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1969 fanden zwei prägende Ereignisse statt: Im Januar musste der Versuchsreaktor in Lucens nach einem schweren Zwischenfall stillgelegt werden. Und im September nahm das erste von vier Schweizer Atomkraftwerken in Beznau seinen Betrieb auf. 50 Jahre später steht das Land an einem völlig anderen Punkt. Ende 2019 wird das Atomkraftwerk Mühleberg abgestellt und der Bundesrat hat den langfristigen Atomausstieg beschlossen. Die anfängliche Euphorie über die saubere, sichere und fast grenzenlos verfügbare Energie ist nach vielen Kämpfen und den Katastrophen in Tschernobyl und Fukushima dem politischen Pragmatismus gewichen. Die Entwicklung der Atomenergie ist ein zentrales Stück Schweizer Geschichte nach 1945. Dem Glauben an Technologie und an den wirtschaftlichen Fortschritt standen zuerst pazifistische, dann regionalpolitische und schliesslich ökologische Bewegungen entgegen. Fundiert recherchiert bietet das Buch einen spannend geschriebenen Überblick über die Geschichte der Schweizer Atomenergie
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Seitenzahl: 617
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Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Umschlagbild: Kühlturm des AKW Leibstadt, 1984. Fotografie von Gertrud Vogler.
Lektorat: Rachel Camina, Hier und Jetzt
Gestaltung und Satz: Simone Farner, Naima Schalcher, Zürich
Bildbearbeitung: Benjamin Roffler, Hier und Jetzt
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Ulm
2. überarbeitete und ergänzte Auflage 2019
ISBN Druckausgabe 978-3-03919-472-8
ISBN E-Book 978-3-03919-952-5
E-Book-Herstellung und Auslieferung:Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de
© 2019 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
GmbH, Baden, Schweiz
www.hierundjetzt.ch
Einleitung
«Mit Atombomben bis nach Moskau fliegen!»Das Atomwaffenprogramm der Schweizer Armee 1945–1988
Der Traum vom eigenen ReaktorDie Schweizer Atomindustrie 1955–1969
Widerstand gegen AtomkraftDie Anti-AKW-Bewegung ab Anfang der 1970er-Jahre
Tschernobyl 1986Die Katastrophe und ihre Folgen
Fukushima 2011Der Ausstieg aus der Atomenergie
Strahlendes ErbeDie Entsorgung der radioaktiven Abfälle
Ausblick
Bilddokumente 1945–2017
Chronologie 1938–2018
Anhang
Kaum ein Thema hat die Schweiz während der letzten Jahrzehnte so bewegt, so tief gespalten und so viele emotionale Debatten ausgelöst wie die Atomenergie. Dem unerschütterlichen Glauben an Technologie und wirtschaftlichen Fortschritt standen zuerst pazifistische, dann regionalpolitische und schliesslich ökologische Bewegungen entgegen. Die anfängliche Euphorie, mit der das Atomzeitalter nach 1945 in der Schweiz begonnen hatte, ist nach vielen politischen Kämpfen und den Katastrophen in Tschernobyl und Fukushima einem politischen Pragmatismus gewichen. Nach dem Super-GAU in Fukushima beschloss der Bundesrat 2011 den schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie und leitete damit einen historischen Wendepunkt in der Schweizer Energiepolitik ein.
Die Atompolitik der Schweiz war in den ersten Jahrzehnten geprägt vom Kalten Krieg. Die Angst vor einem atomaren Angriff der Sowjetunion war der Auslöser des Schweizer Atombombenprogramms, das unmittelbar nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki 1945 seinen Anfang nahm und erst kurz vor dem Ende des Kalten Kriegs 1988 beendet wurde. In den 1950er-Jahren schossen die Atompilze nicht nur auf den atomaren Testgeländen in Ost und West in den Himmel, sondern auch in den Köpfen der Schweizer Armeeführung. Einige hochrangige Armeeangehörige waren davon überzeugt, dass sie ihr geliebtes Vaterland nur mit diesen verheerenden Waffen würden verteidigen können. Der Rüstungswettlauf in Ost und West und das durch den grassierenden Antikommunismus geschürte politische Klima der ständigen Angst vor einer sowjetischen Invasion begünstigten die massive staatliche Subventionierung der Atomindustrie.
Die Schweiz als eine «Insel der Seligen», wo die Demokratie und der Wohlstand blühen wie an keinem anderen Ort der Welt, diese idealisierte Vorstellung verdeckt den Blick darauf, dass die Schweiz ebenfalls einige dunkle Kapitel in ihrer Vergangenheit hat, die bis heute weitgehend im Verborgenen liegen. Die Atompolitik ist ein Beispiel dafür. Politische Interessen, militärisches Machtgebaren und die Nutzbarmachung technologischer Entwicklungen brachten während des Kalten Kriegs auch in der Schweiz die Atomindustrie hervor. Sie löste sich erst allmählich aus ihrer ursprünglichen Abhängigkeit von militärischen Interessen. Die enge Verflechtung von Staat, Wissenschaft und Industrie blieb jedoch weiter bestehen und entfaltete ihre Wirkung oft unbemerkt von der Öffentlichkeit.
Die Schweiz ist seit längerer Zeit von Kriegen und Katastrophen verschont geblieben. Auch in der Atomindustrie sind grössere «Zwischenfälle» bisher ausgeblieben, wenn auch die Schweiz bei der Kernschmelze in Lucens 1969 nur haarscharf an einer atomaren Katastrophe vorbeischrammte. Der Mythos, dass in der Schweiz alles viel sicherer und zuverlässiger abläuft als anderswo, ist bis heute intakt. Ab Mitte der 1970er-Jahre wurde die Atomenergie zu einem Spaltpilz, der einen tiefen Riss durch die Gesellschaft zog. Befürworter und Gegner bekämpften sich in den folgenden Jahrzehnten in zahlreichen politischen Schlachten. Die Besetzung von Kaiseraugst wurde 1975 für die Anti-AKW-Bewegung zum Symbol des Widerstands, für die Atomindustrie hingegen zum Stolperstein, der den weiteren Ausbau ihres AKW-Parks verhinderte.
Die Kühltürme der AKWs, die mit ihrer massiven Architektur wie monumentale Kathedralen des technischen Fortschritts in die Landschaft hineinragen, wurden nun zu Mahnmalen für das gefährliche und unberechenbare Zerstörungspotenzial der Atomtechnologie, das vom Menschen offenbar niemals vollständig kontrolliert werden kann. Der Super-GAU in Tschernobyl 1986 rüttelte die Bevölkerung in der Schweiz auf, denn die radioaktive Wolke verbreitete auch hier Angst und Schrecken. Die Katastrophe wurde jedoch bald wieder vergessen. Die Halbwertszeit eines Super-GAUs im kollektiven Gedächtnis der Menschheit dauert weit weniger lang als diejenige der radioaktiven Strahlung, die durch eine Reaktorkatastrophe freigesetzt wird.
Mit dem Super-GAU in Fukushima ereignete sich das Undenkbare 2011 zwar ein weiteres Mal, doch die Reaktionen der Empörung und des Vergessens, die offenbar zu einem Muster im Umgang mit Katastrophen geworden sind, begannen sich erneut zu wiederholen. So schnell, wie die Katastrophe da war, so schnell war sie auch wieder aus dem Bewusstsein verschwunden. Der «Fukushima-Effekt» verpuffte innerhalb weniger Jahre. Der Entscheid des Bundesrates, langfristig aus der Atomenergie auszusteigen, bedeutete allerdings eine historische Weichenstellung in der Energiepolitik. Nach den beiden Abstimmungen zur Atomausstiegsinitiative 2016 und zur neuen Energiestrategie 2017 ist es um das Thema wieder seltsam ruhig geworden. Es stellt sich daher unweigerlich die Frage, wie nachhaltig dieser politische Entscheid tatsächlich gewesen ist.
