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Ich war sechzehn Jahre alt, als das Ende seinen Anfang nahm. Nur wusste das zu diesem Zeitpunkt kaum jemand. Einige, darunter mein Vater, ahnten es, doch sie wurden verlacht, verspottet, oder man schenkte ihnen schlicht kein Gehör. So nahm das Unheil seinen Lauf. Und als es selbst die größten Leugner und Zweifler nicht länger zu ignorieren vermochten, war es zu spät. Da war er bereits unter uns: der Schwarze Tod! Hätte ich doch bloß für einen Moment innegehalten und meinem Vater zugehört, vielleicht wäre mir das Grauen dann erspart geblieben. Mein Name ist Kara. Und dies ist meine Geschichte ...
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Seitenzahl: 174
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Titel
Zeichen des Untergangs
Epilog
So geht es weiter …
Impressum
Atlantis
LEGENDEN
Zeichen des Untergangs
von Ian Rolf Hill
Ich war sechzehn Jahre alt, als das Ende seinen Anfang nahm. Nur wusste das zu diesem Zeitpunkt kaum jemand. Einige, darunter mein Vater, ahnten es, doch sie wurden verlacht, verspottet, oder man schenkte ihnen schlicht kein Gehör.
So nahm das Unheil seinen Lauf. Und als es selbst die größten Leugner und Zweifler nicht länger zu ignorieren vermochten, war es zu spät.
Da war er bereits unter uns: der Schwarze Tod!
Hätte ich doch bloß für einen Moment innegehalten und meinem Vater zugehört, vielleicht wäre mir das Grauen dann erspart geblieben.
Mein Name ist Kara. Und dies ist meine Geschichte …
Ein Schrei, grässlich, laut und voller Qual, weckte mich aus tiefem Schlaf.
Zunächst dachte ich, er wäre Teil eines Traums, bis sich der Schrei wiederholte. Erst da erkannte ich die Stimme. Es war die meines Vaters!
Die Furcht schloss ihre kalten Finger um meine Kehle. Mein Herz hämmerte so stark, als wollte es mir aus der Brust springen. In meinen Ohren rauschte es wie die Brandung an den felsigen Gestaden von Atlantis.
Die Angst um meinen Vater vertrieb auch die letzten Reste Müdigkeit. Ich schlug die Decke beiseite und schnellte aus dem Bett. In meinem Gemach war es stockfinster. Nicht der kleinste Lichtstrahl drang durch die Ritzen der hölzernen Fensterläden.
Dabei war keine Wolke am Himmel zu sehen gewesen, als ich mich niedergelegt hatte.
Blind tastete ich mich durch mein Gemach und stieß dabei gegen den Schemel, der vor der Tür stand. Ein stechender Schmerz zuckte durch meinen Fuß.
Ich biss mir auf die Unterlippe und ärgerte mich darüber, dass ich den Schemel vergessen hatte, den ich selbst am Abend vor die Tür gestellt hatte, damit niemand unbemerkt mein Zimmer betreten konnte, während ich schlief.
Mit niemand meine ich vor allem Ada, ein herrisches Weibsbild, das mein Vater allein zu dem Zweck in unser Haus geholt hatte, um mir das Leben schwer zu machen.
Sie war es auch, die als Erste meinen Weg kreuzte, als ich die Tür aufriss und in den dahinterliegenden Gang humpelte. Mit wehendem Gewand fauchte sie herbei wie eine Erinye aus der Wüste der Gesichtslosen, die arglose Wanderer in Sandlöcher lockte.
Die Augen in Adas verkniffenem Antlitz funkelten wie Opale.
»Geht zurück in Euer Gemach, Herrin!«, fuhr sie mich an.
Das letzte Wort spie sie hervor wie etwas Unanständiges. Wahrscheinlich drehte sich ihr jedes Mal der Magen um, wenn sie mich auf diese Weise ansprach. Doch so geziemte es sich, immerhin war sie unsere Bedienstete.
Ich fragte mich nicht, wo dieses Weib so schnell hergekommen war. Unter den Dienstmägden kursierte das Gerücht, Ada würde niemals schlafen und nächtens durch die Gänge schleichen wie ein ruheloser Rachegeist auf der Suche nach Opfern.
Ich tat das, was ich mit den meisten Aufforderungen dieses Drachens tat: Ich ignorierte sie!
Ich folgte Ada zum Schlafgemach meines Vaters, dessen Gebrüll soeben in einem gepeinigten Gurgeln erstickte.
