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Bestsellerautorin Marion Zimmer Bradley ("Die Nebel von Avalon") hat mit dem opulenten Darkover-Zyklus eine einzigartige Romanreihe geschaffen: Die fesselnde Geschichte einer geheimnisvollen fremden Welt und ihrer Bewohner ist Kult! Nach Jahren im Dienst des terranischen Imperiums kehrt Jeff Kerwin auf den Planeten Darkover zurück. Er will nach seinen Wurzeln suchen und das Geheimnis seiner Herkunft entschlüsseln. Was er noch nicht ahnen kann: Er ist weit mehr als der Sohn eines terranischen Raumfahrers und einer Darkovanerin – er ist die Schlüsselfigur in einem seit langer Zeit tobenden Kampf zwischen denen, die um jeden Preis an den alten Werten festhalten wollen, und jenen, die Darkover in eine neue Ära führen...
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Seitenzahl: 593
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Marion Zimmer Bradley
Die blutige Sonne
Ein Darkover Roman
Ins Deutsche übertragen von Rosemarie Hundertmarck
Edel eBooks
Copyright dieser Ausgabe © 2014 by Edel eBooks, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg. Copyright © 1975 by Marion Zimmer Bradley Copyright First german Edition © 2000 by Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München. Ins Deutsche übertragen von Rosemarie Hundertmarck Trotz intensiver Recherche war es dem Verlag nicht möglich, den Rechteinhaber der Übersetzung zu identifizieren bzw. einen Kontakt herzustellen. Wie bitten den Übersetzer bzw. seinen Nachfolger, sich ggf. beim Verlag zu melden.
Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-95530-601-4
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Inhalt
Prolog: Darkover
Kapitel 1: Der Terraner
Kapitel 2: Die Matrix
Kapitel 3: Die Fremden
Kapitel 4: Die Suche
Kapitel 5: Die Technikerin
Kapitel 6: Wieder ins Exil
Kapitel 7: Heimkommen
Kapitel 8: Die Welt draußen
Kapitel 9: Die Herausforderung Arilinns
Kapitel 10: Die Methode Arilinns
Kapitel 11: Schatten auf der Sonne
Kapitel 12: Die Falle
Kapitel 13: Exil
Kapitel 14: Tür in die Vergangenheit
Kapitel 15: Durch die Barriere
Kapitel 16: Der zerbrochene Turm
Kapitel 17: Das Gewissen einer Bewahrerin
Um den Eid zu wahren
Der Fremde, der nach Hause zurückkehrt, schafft sich kein Zuhause, sondern macht das Zuhause fremd.
Leonie Hastur war tot.
Die alte Leronis, Zauberin der Comyn, Bewahrerin von Arilinn, Telepathin, im Besitz aller Macht, die die Matrix-Wissenschaften auf Darkover verleihen konnten, starb, wie sie gelebt hatte – allein, abgesondert hoch oben im Turm von Arilinn.
Nicht einmal Janine Leynier, ihre Priesterin-Novizin-Schülerin, kannte die Stunde, als der Tod leise in den Turm kam und sie in eine der anderen Welten entführte, in denen sie so frei umherzustreifen gelernt hatte wie in ihrem eigenen umschlossenen Garten.
Sie starb allein, und sie starb unbetrauert. Denn obwohl Leonie in allen Domänen Darkovers gefürchtet, verehrt und fast wie eine Göttin angebetet worden war, hatte man sie nicht geliebt.
Einmal war sie sehr geliebt worden. Es hatte eine Zeit gegeben, als Leonie Hastur eine junge Frau war, schön und keusch wie ein ferner Mond, und Dichter hatten zu ihrem Ruhm geschrieben und sie mit dem süßen Gesicht Liriels, dem großen violetten Mond, verglichen, oder mit einer Göttin, die herabgestiegen war, unter den Menschen zu leben. Sie war von denen, die unter ihrer Herrschaft im Arilinn-Turm lebten, hoch verehrt worden. Die ihr Leben bestimmenden Gelübde hätten es zu einer unvorstellbaren Blasphemie gemacht, daß ein Mann auch nur ihre Fingerspitzen berührte. Und trotzdem war Leonie einmal geliebt worden. Aber das war lange her.
Während die Jahre dahinzogen und sie immer einsamer machten, sie immer mehr von der Menschheit abschnitten, war sie weniger geliebt und mehr gefürchtet und gehaßt worden. Der alte Regent Lorill Hastur, ihr Zwillingsbruder (denn Leonie war in das königliche Haus der Hasturs von Hastur hineingeboren worden, und hätte sie nicht den Turm gewählt, wäre ihre Stellung höher als die jeder Königin im Lande gewesen), war lange tot. Ein Neffe, den sie nur einige wenige Male gesehen hatte, stand hinter dem Thron Stefan Hastur-Elhalyns und war die wirkliche Macht in den Domänen. Aber für ihn war Leonie ein Geflüster, eine alte Sage und ein Schatten.
Und jetzt war sie tot und lag, wie es der Brauch war, in einem nicht gekennzeichneten Grab innerhalb der Mauern von Arilinn, wohin kein menschliches Wesen, das nicht aus Comyn-Blut war, zu gelangen vermochte. Und es waren wenige am Leben, sie zu beweinen.
Einer der wenigen, die weinten, war Damon Ridenow. Er hatte vor Jahren in die Domäne von Alton eingeheiratet und war kurze Zeit Vormund Valdirs von Armida, des jungen Erben von Alton, gewesen.*
Als Valdir zum Mann herangewachsen war und eine Frau nahm, war Damon mit seinem ganzen Haushalt – und der war groß – nach dem Gut Mariposa-See, reizvoll im Vorland der Kilghardberge gelegen, übergesiedelt. Leonie war jung und Damon war ebenfalls jung und Mechaniker im Turm von Arilinn gewesen, da hatte er Leonie geliebt – keusch geliebt, ohne eine Berührung oder einen Kuß oder einen Gedanken daran, die Eide, die sie banden, zu brechen. Trotzdem hatte er sie mit einer Leidenschaft geliebt, die seinem ganzen späteren Leben Form und Farbe geben sollte. Als er von ihrem Tod hörte, ging er allein in sein Arbeitszimmer, und dort vergoß er die Tränen, die er nicht vor seiner Frau und deren Schwester – diese war einmal Leonies Stellvertreterin in Arilinn gewesen – oder sonst jemandem aus seinem Haushalt vergießen wollte. Sie mochten von seinem Leid wissen, denn unter Comyn-Telepathen konnten solche Dinge nicht gut verborgen werden, aber keiner sprach davon. Nicht einmal seine erwachsenen Söhne und Töchter fragten, warum ihr Vater sich absonderte und trauerte. Natürlich war Leonie für sie nur eine Legende mit einem Namen.
Während die Nachricht sich durch die Domänen verbreitete, wurden selbst in den entlegensten Ecken des Landes aufgeregt Spekulationen über die Frage angestellt, die von den Hellers bis zu den Ebenen von Arilinn brennendes Interesse erregte: Wer wird jetzt Bewahrerin von Arilinn werden?
Und bald darauf kam eines Tages Damons jüngste Tochter Cleindori zu ihm in die Abgeschiedenheit seines Arbeitszimmers.
Man hatte ihr den von Legende und Tradition überlieferten altmodischen Namen Dorilys gegeben. Aber die Haare des Kindes waren von einem so hellen Sonnengold und ihre großen Augen so blau gewesen, daß ihre Kinderfrauen sie immer in blaue Röckchen und blaue Bänder kleideten. Damons Frau Ellemir, ihre Pflegemutter, sagte, sie sehe aus wie eine blaue Glocke der Kireseth-Blumen, die sich mit ihren goldenen Pollen bedecken. Deshalb rief man sie, schon als sie zu laufen begann, mit dem Kosenamen Goldene Glocke, der volkstümlichen Bezeichnung für die Kireseth-Blume. Und als die Jahre vergingen, geriet es bei den meisten Leuten in Vergessenheit, daß Dorilys Aillard (denn ihre Mutter war eine Nedestro-Tochter jener mächtigen Domäne gewesen) jemals einen anderen Namen als Cleindori getragen hatte.
Sie war zu einem scheuen, ernsthaften jungen Mädchen herangewachsen, jetzt dreizehn Jahre alt, das Haar von einem sonnigen Kupfergold. Es war Trockenstädter-Blut im Ridenow-Clan, und zudem sei ihrer Mutter Vater, so wurde geflüstert, ein Trockenstadt-Räuber aus Shainsa gewesen; aber dieser alte Skandal war lange vergessen. Angesichts des fraulichen Körpers und ernsten Blicks seiner letztgeborenen Tochter kam Damon zum ersten Mal in seinem Leben der Gedanke, daß er alt wurde.