Die politische Sprengkraft der Atomenergie weckte mein Bedürfnis, historisch etwas tiefer zu bohren und gegen das allgemeine Vergessen anzuschreiben. Dieses Buch bietet erstmals einen umfassenden Überblick über die hoch spannende und wechselvolle Geschichte der Atomenergie in der Schweiz, von der ersten Atombombe bis zum Super-GAU in Fukushima und bis zur darauf folgenden politischen Debatte zum Atomausstieg. Bei meinen Recherchen konnte ich auf die Forschungen und Publikationen zahlreicher Historikerinnen und Historiker, Journalistinnen und Journalisten zurückgreifen, von denen ich zumindest einige namentlich erwähnen möchte: Thomas Angeli, Martin Arnold, Jost Auf der Maur, Silvia Berger Ziauddin, Susan Boos, Peter Braun, Thomas Buomberger, Marcos Buser, Dölf Duttweiler, Urs Fitze, Stefan Füglister, Monika Gisler, Bernd Greiner, Fredy Gsteiger, Stefan Häne, David Häni, Edgar Hagen, Urs Hochstrasser, Peter Hug, Peter Jaeggi, Patrick Kupper, Benedikt Loderer, Otto Lüscher, Sibylle Marti, Alexander Mazzara, Dominique Benjamin Metzler, Felix Münger, Roland Naegelin, Bruno Pellaud, Jean-Michel Pictet, Paul Ribaux, Roman Schürmann, Damir Skenderovic, Helmut Stalder, Helen Stehli Pfister, Bernd Stöver, Jürg Stüssi-Lauterburg, Jakob Tanner, Simon Thönen, Marc Tribelhorn, Tobias Wildi, Reto Wollenmann und Hansjürg Zumstein.
Nach dem Abwurf der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki träumten führende Köpfe des Schweizer Militärs davon, die Armee mit Atomwaffen auszurüsten. Pazifisten protestierten gegen den atomaren Wahnsinn, doch das Schweizer Stimmvolk lehnte 1962 – mitten im Kalten Krieg – ein Verbot von Atomwaffen ab. Die sogenannte Mirage-Affäre von 1964 stutzte den hochfliegenden Plänen für eine Schweizer Atombombe erstmals die Flügel. Auf Druck der beiden Supermächte musste die Schweiz 1969 den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnen. Das geheime Atomwaffenprogramm wurde dennoch weitergeführt und erst 1988 endgültig beendet.
Der englische Schriftsteller H. G. Wells hat in seinem Science-Fiction-Roman The World Set Free («Befreite Welt») bereits 1914 die Erfindung der Atombombe vorweggenommen. Drei Jahrzehnte bevor seine düstere Vision Realität wurde, prägte er den Begriff der «Atombombe». Im Roman lässt Wells den Physikprofessor Rufus das Bild von der durch die Atomenergie beglückten Menschheit zeichnen, das teilweise bis heute nachwirkt:1 «Ich habe nicht die Rednergabe, meine Damen und Herren, um der Vision des zukünftigen Wohlstandes der Menschheit Ausdruck zu verleihen. Ich sehe, wie die Wüsten fruchtbar werden, wie das Eis der Pole schwindet, wie sich die Macht des Menschen bis zu den Sternen erstreckt.»2 Im Roman bricht im Jahr 1958 ein weltweiter Atomkrieg («The Last War») aus, der die Menschheit fast vollständig zerstört. Wells sah bereits 1914 die Bedrohung der Menschheit durch einen apokalyptischen Atomkrieg voraus, ohne jedoch das ganze Ausmass der nuklearen Zerstörung und die Folgen einer radioaktiven Verstrahlung zu erahnen. Die Hoffnung, dass die Atomkraft die Welt von Elend, Armut und Gewalt befreien könnte, erweist sich im Roman als eine trügerische Illusion. Aus der Einsicht, dass ein Krieg im Atomzeitalter zur Selbstvernichtung der Menschheit führen muss, leitet er die Notwendigkeit ab, den Krieg durch andere Formen der Konfliktlösung zu ersetzen. Nach dem Krieg tritt daher im schweizerischen Brissago am Lago Maggiore ein globaler Friedenskongress zusammen, an dem die neue Weltregierung als erstes Dekret ein internationales Verbot atomarer Waffen erlässt.3
Seit den 1890er-Jahren erforschten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Wilhelm Röntgen, Henri Becquerel, Marie und Pierre Curie sowie Ernest Rutherford die Strahlenaktivität von Stoffen, die Radioaktivität. Am 17. Dezember 1938 entdeckte dann der deutsche Chemiker Otto Hahn – nach Vorarbeiten mit Lise Meitner – in Zusammenarbeit mit seinem Assistenten Fritz Strassmann am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin, dass sich Urankerne unter Neutronenbestrahlung spalten lassen. Am 11. Februar 1939 veröffentlichten Lise Meitner und Otto Frisch in der Zeitschrift Nature erstmals ihre kernphysikalische Deutung der Resultate. Die Kernspaltung wurde zu einer der folgenreichsten Entdeckungen der Physik des 20. Jahrhunderts, die eine neue Energiequelle bisher unbekannten Ausmasses erschloss.
Seit dem Frühjahr 1939 war den Physikern die Möglichkeit einer technischen Nutzung der Kernspaltung als Energiequelle oder auch als Waffe bekannt. Im September 1939, unmittelbar nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, wurden Deutschlands führende Atomphysiker, so Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker, nach Berlin in das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik zitiert, um für das nationalsozialistische Regime eine Atombombe zu bauen. Damit wurde die Gefahr real, dass die Nationalsozialisten in Deutschland während des Kriegs in den Besitz der zerstörerischen Waffe gelangen könnten.4 In einem vom ungarisch-deutschen Physiker Leó Szilárd verfassten Brief warnte Albert Einstein den US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt bereits am 2. August 1939 davor, dass eine «Bombe neuen Typs» in die Hände Adolf Hitlers gelangen könnte, und gab damit den Anstoss zum Bau der ersten amerikanischen Atombombe.
Nachdem Werner Heisenberg dem dänischen Physiker Niels Bohr im September 1941 in Kopenhagen in einem Gespräch sagte, er habe erkannt, wie eine Atombombe gebaut werden könne, gab US-Präsident Franklin D. Roosevelt am 6. Dezember 1941 den Befehl, alles zu tun, um eine solche zu entwickeln – der Wettlauf begann. 1942 startete unter der Leitung von General Leslie R. Groves und J. Robert Oppenheimer, dem amerikanischen Physiker deutsch-jüdischer Abstammung, das «Manhattan-Projekt» in Los Alamos, New Mexico. Angetrieben von der Angst vor einer deutschen Atombombe arbeiteten bis Ende 1945 mehr als 150000 Menschen unter Hochdruck und unter grösster Geheimhaltung an diesem militärischen Grossprojekt der Konstruktion der ersten amerikanischen Atombombe. Am 2. Dezember 1942 gelang dem italienischen Physiker Enrico Fermi an der Universität Chicago erstmals eine nukleare Kettenreaktion. Die Alliierten versetzten dem deutschen «Uranprojekt» einen schweren Schlag, als sie am 27. Februar 1943 die norwegische Produktionsanlage Norsk Hydro für schweres Wasser durch Sabotage zerstörten.