Vor der Tür trafen wir auf Callos, den Stallmeister, auf dessen Schultern ein Rind hätte stehen können. Selbst er zuckte zurück, als Ada ihn anfauchte, dann stieß sie die Tür auf.
»Licht!«, brüllte sie.
Ohne innezuhalten und sich zu vergewissern, ob jemand ihrem Befehl Folge leistete, stürzte sie ans Bett meines Vaters, der sich wand und zuckte wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Ich war hinter Ada in das Zimmer geschlüpft. Sie beugte sich über Vater, der den Kopf von einer Seite zur anderen warf. Seine Augen leuchteten hell in der Dunkelheit.
»Herr!«, rief sie und ergriff seine Schultern.
Vater gab Laute von sich, wie ich sie noch nie zuvor von einem menschlichen Wesen vernommen hatte, geschweige denn von ihm. Als würde er versuchen, mit zusammengepressten Zähnen zu schreien, während jemand einen glühenden Spieß durch seine Eingeweide trieb.
»Delios! Herr!«, wiederholte Ada, dann rief sie über die Schulter: »Wo bleibt das Licht?«
Shuna, nur zwei Jahre älter als ich, brachte eine Fackel. Deren flackernder Schein riss die Dunkelheit in Fetzen, die Irrwischen gleich über die Wände huschten.
Ich nahm der Magd die Fackel ab und drehte mich zu Vater um.
Und wünschte mir, ich hätte Adas Befehl nicht missachtet.
Vater hatte die Lider weit aufgerissen, die Augen aber so weit verdreht, dass nur das Weiße zu sehen war. Blutiger Schaum quoll ihm aus dem Mund, die Haut war aschfahl und glänzte, als wäre sie mit Öl eingerieben. Sein gesamter Körper badete in Schweiß. Das dünne Leinenhemd klebte wie eine zweite Haut an seinem Leib.
Shuna neben mir schrie leise auf. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Mir war selbst nach schreien zumute, doch meine Kehle war wie zugeschnürt.
»Delios!«, rief Ada erneut. »Herr, wacht auf!«
Dann holte sie aus und schlug meinem Vater mit der flachen Hand ins Gesicht. Bei jedem Klatschen zuckte ich zusammen, als wäre ich getroffen worden.
Eben wollte Ada ein drittes Mal zuschlagen, da schoss Vaters Arm in die Höhe und fing die Hand seiner Dienerin ab. Grimmig schaute er Ada an, die mit offenem Mund über ihm kauerte.
»Es reicht!«, zischte er. »Ich … bin wach!«
Ein erleichtertes Raunen ging durch die Reihen der Bediensteten. Auch ich atmete auf, ja, selbst Ada entspannte sich. Seufzend richtete sie sich auf. Mit dem Unterarm wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.
Vater erhob sich und schaute sich verwirrt um. Seine Wangen glühten von Adas Schlägen. Ich überreichte Shuna die Fackel und ging zu ihm. »Was ist passiert?«
Aus den Augenwinkeln bemerkte ich Adas grimmigen Blick. Sie war wütend, dass ich ihren Befehl nicht befolgt hatte, doch das war mir egal. Schließlich war ich die Herrin des Hauses, nicht dieses grantige Weibsbild.
Vater blinzelte, als er mich erkannte. »Kara?«
Er wandte den Kopf in Richtung Tür, wo sich der Rest der Dienerschaft zusammendrängte. Anscheinend wurde ihm erst jetzt bewusst, dass er das ganze Haus aufgeweckt hatte.
»Ihr … Ihr habt so furchtbar geschrien, Herr«, sagte Shuna.
Dafür fing sie sich von Ada einen zornigen Blick ein.
»Raus!«, fuhr sie die Magd an und entriss ihr die Fackel. »Los! Verschwinde!« Sie wandte sich der Dienerschaft vor der Tür zu, die es nicht wagte, den Raum zu betreten. »Das gilt für euch alle! Macht, dass ihr wieder in eure Betten kommt!«
Fluchtartig verließ Shuna das Gemach meines Vaters. Die anderen Bediensteten wichen zurück. Allerdings nicht vor der jungen Magd, sondern vor Ada, die ihr wie eine Rachegöttin folgte, um die Tür hinter ihr zu schließen.
Davor blieb sie stehen, als wollte sie verhindern, dass einer von uns entkam. Ich fröstelte unter Adas strengem Blick und drehte mich zu Vater um, setzte mich neben ihn auf die Bettkante und nahm seine Hand.
Auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren und uns in letzter Zeit oft stritten, liebte ich ihn doch sehr. Er war alles, was mir von unserer Familie geblieben war. Die Vorstellung, er könnte sterben, hatte mir einen gehörigen Schrecken eingejagt.
»Du hast ihnen große Angst gemacht«, sagte ich. »Du hast mir Angst gemacht.«
»Das … lag nicht in meiner Absicht!« Er hob die freie Hand und betastete seine Lippen. Nachdenklich betrachtete er das Blut. »Ich … ich habe … bloß geträumt.«
Ada schnaubte wie ein altes Ross. »Man beißt sich nicht die Zunge blutig, nur weil man träumt.«
»Willst du mir davon erzählen?«, fragte ich, ohne auf Adas Worte einzugehen.
Vater schlug die Augen nieder und überlegte, dann schüttelte er den Kopf. Graue Strähnen schimmerten in dem dichten schwarzen Haar, das bis über seine Schultern fiel. Schließlich hob er den Blick und lächelte mich an. »Es ist nichts«, behauptete er. »Nichts, worüber du dir Sorgen machen musst.«
Doch ich wusste, dass er log!
»Lasst uns gehen, junge Herrin«, meldete sich Ada von der Tür her. »Gönnt uns und Eurem Vater noch ein paar Stunden Ruhe.«
Ich tat so, als hätte ich sie gar nicht gehört. Was fiel diesem Weib ein, sich in unser Gespräch einzumischen? Am liebsten hätte ich sie des Raumes verwiesen, doch ausgerechnet mein Vater fiel mir in den Rücken.
»Sie hat recht, Kara! Lass uns noch ein wenig schlafen, wir können morgen darüber reden.«
Ich zog die Brauen zusammen. Ich war wütend. Weniger auf Ada als vielmehr auf Vater. Wahrscheinlich hoffte er, dass ich die Angelegenheit morgen vergessen hatte. Doch ich war kein kleines Kind mehr.
»Wie du meinst«, erwiderte ich eisig und stand auf. »Ich werde dich daran erinnern. Gute Nacht!«
Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte ich mich um und ging auf die Tür zu. Ada wich zur Seite. Ich riss die Tür auf und stürmte auf den Gang hinaus. Anhand des Fackelscheins, der mir folgte, erkannte ich, dass mir Ada auf den Fersen blieb. Bevor ich mein Zimmer erreichte, legte sich ihre Hand auf meine Schulter, zog mich herum.
»Was …?«
Der Rest des Satzes blieb mir im Hals stecken. Adas Gesicht hatte seine Strenge verloren. Beinahe sanftmütig blickte sie mich an. Lag da nicht gar ein Hauch von Furcht in ihrem Blick?
»Ich weiß, dass Ihr Euch um Euren Vater sorgt!«
Ihre Offenheit bestürzte mich. Aber so leicht würde ich es ihr nicht machen. »Ich weiß nicht, was du meinst«, zischte ich. »Er hat doch bloß geträumt!«
Ich entzog mich ihrem Griff, stieß die Tür zu meinem Gemach auf und warf sie hinter mir zu.
Dunkelheit umfing mich. Am liebsten hätte ich die Tür wieder ein Stück aufgezogen, doch diese Blöße wollte ich mir nicht geben. Also tastete ich blind nach dem Schemel und stellte ihn wieder vor die Tür.
Gleich morgen würde ich Callos bitten, einen Riegel anzubringen. Ich war alt genug, um zu bestimmen, wer wann mein Gemach betrat.
Vorsichtig ging ich zum Fenster. Dabei stolperte ich prompt über meine Sachen, die ich am Abend zuvor achtlos auf den Boden geworfen hatte.
Ich schlich zum Fenster und öffnete die hölzernen Läden. Kühle Nachtluft strömte herein, und für einen Moment schloss ich die Augen und atmete den Duft der Blumen ein. Einige von ihnen blühten nur in der Dunkelheit.
Jenseits des Gartens leuchteten die Lichter der Stadt.
Es war praktisch nie ganz dunkel in der Hauptstadt Atlantis, denn Finsternis bedeutete Gefahr. Die Nacht war ihre Zeit, so hieß es in den alten Geschichten.
Die Zeit der Dämonen und Untoten.
Einige von ihnen hatten die Gestalt riesiger schwarzer Fledermäuse, die im Schutz der Dunkelheit durch offene Fenster huschten, um kleine Kinder zu rauben und ihr Blut zu saufen.