„Bist du heute den ganzen Weg von Armida hergeritten, mein Kind? Was hatte dein Pflegevater dazu zu sagen?“
Cleindori lächelte und küßte ihren Vater auf die Wange. „Er hat nichts gesagt, weil ich es ihm nicht erzählt habe“, gestand sie fröhlich. „Aber ich war nicht allein, denn mein Pflegebruder Kennard ist mit mir gekommen.“
Cleindori war mit neun Jahren, wie es der Brauch in den Domänen war, in Pflege gegeben worden, damit sie unter einer weniger zärtlichen Hand als der einer Mutter zur Frau heranwachse. Sie kam zu Valdir, Lord Alton, dessen Frau Lori nur Söhne hatte und sich nach einer Tochter sehnte. Man hatte darüber gesprochen, daß Cleindori, wenn sie alt genug dazu war, mit Lord Altons älterem Sohn Lewis-Arnard verheiratet werden könne. Doch Damon vermutete, daß Cleindori noch keinen Gedanken an eine Ehe verschwendete. Sie und Lewis und Valdirs jüngerer Sohn Kennard waren Schwester und Brüder. Damon begrüßte Kennard, einen stämmigen, breitschultrigen, grauäugigen Jungen, ein Jahr jünger als Cleindori, mit der unter Verwandten üblichen Umarmung und sagte: „Dann hat meine Tochter auf dem Weg also guten Schutz gehabt. Was führt euch her, Kinder? Wart ihr auf der Falkenjagd und habt euch verspätet? Und dann habt ihr euch wohl entschlossen, diesen Weg zu nehmen, weil ihr meint, für Ausreißer werde es hier Kuchen und Süßigkeiten, zu Hause aber zur Strafe nur Wasser und Brot geben?“ Aber er lachte dabei.
„Nein“, antwortete Kennard ernsthaft, „Cleindori sagte, sie müsse dich sprechen, und meine Mutter hat uns erlaubt zu reiten. Nur glaube ich nicht, daß ihr ganz klar war, wonach wir fragten und was sie antwortete, denn es ist immerzu Aufregung in Armida gewesen, seit die Nachricht eintraf.“
„Welche Nachricht?“ Damon beugte sich vor. Doch er wußte es bereits, und das Herz wurde ihm schwer. Cleindori rollte sich auf einem Kissen zu seinen Füßen zusammen und blickte zu ihm auf. „Lieber Vater, vor drei Tagen kam die Lady Janine von Arilinn nach Armida geritten. Sie war auf der Suche nach einer, die Amt und Würde der Lady von Arilinn, die tot ist, übernehmen könne, der Leronis Leonie.“
„Sie hat lange genug gebraucht, um nach Armida zu kommen.“ Damon verzog einen Mundwinkel. „Zweifellos hat sie ihre Tests vorher in allen anderen Domänen durchgeführt.“
Cleindori nickte. „Das glaube ich auch. Denn als sie erfuhr, wer ich sei, sah sie mich an, als rieche sie etwas Unangenehmes, und sie sagte: ,Du bist also von dem Verbotenen Turm. Bist du in irgendeiner ihrer Häresien unterrichtet worden?‘ Als Lady Lori ihr meinen Namen nannte, wurde sie nämlich zornig, und ich mußte ihr berichten, daß meine Mutter mir den Namen Dorilys gegeben habe. Dann sagte Janine: ,Nun, das Gesetz verpflichtet mich, dich auf Laran zu testen. Das kann ich dir nicht verweigern.“‘
Sie machte dabei Mimik und Stimme der Leronis nach. Damon bedeckte die untere Hälfte seines Gesichts mit der Hand, als denke er nach, doch in Wirklichkeit wollte er sein Grinsen verbergen. Cleindori hatte eine Begabung für Imitationen, und sie hatte den sauren Ton und mißbilligenden Blick der Leronis Janine genau wiedergegeben. Damon erklärte: „Ja, Janine war unter denen, die mich hätten blenden oder bei lebendigem Leibe verbrennen lassen, als ich mit Leonie um das Recht kämpfte, das Laran, das die Götter mir schenkten, nach eigener Wahl und nicht nach den Vorschriften Arilinns zu benutzen. Es wird nicht gerade ihre Liebe erwecken, Kind, daß du meine Tochter bist.“
Wieder lächelte Cleindori fröhlich. „Ich kann sehr gut ohne ihre Liebe leben. Ich kann mir auch sehr gut vorstellen, daß sie nie auch nur ein Kätzchen geliebt hat! Aber ich wollte dir erzählen, Vater, was sie zu mir sagte und was ich zu ihr sagte ... Es schien sie zu freuen, als ich berichtete, du habest mich bisher noch gar nichts gelehrt und daß ich schon mit neun nach Armida in Pflege gegeben worden sei. Dann gab sie mir eine Matrix und testete mich auf Laran. Und als sie das getan hatte, sagte sie, sie brauche mich für Arilinn, und gleich darauf runzelte sie die Stirn und meinte, von sich aus ausgewählt hätte sie mich nie. Aber es gebe nur wenige andere, die die Ausbildung durchstehen würden, und ihr Wunsch sei es, mich zur Bewahrerin heranzubilden.“
Der Schrei des Protests, der sich in Damons Kehle bildete, erstarb ungehört, denn Cleindori blickte mit leuchtenden Augen zu ihm auf. „Vater, ich antwortete ihr, wie es ja meine Pflicht war, ohne Einwilligung meines Vaters könne ich nicht in einen Turm eintreten. Und dann ritt ich hierher, um dich um diese Einwilligung zu bitten.“
„Und du wirst sie nicht bekommen“, erklärte Damon barsch, „solange ich noch nicht unter der Erde bin. Und danach auch nicht, wenn ich es verhindern kann.“
„Aber Vater – Bewahrerin von Arilinn zu sein! Nicht einmal die Königin ...“
Damon wurde die Kehle eng. Nun streckte Arilinn nach all diesen Jahren wieder die Hand nach einem Menschen aus, den er liebte! „Cleindori, nein.“ Er streichelte ihre hellen Locken. „Du siehst nur die Macht. Du weißt nicht, wie grausam die Ausbildung ist. Um Bewahrerin zu werden ...“
„Janine erzählte es mir. Die Ausbildung ist sehr lang und sehr hart und sehr schwer zu ertragen. Sie sagte auch etwas davon, was ich geloben und was ich aufgeben müsse. Aber dann sagte sie, sie glaube, ich sei dazu fähig.“
„Kind ...“ Damon schluckte schwer. „Menschliches Fleisch und Blut können das nicht aushalten!“
„Also, das ist Unsinn“, behauptete Cleindori, „denn du hast es ausgehalten, Vater. Und Callista auch, die früher einmal Leonies Stellvertreterin in Arilinn war.“
„Hast du eine Ahnung davon, was es Callista gekostet hat, Kind?“
„Du hast es mir selbst erklärt, noch bevor meine Kinderzeit zu Ende war“, antwortete Cleindori. „Und Callista hat mir ebenfalls erzählt, ehe ich zur Frau wurde, welch ein grausames und unnatürliches Leben es war. Ich war immer ganz aufgeregt über diese alte Geschichte, wie du und Callista gegen Leonie und ganz Arilinn in einem Duell gekämpft habt, das nächtelang dauerte ...“
„Ist die Geschichte so angewachsen?“ unterbrach Damon sie lachend. „Es war weniger als eine Viertelstunde, obwohl der Sturm in der Tat viele Tage lang zu wüten schien. Doch wir besiegten Arilinn und gewannen das Recht, Laran zu benutzen, wie wir wollten, und nicht, wie Arilinn es uns vorschrieb.“
„Aber ich habe längst gemerkt“, argumentierte Cleindori, „du, der in Arilinn geschult worden ist, und ebenso Callista mit ihrer Arilinn-Ausbildung, ihr seid erstklassig. Dagegen sind die anderen, die hier in der Anwendung von Laran ausgebildet wurden, recht unbeholfen. Und ich weiß auch, daß sich alle anderen Türme im Land nach den Regeln von Arilinn richten.“
„Diese Kräfte und Fähigkeiten ...“ Damon hielt inne. Er wude sich bewußt, daß er brüllte, nahm sich zusammen und sprach ruhiger weiter. „Cleindori, seit meiner Jugend vertrete ich die Meinung, daß die Regeln von Arilinn – und die aller anderen Türme, denen die Arilinn-Leute ihren Willen aufzwingen – grausam und unmenschlich sind. Das ist meine Überzeugung, und ich habe unter Einsatz meines Lebens dafür gekämpft, daß die Männer und Frauen in den Türmen nicht hinter Mauern eingekerkert einem lebenden Tod überantwortet werden. Fähigkeiten, wie wir sie haben, kann sich jeder Mann und jede Frau erwerben, ob Comyn oder aus dem Volk, wenn er oder sie das angeborene Talent besitzt. Es ist wie beim Lautenspiel. Man wird mit einem Ohr für Musik geboren und kann lernen, wie die Saiten zu zupfen sind. Aber selbst in diesem schwierigen Beruf wird von niemandem verlangt, Heimat und Familie, Leben und Liebe aufzugeben. Wir haben andere vieles gelehrt, und wir haben uns das Recht erkämpft, zu lehren, ohne dafür bestraft zu werden. Es wird ein Tag kommen, Cleindori, an dem jeder, der die alten Matrix-Wissenschaften unserer Welt benutzen kann, freien Zugang zu ihnen hat und die Türme nicht mehr benötigt werden.“
„Aber wir sind immer noch Ausgestoßene“, wandte Cleindori ein. „Vater, wenn du Janines Gesicht gesehen hättest, als sie von dir sprach und von dem Verbotenen Turm …“
Damons Gesicht spannte sich. „Ich liebe Janine nicht so sehr, daß mir ihre schlechte Meinung über mich auch nur eine schlaflose Nacht bereitet.“
