du es sonst zu tun pflegtest.«
Ein schwacher Schatten fuhr über sein Gesicht, und in diesem Moment waren sich ihre Gedanken so nahe, daß Aliciane ihre Worte bedauerte. Sie hätte nicht an seiner eigenen Angst rühren dürfen. Er erwiderte mit fester Stimme, Furcht mit Herzlichkeit verdrängend: »Was das angeht, Aliciane, so bin ich nicht mehr ein so junger Mann, daß ich nicht einige Monde enthaltsam leben könnte. Deonara bedauert es nicht, von mir frei zu sein, glaube ich; meine Umarmungen haben ihr mehr eine Pflicht bedeutet – und sterbende Kinder. Und heutzutage scheinen mir, du natürlich ausgenommen, die Frauen nicht mehr so schön zu sein, wie in den Zeiten meiner Jugend. Es war für mich keine Anstrengung, nicht um das zu bitten, was dir zu geben keine Freude gewesen wäre – aber wenn unser Kind geboren ist und du wieder wohlauf bist, wirst du sehen, ob die Worte dieser Närrin eine Auswirkung auf meine Männlichkeit hatten. Wenn du mir keinen Sohn mehr schenken wirst, Aliciane, werden wir zumindest noch viele freudvolle Stunden zusammen verbringen.«
Immer noch zitternd erwiderte sie: »Möge der Herr des Lichts es so einrichten.« Er beugte sich vor und küßte sie sanft, aber die Berührung seiner Lippen brachte sie nicht nur nahe zusammen, sondern trieb ihr auch Angst und plötzlichen Schmerz in die Glieder.
Abrupt richtete er sich auf und rief nach den Frauen. »Helft meiner Lady.«
Aliciane klammerte sich an seine Hände. »Mikhail, ich habe Angst«, wisperte sie und fing seinen Gedanken auf. Es ist tatsächlich kein gutes Omen, wenn sie, die Flüche dieser Hexe noch im Ohr, in die Wehen kommen sollte ... Ebenso spürte sie die starke Beherrschung, mit der er sich zügelte und seine Gedanken sofort wieder unter Kontrolle brachte. Er wollte vermeiden, daß ihre Furcht größer wurde. Auf keinen Fall durfte sie sich jetzt in etwas hineinsteigern. Mit sanftem Befehlston sagte er: »Du mußt versuchen, nur an unser Kind zu denken, Aliciane, und ihm Stärke zu verleihen. Denk nur an unser Kind – und an meine Liebe.«
Es ging auf Sonnenuntergang zu. Wolken ballten sich auf den Höhen jenseits von Burg Aldaran, mächtige Sturmwolken, die sich höher und höher türmten. Aber dort, wo Donal in die Höhe stieg, war der Himmel blau und unbewölkt. Sein schlanker Körper lag auf einem Gestell aus leichten Hölzern ausgestreckt, zwischen weiten Schwingen aus dünnstem Leder, das auf einen schmalen Rahmen gezogen war. Von Luftströmungen getragen stieg er empor, die Hände nach beiden Seiten ausgestreckt, um die starken Böen von links oder rechts auszubalancieren. Es war die Luft, die ihn nach oben trug, und das kleine Matrixjuwel, das am Kreuzstück befestigt war. Er hatte den Schwebegleiter selbst gebaut, mit nur wenig Hilfe von den Stallknechten. Viele Jungen des Haushalts bauten sich ein solches Spielzeug, sobald sie im Gebrauch der Sternensteine so geübt waren, daß sie ihre Schwebekünste ohne allzu große Gefahr praktizieren konnten. Aber die meisten der Burschen nahmen jetzt am Unterricht teil. Donal hatte sich zu den Höhen der Burg davongemacht und war allein emporgestiegen, obwohl er wußte, daß man ihm zur Strafe den Gebrauch des Gleiters vielleicht für Tage verbieten würde. Er konnte die Spannungen und die Angst überall in der Burg spüren.
Eine Verräterin war entdeckt worden, die gestorben war, bevor man Hand an sie hatte legen können. Ein Todeszauber hatte sie, nachdem sie Lord Aldarans Männlichkeit mit einem Fluch belegt hatte, niedergestreckt.