Angeblich dienten die Vampire einem mächtigen Zauberer, der im Schlund eines feuerspeienden Berges hauste. Früher hatte ich das auch geglaubt, doch mittlerweile wusste ich, dass dies nur Märchen waren, die man kleinen Kindern erzählte, um ihnen Angst zu machen, damit sie ihre Fenster bei Nacht geschlossen hielten.
Fröstelnd strich ich mir über die nackten Arme.
Ich ertappte mich dabei, wie ich den Kopf hob und den Blick über den nächtlichen Himmel schweifen ließ. Düstere, fast schwarze Wolken zogen über das Firmament. Ich schluckte, denn vorhin waren diese Wolken noch nicht dagewesen. Sie verdeckten die beiden Scheiben, die nachts über Atlantis schwebten und das Land erhellten.
Unsere Sterndeuter nannten sie die Augen der Götter.
Das Hellere von ihnen, das in klaren Nächten fast weiß leuchtete, wurde auch als das Stumme Auge bezeichnet, durch das die Götter uns beobachteten und über unsere Träume wachten. Je weiter es geöffnet war, desto besser konnten sie uns sehen.
Das zweite Auge leuchtete grünlich. Es war das Auge der Dämonen, der Großen Alten, der Widersacher der Stummen Götter. Es wurde auch das Auge der bösen Träume genannt.
Schloss sich das Stumme Auge, erstrahlte sein Gegenstück umso kraftvoller. Dies war die Zeit der Dämonen. Wie gesagt, Kinderkram. Oder?
Als hätte eine unsichtbare Macht meine Gedanken gelesen und beschlossen, mir eine Lektion zu erteilen, frischte der Wind auf. Die Wolken blähten sich auf, schwollen an wie Geschwüre kurz vor dem Aufplatzen. Fahles Licht loderte in ihrem Inneren.
Normalerweise hätte das Licht hell und silbrig oder wenigstens gelblich sein müssen, denn noch am Abend war das Stumme Auge weit geöffnet gewesen. Doch dieses Licht war weder silbrig noch gelb, sondern grün wie verschimmeltes Brot.
Und dann rissen die Wolken auf, und ich sah – das Auge der Dämonen.
Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich hatte das Gefühl, als würde sich die eiskalte Hand eines Riesen um meinen Körper legen und langsam das Leben aus ihm herauspressen.
Ich bekam kaum noch richtig Luft, das Atmen fiel mir von Mal zu Mal schwerer, Schweiß trat mir auf die Stirn.
Plötzlich veränderte sich das Auge.
Es wurde dunkler. Ein Fleck bildete sich in seiner Mitte. Er ähnelte der Linse eines menschlichen Auges.
Mein Herz hämmerte wieder so stark, als wolle es meine Brust sprengen. Ich schnappte nach Luft, meine Knie schlotterten, meine Zähne klapperten. Ich musste mich am Fensterrahmen festhalten, sonst wäre ich zusammengebrochen.
Die Linse des Dämonenauges veränderte sich. Sie formte ein Gesicht. Das Gesicht eines Mannes mit aschfahler Haut und kohlschwarzen Augen.
Obwohl es so weit entfernt war, ging von ihm etwas unfassbar Böses aus. Der blanke Hass spiegelte sich in diesem Antlitz.
Ein Sturm von Gedanken wirbelte mir durch den Kopf. Ich dachte an die Geschichten und Märchen, die man sich über das Auge der bösen Träume erzählte. Dass es in die Köpfe der Menschen hineinschaute und sie dazu verleitete, Böses zu tun. Und dass in seinem Inneren eine Kreatur hauste, ein Dämon von unvorstellbarer Macht und Grausamkeit.
Sein Name war Arkonada.
Der Anblick der Dämonenfratze war so furchtbar, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Die Angst hielt mich in ihrem eisigen Griff. Ich konnte mich nicht bewegen, wie gebannt erwiderte ich den Blick des Dämonenauges.
Der Wind steigerte sich zu einem tosenden Sturm, unter dem sich die Sträucher und Bäume unseres Gartens bogen. Wütend zerrte und riss er an den Zweigen und Ästen. Blütenblätter tanzten durch die Luft.
Wolken zogen vor das Auge der Dämonen. In das Rauschen des Windes mischte sich das Prasseln von Regen, der durch das geöffnete Fenster in mein Gesicht klatschte.