„Aber Cleindori hat recht“, fiel Kennard ein. „Wir sind Renegaten. Hier auf dem Land richten sich die Leute nach deinen Ansichten, aber überall sonst in den Domänen sind sie der Meinung, daß nur die Türme Laran-Unterricht erteilen sollten. Auch ich werde in einen Turm gehen, vielleicht nach Neskaya oder nach Arilinn selbst, wenn ich meine drei Jahre Dienst bei der Garde hinter mir habe. Lady Janine sagt, wenn Cleindori nach Arilinn geht, muß ich warten, bis sie die Jahre der Absonderung hinter sich hat. Denn eine Bewahrerin darf während ihrer Ausbildung keinen Pflegebruder oder sonst jemanden, mit dem sie durch Zuneingung verbunden ist, in ihrer Nähe haben.“
„Cleindori geht nicht nach Arilinn“, erklärte Damon, „und damit Schluß!“ Er wiederholte, diesmal noch heftiger: „Menschliches Fleisch und Blut können die Regeln von Arilinn nicht aushalten!“
„Und ich sage noch einmal, daß das Unsinn ist“, widersprach Cleindori, „denn Callista hat es ausgehalten und die Lady Hilary von Syrtis und Margwenn von Thendara und Leominda von Neskaya und Janine von Arilinn und Leonie selbst und mehr als neunhundertundzwanzig Bewahrerinnen vor ihr, wie es heißt. Und was sie ausgehalten haben, kann ich auch aushalten, wenn ich muß.“
Sie stützte das Kinn auf die gefalteten Hände und sah ernsthaft zu ihrem Vater auf. „Du hast mir oft genug gesagt, schon als ich noch ein kleines Kind war, daß eine Bewahrerin nur ihrem eigenen Gewissen verantwortlich ist. Und daß überall unter den besten Frauen und Männern das Gewissen die einzige Richtschnur für ihr Tun ist. Vater, ich habe das Gefühl, daß ich zur Bewahrerin berufen bin.“
„Du kannst bei uns Bewahrerin werden, wenn du erwachsen bist“, brummte Damon, „und das ohne die Quälerei, die du dir in Arilinn gefallen lassen mußt.“
„Oh!“ Zornig sprang sie auf und lief im Zimmer auf und ab. „Du bist mein Vater, du willst in mir immer nur das kleine Mädchen sehen! Vater, meinst du, ich weiß nicht, daß unsere Welt ohne die Türme dunkel vor Barbarei wäre? Ich bin noch nicht weit herumgekommen, aber ich bin in Thendara gewesen, und ich habe dort die Raumschiffe der Terraner gesehen, und ich weiß, wir sind nur deshalb ihrem Imperium nicht einverleibt worden, weil die Türme unserer Welt geben, was wir brauchen, mit Hilfe unserer alten Matrix-Wissenschaften. Wenn in den Türmen das Licht ausgeht, fällt Darkover wie eine reife Pflaume den Terranern in die Hände, denn das Volk wird nach der Technik und dem Handel des Imperiums schreien!“
Damon erwiderte ruhig: „Das halte ich nicht für unvermeidlich. Ich hasse die Terraner nicht; mein engster Freund, dein Onkel Ann’dra wurde als Terraner geboren. Aber das ist das Ziel meiner Arbeit: Wenn das Licht im letzten Turm ausgeht, soll unter der Bevölkerung der Domänen genug Laran vorhanden sein, daß Darkover unabhängig ist und nicht bei den Terranern betteln gehen muß. Der Tag wird kommen, Cleindori. Ich sage dir, der Tag wird kommen, an dem jeder Turm in den Domänen leersteht und nur noch Raubvögel darin nisten ...“
„Verwandter!“ protestierte Kennard und machte schnell ein unheilverhütendes Zeichen. „Sag so etwas nicht!“
„Es ist nicht angenehm zu hören“, entgegnete Damon, „aber es ist wahr. Jedes Jahr sind es weniger von unsern Söhnen und Töchtern, die die Begabung und den Willen haben, die Schulung alter Art auf sich zu nehmen und sich den Türmen zu weihen. Leonie klagte mir einmal, sie habe mit sechs jungen Mädchen angefangen, und davon habe nur eine die Ausbildung beenden können; es war die Leronis Hilary, und sie wurde krank und wäre gestorben, wenn man sie nicht aus Arilinn fortgeschickt hätte. Drei der Türme – Janine würde dir das nie erzählen, Cleindori, aber ich, der ich in Arilinn war, weiß es genau – drei der Türme arbeiten mit einem Mechanikerkreis, weil sie keine Bewahrerin haben und eine Frau nach ihren törichten Gesetzen nur dann Bewahrerin werden kann, wenn sie bereit ist, aus sich ein abgesondertes Symbol der Jungfräulichkeit zu machen. Sie behaupten, ihre Kraft und ihr Laran seien nicht so wichtig, wenn sie nur eine jungfräuliche Göttin darstelle, isoliert und mit abergläubischer Ehrfurcht betrachtet. Ich schätze, daß es in den Domänen hundert oder mehr Frauen gibt, die die Arbeit einer Bewahrerin leisten könnten, aber sie sehen nicht ein, warum sie sich einer Ausbildung unterziehen sollen, die aus ihnen Maschinen zur Umwandlung von Energie macht. Ich kann es ihnen nicht verübeln. Die Türme werden untergehen. Sie müssen untergehen. Und wenn sie verschwunden sind und nur noch ihre Ruinen vom Stolz und Wahnsinn der Comyn künden, dann können Laran und die es verstärkenden Matrix-Steine so eingesetzt werden, wie es ihr ursprünglicher Sinn ist: Für die Wissenschaft, nicht für Zauberei! Für die geistige Gesundheit, nicht für den Wahnsinn! Dafür habe ich mein ganzes Leben gearbeitet, Cleindori.“
„Nicht, um die Türme zu stürzen, Onkel!“ Kennards Stimme klang entsetzt.
„Nein. Dafür nicht. Aber um da zu sein, wenn sie aufgegeben und verlassen sind, damit unsere Laran-Wissenschaften nicht mit den Türmen in Vergessenheit sinken.“
Cleindori stand neben ihm, die Hand leicht auf seine Schulter gelegt. Sie sagte: „Vater, dafür ehre ich dich. Aber deine Arbeit ist zu langsam, denn man nennt dich immer noch einen Gesetzlosen und Renegaten und Schlimmeres. Umso wichtiger ist es, daß junge Leute wie ich und meine Halbschwester Cassilde und Kennard ...“
Erschüttert fragte Damon: „Will Cassilde auch nach Arilinn gehen? Das wird Callista umbringen!“ Denn Cassilde war Callistas eigene Tochter, vier oder fünf Jahre älter als Cleindori.
„Sie ist alt genug, daß sie keine Erlaubnis braucht“, antwortete Cleindori. „Vater, auch wenn einmal der Tag kommt, an dem die Türme nicht mehr benötigt werden, dürfen sie doch in der Zwischenzeit nicht sterben. Und mein Gewissen sagt mir, daß ich Bewahrerin von Arilinn werden muß.“ Sie hob abwehrend die Hand. „Nein, Vater, hör mir zu. Ich weiß, du bist nicht ehrgeizig; du hast die Chance weggeworfen, Kommandant der Garde zu werden. Du hättest der mächtigste Mann in Thendara sein können, aber du verschmähtest es. So bin ich nicht. Wenn mein Laran so stark ist, wie mir die Lady von Arilinn versicherte, möchte ich es zu etwas Nützlichem einsetzen, zu mehr, als den Bauern zu helfen und die Dorfkinder zu unterrichten! Vater, ich möchte Bewahrerin von Arilinn werden!“
„Du möchtest dich selbst in das Gefängnis stecken, aus dem wir Callista um einen so hohen Preis befreit haben.“ Damons Stimme war voller Bitterkeit.
„Das war ihr Leben“, flammte Cleindori auf, „dies ist meins! Aber hör mich an, Vater.“ Wieder kniete sie neben ihm nieder. Der Zorn war aus ihrer Stimme verschwunden, und an seine Stelle war ein tiefer Ernst getreten. „Du hast mir gesagt, und ich habe es selbst gesehen, daß Arilinn die Gesetze macht, nach denen Laran in diesem Land benutzt werden darf. Ausgenommen seid nur ihr wenigen hier, die ihr euch Arilinn widersetzt.“
„In den Hellers oder in Aldaran mag es auch Leute geben, die es anders halten“, bemerkte Damon. „Ich weiß wenig davon.“
„Dann ...“ Cleindori sah zu ihm auf. Ihr rundes Gesicht war sehr ernst. „Stell dir vor, ich gehe nach Arilinn und werde dort nach Arilinns eigenen Gesetzen auf die orthodoxeste Art zur Bewahrerin ausgebildet. Aber wenn ich dann einmal Bewahrerin bin, kann ich diese Gesetze ändern, nicht wahr? Wenn die Bewahrerin von Arilinn die Vorschriften für alle Türme aufstellt, dann, Vater, kann ich sie ändern. Ich kann die Wahrheit verkünden, daß die Regeln von Arilinn grausam und unmenschlich sind – und weil ich Erfolg gehabt habe, kann man mir nicht entgegenhalten, hier spreche nur eine Versagerin oder eine Ausgestoßene gegen das, was sie selbst nicht haben erreichen können. Ich kann diese schrecklichen Gesetze ändern und mit den Regeln von Arilinn Schluß machen. Und wenn die Türme aufhören, Männer und Frauen einem lebenden Tod zu überantworten, dann werden ihnen die jungen Leute unserer Welt zuströmen, und die alten Matrix-Wissenschaften von Darkover werden wiedergeboren werden. Aber wenn es nicht eine Bewahrerin tut – dann werden diese Gesetze niemals geändert werden!“
Damon sah seine Tochter erschüttert an. Es war tatsächlich die einzige Möglichkeit, die grausamen Gesetze Arilinns zu ändern. Eine Bewahrerin von Arilinn mußte selbst ein Dekret erlassen, das für alle Türme bindend war. Er hatte sein Bestes getan, aber er war ein Renegat, ein Ausgestoßener. Von außerhalb der Mauern Arilinns konnte er nicht viel erreichen. Einiges war ihm gelungen – doch niemand wußte besser als er, wie geringfügig es war.