Während des Zweiten Weltkriegs lieferte der Schweizer Physiker Paul Scherrer, der Leiter des Physikalischen Instituts der ETH Zürich, aufgrund seiner engen Kontakte zu Werner Heisenberg Informationen zum Stand der Entwicklung der Atombombe in Nazideutschland an den damals in Bern stationierten Allan W. Dulles vom US-Geheimdienst Office of Strategic Services (OSS). Am 18. Dezember 1944 hielt Werner Heisenberg, der seit 1942 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Berlin-Dahlem leitete, auf Einladung Paul Scherrers eine Vorlesung an der ETH Zürich. Der US-Geheimdienst schickte daraufhin einen Spion, den früheren Baseballspieler Moe Berg, nach Zürich, um den Stand des deutschen Atomprogramms in Erfahrung zu bringen. Moe Berg hatte die klare Anweisung, Werner Heisenberg auf der Stelle zu erschiessen, sollte er zum Schluss kommen, die Deutschen stünden kurz vor dem Bau der Bombe.5
Adolf Hitler schwadronierte im letzten Kriegsjahr immer wieder von «Wunderwaffen», streng geheimen Waffen mit enormer Wirkung, mit denen er die sich abzeichnende Niederlage doch noch abwenden wollte. Nachdem die alliierten Truppen im März 1945 in Deutschland einmarschiert waren, wurden die am «Uranprojekt» beteiligten deutschen Atomphysiker Ende April, Anfang Mai 1945 im Rahmen der Alsos-Mission des US-Geheimdiensts verhaftet, zunächst nach Frankreich gebracht und dann auf dem englischen Landsitz Farm Hall nahe Cambridge verhört. Die abgehörten Gespräche der deutschen Atomphysiker machten deutlich, dass diese entgegen allen Befürchtungen bis zum Ende des Kriegs nicht in der Lage gewesen waren, eine einsatzfähige Atombombe zu bauen. Der Forschungsreaktor des «Uranprojekts» im schwäbischen Haigerloch wurde zwar Ende Februar 1945 in Betrieb genommen, eine nukleare Kettenreaktion konnte aber vor Ende des Kriegs nicht mehr herbeigeführt werden. Allerdings soll am 3. März 1945 unter der Leitung von SS-General und Geheimwaffenchef Hans Kammler im Konzentrationslager Ohrdruf in Thüringen ein letzter verzweifelter Test mit einer sogenannt schmutzigen Bombe stattgefunden haben, bei dem es grosse Zerstörungen und Hunderte von Toten unter den KZ-Häftlingen gab und durch die Explosion von konventionellem Sprengstoff Radioaktivität in der Umgebung freigesetzt wurde.6
Die erste amerikanische Atombombe wurde am 16. Juli 1945 im Rahmen des Trinity-Tests auf dem Testgelände White Sands im Süden des US-Bundesstaats New Mexico gezündet. Der Physiker Kenneth Bainbridge, der Leiter des Trinity-Tests, soll danach zu J. Robert Oppenheimer gesagt haben: «Jetzt sind wir alle Hundesöhne.»7 Drei Wochen später, am 6. und 9. August 1945, folgte der Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki. Die beiden Atombomben zerstörten die japanischen Grossstädte beinahe vollständig und töteten um die 100000 Menschen sofort. Bis Dezember 1945 starben in Hiroshima rund 140000 und in Nagasaki 70000 bis 80000 Menschen. Die genaue Anzahl der Menschen, die an den Spätfolgen der radioaktiven Verstrahlung starben, wird sich nie genau ermitteln lassen.8
Der gleissende Blitz der Explosion brannte die Schattenrisse von Personen in die verbliebenen Hauswände. Die Menschen wurden mit der Druckwelle fortgerissen und zerfetzt oder durch die Hitze zu Asche verbrannt. Eine glühende Feuersbrunst zerstörte die beiden japanischen Städte in einem brennenden Inferno fast vollständig. In Hiroshima flohen viele Überlebende vor der unerträglichen Hitze an den Fluss, wo sie vom radioaktiv verseuchten Wasser tranken. Nach den Explosionen ging ein schwarzer, schmieriger Regen über den beiden Städten nieder. Die schwer verletzten Menschen, viele mit Brandwunden, waren auf sich allein gestellt. Viele von ihnen starben in den folgenden Stunden und Tagen einen qualvollen Tod. Den Überlebenden, welche eine tödliche Strahlendosis abbekommen hatten, fielen zuerst die Haare aus, dann bekamen sie purpurrote Flecken am ganzen Körper, die Haut begann sich in Fetzen von den Knochen zu lösen, und schliesslich verbluteten sie schmerzhaft an inneren Verletzungen. Zehntausende Überlebende, die sogenannten Hibakusha, starben in den darauffolgenden Monaten und Jahren an den Spätfolgen der radioaktiven Verstrahlung und erlitten Krebs, Leukämie, Tumore, Wachstums- und Entwicklungsstörungen, Tot- und Fehlgeburten, Erbkrankheiten, Blut- oder Hautkrankheiten, psychische Störungen, Angstzustände, Depressionen; sie wurden von Schuldgefühlen geplagt oder alterten frühzeitig.
Seit Hiroshima und Nagasaki ist die Atombombe zum Symbol für die Bedrohung der Menschheit durch sich selbst geworden. Der Einsatz der beiden Atombomben führte zwar zur sofortigen, bedingungslosen Kapitulation Japans und beendete den Zweiten Weltkrieg, militärisch gesehen war der Einsatz jedoch überflüssig, da die Japaner schon geschlagen waren. Der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki war vor allem eine Machtdemonstration der USA gegenüber der Sowjetunion vor dem Hintergrund der bevorstehenden Neuordnung der Welt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Angst vor einem apokalyptischen Atomkrieg prägte in der Folge das Zeitalter des Kalten Kriegs.
Unmittelbar nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki übergab ein japanischer Gesandter am 10. August 1945 im Auftrag seiner Regierung dem Schweizerischen Bundesrat in Bern die Erklärung der bedingungslosen Kapitulation, damit diese von der Schweizer Regierung an die USA und an China übermittelt würde. Gleichzeitig wurde die Erklärung über Schweden an Grossbritannien und an die Sowjetunion weitergeleitet. Am 15. August 1945 verkündete Kaiser Hirohito offiziell die bedingungslose Kapitulation Japans, womit der Zweite Weltkrieg endgültig beendet wurde.
Die Nachricht vom Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki wurde in der internationalen Presse sofort in dessen historischer Bedeutung erfasst, die Auswirkungen für die betroffene Bevölkerung allerdings weitgehend ausgeblendet. Ab dem 12. September 1945 verhinderte die Zensur der amerikanischen Besatzungsbehörden alle Berichte über die Zerstörung der beiden japanischen Städte und die Auswirkungen der Atombomben. Sämtliche Fotografien und Filmaufnahmen der zerstörten Städte mit ihren Ruinen, Trümmern und den verkohlten Leichenbergen sowie den verletzten und verstrahlten Menschen wurden konfisziert und durften nicht veröffentlicht werden. Gleichzeitig reisten Hunderte amerikanische Wissenschaftler, Ärzte und Soldaten nach Japan, um die Wirkung der neuen Waffen zu erforschen. Viele Überlebende wurden von den amerikanischen Militärärzten wie menschliche Versuchskaninchen akribisch genau untersucht, aber nicht behandelt.9
Der Schweizer Physiker Fritz Zwicky, der 1925 bei Paul Scherrer an der ETH Zürich promoviert hatte und seit 1942 als Professor für Astrophysik am California Institute of Technology (Caltech) tätig war, reiste 1945 im Auftrag der amerikanischen Luftwaffe zunächst nach Deutschland, wo er deutsche Wissenschaftler und Techniker – darunter etwa den Raketeningenieur Wernher von Braun – verhörte, und anschliessend nach Japan, wo er für den Oberbefehlshaber der amerikanischen Besatzungsbehörde, General Douglas MacArthur, einen geheimen Bericht über die durch die Atombombe verursachten Schäden und über mögliche militärische Abwehrmittel verfasste.10
«[…] die Börse wittert ein goldenes Zeitalter und lässt die Uranaktien steigen, doch vom Leichenfeld der getöteten 300000 Einwohner von Hiroshima aus verbreitet sich böse Ahnung über die weite Welt.» National-Zeitung, 11./12.8.1945
Unmittelbar nach Abwurf der Atombomben entfaltete sich auch in der Schweizer Presse eine intensiv geführte Debatte über die Atomenergie. Fast alle Zeitungsartikel waren sich darin einig, dass mit dem Abwurf der beiden amerikanischen Atombomben der Anbruch eines neuen Zeitalters – des Atomzeitalters – begonnen hatte. Nebst dem Schrecken über die atomare Zerstörung stand die Faszination über die Möglichkeit einer technischen Nutzung der neuen Energieform.11 Am 11. August 1945 schrieb die Basler National-Zeitung unter dem Titel «Wunder und Wahnsinn»: «Amerikaner träumen von benzintankfreiem Autofahren und Fliegen, die Börse wittert ein goldenes Zeitalter und lässt die Uranaktien steigen, doch vom Leichenfeld der getöteten 300000 Einwohner von Hiroshima aus verbreitet sich böse Ahnung über die weite Welt.»12
Die Berichterstattung der Schweizer Presse basierte weitgehend auf den offiziellen Stellungnahmen der USA und war geprägt von Vermutungen, Gerüchten und Halbwissen. Der Schweizer Physiker Ernst Carl Gerlach Stückelberg von der Universität Genf gestand am 15. August 1945 in der Neuen Zürcher Zeitung, dass die Schweizer Physiker von der Nachricht der Atombombe überrascht worden seien.13 Otto Huber und Peter Preiswerk von der ETH Zürich erklärten daraufhin in einem weiteren Zeitungsartikel vom 19. August 1945 in der Neuen Zürcher Zeitung, die nukleare Kettenreaktion der Atombomben sei nur durch eine Isotopentrennung des Urans im industriellen Massstab möglich geworden.14
Die Nachricht vom Abwurf der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki führte dazu, dass sich die Schweizer Armee umgehend mit der Frage einer Atombewaffnung zu beschäftigen begann. «In den führenden Kreisen unserer Armee hat man mit sehr lebhaftem Interesse von der Verwendung von Atombomben durch die Amerikaner […] Kenntnis genommen», hiess es in der Basler Arbeiter-Zeitung vom 9. August 1945.15 Für die Armeeführung war klar, dass die Schweiz ebenfalls nach der Bombe streben musste. In einem Brief vom 15. August 1945 wandte sich Oberstkorpskommandant Hans Frick, der Chef der Ausbildung der Schweizer Armee, an FDP-Bundesrat Karl Kobelt, den Chef des Eidgenössischen Militärdepartements (EMD), und empfahl ihm, zu diesem Zweck eine «Studienkommission» zu gründen, der nebst dem Generalstabschef und dem Chef der Kriegstechnischen Abteilung (KTA) einige prominente Schweizer Atomphysiker angehören sollten. Diese «Studienkommission» sollte die theoretischen Grundlagen für eine Bewaffnung der Schweizer Armee mit Atombomben erarbeiten. Am 20. August 1945 wandte sich auch Otto Zipfel, der Delegierte für Arbeitsbeschaffung, an Bundesrat Karl Kobelt, um diesen über den Stand der Forschungen im Bereich der Atomphysik in der Schweiz zu informieren. Gleichzeitig schlug er Kobelt eine Besprechung mit dem Generalstabschef Louis de Montmollin und dem Chef der KTA, René von Wattenwyl, vor.