Eine Böe fuhr in mein Gemach, ich wankte zurück.
Die Fensterläden klapperten, wischten dicht an meinem Gesicht vorbei und krachten gegen den Rahmen. Es gelang mir, den Riegel vorzuschieben, bevor der nächste Windstoß die Läden wieder aufdrücken konnte.
Ich warf mich herum und hastete zurück zum Bett, wo ich mich unter der Bettdecke verkroch, die Beine dicht an die Brust gezogen, die Arme um die Knie geschlungen.
Mit bebenden Lippen betete ich zu den Stummen Göttern, doch vor meinem geistigen Auge sah ich nur die scheußliche Fratze Arkonadas. Der Sturm zerrte und rüttelte an den Fensterläden. Ich stellte mir vor, dass es Arkonada war, der Einlass begehrte.
Ich kniff die Augen zu und wimmerte leise.
Auf keinen Fall würde ich in dieser Nacht noch ein Auge zumachen. Und in der nächsten auch nicht. Oder in der übernächsten. Am besten schlief ich überhaupt nicht mehr.
Als der erste Hahnenschrei erklang, fielen mir die Lider zu.
Diesmal war es kein Schrei, der mich weckte, sondern das Poltern des Schemels.
Ich schreckte hoch, warf die Decke zurück und sah – Ada!
Die Arme hielt sie vor der Brust verschränkt, ihre Augen verschossen Blitze. Doch hinter dem Zorn lag auch ein Hauch von Sorge.
»Kannst du nicht anklopfen?«, fauchte ich und ließ mich zurück ins Bett fallen, rollte mich in die Decke ein und wandte ihr den Rücken zu.
»Ich habe angeklopft«, behauptete Ada.
Ich hörte, wie sie zum Fenster ging und die Läden öffnete. Sonnenlicht drang zusammen mit Vogelgezwitscher in mein Gemach. Obwohl ich die Wand anstarrte, kniff ich die Augen zu.
»Ihr habt verschlafen!«
»Ich bin krank.«
Ada ergriff meine Schulter und legte mir den Handrücken auf die Stirn. »Ihr seid nicht krank, Ihr seid … erschöpft. Herrin.«
Ich war mir sicher, sie wollte faul sagen, aber das traute sich selbst der alte Drache nicht. Zumindest nicht nach gestern Nacht.
»Ich habe Bauchschmerzen«, versuchte ich es erneut.
»Ihr hattet Eure Blutung erst vor zwei Wochen.«
»Man kann auch Bauchschmerzen haben, ohne zu bluten.«
»In diesem Fall solltet Ihr einen Heiler aufsuchen.«
»Lass mich in Ruhe!« Ich schüttelte ihre Hand ab und wälzte mich wieder herum.
Ada richtete sich auf. »Die Stummen Götter haben die Kleidertruhe nicht umsonst erfunden.« Am Klang ihrer Stimme hörte ich, wie sie sich bückte, um meine Gewänder aufzuheben.
»Armes Atlantis«, erwiderte ich. »Es wird wohl tatsächlich untergehen, wenn seine Götter nichts Besseres zu tun haben, als Kleidertruhen zu erfinden!«
»Ihr frevelt den Göttern. Und jetzt steht auf!«
Statt die Gewänder in die Truhe zu legen, landeten sie auf mir. Ich schoss hervor, schnappte mir das erstbeste Teil und warf es Ada hinterher, die sich wohlweislich schon zur Tür zurückgezogen hatte.
»Raus!«, schrie ich.
»Wie Ihr wünscht, junge Herrin. Aber Euer Vater erwartet Euch beim Essen. Er möchte mit Euch sprechen, bevor er zur Ratsversammlung geht.«
Mit einem Satz war ich aus dem Bett. Schlagartig fiel mir die vergangene Nacht wieder ein. Vaters Schrei, sein verzerrtes Gesicht, die Fratze im Dämonenauge. Ich dachte an Vaters verdrehte Augen, die blasse Haut und die blutigen Lippen. Er hatte fast genau so ausgesehen wie Arkonada.
Ich zerrte mir das Nachtgewand vom Körper, schlüpfte in Unterwäsche und Kleid und rannte barfuß in die Küche, wo Shuna und Ada dabei waren, Fladenbrot zu backen.