„Vater, es ist mein Schicksal.“ Cleindoris junge Stimme zitterte. „Alles, was Callista gelitten hat, alles, was du gelitten hast, hat vielleicht dem Zweck gedient, daß ich zurückkehre und jene anderen befreie. Jetzt, wo du bewiesen hast, daß sie befreit werden können.“
„Du hast recht“, gab Damon zu. Langsam sagte er: „Die Regeln von Arilinn werden nie umgestürzt werden, solange es nicht die Bewahrerin von Arilinn selbst tut. Aber – oh, Cleindori, nicht du!“ Voller Qual und Verzweiflung riß er seine Tochter an sich. „Nicht du, Liebling!“
Sanft befreite sie sich aus seiner Umarmung, und Damon hatte einen Augenblick lang den Eindruck, sie sei bereits groß, eindrucksvoll, hochmütig, von der fremdartigen Majestät einer Bewahrerin erfüllt, in die karminrote Robe von Arilinn gekleidet. Sie bat: „Vater, lieber Vater, du kannst mir das nicht verbieten; ich bin nur meinem eigenen Gewissen verantwortlich. Wie oft hast du zu uns allen gesagt – schon zu meinem Pflegevater Valdir, der nie müde wird, es mir zu wiederholen –, daß nur das Gewissen die Entscheidung treffen darf? Laß mich dies tun. Laß mich die Arbeit beenden, die du im Verbotenen Turm begonnen hast. Andernfalls wird alles, wenn du stirbst, mit dir sterben. Eine kleine Schar von Renegaten wird mit ihren Häresien unbeachtet verschwinden, und niemand wird ihnen nachweinen. Aber ich kann dein Werk nach Arilinn tragen und über alle Domänen verbreiten. Denn die Bewahrerin von Arilinn macht die Gesetze für alle Türme und alle Domänen. Vater, ich sage dir, es ist mein Schicksal. Ich muß nach Arilinn gehen.“
Damon senkte den Kopf. Er war immer noch nicht einverstanden, aber er war nicht fähig, gegen ihre junge und unschuldige Sicherheit anzukämpfen. Ihm war, als schlössen sich die Mauern von Arilinn bereits um sie. Und so schieden sie, um sich bis zur Stunde ihres Todes nicht wiederzusehen.
Es war so.
Du warst eine Raumwaise. Soviel du wußtest, mochtest du auf einem der großen Schiffe geboren worden sein, den Schiffen von Terra, den Sternenschiffen, die in Geschäften des Imperiums die weiten Flüge zwischen den Sternen machten. Du erfuhrst nie, wo du geboren wurdest oder wer deine Eltern gewesen waren. Das erste Heim, das du kanntest, war das Raumfahrer-Waisenhaus, beinahe in Sichtweite des Hafens von Thendara gelegen. Dort lerntest du die Einsamkeit kennen. Davor hatte es irgendwo seltsame Farben und Lichter und verschwommene Bilder von Leuten und Orten gegeben, die im Dunkel verschwanden, wenn du versuchtest, die Erinnerung an sie heraufzubeschwören. Manchmal ließ dich ein Alptraum im Bett hochfahren und vor Entsetzen schreien, bis du ganz wach wurdest und den sauberen, ruhigen Schlafsaal um dich erkanntest.
Die anderen Kinder waren das Treibgut der arroganten, ständig umherreisenden Rasse der Erde, und du warst eins von ihnen und trugst einen ihrer Namen. Aber draußen lag die dunkel-schöne Welt, die du in deinen Träumen gesehen hattest und manchmal noch sahst. Du wußtest irgendwie, daß du anders warst. Du gehörtest zu jener Welt draußen, zu jenem Himmel, jener Sonne, nicht zu der sauberen, weißen, sterilen Welt der Terranischen Handelsstadt.
Du hättest es gewußt, auch wenn sie es dir nicht gesagt hätten, aber sie sagten es dir oft genug. Oh, nicht in Worten, sondern auf hundert kleine, versteckte Arten. Und auf jeden Fall warst du anders als sie, und den Unterschied konntest du bis in die Knochen hinein spüren. Und dann waren da die Träume.
Aber die Träume verblaßten, erst zu Erinnerungen an Träume und dann zu Erinnerungen an die Erinnerungen. Du wußtest nur noch, daß du dich einmal an etwas anderes als das hier erinnert hattest.
Du lerntest, keine Fragen nach deinen Eltern zu stellen, aber du hattest deine Vermutungen. Und sobald du alt genug warst, um den Andruck in einem Raumschiff zu ertragen, das mit Interstellar-Antrieb von einem Planeten abhob, stach man deinen Arm voller Nadeln und trug dich wie ein Gepäckstück an Bord eines der großen Schiffe.
Er kommt nach Hause, hatten die anderen Jungen halb neidisch, halb ängstlich gesagt. Nur du hattest es besser gewußt; man schickte dich ins Exil. Und als du mit Übelkeit und Kopfschmerzen und dem Gefühl, jemand habe ein großes Stück aus deinem Leben herausgeschnitten, aufwachtest, setzte das Schiff zur Landung auf einer Welt namens Terra an, und ein ältliches Paar wartete auf den Enkel, den es nie gesehen hatte.
Sie sagten, du seist zwölf oder so. Sie nannten dich Jefferson Andrew Kerwin junior. So hatte man dich auch im Raumfahrer-Waisenhaus genannt, und du erhobst keinen Einspruch. Ihre Haut war brauner als deine, und ihre Augen – „Tieraugen“ hätten deine darkovanischen Kinderfrauen sie genannt – waren dunkel. Aber sie waren unter einer anderen Sonne aufgewachsen, und du wußtest bereits über die Eigenschaften des Lichts Bescheid. Hattest du doch die hellen Lichter innerhalb der Terranischen Zone gesehen und erinnertest dich daran, wie sie deinen Augen wehtaten. So warst du zu glauben bereit, diese seltsamen, dunklen alten Leute seien die Eltern deines Vaters. Sie zeigten dir das Bild eines Jefferson Andrew Kerwin, als er ungefähr in deinem Alter – dreizehn – gewesen war, ein paar Jahre, bevor er davonlief und Stauer auf einem der großen Schiffe wurde. Das war lange her. Sie gaben dir sein Zimmer zum Schlafen und schickten dich auf seine Schule. Sie waren freundlich zu dir, und nicht öfter als zweimal die Woche erinnerten sie dich mit einem Wort oder einem Blick daran, daß du nicht der Sohn warst, den sie verloren hatten, der Sohn, der sie um der Sterne willen im Stich ließ.
Und sie stellten auch nie Fragen über deine Mutter. Sie konnten es nicht. Sie wußten nichts und wollten nichts wissen und, was mehr war, es war ihnen gleichgültig. Du warst Jefferson Andrew Kerwin von der Erde, und mehr verlangten sie nicht.
Wenn es geschehen wäre, als du noch jünger warst, hätte es genug sein mögen. Du hungertest danach, irgendwohin zu gehören, und die sehnsüchtige Liebe dieser alten Leute, die dich brauchten, damit du ihr verlorener Sohn seist, hätte dich vielleicht für die Erde erobert.
Aber der Himmel der Erde war ein kaltes, brennendes Blau, und die Berge zeigten ein kaltes, unfreundliches Grün. Die hellflammende Sonne tat deinen Augen weh, sogar hinter dunklen Gläsern, und die Gläser ließen die Leute denken, du versuchtest, dich vor ihnen zu verstecken. Du beherrschtest die Sprache perfekt – dafür hatten sie natürlich im Waisenhaus gesorgt. Du konntest als Terraner durchgehen. Du vermißtest die Kälte und die Winde, die aus dem Paß hinter der Stadt herabfegten, und die fernen Umrisse der hohen, gesplitterten Bergzähne. Du vermißtest die staubige Vergangenheit des Himmels und das niedrige, tiefrote, glühende Auge der Sonne. Deine Großeltern mochten es nicht, daß du an Darkover dachtest oder über Darkover sprachst, und einmal, als du dein Taschengeld gespart und eine Bilderserie gekauft hattest – sie war auf den Randplaneten aufgenommen worden, und einer davon hatte eine Sonne wie die daheim auf Darkover – nahmen sie dir die Bilder weg. Du gehörtest hierher, auf die Erde. Jedenfalls sagten sie dir das.