Am 3. September 1945 befasste sich die Landesverteidigungskommission (LVK) erstmals mit der Atombewaffnung. Am darauffolgenden Tag schrieb René von Wattenwyl in einem geheimen Schreiben an Bundesrat Kobelt: «Unsere Informationen über die Eigenschaften, Wirkungen und Produktionsmöglichkeiten der Atombomben müssen erweitert werden. Dafür empfiehlt es sich, eine leitende wissenschaftliche Kommission einzusetzen, welche alle Aspekte des Problems bearbeitet, also nicht nur die Uranbombe als Kriegsmaterial, sondern auch die Möglichkeit der Verwendung von Atomenergie für andere Zwecke.»16 Nebst dem Bau einer eigenen Atombombe sollte insbesondere der Schutz vor atomaren Angriffen, aber auch die zivile Nutzung der Atomenergie erforscht werden.
Im September und Oktober 1945 schrieb Bundesrat Kobelt allen Vorstehern der physikalischen und chemischen Forschungsinstitute, die sich in der Schweiz mit der Atomphysik beschäftigten. In seinem Schreiben bat er die Schweizer Physik- und Chemieprofessoren, sich an einer «Studienkommission» des Militärdepartements zu beteiligen, die sich mit der Atomenergie beschäftigen sollte. Am 5. November 1945 berief Kobelt im Bundeshaus eine Konferenz ein, an der die Studienkommission für Atomenergie (SKA) gegründet werden sollte. Professor Paul Scherrer informierte in einem Vortrag die anwesenden Wissenschaftler und Vertreter der Armee über den aktuellen Stand der Atomphysik, die vermutete Funktionsweise der amerikanischen Atombomben und weitere Anwendungen der Atomenergie. In seinem Vortrag machte Paul Scherrer darauf aufmerksam, dass die Entwicklung eines Atomreaktors oder einer Atombombe in der Schweiz grosse finanzielle Mittel und die Koordination aller Forschungen auf diesem Gebiet erfordern würde.
Paul Scherrer hatte während des Ersten Weltkriegs in Göttingen Physik studiert und war 1920 mit 30 Jahren Professor für Physik an der ETH Zürich geworden. Ab 1927 leitete er dort das Physikalische Institut, das er in der Folge zusammen mit Wolfgang Pauli zu einem internationalen Forschungszentrum für Atomphysik machte. Ab 1937 beschäftigte er sich mit dem Bau von Teilchenbeschleunigern. In Zusammenarbeit mit der Brown, Boveri & Cie. (BBC) und der Maschinenfabrik Oerlikon entstanden ab 1939 an der ETH Zürich unter seiner Leitung mit dem «Zyklotron» und dem «Tensator» zwei der ersten Teilchenbeschleuniger Europas.
Als eine Koryphäe im Bereich der Atomphysik wurde Paul Scherrer nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zur zentralen Schlüsselfigur des Schweizer Atombombenprogramms. Er schien wie kein anderer dafür prädestiniert zu sein, die Schweiz ins Atomzeitalter zu katapultieren.17 Aufgrund seiner engen Kontakte zu Werner Heisenberg war er während des Kriegs aus erster Hand über das deutsche «Uranprojekt» infor miert gewesen. Als Agent des US-Geheimdiensts OSS verfügte er zudem über einen direkten Draht zu Allan W. Dulles, dem späteren CIA-Direktor. Acht seiner ehemaligen Studenten waren während des Kriegs direkt am «Manhattan-Projekt» beteiligt gewesen und hatten im Oak Ridge National Laboratory im US-Bundesstaat Tennessee gearbeitet, wo für den Bau der amerikanischen Atombombe «Little Boy» Uran angereichert worden war.
Nach Angaben seiner beiden Assistenten Werner Zünti und Otto Huber an der ETH Zürich machte Paul Scherrer im Spätsommer 1945 eine dreimonatige Studienreise in die USA, wo er sich unter anderem mit seinem ehemaligen Schüler Chauncey Guy Suits traf, dem damaligen Forschungsleiter bei General Electric, der ebenfalls am «Manhattan-Projekt» beteiligt gewesen war. Anschliessend traf er sich persönlich mit General Leslie R. Groves, dem Leiter des «Manhattan-Projekts», und besuchte das Laboratorium Hanford Site im US-Bundesstaat Washington, das während des Kriegs für die Produktion von Plutonium zuständig gewesen war.18
Nach dem Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki beschäftigten sich die amerikanischen Wissenschaftler und Militärs des «Manhattan-Projekts» mit der Frage, wie lange wohl die Sowjetunion noch brauchen würde, um ebenfalls Atombomben zu bauen. Der Schweizer Physiker Fritz Zwicky war im Frühling und Herbst 1945 als Militärberater für die US-Army in Deutschland und Japan. Auf Anfrage des Geheimdiensts der US-Marine (US Navy Intelligence) empfahl er Paul Scherrer als unabhängigen Experten zur Beurteilung dieser Frage: «Ich schlug Prof. Paul Scherrer vor, der dann auch prompt eingeladen und zu seinem Unbehagen als amerikanischer Bürger, namens ‹Shearer›, durch die Installationen des Manhattan-Projektes in Los Alamos, Oak Ridge usw. geführt wurde. Am Schluss seiner Rundreise gab er das gleiche Urteil ab wie Langmuir und ich – die Russen würden es sicher in drei Jahren schmeissen.»19 Mit seiner Einschätzung lag Paul Scherrer nicht weit daneben: Die erste sowjetische Atombombe wurde am 29. August 1949 auf dem Testgelände Semipalatinsk in Kasachstan gezündet.
Von seiner Reise in die USA brachte Paul Scherrer den Smyth-Report in die Schweiz mit. Der Bericht des US-amerikanischen Physikers Henry De Wolf Smyth von der Universität Princeton, der nach dem Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki am 12. August 1945 als offizieller Bericht der US-amerikanischen Regierung veröffentlicht wurde, fasste erstmals das frei verfügbare Wissen über die technischen Grundlagen der Atombombe und der Atomenergie zusammen. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz hielt Paul Scherrer im Herbst 1945 am Physikalischen Institut der ETH Zürich mehrere Vorträge über den Smyth-Report.
Am 28. November 1945 veröffentlichte Paul Scherrer in der Neuen Zürcher Zeitung einen Artikel mit dem Titel Atomenergie – Die physikalischen und technischen Grundlagen, der das physikalische Wissen über die Atombombe erstmals in allgemeinverständlicher Form für die Schweizer Öffentlichkeit zugänglich machte.20 Er beschrieb den Aufbau der Atome und der Atomkerne, die Kernspaltung, die nukleare Kettenreaktion, die Entstehung von Plutonium und anderer radioaktiver Spaltprodukte sowie den Aufbau und die Funktionsweise einer Atombombe und eines Atomreaktors.