»Guten Morgen, Shuna«, begrüßte ich sie. »Was hast du denn heute Schönes gezaubert?«
Die Magd zog leicht die Brauen hoch. »Äh, Fladenbrot mit Honig, Herrin. Und es gibt Saft.«
Sie schob mir einen Becher mit säuerlich schmeckendem Granatapfelsaft über den Tisch zu. Ich war versucht, die Nase zu rümpfen, rang mir stattdessen aber ein Lächeln ab.
»Du bist ein Goldstück, Shuna.«
Ada schnaubte mal wieder. Ich konnte förmlich hören, wie sie mit den Augen rollte.
Ich schnappte mir den Becher, träufelte Honig auf einen Fladen und rollte ihn zusammen. Dann lief ich hinaus auf die Terrasse, wo Vater auf der Bank saß und in den Garten blickte.
Er sah ernst aus. Ich ahnte, dass dieses Gespräch nichts mit gestern Nacht, sondern mit mir zu tun hatte. Vater legte sehr viel Wert darauf, dass ich nach der Beendigung der Schule meine Studien fortsetzte, während meine ganzen Freundinnen bereits ihre Vermählungen vorbereiteten.
Nicht dass ich sonderlich viel Wert darauf legte, vermählt zu werden, aber ganz gewiss wollte ich auch nicht den Rest meines Lebens in staubigen Bibliotheken und Studierzimmern verbringen.
Wahrscheinlich würde er mir wieder eine seiner gefürchteten Predigten über die Tugenden des Menschen halten.
Trotzdem bemühte ich mich, meiner Stimme einen fröhlichen Klang zu verleihen, als ich ihn begrüßte und mich nach seinem Befinden erkundigte.
»Danke, Tochter. Mir geht’s gut. Bitte, setz dich!«
Ein Teil von mir wollte ihm sagen, dass ich lieber stehen bleiben würde, doch etwas in seiner Stimme ließ mich gehorchen. Ich nahm Platz und stellte den Becher mit dem Saft neben mir auf die Sitzfläche. Nur den zusammengerollten Fladen behielt ich in der Hand. Honig tropfte auf der anderen Seite hervor und auf mein Kleid.
Ich fluchte und fing mir von Vater einen tadelnden Blick ein.
»Tut mir leid«, murmelte ich und verrenkte den Kopf, um das tropfende Ende abzubeißen.
Mit dem Ergebnis, dass nun auch aus dem anderen Ende Honig quoll.
»Benimm dich, Kara! Du bist eine Frau und kein kleines Kind mehr!«
Jetzt ging das schon wieder los!
Da er offensichtlich keine Antwort erwartete, beschäftigte ich mich weiter mit meinem widerspenstigen Frühstück. Ich hielt das Fladenbrot über den Becher mit dem Granatapfelsaft. Davon konnten wir alle profitieren. Der klebrige Fladen, der säuerliche Saft und ich.
»Es kommt die Zeit im Leben eines Menschen, in der er die Augen nicht länger vor der Wahrheit verschließen kann. In der er begreifen muss, dass nur schnelles und entschlossenes Handeln zum Erfolg führt. Wir können die Zeichen nicht länger ignorieren.«
Der Tonfall, in dem Vater sprach, irritierte mich. Er klang so, als würde er mehr mit sich selbst sprechen. Ich überlegte, ob ich ihm von meiner Beobachtung erzählen sollte. Doch um ehrlich zu sein, war ich mir plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob ich die Fratze tatsächlich gesehen hatte. Vielleicht war alles nur ein böser Traum gewesen.
Unwillkürlich suchte ich mit meinen Blicken den Garten nach Spuren des nächtlichen Unwetters ab, konnte aber keine entdecken. Am Himmel zogen nur vereinzelt ein paar weiße Wolken entlang. Die Himmelsaugen waren verschwunden, erst wenn die Sonne im Meer versank, würden sie sich wieder öffnen.
Je länger ich darüber nachdachte, desto überzeugter war ich, dass mein nächtliches Erlebnis nur ein Traum gewesen war. Ich war müde und verstört gewesen. Schließlich hatte ich Vater nie zuvor so schreien gehört. Der Anblick seiner verdrehten Augen hatte mich in den Schlaf verfolgt. Ja, so musste es gewesen sein.
»Es tut mir leid, Kara. Aber ich fürchte, du musst schneller erwachsen werden, als uns beiden lieb ist.«
Gerade hatte ich mir den Rest des Fladenbrots einverleiben wollen, doch ich hielt inne.
»Ich bin erwachsen!«, entgegnete ich trotzig und biss in den Fladen, aus dessen anderem Ende jetzt der Honig spritzte.