Wie ein Buschfeuer hatte sich der Klatsch auf Burg Aldaran ausgebreitet, entfacht von den wenigen Frauen, die tatsächlich in Alicianes Zimmer gewesen waren und alles verfolgt hatten. Sie hatten zuviel gesehen, um stumm zu bleiben, aber zu wenig, um in der Lage zu sein, einen wahren Bericht abzugeben.
Flüche waren gegen die kleine Barragana geschleudert worden, und Aliciane von Rockraven war in die Wehen gekommen. Die Verräterin hatte Lord Aldarans Männlichkeit mit einem Fluch belegt – und es traf zu, daß er, der vorher bei jedem Mondwechsel eine neue Frau zu sich holte, keine andere mehr in sein Bett nahm. Eine neue, heimliche Frage in den Klatschgesprächen ließ Donal frösteln. Hatte die Lady von Rockraven seine Männlichkeit so verzaubert, daß er keine andere mehr wollte, damit sie ihren Platz in seinem Arm und seinem Herzen behielt?
Einer der Männer, ein ungehobelter Kämpe, hatte ein tiefes, andeutungsvolles Lachen ausgestoßen und gesagt: »Die braucht keine Zaubersprüche. Wenn Lady Aliciane mir ein Auge zuwürfe, würde ich meine Männlichkeit mit Freuden verpfänden.« Aber der Waffenmeister hatte streng erwidert: »Sei still, Radan. Solche Reden ziemen sich nicht vor jungen Burschen. Achte gefälligst darauf, wer zwischen ihnen steht. Geh an deine Arbeit. Du bist nicht hier, um schmutzige Reden zu führen!« Als der Mann ging, sagte der Waffenmeister freundlich: »Solches Gerede ist ungebührlich, aber es ist nur scherzhaft gemeint, Donal. Er ist nur betrübt, weil er selbst keine Frau hat, und würde von jeder anständigen Frau so reden. Auf keinen Fall wollte er deine Mutter herabsetzen. Im Gegenteil – auf Aldaran wird es viel Freude geben, wenn Aliciane von Rockraven unserem Herrn einen Erben schenkt. Du darfst über das gedankenlose Gerede nicht zornig sein. Wenn du jedem bellenden Hund zuhörst, hast du keine Muße mehr, um Weisheit zu erlernen. Geh zum Unterricht, Donal, und verschwende keine Zeit damit, darüber nachzugrübeln, was unwissende Männer über Menschen reden, die ihnen überlegen sind.«
Donal war gegangen, aber nicht zum Unterricht, Er hatte seinen Gleiter auf die Zinnen getragen und war in die Luftströmungen aufgestiegen, auf denen er jetzt ritt und die sorgenvollen Gedanken, ganz im Rausch des Steigens gefangen, hinter sich ließ. Er fühlte sich wie ein Vogel, der nach Norden schoß und sich dann wieder nach Westen wendete, wo die große, blutrote Sonne dicht über den Gipfeln hing.
So muß sich ein schwebender Falke fühlen ... Unter seinen gefühlvollen Fingerspitzen neigte sich der Holz-und-Leder-Flügel leicht abwärts. Er sank in das Zentrum des Luftstroms und ließ sich von ihm abwärts tragen. Sein Gehirn versank in der Hyperbewußtheit des Juwels, sah den Himmel nicht als blaue Leere, sondern als großes Netzwerk aus Feldern und Strömen, die man zum Gleiten nutzen konnte. Er schwebte so lange abwärts, bis es ihm so vorkam, als würde er auf eine große Felsspitze zurasen und zerschmettern. In letzter Sekunde ließ er sich von einem Aufwind fortreißen, schwebte mit dem Wind ... Er trieb dahin, ohne Gedanken, aufsteigend, in Ekstase gehüllt.