An der von Bundesrat Karl Kobelt einberufenen Atomkonferenz vom 5. November 1945 wurde die Gründung der SKA beschlossen, die dem EMD unterstellt wurde und deren Präsident Paul Scherrer werden sollte. Zu den Mitgliedern der Kommission zählten Physiker und Chemiker der Universitäten Zürich, Basel, Bern, Neuenburg und Genf, 21 Oberstbrigadier René von Wattenwyl, Chef der KTA, und der Delegierte für Arbeitsbeschaffung, Otto Zipfel. Als Sekretär fungierte Alfred Krethlow, der Chef der Sektion für technische Physik der KTA.
«Die SKA soll überdies die Schaffung einer schweizerischen Bombe oder anderer geeigneter Kriegsmittel, die auf dem Prinzip der Atomenergie beruhen, anstreben.» Bundesrat Karl Kobelt, 5.2.1946
Mit der Zusammensetzung der SKA versuchte Bundesrat Karl Kobelt, das physikalische und technische Wissen über die Atomenergie beim Militärdepartement zu monopolisieren. Nur widerwillig räumte er auch seinem Amtskollegen, FDP-Bundesrat Walther Stampfli, dem Vorsteher des Volkswirtschaftsdepartements, einen Sitz ein.22 Weder die Schweizer Elektrizitätsgesellschaften noch die Maschinen- und die Chemieindustrie waren in der SKA vertreten. Die atomphysikalischen Forschungen und die technischen Entwicklungen der SKA verfolgten entsprechend einen militärischen und nicht einen wirtschaftlichen Zweck.23Als Aufgaben der SKA wurden offiziell die Förderung und Koordination von Forschungen im Bereich der Atomphysik, die Erteilung von Forschungsaufträgen, die Beratung von Behörden und die Schulung von Wissenschaftlern genannt. Die Forschungen wurden zivil getarnt, verfolgten aber hauptsächlich militärische Absichten. In den geheim gehaltenen Richtlinien für die Arbeiten der SKA auf militärischem Gebiet beauftragte Bundesrat Kobelt die SKA am 5. Februar 1946 ausdrücklich mit der Entwicklung einer Schweizer Atombombe: «Die SKA soll überdies die Schaffung einer schweizerischen Bombe oder anderer geeigneter Kriegsmittel, die auf dem Prinzip der Atomenergie beruhen, anstreben. Es ist zu versuchen, ein Kriegsmittel zu entwickeln, das aus einheimischen Rohstoffquellen erzeugt werden kann. Der Einsatz dieser Kriegsmittel auf verschiedene Art zu prüfen, namentlich: a) Uranbomben als Zerstörungsmittel ähnlicher Art wie Minen für Zwecke der Defensive und aktiver Sabotage. b) Uranbomben als Artilleriegeschosse. c) Uranbomben als Flugzeugbomben.»24
Die Mitglieder der SKA wurden vertraglich zur Geheimhaltung verpflichtet. Die Wissenschaftler erhofften sich durch ihre Beteiligung an der SKA den Zugang zu umfangreichen, durch das Militärdepartement subventionierten Forschungsgeldern. Dafür stellten sie ihre wissenschaftliche Arbeit, die in erster Linie dem Bau einer Atombombe dienen sollte, in den Dienst der Schweizer Armee. Die Wissenschaftler forderten hohe Forschungskredite. Rasch ging es dabei um so gewaltige Summen, dass das Finanzdepartement gegen den Willen des Militärdepartements auf einer Parlamentsvorlage beharrte. Paul Scherrer musste für die SKA einen Bundesbeschluss über die Förderung der Forschung auf dem Gebiet der Atomenergie ausarbeiten. Am 17. Juli 1946 beantragte Bundesrat Kobelt beim National- und Ständerat für die Atomforschung einen Kredit von 18 Millionen Franken für die Jahre 1947 bis 1951. Weitere zehn Millionen Franken wurden reserviert für den Fall, dass mit dem Bau eines Atomreaktors begonnen würde. Der Bundesrat begründete die für die damaligen Verhältnisse enorm hohe Summe mit der «ausserordentlich grossen Bedeutung, die der Atomenergie für unsere Landesverteidigung und unserer Wirtschaft zukommen kann».25 Das Budget der ETH Zürich betrug damals zum Vergleich gerade einmal vier Millionen Franken pro Jahr.26
Der Ständerat befasste sich am 8. Oktober 1946 mit der Vorlage und lehnte diese mit 17 zu 14 Stimmen ab. Die undurchsichtige Verknüpfung von wirtschaftlichen und militärischen Interessen hatte insbesondere Friedrich Traugott Wahlen von der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) zu heftiger Kritik bewogen: «Ich bin nun der festen Überzeugung, dass sich die in der Schweiz durchgeführten wissenschaftlichen Arbeiten strikte auf die Grundlagenforschung und die Auswertungen auf wirtschaftlichem Gebiet beschränken sollten, selbstverständlich unter Einbezug rein militärischer Defensivvorkehrungen, aber unter bewusstem und ausgesprochenem Verzicht auf die Entwicklung und Herstellung von Atombomben.»27Er forderte mit einem Hinweis auf das humanitäre Völkerrecht eine Ächtung der Atomwaffen. Ein Schweizer Atombombenprogramm würde zudem den angestrebten Beitritt zur UNO erschweren. Er forderte eine Ergänzung der Vorlage «durch eine eindeutige Willenserklärung von Parlament und Bundesrat, grundsätzlich und ohne Rücksicht auf die von den Grossmächten zu treffenden Entschlüsse auf die Verwendung der Atombombe zu verzichten».28 Bundesrat Karl Kobelt versuchte zu beschwichtigen, indem er betonte, die Nutzung der Atomenergie komme vor allem der Wirtschaft und nicht der Armee zugute.29 Am 18. Dezember 1946 kam die Vorlage in fast unveränderter Form erneut vor den Ständerat. Bundesrat Kobelt beteuerte wiederum, «dass kein Mensch daran denke, dass in der Schweiz das grauenhafte Kriegsinstrument der Atombombe gebaut werden soll».30 Und er versicherte: «Wir haben weder die Absicht noch wären wir in der Lage, Atombomben herzustellen.»31 Gestützt auf diese dreiste Lüge nahm der Ständerat die Vorlage mit 35 Ja-Stimmen und einer Enthaltung an. Mit dem gleichen Täuschungsmanöver gelang es Karl Kobelt am 18. Dezember 1946, auch den Nationalrat zu überzeugen.32
Im September 1946 fand ein Treffen von Bundesrat Kobelt, Paul Scherrer, René von Wattenwyl und Fritz Zwicky statt; Zwicky entwickelte ab Juni 1947 als Militärberater der Schweizer Armee aus der Doktrin des totalen Kriegs das Konzept einer totalen Landesverteidigung. Der Schweizer Physiker, Astronom und Raketeningenieur wirkte von 1943 bis 1949 auch als Berater der Aerojet Engineering Corporation an der Entwicklung von Interkontinentalraketen mit. Nach eigenen Aussagen erkannte er bereits 1939 die Möglichkeit von Atombomben und entdeckte bei seinen Beobachtungen von Supernovae die Existenz nuklearer Kettenreaktionen. Daraus leitete er seine Strategie des totalen Kriegs ab.33 Für die Schweizer Armee sollte er nun Vorschläge für deren technische Aufrüstung erarbeiten. Am 30. September 1947 legte er der KTA seinen Bericht Vorschläge zur Gesamtbereitschaft der Schweiz gegen kriegerische Angriffe vor. In einem Brief an Paul Scherrer vom August 1949 fasste er seine damaligen Empfehlungen folgendermassen zusammen: «Hochwertige Treibstoffe für Raketenantriebe; Konstruktion von Düsen- und Staustrahltriebwerken; Beschäftigung mit Kernfusion; Ultraschnelle Geschosse für die Panzerabwehr; Neue Artillerie mit flüssigem Triebstoff (lagerbar in zwei nicht entzündbaren Komponenten); Vorbereitung auf den Bakterien- und Virenkrieg; Auffindungsgeräte für schnell fliegende Projektile und Flugzeuge.»34