Aber du wußtest es besser. Und sobald du alt genug warst, gingst du fort. Du wußtest, daß du ihnen von neuem das Herz brachst, und in einer Beziehung war es nicht recht, weil sie freundlich zu dir gewesen waren, so freundlich, wie sie es verstanden. Aber du gingst davon; du mußtest. Denn auch wenn sie es nicht wußten, du wußtest es, daß Jeff Kerwin junior nicht der Junge war, den sie liebten. Wahrscheinlich war auch der erste Jeff Kerwin, dein Vater, nicht dieser Junge gewesen, und das war der Grund, warum er davongegangen war. Sie liebten etwas, das sie sich selbst ausgedacht hatten und ihren Sohn nannten, und vielleicht, dachtest du, würden sie mit Erinnerungen und ohne einen wirklichen Jungen, der das Bild des vollkommenen Sohns störte, sogar glücklicher sein.
Für den Anfang war es ein Job im Raumdienst auf der Erde. Du arbeitetest schwer und hieltest den Mund, wenn der arrogante Terranan zu deiner Höhe emporstarrte oder versteckte Anspielungen auf den Akzent machte, den du nie ganz verloren hattest. Und dann kam der Tag, an dem du an Bord eins der großen Schiffe gingst, diesmal wach und freiwillig. Du hattest untergeordnete Posten im Zivildienst des Imperiums inne und reistest zu Sternen, die Namen auf der Appell-Liste deiner Träume waren. Und du sahst die verhaßte Sonne der Erde zu einem trüben Stern zusammenschrumpfen und in der Weite des großen Dunkels verlorengehen, und du warst unterwegs, um den ersten Schritt zur Verwirklichung deines Traums zu tun.
Es war nicht Darkover. Noch nicht. Aber eine Welt mit einer roten Sonne, die deinen Augen nicht wehtat. Du kamst deinen untergeordneten Pflichten auf einer Welt voll übler Gerüche und elektrischer Stürme nach, wo Albino-Frauen hinter hohen Mauern eingeschlossen waren und du nie ein Kind sahst. Und nach einem Jahr auf dieser Welt gab es eine gute Stellung auf einer Welt, wo die Männer Messer trugen und die Frauen Glöckchen in ihren Ohren hatten, die beim Gehen verlockend klingelten. Dort hatte es dir gefallen. Du hattest viele Schlägereien und viele Frauen. Hinter dem ruhigen Zivildienstangestellten verbarg sich ein Raufbold, und auf jener Welt brach er hin und wieder aus. Du hattest viel Spaß. Es war auf jener Welt, daß du anfingst, ein Messer zu tragen. Irgendwie schien dir das richtig zu sein; du kamst dir vollständiger vor, als du es anschnalltest, als seist du bis jetzt halb angezogen herumgelaufen. Du sprachst darüber mit dem Psychologen deiner Dienststelle und hörtest dir seinen Vortrag über versteckte Furcht vor sexueller Unzulänglichkeit, Kompensation mit Phallus-Symbolen und dem Zwang, Stärke zu demonstrieren, an. Du hörtest ihm ruhig und ohne Kommentar zu und ließt alles an dir abgleiten, weil du es besser wußtest. Er stellte eine bezeichnende Frage.
„Sie sind auf Cottman Vier aufgewachsen, nicht wahr, Kerwin?“
„In dem dortigen Raumfahrer-Waisenhaus.“
„Ist das nicht eine der Welten, wo erwachsene Männer ständig ein Schwert tragen? Zugegeben, ich bin kein vergleichender Anthropologe, aber wenn Sie Männer gesehen haben, die zu jeder Zeit ein Schwert trugen ...“
Du stimmtest zu, das sei es wahrscheinlich, und sagtest nichts mehr. Aber das Messer trugst du weiter, zumindest wenn du dienstfrei warst, und ein- oder zweimal hattest du Gelegenheit, es zu benutzen, und du bewiesest in aller Stille und zu deiner eigenen Befriedigung, daß du in einem Kampf deinen Mann stehen konntest, wenn es sein mußte.
Es war eine schöne Zeit dort. Du hättest bleiben und glücklich sein können. Aber ein Zwang, eine Unruhe trieb dich weiter, und als der Legat starb und der neue seine eigenen Leute mitbringen wollte, warst du bereit zu gehen.
Inzwischen waren die Lehrjahre vorbei. Bisher warst du dahin gegangen, wohin man dich schickte. Jetzt konntest du innerhalb bestimmter Grenzen sagen, wohin du gehen wolltest. Und du zögertest keinen Augenblick.
„Darkover.“ Und korrigiertest dich: „Cottman Vier.“
Der Mann im Personalbüro starrte dich lange an. „Gott im Himmel, warum kann sich irgendwer wünschen, dorthin zu gehen?“
„Ist nichts frei?“ Jetzt hattest du dich schon halb und halb damit abgefunden, daß du den Traum sterben lassen mußtest.
„Oh, Teufel, doch! Wir bekommen nie Freiwillige für dort. Wissen Sie, wie es da ist? Kalt wie die Sünde, unter anderem, und barbarisch – große Teile der Welt sind für Erdenmenschen gesperrt, und außerhalb der Handelsstadt können Sie keinen Schritt ohne Gefahr tun. Ich bin selbst nie dort gewesen, aber wie ich höre, herrscht da immer Aufruhr. Davon abgesehen gibt es so gut wie keinen Verkehr mit den Darkovanern.“
„Nicht? Der Raumhafen von Thendara ist einer der größten des Raumdienstes, habe ich gehört.“
„Das stimmt.“ Der Mann erklärte düster: „Cottmann Vier liegt zwischen dem oberen und dem unteren Spiralarm der Galaxis. Deshalb müssen wir soviel Leute dort stationieren, daß ein größerer Transithafen bemannt werden kann. Thendara ist einer der wichtigsten Knotenpunkte für den Passagier- und Frachtverkehr. Aber es ist die Hölle; Sie bleiben vielleicht, wenn Sie die Welt längst satt haben, noch jahrelang dort kleben, bis man einen Ersatzmann für Sie gefunden hat. Sehen Sie mal“, setzte er überredend hinzu, „Sie sind ein viel zu tüchtiger Mann, als daß Sie sich da draußen wegwerfen dürften. Rigel 9 schreit nach guten Leuten, und dort könnten Sie wirklich vorankommen – sich vielleicht zum Konsul oder sogar zum Legaten hocharbeiten, wenn Sie gern in den diplomatischen Dienst überwechseln möchten. Warum wollen Sie sich auf einem halb gefrorenen Felsklumpen am Rand des Nirgendwo verschwenden?“
Du hättest dich auf deine Erfahrungen verlassen sollen, aber in diesem Augenblick glaubtest du, er wolle es wirklich wissen; deshalb sagtest du es ihm.
„Ich bin auf Darkover geboren.“
„Oh. Einer von denen. Ich verstehe.“ Du sahst, wie sich sein Gesicht veränderte, und du hättest das Grinsen von diesem rosa Gesicht gern weggefegt. Aber du tatest es nicht. Du standest nur da und sahst, wie er deinen Versetzungsantrag stempelte, und du sagtest dir, wenn du jemals die Absicht gehabt hättest, in die Diplomatie überzuwechseln, oder die Hoffnung, dich zum Legaten hochzuarbeiten, dann hätte das, was er auf deine Karte stempelte, gerade Absicht und Hoffnung getötet. Aber das interessierte dich nicht. Und dann war da wieder ein großes Schiff, und wachsende Aufregung ergriff dich, so daß du ständig in der Beobachtungskuppel herumspuktest und nach einer roten Kohle im Himmel Ausschau hieltest, die endlich zu der Glut in deinen Träumen anwuchs. Und dann, nach einer endlos scheinenden Zeit, fiel das Schiff träge auf einen großen roten Planeten zu, der ein Halsband aus vier winzigen Monden trug, Edelsteine im Gehänge eines karmesinroten Himmels.
Und du warst wieder zu Hause.
Die Southern Crown landete genau mittags auf der Tagseite. Jeff Kerwin schwang sich geschickt von den engen Stahlsprossen der Luftschleusenleiter auf den Boden und holte tief Atem. Er hatte gemeint, schon die Luft müsse etwas enthalten, das schön und anders und vertraut und seltsam war.
Doch es war bloß Luft. Sie roch gut, aber nach Wochen in der Konservenluft eines Raumschiffes würde jede Luft gut riechen. Er sog sie noch einmal ein und suchte in den ihm entschlüpfenden Erinnerungen nach einem Hinweis auf die Zusammensetzung. Sie war kalt und schneidend und enthielt Spuren von Pollen und Staub und vor allem den unpersönlichen Chemikaliengestank jedes Raumhafens. Heißer Teer. Zementstaub. Der stechende Ozon flüssigen Sauerstoffs, der aus undichten Ventilen dampfte.
Ich könnte ebensogut wieder auf der Erde sein! Ein Raumhafen wie jeder andere!
Na und? Er befahl sich barsch, zurück auf den Boden der Wirklichkeit zu kommen. Du hast in deinen Gedanken aus deiner Rückkehr nach Darkover eine so große Sache gemacht, daß du immer noch enttäuscht wärst, käme die ganze Stadt mit Paraden und Fanfaren zu deinem Empfang!