Der grüne Mond Idriel stand tief am sich rötenden Himmel. Die Silbersichel Mormollars war der bleichste der Schatten, und der violette Liriel – der größte der Monde – begann gerade, langsam vom östlichen Horizont emporzuschweben. Ein leises Krachen aus den massiven Wolken, die hinter der Burg hingen, ließen Donals Befürchtungen erneut erwachen. Vielleicht würde man ihn in einer Zeit wie dieser wegen seiner Drückebergerei vor dem Unterricht nicht einmal züchtigen – aber wenn er bis nach Sonnenuntergang ausblieb, würde er bestimmt bestraft werden. Bei Sonnenuntergang kamen stets starke Winde auf, und vor etwa einem Jahr war ein Page aus dem Schloß abgestürzt, hatte seinen Gleiter zerschmettert und sich auf den Felsen den Ellbogen gebrochen. Er hatte Glück gehabt, daß er dabei nicht umgekommen war. Aufmerksam blickte Donal auf die Mauern der Burg und suchte nach einem Aufwind, der ihn in die Höhen tragen konnte. Fand er keinen, mußte er nach unten auf die Böschung zuschweben und den Gleiter, der zwar leicht, aber sehr sperrig war, den ganzen Weg hinauftragen. Durch die Wahrnehmungsfähigkeit der Matrix wurde seine eigene vervielfacht. Er spürte den leichtesten Lufthauch und erwischte schließlich einen Aufwind, der ihn – vorausgesetzt, er schwebte vorsichtig – über die Burg hinaustragen würde. Es wäre dann kein Problem mehr, auf eines der Dächer hinabzugleiten.
Von hier oben aus konnte er mit einem Frösteln den aufgedunsenen, nackten Frauenleib sehen, der an den Zinnen hing. Das Gesicht war schon von den herumfliegenden Kyorebni zerfetzt worden. Die Frau war bereits nicht mehr zu erkennen. Donal schauderte. Auf ihre Art war Mayra stets freundlich zu ihm gewesen. Hatte sie wirklich seine Mutter verflucht? Er erschauerte. Zum ersten Mal wurde er sich wirklich des Todes bewußt.
Menschen sterben. Sie sterben wirklich und werden von Raubvögeln in kleine Stücke zerhackt. Auch meine Mutter könnte bei dieser Geburt sterben ... In plötzlichem Entsetzen zuckte sein Körper zusammen, und er spürte, wie die zerbrechlichen Schwingen des Gleiters – von der Kontrolle seines Verstandes und Körpers befreit – flatterten und nach unten glitten, fielen ... Rasch meisterte er die Situation, brachte den Gleiter wieder unter Kontrolle und schwebte dahin, bis er wieder eine Strömung fand. Er konnte die schwache Spannung, die sich aufbauende Statik, jetzt deutlich in der Luft spüren.
Über ihm krachte der Donner; ein Blitzstrahl raste auf die Spitze von Burg Aldaran zu und hinterließ in Donals Nase den Geruch von Ozon und Verbranntem. Während des betäubenden Donners sah er das Flackern der Blitze in den geballten Wolken über der Burg und dachte, von plötzlicher Angst erfüllt: Ich muß nach unten, ich muß hier raus. Es ist nicht ungefährlich, in einem aufkommenden Sturm zu fliegen ... Wieder und wieder war ihm gesagt worden, sorgsam den Himmel nach Lichtblitzen in den Wolken abzusuchen, bevor er den Gleiter startete.
Ein plötzlicher, heftiger Abwind erfaßte ihn und schickte das zerbrechliche Gerät aus Holz und Leder senkrecht nach unten. Donal, jetzt wirklich verängstigt, klammerte sich fest an die Handgriffe, war aber vernünftig genug, nicht zu früh dagegen anzukämpfen. Es sah aus, als würde es ihn auf die Felsen schmettern, aber er zwang sich, steif auf den Stützbalken liegenzubleiben, während sein Verstand nach der Gegenströmung suchte. Genau im richtigen Moment spannte er den Körper, vertiefte sich in die Bewußtheit der Matrix, spürte, wie er schwebte und die Gegenströmung ihn wieder aufwärts trug.
Jetzt. Schnell und vorsichtig. Ich muß auf die Höhe der Burg hinauf, dann die erste Strömung erwischen, die nach unten zieht. Ich darf keine Zeit vergeuden ... Aber jetzt fühlte die Luft sich dick und schwer an, und Donal konnte sie nicht nach Strömungen absuchen. Mit wachsender Angst sandte er sein Bewußtsein in alle Richtungen, spürte aber nur die starken magnetischen Ladungen des zunehmenden Sturms.