Der Begriff des «totalen Kriegs» war durch die berüchtigte Rede von Joseph Goebbels am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast («Wollt ihr den totalen Krieg?») verbreitet worden. Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg sollte alle verfügbaren Ressourcen mobilisieren und zur vollständigen Vernichtung des Feindes und zur massenhaften Ermordung von dessen Bevölkerung führen.35 Gemäss der Formel «Totaler Krieg macht totale Abwehr nötig» ging das Konzept einer totalen Landesverteidigung davon aus, dass der moderne Krieg sämtliche Gesellschaftsbereiche tangieren würde und deshalb die ganze Gesellschaft in die Planung der nationalen Verteidigung einbezogen werden müsste.36 Die Schweizer Armee befand sich im Kalten Krieg und befürchtete eine kommunistische Invasion beziehungsweise einen atomaren Angriff der Sowjetunion. Bundesrat Karl Kobelt und Generalstabschef Louis de Montmollin liessen deshalb nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit der «Truppenordnung 51» eine neue Verteidigungsstrategie ausarbeiten, die eine umfassende Verteidigung im Falle eines totalen Kriegs ermöglichen sollte. In Abkehr von der Réduit-Strategie sollte eine mobile Defensivarmee entwickelt werden, die mit möglichst wenigen Panzern das gesamte Staatsgebiet verteidigen könnte. Dieses Konzept einer totalen Landesverteidigung wurde in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre durch den geplanten Einsatz taktischer Atomwaffen und den Aufbau eines Zivilschutzes ergänzt.37 Der totale Verteidigungskrieg bildete das militärische Pendant zum nationalen Mythos des Schweizer Sonderfalls. Die Schweiz sollte auch dann noch mit allen Mitteln verteidigt werden, wenn sie bereits von Feinden umzingelt und Europa von den Kommunisten überrannt worden wäre.38
Nebst dem physikalisch-technischen Wissen war Anfang 1947 das nötige Geld vorhanden, um mit der Entwicklung eines Atomreaktors und dem Bau einer Atombombe zu beginnen. Was fehlte, war das spaltbare Material, das Uran. Die USA versuchten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs jedoch, mit allen Mitteln zu verhindern, dass andere Länder eine eigene Atomindustrie aufbauen und damit in den Besitz einer Atombombe gelangen konnten. Bereits an der Quadrant-Konferenz in Québec 1943 hatten die USA mit ihren Bündnispartnern Grossbritannien und Kanada vereinbart, sämtliches Uran in der westlichen Hemisphäre für sich zu behalten.39 Um ihr Monopol zu sichern, verhängten sie ein Ausfuhrverbot für Uran, was zur Folge hatte, dass der radioaktive Rohstoff auf dem freien Markt nicht mehr gekauft werden konnte.
In den geheimen Richtlinien für die Arbeiten der SKA auf militärischem Gebiet vom 5. Februar 1946 hiess es, dass eine schweizerische Uranbombe «aus einheimischen Rohstoffquellen» produziert werden sollte.40 Die SKA begann daher ab 1946 umgehend mit der Suche nach Uran, da die Entwicklung eines Atomreaktors und einer Atombombe ohne den radioaktiven Rohstoff nicht möglich war. Man war damals wie besessen davon, möglichst bald in den Besitz von Uran zu gelangen, um mit den geplanten Entwicklungen beginnen zu können. Solange die Beschaffung des Urans nicht gesichert war, schwebten sämtliche Projekte zur militärischen oder friedlichen Nutzung der Atomenergie in der Luft. Die ersten Jahre der SKA waren daher hauptsächlich von dieser fieberhaften Suche nach Uran geprägt.41
Einerseits begann man in der Schweiz nach Uranvorkommen zu suchen, andererseits versuchte man, das Uran legal im Ausland zu kaufen oder illegal über den Schwarzmarkt zu besorgen. Man war in dieser aussichtslosen Situation sogar bereit, mit der Sowjetunion zu verhandeln. Anfang August 1946 berichtete Paul Scherrer an Bundesrat Karl Kobelt: «Die Amerikaner kaufen alle Uran-Vorkommen auf. […] Es ist völlig ausgeschlossen, auch nur die geringsten Quantitäten von Uran aus dem amerikanischen Einflussgebiet zu erhalten, eventuell aber aus dem russischen.»42 Im November 1946 berichtete der schweizerische Gesandte in Prag, Alexandre Girardet, dass die Tschechoslowakei der Schweiz gegen Informationen neun Tonnen Uran anbiete.43 Paul Scherrer reagierte allerdings skeptisch auf das tschechische Angebot. Das Uranerz in der Tschechoslowakei würde bereits von der Sowjetunion ausgebeutet, die kein Interesse daran haben könnten, grössere Mengen der beinahe erschöpften Erzlager an die Schweiz abzugeben. «Ausserdem würden die Russen als Gegenleistung sicher einen Austausch von Erfahrungen verlangen, welchem ich nicht gerne zustimmen würde.»44
1947 vereinbarte Bundesrat Kobelt mit Chiang Kaischek, dem chinesischen Führer der Kuomintang, die Entsendung von Schweizer Geologen nach China, um dort den Abbau von Uran zu fördern und als Gegenleistung eine Lieferung Uranerz zu erhalten.45 Die USA verhinderten die Zusammenarbeit jedoch im entscheidenden Moment, indem sie China selbst ihre Hilfe bei der Uranprospektion anboten, woraufhin die Chinesen ihr Interesse an einer Zusammenarbeit mit der Schweiz verloren.46 1949 erhielt die Schweiz zudem 125 Kilogramm Uran angeboten, die nach dem Krieg aus den unterirdischen Gewölben unterhalb des Hauses von Adolf Hitlers engem Vertrauten Martin Bormann in Berchtesgaden entwendet worden waren.47
Im Sommer 1950 handelte René von Wattenwyl mit der portugiesischen Firma Calmor einen Vertrag über Rechte an Uranminen aus. 1951 verhandelte die Schweiz zudem mit Indien über eine Lieferung von Uran und knüpfte gleichzeitig Kontakte zu Südafrika. Im August 1951 bot Francis Perrin, der Präsident des französischen Kommissariats für Atomenergie (Commissariat à l’énergie atomique, CEA), Paul Scherrer an, der Schweiz genügend Uran für den Bau eines Forschungsreaktors zu liefern, sofern die Schweiz den Atomreaktor selbst entwickeln und die französischen Behörden über ihre Erfahrungen informieren würde. Die Schweiz müsste zudem das beim Betrieb des Atomreaktors entstandene Plutonium an Frankreich abgeben.48
Grossbritannien durchbrach schliesslich 1953 das Ausfuhrverbot und stellte der Schweiz mittels eines Dreiecksgeschäfts mit Belgien zehn Tonnen metallisches Natururan aus Katanga in Belgisch-Kongo zur Verfügung. Die Schweizer Delegation unter der Leitung Paul Scherrers handelte das Dreiecksgeschäft aus. Der Bundesrat bewilligte dafür 3,3 Millionen Franken. Die zehn Tonnen Uranmetall trafen 1954 und 1955 in der Schweiz ein, circa fünf Tonnen Uranmetall in Aluminiumumhüllung und fünf Tonnen in Form von Uranoxid. Rund fünf Tonnen wurden der 1955 in Würenlingen gegründeten Reaktor AG zur Verfügung gestellt, die damit den geplanten Natururan-Forschungsreaktor Diorit betreiben wollte. Die restlichen fünf Tonnen Uran wurden als Kriegsreserve in einem Réduit-Stollen der KTA in der Pulverfabrik Wimmis bei Spiez eingelagert. Nachdem sich die britischen Uranbrennstäbe für den Betrieb des Forschungsreaktors Diorit als unbrauchbar erwiesen hatten, wurden die fünf Tonnen der Reaktor AG ebenfalls in der Pulverfabrik in Wimmis eingelagert.49