Er trat zurück und wich einer Gruppe von Raumpolizisten aus, alle groß, in schwarzes Leder und Stiefel gekleidet, mit Blastern, die ihre Gefährlichkeit hinter eleganten Holstern verbargen. Sterne flammten auf den Ärmeln. Die Sonne war erst ein kleines Stück von ihrem höchsten Stand herabgesunken. Riesig, rot-orange leuchtete sie durch zerfetzte, feurige Wölkchen, die hoch am dünnen Himmel hingen. Die sägezahnförmigen Berge hinter dem Raumhafen warfen ihren Schatten über die Handelsstadt, aber die Gipfel badeten sich in dem gedämpften Licht. Die Erinnerung suchte nach Landmarken entlang der Bergkette. Die Augen auf den Horizont gerichtet, stolperte Kerwin über einen Frachtballen, und eine Stimme fragte gutmütig: „Suchst du die Sterne, Rotkopf?“
Mit einem beinahe körperlichen Ruck brachte sich Kerwin zurück auf den Raumhafen. „Ich habe für eine Weile genug Sterne gesehen“, antwortete er. „Ich dachte gerade, daß die Luft gut riecht.“
Der Mann neben ihm grinste. „Das ist wenigstens ein Trost. Ich war einmal auf eine Welt abkommandiert, wo die Luft mit Schwefel gesättigt war. Großartig für die Gesundheit, behaupteten die Mediziner, aber ich hatte immer das Gefühl, es hätte mich jemand mit einer ganzen Kiste fauler Eier beworfen.“
Er trat zu Kerwin auf den betonierten Streifen. „Wie ist das – wieder zu Hause zu sein?“
„Das weiß ich noch nicht.“ Kerwin sah den anderen mit so etwas wie Zuneigung an. Johnny Ellers war klein und untersetzt und wurde oben kahl, ein zäher kleiner Mann im schwarzen Leder des professionellen Raumfahrers. Zwei Dutzend Sterne flammten farbenprächtig auf seinem Ärmel – ein Stern für jede Welt, wo er Dienst getan hatte. Kerwin, erst ein Zwei-Sterne-Mann, hatte Ellers als eine Quelle der Information über beinahe jeden Planeten und jedes Thema unter der Sonne – unter jeder Sonne – kennengelernt.
„Wir sollten uns besser auf den Weg machen“, meinte Ellers. Die Wartungsmannschaft schwärmte bereits über das Schiff und bereitete es für den in wenigen Stunden vorgesehenen neuen Start vor. Günstige Umlaufbahnen warteten nicht auf den Menschen. Der Raumhafen war vollgestopft mit Lastern, Arbeitern, brummenden Maschinen, Treibstoff-Tankwagen, und in fünfzig Sprachen und Dialekten wurden Anweisungen gebrüllt. Kerwin hielt Umschau und fand sich allmählich wieder zurecht. Jenseits der Raumhafentore lagen die Handelsstadt, die Gebäude des terranischen Hauptquartiers – und Darkover. Am liebsten wäre er gerannt, aber er nahm sich zusammen und stellte sich mit Ellers in der sich bildenden Schlange an, um Identität und Zweck des Besuchs feststellen zu lassen. Er gab seine Fingerabdrücke ab, unterschrieb eine Karte, die bestätigte, er sei der, der zu sein er angebe, erhielt einen Personalausweis und ging weiter.
„Wohin?“ fragte Ellers, der sich ihm wieder angeschlossen hatte.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Kerwin langsam. „Ich sollte mich wohl beim HQ zum Dienst melden.“ Über diesen Augenblick hinaus hatte er keine festen Pläne, und er war sich nicht sicher, ob es ihm recht war, daß Ellers bei ihm blieb und die Führung übernahm. So gern er Ellers mochte, er hätte es vorgezogen, seine Bekanntschaft mit Darkover allein zu erneuern.
Ellers lachte. „Teufel, du wirst dich doch nicht auf der Stelle zum Dienst melden wollen! Du bist doch kein Greenhorn mehr, das mit großen Augen seinen ersten fremden Planeten betrachtet! Morgen ist es noch früh genug für den Amtsschimmel. Heute abend ...“ Mit einer schwungvollen Geste wies er auf die Raumhafentore. „Wein, Weib und Gesang – nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge.“
Kerwin zögerte, und Ellers drängte: „Komm schon! Ich kenne die Handelsstadt wie meinen Handrücken. Du mußt dich ausstatten – und ich kenne alle Läden. Wenn du in den Touristenfallen einkaufst, hast du im Nu sechs Monatsgehälter ausgegeben!“
Das stimmte. Die großen Schiffe mußten immer noch zu sehr auf das Gewicht achten, als daß sie die Mitnahme von Kleidung und persönlichem Besitz hätten gestatten können. Es kam billiger, bei einer Versetzung alles loszuschlagen und sich nach der Landung neu einzudecken, als die Frachtgebühren zu bezahlen. Jeder Raumhafen im Terranischen Imperium war von einem Ring aus Läden umgeben, guten, schlechten und mittelmäßigen, von Luxus-Modezentren bis hinunter zu Altkleiderhändlern.
„Und außerdem weiß ich, wo etwas los ist. Du hast nicht gelebt, bis du den darkovanischen Firi probiert hast. Weißt du, hinten in den Bergen erzählen sie ein paar komische Geschichten über den Stoff, besonders über seine Wirkung auf Frauen. Ich erinnere mich, daß ich einmal ...“
Kerwin ließ Ellers vorangehen und hörte mit halbem Ohr auf die Geschichte des kleinen Mannes, die bereits eine ihm wohlbekannte Wendung zu nehmen begann. Wenn man Ellers reden hörte, hatte er so viele Frauen auf so vielen Welten gehabt, daß Kerwin sich manchmal leise wunderte, wie er dazwischen die Zeit gefunden hatte, in den Raum zu gelangen. Die Heldinnen seiner Geschichten füllten die ganze Skala von einer sirianischen Vogelfrau mit großen blauen Schwingen und einem Daunenmantel bis zu einer Prinzessin von Arkturus IV im Kreis ihrer Mädchen, die mit Streifen lebenden Pseudofleisches bis zum Tag ihres Todes an sie gefesselt waren.
Die Raumhafentore öffneten sich auf einen großen Platz, in dessen Mitte sich ein Denkmal auf einem hohen Sockel und ein kleiner Park mit Bäumen befanden. Kerwin sah sich die Bäume an, deren violette Blätter im Wind zitterten, und schluckte.
Früher hatte er die Handelsstadt recht gut gekannt. Sie war seitdem gewachsen – und zusammengeschrumpft. Der hochragende Wolkenkratzer des Terranischen Hauptquartiers, damals ehrfurchterregend, war jetzt nur noch ein hohes Gebäude. Der Ring der Läden um den Platz war breiter geworden. Kerwin erinnerte sich nicht, als Kind das massige Sky-Harbor-Hotel mit seiner Neonfassade gesehen zu haben. Er seufzte und versuchte, die Erinnerungen auszusortieren.
Sie überquerten den Platz und bogen in eine Straße ein. Sie war mit behauenen Steinblöcken von so gewaltiger Größe gepflastert, daß Kerwin sich mit aller Phantasie nicht vorstellen konnte, wer oder was diese gewaltigen Platten gelegt hatte. Die Straße lag still und leer da. Kerwin nahm an, der Großteil der terranischen Bevölkerung sei gegangen, sich die Landung des Sternenschiffs anzusehen, und zu dieser Stunde würden nur wenige Darkovaner auf der Straße sein. Die richtige Stadt war immer noch außer Sicht, außer Hörweite – außer Reichweite. Wieder seufzte er und folgte Ellers zu der Reihe der Raumhafenläden.
„Hier können wir eine anständige Ausstattung bekommen.“
Es war ein darkovanischer Laden, was bedeutete, daß er bis auf die Hälfte der Straße überquoll. Es gab keine klare Grenze zwischen draußen und drinnen, zwischen der zum Verkauf stehenden Ware und dem Eigentum des Besitzers. Aber man hatte den Bräuchen der fremden Terraner das Zugeständnis gemacht, daß einige der Artikel auf Ständern und Tischen zur Schau gestellt waren. Als Kerwin unter dem äußeren Bogen hindurchging, weiteten sich seine Nasenlöcher. Er hatte einen bekannten Duft wahrgenommen, einen Hauch wohlriechenden Rauchs. Das war der Weihrauch, der jedes darkovanische Heim von der Hütte bis zum Palast parfümierte. Er war im Waisenhaus der Handelsstadt nicht benutzt worden, nicht offiziell, aber die meisten Pflegerinnen und Hausmütter waren Darkovanerinnen, und der Geruch saß in ihren Haaren und ihrer Kleidung fest. Ellers krauste die Nase und machte „Puh!“, aber Kerwin lächelte. Es war das erste, was er in einer ihm fremd gewordenen Welt wiedererkannt hatte.
Der Ladenbesitzer, ein kleiner, verschrumpelter Mann in einem gelben Hemd und Breeches, wandte sich ihnen zu und murmelte gedankenlos: „S’dia Shaya.“ Es bedeutete: Ihr erweist mir Gnade, und ohne darüber nachzudenken, antwortete Kerwin mit einer ebenso bedeutungslosen höflichen Formel. Ellers machte große Augen.