Mit diesem Sturm stimmt etwas nicht! Er ist wie der von gestern. Es ist überhaupt kein richtiger Sturm, es ist etwas anderes. Mutter! O Mutter! Dem verängstigten Jungen, der sich an die Streben des Gleiters klammerte, schien es, als könne er Aliciane voller Entsetzen aufschreien hören: »O Donal, was wird aus meinem Jungen werden!« Er spürte, daß sein Körper entsetzt zusammenzuckte, fühlte, wie der Gleiter seiner Kontrolle entglitt, wie er fiel ... fiel ... Wäre er weniger leicht gewesen und hätte weniger breite Flügel gehabt, wäre er auf den Felsen zerschmettert worden, aber die Luftströme trugen ihn, auch wenn Donal sie nicht lesen konnte. Nach wenigen Augenblicken endete der Sturz, und er begann seitwärts abzudriften. Jetzt, da er das Laran – die Kraft zu schweben, die Körper und Verstand dem Matrixjuwel entnahmen – einsetzte, und sein geübtes Bewußtsein durch die magnetischen Stürme nach Strömungsspuren forschte, begann Donal, um sein Leben zu kämpfen. Er zwang die beinahe hörbare Stimme seiner Mutter mit einer solchen Kraft aus sich hinaus, daß sie vor Entsetzen und Schmerz aufschrie. Er zwang die Angst, die ihn seinen Körper bereits in Stücke gerissen auf den Felsspitzen sehen ließ, fort, tauchte ganz in das verstärkte Laran ein, ließ die Flügel aus Holz und Leder zu Erweiterungen seiner ausgestreckten Arme werden und spürte die an ihnen zerrenden, rüttelnden Strömungen, als träfen sie seine eigenen Hände und Beine.
Jetzt ... Bring ihn nach oben ... Nur so weit ... Versuche, ein paar Längen nach Westen zu gewinnen ... Er zwang sich, ganz schlaff zu werden, als ein weiterer Blitzschlag hinter ihm aus der Wolke zuckte. Keine Kontrolle ... Er nimmt gar keine Richtung ... Hat kein Bewußtsein ... Er dachte an die Regeln der freundlichen Leronis, der er seine geringen Kenntnisse verdankte: Ein geübter Geist kann jedwede Naturgewalt meistern ... Geradezu feierlich rief Donal sich dies ins Gedächtnis.
Ich brauche weder Wind noch Sturm, noch Blitz zu fürchten, der geübte Geist kann immer ... Aber da Donal erst zehn Jahre alt war, fragte er sich aufgebracht, ob Margali je während eines Gewitters einen Gleiter geflogen hatte.
Ein ohrenbetäubendes Krachen schaltete seinen Verstand einen Moment lang aus. Er spürte einen plötzlichen Regenguß auf seinem fröstelnden Körper und strengte sich an, das Zittern zu stoppen, das sich anschickte, seinem Verstand die Kontrolle über die flatternden Schwingen zu entwinden.
Jetzt. Stetig. Abwärts und abwärts, entlang der Strömung ... Auf den Erdboden zu, den Hang entlang ... Keine Zeit, einen anderen Aufwind zu nutzen. Hier unten werde ich vor den Blitzen sicher sein ...