Am 14. Januar 1960 fand ein Treffen des Generalstabs und der KTA mit Jakob Karl Burckhardt, dem Delegierten des Bundesrates für Fragen der Atomenergie, sowie dem Vizedirektor der Reaktor AG statt, um über die weitere Verwendung der Uranreserve zu beraten. Oberdivisionär Peter Burkhardt stellte dabei die Frage, «ob das dem Bunde ohne spezielle Auflage gehörende U[ran] verwendet werden kann, Vorstudien für die Herstellung von A-Waffen durchzuführen oder ob es sogar für die Herstellung einiger A-Bomben genügen würde».50 «Rein theoretisch» sei es möglich, aus den zehn Tonnen Uran eine einzige Uranbombe oder eineinhalb Plutoniumbomben herzustellen, allerdings sei dies aufgrund der «unvernünftig hohen Kosten» praktisch unmöglich, lautete die Antwort.51 In den 1960er- und 1970er-Jahren geriet die Uranreserve in Wimmis zunehmend in Vergessenheit. In einem Brief vom 20. Juni 1978 erkundigte sich Peter Grossenbacher, der Direktor der Pulverfabrik Wimmis, bei Eduard Kiener, dem Direktor des Bundesamts für Energiewirtschaft (BFE), nach der zuständigen Amtsstelle. Man hatte in der Zwischenzeit also bereits vergessen, welche Bundesstelle für die Uranreserve verantwortlich war. Darauf beschloss der Bundesrat am 12. August 1981, das Uran dem BFE zu übertragen.52 Schliesslich wurde das Uran 1991 nach Frankreich in die Wiederaufbereitungsanlage La Hague geschickt, wo es angereichert wurde, damit es anschliessend als gewöhnliches Brennmaterial im AKW Beznau eingesetzt werden konnte.53
Die Suche nach Uran in den Schweizer Bergen begann bereits 1943. Die ersten Geländeuntersuchungen in den Alpen waren jedoch amateurhafte Exkursionen einzelner Geologieprofessoren mit deren Studenten.54 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die geologischen Exkursionen intensiviert. Die Bemühungen wurden insbesondere nach der Gründung der Reaktor AG 1955 zusätzlich verstärkt, um den dringend benötigten Brennstoff für den Forschungsreaktor Diorit zu beschaffen, der 1957 gebaut wurde. Nebst den Industriefirmen Aluminium Industrie AG, Grande Dixence SA, Lonza AG und den Eisenbergwerken Gonzen AG suchte vor allem der von der SKA 1956 gegründete «Arbeitsausschuss zur Untersuchung schweizerischer Mineralien und Gesteine auf Atombrennstoff und seltene Elemente» vorwiegend im Wallis nach Uran. Man fand zwar auf der Mürtschenalp im Kanton Glarus, im Gestein aus dem Gotthard- und dem Lötschbergtunnel und im Aare- und im Bergeller Granitmassiv Uranerz, doch waren die Vorkommen zu gering, als dass sich ein Abbau gelohnt hätte.55
Im März 1960 legte Jakob Karl Burckhardt als Delegierter des Bundesrates für Fragen der Atomenergie dem Generalstabschef Jakob Annasohn einen Tätigkeitsbericht über die Uranprospektion vor. Der Bericht hielt fest, dass im Wallis bei Le Fou, Alou und Naters Uranerz gefunden worden sei und ein Abbau der Uranvorkommen für militärische Zwecke möglich sei, dieser aber mit einem enorm hohen finanziellen Aufwand verbunden wäre.56 Das EMD kam daher zum Schluss, dass «eine summarische Untersuchung der Erzgewinnungs- und Fabrikationskosten zur Herstellung des Atomsprengkopfes Uran 235 durch Isotopentrennung aus dem natürlichen Uran zeigt, dass die Kosten unsere Volkswirtschaft gegenwärtig noch überlasten würden. […] Beim heutigen Stand der Ausbeutung von Uran-Vorkommen im Inland, der Lage unserer Reaktorindustrie, dem verfügbaren wissenschaftlichen Personal und dessen Kenntnissen sowie den finanziellen Anforderungen kommt voraussichtlich eine Eigenfabrikation von Atomwaffen für das nächste Jahrzehnt nicht in Frage.»57
Das Fehlen des radioaktiven Rohstoffs Uran wurde entscheidend für das Schweizer Atombombenprogramm: Als rohstoffarmes Binnenland musste die Schweiz ihren Traum, eine eigene Atombombe aus einheimischem Uran zu bauen, bald aufgeben. Zum Mangel an Rohstoffen kamen die Rückständigkeit in der Reaktortechnologie, das Fehlen geeigneter wissenschaftlicher Fachleute und die begrenzten finanziellen Ressourcen, was die Schweiz schliesslich zur Zusammenarbeit mit verschiedenen europäischen Ländern und den USA zwang und zu einem Verlust der Unabhängigkeit führte.58 Der Aufbau eines eigenen Atomwaffenarsenals hätte immense Kosten verursacht, was damals nicht nur Abstriche bei der konventionellen Verteidigung zur Folge gehabt, sondern vermutlich auch andere wichtige Anliegen wie beispielsweise die Finanzierung der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) gefährdet hätte. Die Beschaffung von Uran im Ausland war ebenfalls mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, da auf dem internationalen Markt kein Uran gekauft werden konnte, das nicht der Kontrolle der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) unterlag und damit ausschliesslich für zivile Zwecke verwendet werden durfte.
Der Forschungsreaktor Diorit produzierte während seines Betriebs von 1960 bis 1977 rund 20 Kilogramm Plutonium, das für den Bau einer Atombombe hätte genutzt werden können. Plutonium kann, wenn es nach einem aufwendigen chemischen Verfahren von anderen radioaktiven Isotopen getrennt wird, als Spaltstoff für Atomwaffen verwendet werden.59 Der Direktor der Reaktor AG, Rudolf Sontheim, hielt deshalb auch die Herstellung von Atomwaffen mit Plutonium für möglich: «Die Produktionsmethoden für Pu 239 sind am besten bekannt. Deren autarke technische Realisation dürfte mit dem relativ geringsten Forschungsaufwand möglich sein.»60 Die Herstellung eigener Atomwaffen hätte allerdings das bilaterale Abkommen der Schweiz mit den USA über die friedliche Verwendung der Atomenergie verletzt. Seit den 1950er-Jahren wurde zudem in den USA und in Grossbritannien mit dem sogenannten Schnellen Brüter ein neuer Reaktortyp entwickelt, der grosse Mengen von Plutonium produzierte. Im Oktober 1965 beauftragte der Bundesrat Urs Hochstrasser, den Delegierten für Fragen der Atomenergie, folgende Abklärungen zu treffen: «Suche nach Uranvorkommen, Urananreicherung, Physik des schnellen Brüters. Gleichzeitig sollen Fachleute für die Probleme der A-Waffentechnik ausgebildet werden.»61 Solche Fachleute wurden auch für die Realisierung eines Schutzes gegen die Auswirkung einer Bombardierung der Schweiz mit Atomwaffen benötigt. Aus den abgebrannten Brennstäben des Reaktors Diorit wurde zwischen 1966 und 1973 in der Wiederaufbereitungsanlage der Eurochemic im belgischen Mol Plutonium gewonnen und anschliessend wieder in die Schweiz zurückgeschickt. Das Plutonium des Diorit lagerte bis 2014 im Paul Scherrer Institut (PSI) in Würenlingen. Die 20 Kilogramm Plutonium hätten für den Bau von rund vier Atombomben ausgereicht. 2014 beschloss der Bundesrat schliesslich, das Plutonium an die USA zu übergeben.62
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verfügte nur die USA über die Technologie zur Anreicherung von Uran. Alle Staaten, die mit angereichertem Uran arbeiten wollten, waren daher von den USA abhängig. Die Schweiz wollte aber in ihrem Atomprogramm von den USA unabhängig sein. Deshalb entschied man sich, einen Atomreaktor zu entwickeln, der mit Natururan betrieben werden konnte. Dieses Uran verlangt einen speziellen Reaktortyp, der mit schwerem Wasser oder Graphit betrieben wird. Der Betrieb eines solchen Schwerwasserreaktors brauchte also nebst dem Uranerz als Brennstoff auch schweres Wasser oder Graphit als Moderator. Der Moderator bremst die Neutronen ab, die bei der Spaltung des Urans entstehen. Schweres Wasser (D2O) kommt als Isotop im herkömmlichen Wasser (H2O) in einer Konzentration von etwa 0,15 Promille vor. Genauso wie das Uran waren jedoch auch das schwere Wasser und hochreines Graphit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgrund der US-amerikanischen Handelsbeschränkungen auf dem internationalen Markt nicht erhältlich. Aus diesem Grund versuchte man nach dem Zweiten Weltkrieg, das schwere Wasser ebenfalls in der Schweiz herzustellen.