„Ich wußte nicht, daß du die Sprache beherrschst!“
„Ich spreche nur den Stadtdialekt.“ Der kleine Mann drehte sich zu einem Ständer mit farbenfreudigen Mänteln, Wämsen, seidenen Westen und Jacken um, und Kerwin, entgeistert über sich selbst, verlangte kurz auf Terra-Standard: „Nichts dergleichen. Kleidung für Terranan, Bursche.“
Er konzentrierte sich darauf, Kleidung auszusuchen, daß er ein paarmal zum Wechseln hatte – Unterwäsche, Nachtzeug, nur soviel, daß er ein paar Tage damit auskam, bis er festgestellt hatte, was für seine Arbeit und das Klima am geeignetsten war. Da waren furchtbar schwere Parkas, bestimmt für Touren in den Kletter-Reservaten von Rigel und Capella Neun, gefüttert mit synthetischen Fasern, die die Bewahrung der Körperwärme bei minus dreißig Grad und noch darunter garantierten. Achselzuckend lehnte Kerwin sie ab, obwohl der zitternde Ellers bereits einen gekauft hatte und ihn anzog. So kalt war es nicht einmal in den Hellers, und hier in Thendara schien ihm das Wetter für Hemdsärmel geeignet zu sein. Mit gedämpfter Stimme warnte er Ellers davor, Rasierzeug zu kaufen.
„Teufel, Kerwin, willst du dir einen Bart wachsen lassen und dich unter die Eingeborenen mischen?“
„Nein, aber du bekommst etwas Besseres an den Buden innerhalb des HQ. Darkover ist arm an Metallen, und was sie haben, ist nicht so gut wie unseres und kostet eine Menge mehr.“
Während der Ladenbesitzer ihre Einkäufe verpackte, schlenderte Ellers zu einem Tisch nahe dem Eingang.
„Was ist denn das, Kerwin? Ich habe noch nie jemanden auf Darkover gesehen, der so etwas anhatte. Ist es ein darkovanisches Eingeborenen-Kostüm?“
Kerwin zuckte zusammen. Darkovanisches Eingeborenen-Kostüm war ebenso wie die darkovanische Sprache ein Konzept, das es nur in den Vereinfachungen der Außenseiter aus dem Imperium gab. Er selbst wußte von neun darkovanischen Sprachen – allerdings konnte er nur eine gut sprechen und kannte ein paar Ausdrücke aus zwei anderen –, und in der Kleidung gab es auf Darkover gewaltige Unterschiede, von den Seiden und feingesponnenen Tuchen der Tieflande bis zu dem groben Leder und den ungefärbten Fellen der fernen Berge. Er trat zu seinem Freund an den Tisch, auf dem ein Durcheinander von Kleidungsstücken lag, alle mehr oder weniger abgetragen, hauptsächlich die üblichen einfachen Hosen und Hemden der Stadt. Doch Kerwin sah sofort, was Ellers Augen auf sich gelenkt hatte. Es war ein sehr schönes Stück, grüne und dunkelgelbe Töne gingen ineinander über, und es war in Mustern, die ihm bekannt vorkamen, reich bestickt. Er hielt das Kleidungsstück hoch und sah, daß es ein langer Kapuzenmantel war.
„Das ist ein Reitmantel“, erklärte er. „Man trägt sie in den Kilghardbergen, und der Stickerei nach hat er wahrscheinlich einem Edelmann gehört. Das könnten seine Hausfarben sein, obwohl ich nicht weiß, was sie bedeuten oder wie das Ding hierhergekommen ist. Die Mäntel halten warm und sind besonders beim Reiten bequem. Aber schon, als ich noch ein Kind war, kamen Mäntel dieser Art hier unten in der Stadt aus der Mode; solches Zeug ...“ – er wies auf den importierten Synthetik-Parka, den Ellers trug – „... war billiger und ebenso warm. Diese Mäntel sind handgefertigt, handgefärbt, handbestickt.“ Er nahm Ellers den Mantel ab. Es war kein gewebtes Tuch, sondern weiches, geschmeidiges Leder, fein wie Wolle, dehnbar wie Seide und mit metallischen Fäden reich bestickt. Eine ganze Farbenpracht quoll ihm über den Arm.
„Sieht aus, als wäre er für einen Fürsten gemacht worden“, bemerkte Ellers leise. „Sieh dir diesen Pelz an! Von welchem Tier stammt denn der?“
Der Ladenbesitzer roch Kunden und stürzte sich in eine wortreiche Anpreisung der Kostbarkeit des Pelzes, aber Kerwin lachte und schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab.
„Rabbithorn“, sagte er. „Das sind Tiere, die wie Schafe gehalten werden. Wenn es Pelz von einem wilden Marl wäre, dann wäre das bestimmt ein Mantel für einen Fürsten. Doch ich vermute, er war Eigentum irgendeines armen Kavaliers, der zum Haushalt eines Adligen gehört – und er muß eine begabte und fleißige Frau oder Tochter haben, die ein Jahr daran gesessen hat, den Mantel für ihn zu besticken.“
„Aber die Stickereien, edle Herren, die Muster, geeignet für Comyn, die Schönheit des gefärbten Leders ...“
„Eins ist er, nämlich warm“, stellte Kerwin fest und legte sich den Mantel über die Schultern. Er fühlte sich sehr weich und angenehm an. Ellers trat zurück und betrachtete ihn verblüfft.
„Guter Gott, bist du bereits zum Eingeborenen geworden? Du wirst in dem Ding doch nicht in der Terranischen Zone herumlaufen, wie?“
Kerwin lachte herzlich. „Ich glaube nicht. Aber ich könnte es abends in meinem Zimmer tragen. Wenn die Junggesellenquartiere im HQ denen auf meinem letzten Planeten gleichen, wird dort mit der Heizung verdammt geknausert, falls man nicht die doppelte Gebühr für Energieverbrauch zahlt. Und es wird hier im Winter auch ziemlich kalt. Natürlich ist es jetzt noch schön warm ...“
Ellers erschauerte und stellte düster fest: „Wenn das warm ist, hoffe ich, am anderen Ende der Galaxis zu sein, sobald es kalt wird! Mann, deine Knochen müssen aus einem mir unbekannten Stoff gemacht sein. Es friert! Na ja, des einen Planet ist des anderen Hölle“, zitierte er ein Sprichwort des Raumdienstes. „Aber, Mann, du wirst doch nicht ein Monatsgehalt für das verdammte Ding ausgeben wollen?“
„Nicht, wenn es sich vermeiden läßt“, antwortete Kerwin aus einem Mundwinkel. „Doch wenn du deinen Mund nicht hältst und mich mit ihm handeln läßt, muß ich es vielleicht!“
Am Ende bezahlte er mehr, als er erwartet hatte, und als er nachrechnete, nannte er sich einen Trottel. Aber er wollte das Ding haben, aus keinem Grund, den er hätte erklären können. Es war das erste, was ihm seit seiner Rückkehr nach Darkover gefallen hatte. Er wollte es, und schließlich bekam er es zu einem Preis, den er sich gerade noch leisten konnte. Gegen Ende des Handels hatte er den Eindruck, aus irgendeinem Grund bereite es dem Ladenbesitzer Unbehagen, mit ihm zu feilschen, und so trennte er sich eher von dem Stück, als Kerwin erwartet hatte. Er wußte, wenn auch Ellers es nicht tat, daß er den Mantel für etwas weniger als seinen tatsächlichen Wert erhalten hatte. Für beträchtlich weniger, um die Wahrheit zu sagen.
„Mit dem Geld hättest du dich ein halbes Jahr nach Herzenslust betrinken können“, stellte Ellers traurig fest, als sie wieder auf die Straße hinaustraten.
Kerwin lachte vor sich hin. „Nicht weinen! Pelz ist auf einem Planeten wie diesem kein Luxus, sondern eine gute Kapitalanlage. Und für die erste Runde habe ich noch genug Geld in der Tasche. Wo können wir sie bekommen?“
Sie bekamen sie in einem Weinlokal am äußeren Rand des Sektors. Es war frei von Touristen, obwohl sich ein paar Arbeiter vom Raumhafen unter die Darkovaner gemischt hatten, die sich an der Bar drängten oder es sich auf langen Sofas entlang den Wänden bequem gemacht hatten. Alle konzentrierten sich völlig auf die ernsthaften Geschäfte des Trinkens, Unterhaltens und Spielens mit Gegenständen, die wie Dominosteine oder kleine Kristallprismen aussahen.
Ein paar Darkovaner blickten flüchtig auf, als die beiden Erdenmänner sich einen Weg durch die Menge bahnten und an einem Tisch niederließen. Bis ein molliges, dunkelhaariges Mädchen ihre Bestellung entgegennahm, hatte Ellers seine gute Laune wiedergefunden. Er kniff das Mädchen in ihren runden Schenkel und verlangte im Raumhafen-Jargon Wein. Nun legte er den darkovanischen Mantel über den Tisch, befühlte den Pelz und stürzte sich in eine lange Geschichte, wie ihm einmal eine bestimmte Pelzdecke auf einem kalten Planeten von Lyra ganz bestimmte gute Dienste geleistet habe.