Seine Füße berührten fast den Boden, als ein erneuter heftiger Aufwind die Schwingen erfaßte und ihn wieder nach oben trug, fort von der Sicherheit der Hänge. Schluchzend, im Kampf mit dem Apparat, bemühte Donal sich, ihn wieder nach unten zu zwingen, indem er sich über die Kante warf und senkrecht herabhängend die Streben über seinem Kopf ergriff, während die Schwingen seinen trudelnden Fall bremsten. Durch die Haut fühlte er einen Blitzschlag und sandte alle Kraft aus, ihn abzulenken und sonstwohin zu schleudern. Seine Hände klammerten sich krampfhaft an die Streben über seinem Kopf, als er den Blitz und den ohrenbetäubenden Donnerschlag hörte und mit verschwommenem Blick einen der großen, aufrecht stehenden Felsen auf dem Hang unter krachendem Aufbrüllen in Stücke splittern sah. Donals Füße berührten den Boden. Er stürzte schwer, überschlug sich mehrmals, spürte, wie die Streben des Gleiters in Stücke brachen und splitterten. Als er fiel, schoß ein Schmerz durch seine Schulter, aber er besaß noch genügend Kraft und Geistesgegenwart, den Körper schlaff werden zu lassen, wie man es ihm bei den Waffenübungen beigebracht hatte. Er mußte ohne den Widerstand der Muskeln, der die Knochen brechen lassen konnte, hinfallen. Schluchzend – mit Prellungen und Quetschungen –, aber lebend lag er wie betäubt auf dem felsigen Hang und spürte, wie die Ströme des Blitzes ziellos umherfuhren, während sich das Donnergrollen von Felsspitze zu Felsspitze fortpflanzte.
Als er wieder zu Atem gekommen war, rappelte er sich auf. Beide Flügelstreben des Gleiters waren zerbrochen, konnten aber noch repariert werden. Donal konnte von Glück reden, daß dies nicht auch mit seinen Armen geschehen war. Der Anblick des zersplitterten Felsens machte ihn benommen, sein Kopf dröhnte. Aber ihm wurde bewußt, daß er bei alldem noch das Glück hatte, am Leben zu sein. Er las das zerbrochene Spielzeug auf, ließ die zersplitterten Schwingen herabhängen und begann, sich langsam den Hang zu den Burgtoren hinaufzuschleppen.
»Sie haßt mich«, rief Aliciane entsetzt. »Sie will nicht geboren werden!«
Durch die Dunkelheit, die ihr Gehirn zu umgeben schien, fühlte sie, wie Mikhail ihre bebenden Hände ergriff und festhielt.
»Meine Liebste, das ist töricht«, sagte er leise und drückte die Frau, seine eigenen Ängste fest unter Kontrolle haltend, an sich. Auch er spürte die Fremdartigkeit der Blitze, die rund um die hohen Fenster flackerten und krachten, und Alicianes Entsetzen verstärkte seine eigene Angst. Jemand anders schien im Zimmer zu sein, außer der geängstigten Frau, außer der ruhigen Margali, die mit gesenktem Kopf dasaß, niemanden anschaute, ihr Gesicht vom Schimmer des Matrixsteins blau erleuchtet. Mikhail konnte die besänftigenden Wellen der Ruhe spüren, die Margali bei dem Versuch, sie alle damit zu umgeben, ausstrahlte. Er unternahm den Versuch, Körper und Geist dieser Ruhe hinzugeben, sich in ihr zu entspannen und begann mit den tiefen, rhythmischen Atemzügen, die man ihn gelehrt hatte. Schon bald spürte er, daß auch Aliciane ruhiger wurde.
Woher nur, woher das Entsetzen, der Kampf ...
Sie ist es, die Ungeborene ... Es ist ihre Angst, ihr Widerstreben ...
Geburt ist eine Schicksalsprüfung des Entsetzens; es muß jemanden geben, sie zu trösten, jemanden, der sie mit Liebe erwartet ... Aldaran hatte bei der Geburt all seiner Kinder assistiert; er hatte die gestaltlose Angst und Erregung des ungeformten Verstandes gespürt, die Kräfte hervorriefen, die dieser Verstand nicht begreifen konnte. Jetzt, während er in seinen Erinnerungen forschte (War eins von Clarizas Kindern so stark gewesen? Von Deonaras Babys war keines fähig gewesen, um sein Leben zu kämpfen. Arme kleine Schwächlinge ...), suchte er nach den ungezielten Gedanken des sich sträubenden Kindes, die durch die Wahrnehmung des Schmerzes und der Angst seiner Mutter hin- und hergerissen wurden. Er versuchte, besänftigende Gedanken von Liebe und Zärtlichkeit auszusenden; er formte die geistigen Worte nicht für das Kind – denn das Ungeborene besaß noch keine Kenntnis der Sprache –, sondern für sich und Aliciane, um ihrer beider Gefühle darauf zu konzentrieren, ihm das Gefühl von Wärme und Willkommenheit zu vermitteln.