„Die Nächte dort sind ungefähr sieben Tage lang, und die Leute legen einfach die Arbeit nieder, bis die Sonne wieder aufgeht und das Eis schmilzt. Ich kann dir sagen, dies Baby und ich krochen unter die Pelzdecke und steckten die ganze Zeit nicht einmal unsere Nasen hervor ...“
Kerwin widmete sich seinem Glas. Er verlor den Faden der Erzählung – nicht, daß es darauf ankam, denn Ellers Geschichten waren sich alle ähnlich. Ein Mann, der mit einem halb geleerten Glas allein an einem Tisch saß, sah hoch, begegnete Kerwins Blick und stand plötzlich auf – so hastig, daß er seinen Stuhl umwarf. Er wollte an den Tisch kommen, wo die beiden saßen. Dann sah er Ellers, dessen Rücken ihm zugekehrt gewesen war, blieb stehen und machte einen Schritt rückwärts. Er schien sowohl verwirrt als auch überrascht zu sein. Aber in diesem Augenblick sah Ellers, der in seinem Bericht an einen toten Punkt gelangt war, sich um und grinste.
„Ragan, altes Haus! Das hätte ich mir denken können, daß ich dich hier finde! Wie lange ist es her? Komm und trink ein Glas mit uns!“
Ragan zögerte, und Kerwin bemerkte, daß er ihn mit einem verlegenen Blick streifte.
„Nun komm schon“, drängte Ellers. „Das ist Jeff Kerwin, ein Kumpel von mir.“
Ragan kam und setzte sich. Kerwin wurde aus ihm nicht klug. Er war klein und mager und sah aus wie ein Mann, der im Freien arbeitet: geschmeidig, sonnenverbrannt und mit Schwielen an den Händen. Er konnte ein zu klein geratener Darkovaner oder ein Erdenmensch in darkovanischer Kleidung sein, obwohl er die allgemein übliche Kletterweste und wadenhohe Stiefel trug. Aber er sprach Terra-Standard ebenso gut wie die beiden Erdenmenschen, fragte Ellers nach der Reise und als die zweite Runde kam, bestand er darauf, sie zu bezahlen. Aber er fuhr fort, Kerwin Seitenblicke zuzuwerfen, wenn er dachte, unbeobachtet zu sein.
Kerwin fragte: „Also, was ist los? Sie haben sich benommen, als hätten Sie mich erkannt, bevor Ellers Sie an unsern Tisch rief ...“
„Richtig. Ich hatte Ellers noch gar nicht bemerkt“, antwortete Ragan, „aber dann sah ich ihn bei Ihnen, und Sie tragen ...“ Er deutete auf Kerwins terranische Kleidung. „Deshalb konnten Sie nicht der sein, für den ich Sie gehalten hatte. Ich kenne Sie doch nicht, oder?“ setzte er mit verwirrtem Stirnrunzeln hinzu.
„Ich glaube nicht.“ Kerwin betrachtete den Mann und fragte sich, ob er eins der Kinder im Raumfahrer-Waisenhaus gewesen sein konnte. Es war unmöglich zu sagen. Wie lange war es her? Zehn oder zwölf Jahre nach terranischer Rechnung; Kerwin hatte den Umrechnungsfaktor für das darkovanische Jahr vergessen. Selbst wenn sie damals Freunde gewesen sein sollten, hätte eine so lange Zeitspanne die Erinnerung ausgelöscht. Und er erinnerte sich auch an niemanden namens Ragan, obwohl das gar nichts zu bedeuten hatte.
„Aber Sie sind kein Terraner?“ forschte Ragan.
Kerwin fiel das Hohnlächeln des Angestellten ein – einer von denen –, aber er verscheuchte das Bild. „Mein Vater war Terraner. Ich wurde hier geboren und im Raumfahrer-Waisenhaus großgezogen. Ich bin jedoch sehr jung von hier weggekommen.“
„Das muß es sein“, sagte Ragan. „Ich war auch ein paar Jahre in dem Waisenhaus. Ich arbeite als Verbindungsmann für die Handelsstadt, wenn man dort darkovanische Führer, Bergsteiger und so weiter braucht. Außerdem organisiere ich Karawanen in die Berge, in die anderen Handelsstädte oder wohin auch immer.“
Kerwin versuchte immer noch, sich schlüssig zu werden, ob der Mann einen erkennbaren darkovanischen Akzent hatte. Schließlich fragte er ihn: „Sind Sie Darkovaner?“
Ragan zuckte die Schultern. Die Bitterkeit in seiner Stimme war richtig erschreckend. „Wer weiß? Und – wen interessiert es schon?“
Er hob sein Glas und trank. Kerwin tat es ihm nach. Er merkte, daß er in Kürze betrunken sein werde; er war nie ein Trinker gewesen, und die darkovanischen Alkoholika, die er als Kind natürlich nicht probiert hatte, waren starker Stoff. Doch was kam es darauf an? Ragan musterte ihn von neuem, und auch darauf schien es nicht anzukommen.
Kerwin dachte: Vielleicht haben wir vieles gemeinsam. Meine Mutter war wahrscheinlich Darkovanerin; wenn sie Terranerin gewesen wäre, hätte es Unterlagen gegeben. Sie kann alles mögliche gewesen sein. Mein Vater war im Raumdienst, das ist das einzige, was ich sicher weiß. Aber abgesehen davon, wer und was bin ich? Und wie ist er zu seinem Halbblut-Sohn gekommen?
„Wenigstens sind Sie es ihm wert gewesen, daß er Ihnen die Staatsangehörigkeit des Imperiums verschafft hat“, sagte Ragan bitter, und Jeff sah ihn verblüfft an. Er konnte sich nicht erinnern, daß er seine Gedanken laut ausgesprochen hatte. „Meinem war sogar das gleichgültig!“
„Aber Sie haben einen Rotschimmer im Haar“, stellte Jeff fest und wunderte sich, warum er das gesagt hatte. Ragan schien ihn gar nicht gehört zu haben. Ellers unterbrach mit gekränktem Gesicht:
„Hört mal, ihr beiden, das hier soll eine Feier sein! Trinkt aus!“
Ragan stützte das Kinn in die Hände und sah Kerwin über den Tisch hinweg an. „Dann sind Sie zumindest teilweise aus dem Grund hergekommen, um nach Ihren Eltern – Ihren Verwandten zu suchen?“
„Um etwas über sie herauszufinden“, berichtigte Kerwin.
„Sind Sie schon einmal auf den Gedanken gekommen, es könnte besser für Sie sein, nichts zu wissen?“
Er war auf den Gedanken gekommen. Er hatte sich hindurchgekämpft und war auf der anderen Seite wieder aufgetaucht. „Es kümmert mich nicht, ob meine Mutter eins von diesen Mädchen war.“ Er wies mit dem Kann auf die Frauen, die kamen und gingen, Getränke holten, stehenblieben, um sich mit den Männern zu necken, Witze und Anzüglichkeiten auszutauschen. „Ich will es wissen.“
Ich will sicher sein, welche Welt Anspruch auf mich hat, Darkover oder Terra. Ich will sicher sein ...
„Gibt es denn keine Unterlagen im Waisenhaus?“
„Ich hatte noch keine Gelegenheit nachzusehen“, antwortete Kerwin. „Jedenfalls ist das die erste Stelle, an die ich mich wenden werde. Ich weiß nicht, wieviel man mir dort erzählen kann. Aber es ist ein guter Anfang.“
„Haben Sie sonst keinen Anhaltspunkt?“
Kerwin tastete mit Fingern, die die zunehmende Betrunkenheit ungeschickt machte, nach seiner Kupferkette. Sie gehörte ihm, solange er sich erinnern konnte. „Nur das hier. Im Waisenhaus sagte man mir, es habe um meinen Hals gehangen, als ich dort eintraf.“
Es gefiel ihnen nicht. Die Hausmutter sagte, ich sei schon zu groß, um ein Glücksamulett zu tragen, und versuchte, es mir wegzunehmen. Ich schrie ... warum hatte ich das vergessen? ... und wehrte mich so heftig, daß man es mir schließlich ließ. Zum Teufel, warum habe ich das getan? Meinen Großeltern gefiel es auch nicht, und ich lernte, es vor ihnen zu verstecken.
„So ein Blödsinn“, mischte sich Ellers grob ein. „Der lange verloren geglaubte Talisman! Du willst ihn ihnen also zeigen, und sie werden erkennen, daß du der lange verloren geglaubte Sohn und Erbe des hohen Lord Rotz von der Müllabfuhr auf seinem Schloß bist, und dann wirst du glücklich und in Freuden leben!“ Er gab einen unartikulierten höhnischen Laut von sich. Kerwin fühlte, daß sein Gesicht sich vor Zorn rötete. Wenn Ellers das wirklich für Quatsch hielt ...
„Darf ich es mir einmal ansehen?“ Ragan streckte die Hand aus.
Kerwin zog die Kette über den Kopf. Aber als Ragan danach greifen wollte, barg er sie in seiner Hand. Es hatte ihn immer nervös gemacht, wenn ein anderer den Stein berührte. Er hatte nie Lust gehabt, mit einem der psychologischen Betreuer darüber zu sprechen. Wahrscheinlich hätten sie ein Schulterklopfen und eine Antwort bereit gehabt, irgend etwas Schlüpfriges über sein Unterbewußtsein.
Die Kette bestand aus Kupfer, einem auf Darkover wertvollen Metall. Aber der blaue Stein selbst war ihm immer wenig bemerkenswert vorgekommen, als ein billiges Schmuckstück, etwas, das ein armes Mädchen in Ehren halten mochte. Er war nicht einmal geschliffen, nur ein hübscher blauer Kristall, ein Stückchen Glas.