Du darfst keine Angst haben, Kleine. Bald wird es vorüber sein ... Du wirst frei atmen, und wir werden dich in unseren Armen halten und lieben ... Du wirst seit langem erwartet und innig geliebt ... Er bemühte sich, Liebe und Zärtlichkeit auszustrahlen, und die furchteinflößenden Gedanken an jene Söhne und Töchter aus seinem Geist zu verbannen, die er verloren hatte. All seine Liebe hatte ihnen nicht in die Dunkelheit zu folgen vermocht, die das sich entwickelnde Laran auf ihren Geist geschleudert hatte. Er versuchte, die Erinnerungen an die schwachen und mitleiderregenden Anstrengungen von Deonaras Kindern, die nie lange genug gelebt hatten, um auch nur zu atmen, auszulöschen ... Habe ich sie genug geliebt? Hätten ihre Kinder stärker ums Leben gefachten, wenn ich Deonara mehr geliebt hätte?
»Zieht die Vorhänge zu«, sagte er einen Moment später, und eine der Kammerfrauen ging auf Zehenspitzen zum Fenster und schloß den dunkler werdenden Himmel aus. Aber der Donner grollte weiterhin, und das Aufflackern des Blitzes war selbst durch die zugezogenen Vorhänge zu sehen.
»Sieh nur, wie sie sich müht, die Kleine«, sagte die Amme. Margali stand ruhig auf, trat näher, legte behutsam die Hände um Alicianes Körper und versenkte ihr Bewußtsein in die Frau, um ihr Atmen und den Fortgang der Geburt zu steuern. Eine Frau mit Laran, die ein Kind gebar, konnte weder körperlich untersucht noch berührt werden, da die Gefahr bestand, das Ungeborene durch eine fahrlässige Berührung zu verletzen oder zu ängstigen. Das muß die Leronis tun, indem sie die Wahrnehmungsfähigkeit der Telepathie und ihre psychokinetischen Kräfte nutzte. Aliciane spürte die besänftigende Berührung. Ihr angstverzerrtes Gesicht entspannte sich, aber als Margali sich zurückzog, schrie sie vor Angst auf.
»O Donal, Donal – was wird aus meinem Jungen werden?«
Lady Deonara Ardais-Aldaran, eine schlanke alternde Frau, kam auf Zehenspitzen näher und nahm Alicianes schmale Hand in die ihre. Beruhigend sagte sie: »Hab um Donal keine Furcht, Aliciane. Avarra möge verhüten, daß es notwendig ist, aber ich schwöre dir, daß ich ihm von diesem Tag an eine solch liebevolle Pflegemutter sein werde, als sei er einer meiner eigenen Söhne.«
»Du bist freundlich zu mir gewesen, Deonara«, sagte Aliciane, »und ich habe versucht, dir Mikhail wegzunehmen.«
»Kind, Kind – das ist nicht die Zeit, daran zu denken. Wenn du Mikhail geben kannst, wozu ich nicht im Stande bin, dann bist du meine Schwester, und ich werde dich lieben, wie Cassilda Camilla liebte, das schwöre ich.« Deonara beugte sich vor und küßte die bleiche Wange Alicianes. »Sei ganz ruhig, Breda; denk nur an die Kleine, die in unsere Arme kommt. Auch sie werde ich lieben.«
Sanft umarmt vom Vater ihres Kindes und der Frau, die geschworen hatte, ihr Kind wie ein eigenes in Empfang zu nehmen, wußte Aliciane, daß man sie trösten wollte.
Und doch, als der Blitz auf den Höhen flackerte und der Donner um die Mauern der Burg grollte, fühlte sie sich von Angst durchdrungen. Ist es die Angst des Kindes oder meine? Ihr Geist schwamm in die Dunkelheit hinein, während die Leronis sie besänftigte und Mikhail, Liebe und Zärtlichkeit ausströmend, ihr beruhigende Gedanken zusandte. Ist es für mich, oder nur für das Kind?