Professor Werner Kuhn vom Physikalisch-Chemischen Institut der Universität Basel forschte bereits seit den 1940er-Jahren an der Herstellung von schwerem Wasser. Sie ist ein Spezialfall einer Isotopentrennung, bei dem das schwere Wasser aus gewöhnlichem Wasser in einem aufwendigen Destillationsverfahren angereichert wird. In Zusammenarbeit mit der Firma Hovag in Domat-Ems (heute: Ems-Chemie) und der Lonza AG in Visp entwickelte Werner Kuhn während des Kriegs ein Verfahren zur Destillation von schwerem Wasser, zu einer Zeit, als das deutsche «Uranprojekt» aufgrund des fehlenden schweren Wassers lahmgelegt war.63 Die beiden Firmen Hovag und Lonza AG erhielten von der 1955 gegründeten Reaktor AG den Auftrag, zwölf Tonnen schweres Wasser herzustellen. Die USA wollten jedoch die Herstellung von schwerem Wasser in der Schweiz verhindern und boten der Reaktor AG deshalb über ihre Atomic Energy Commission schweres Wasser zu einem Dumpingpreis an, mit dem die beiden Schweizer Firmen nicht konkurrieren konnten. Walter Boveri jun., der Direktor der BBC, und Rudolf Sontheim, der damalige Direktor der Reaktor AG, entschieden sich aufgrund der tiefen Preise dafür, das schwere Wasser aus den USA zu importieren.64
Die Strahlenforschung wurde nach dem Krieg als eine Schlüsseltechnologie betrachtet und dementsprechend mit Bundesgeldern in bis dahin unerreichtem Ausmass gefördert. Die SKA förderte Forschungen im Bereich der Atomphysik, die für den Bau von Atomwaffen und Atomreaktoren wichtig waren, und im Bereich der Strahlenmedizin und -biologie, die dem Schutz vor Strahlenschäden in einem künftigen Atomkrieg dienen sollten.65 Dabei kam es zu einer engen Verschränkung von Militär, Wissenschaft, Medizin und Industrie. Bereits während der konstituierenden Sitzung der SKA wollte Generalstabschef Louis de Montmollin von Paul Scherrer wissen, welche Schutzvorkehrungen die Armee «im Hinblick auf einen Angriffskrieg mit Atombomben» treffen müsse. Hans Frick, der Chef der Ausbildung der Schweizer Armee, beschäftigte demgegenüber die Frage, ob ein Gelände nach einer Atombombenexplosion «wegen einer allfälligen radioaktiven Strahlung» noch betretbar sei.66 Der Strahlenschutz war für die Schweizer Armee von zentraler Bedeutung, um einen künftigen Atomkrieg führen zu können. Auf Initiative von Alexander von Muralt, Professor für Physiologie an der Universität Bern und späterer Initiant und erster Präsident des Schweizerischen Nationalfonds, begann die SKA 1947 mit der Erforschung der biologischen Wirkungen von Strahlen. So schlug er vor, «dass nun auch die Probleme der durch die Uranmaschine und Atombombe hervorgerufenen Strahlenschädigungen vom medizinischen und biologischen Standpunkt aus in Angriff genommen werden sollten».67 Der Zweck der Strahlenforschung liege darin, «therapeutische Massnahmen gegen die durch die Bestrahlung durch eine A-Bombe auftretenden Körperschäden treffen zu können und wenn möglich, Vorräte von Heilmitteln zu schaffen».68 Der Bericht Wirkung der Atombombe auf den Menschen vom 2. Juni 1948 fasste das damals vorhandene Wissen zur Strahlenbiologie erstmals zusammen.69
An den Forschungen im Bereich der Strahlenmedizin und -biologie waren damals insbesondere die beiden Röntgeninstitute von Hans Rudolf Schinz am Kantonsspital Zürich und von Adolf Zuppinger am Inselspital Bern beteiligt. Letzteres konnte Ende Juli 1953 mit Geldern der SKA für ihre experimentelle Forschung einen Teilchenbeschleuniger kaufen, den von der BBC in Baden konstruierten «Betatron». Bis Ende der 1960er-Jahre verkaufte die BBC über 50 Betatron-Anlagen in zahlreiche Länder Europas, Amerikas und Asiens. Adolf Zuppinger schlug vor, Tierversuche durchzuführen, um die durch die radioaktive Strahlung verursachten biologischen Schäden genauer zu erforschen. Das US-Verteidigungsministerium unterstützte während des Kalten Kriegs bis in die 1960er-Jahre auch Menschenversuche. «Für die Schweiz finden sich bislang keinerlei Hinweise darauf, dass während des Kalten Kriegs wie in den USA aus militärischen Interessen gezielte Versuchsreihen mit Strahlen oder radioaktiven Substanzen stattfanden», schrieb die Historikerin Sibylle Marti, die sich eingehend mit der militärischen und zivilen Strahlenforschung in der Schweiz während des Kalten Kriegs beschäftigt hat.70
Ein weiteres wichtiges Forschungsinstitut war das 1949 gegründete Strahlenbiologische Laboratorium der Universität Zürich, das von 1950 bis 1989 von Hedi Fritz-Niggli geleitet wurde.71 Das Labor erforschte ebenfalls die Strahlengefährdung des Menschen. Anhand von Bestrahlungsversuchen mit Drosophila-Fliegen wurde die Entstehung von Mutationen bei Keimzellen untersucht. Wie Hedi Fritz-Niggli schrieb, war «es von grossem theoretischem und praktischem Interesse, die Wirkungen der kurzwelligen Strahlung auf die Zelle und das Erbmaterial abzuklären. Dies, um Richtlinien für eine Toleranzdosis zu geben, resp. die genetische Strahlengefährdung zu erkennen, damit prophylaktische Massnahmen getroffen werden können.»72 Die ursprünglichen militärischen Forschungsziele führten auch zu neuen diagnostischen und therapeutischen Anwendungen etwa im Bereich der Strahlenbehandlung von Krebskrankheiten. Die Radioisotope, die in der Krebsforschung zur Anwendung kamen, dienten in den 1950er-Jahren wiederum der Propaganda vom «friedlichen Atom» und förderten die gesellschaftliche Akzeptanz der zivilen Nutzung der Atomenergie.73
1956 wurde die Eidgenössische Kommission zur Überwachung der Radioaktivität (KUeR) geschaffen, um den durch die Atombombentests verursachten radioaktiven Fallout zu überwachen. Fortan war die KUeR für die Überwachung der Radioaktivität in der Luft, im Boden, in Lebensmitteln und im menschlichen Körper zuständig. Seit den späten 1950er-Jahren wurden dazu landesweit Messstationen aufgebaut. Ausgehend von den Empfehlungen der International Commission on Radiological Protection (ICRP) legte die KUeR zudem die Grenzwerte für die Abgabe radioaktiver Stoffe für AKWs und Spitäler in der Schweiz fest. 1963 trat die Strahlenschutzverordnung in Kraft. Zum Schutz der Bevölkerung schuf der Bundesrat mit einer Verordnung vom 9. September 1966 einen Alarmausschuss, der sich mit dem AC-Schutzdienst der Armee und dem Zivilschutz koordinierte. Mitte der 1960er-Jahre bewilligte das Parlament zudem die Errichtung einer neuen physikalischen Versuchsanstalt, des Schweizerischen Instituts für Nuklearforschung in Villigen an der Aare, das 1988 mit dem Eidgenössischen Institut für Reaktorforschung (EIR) zum PSI fusionierte.
Der Abwurf der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki markierte 1945 zugleich das Ende des Zweiten Weltkriegs und den Beginn des Kalten Kriegs. Ganze Generationen haben seither mit der Angst vor einem apokalyptischen Atomkrieg gelebt, der jederzeit ausbrechen könnte und innerhalb weniger Stunden einen Grossteil der Menschheit vernichten würde.74 Der ausser Kontrolle geratene Rüstungswettlauf zwischen den USA und der Sowjetunion schuf schliesslich die Möglichkeit, die gesamte Menschheit zu vernichten und den Planeten Erde für den Menschen für Zehntausende von Jahren unbewohnbar zu machen.
Ab Mitte des Zweiten Weltkriegs befürchtete Stalin, der Westen werde ihn mit «der Bombe» erpressen. 1942 ernannte er deshalb den russischen Atomphysiker Igor Kurtschatow zum wissenschaftlichen Leiter des sowjetischen Atombombenprogramms. Ab 1943 war Stalin durch sowjetische Spione, zu denen unter anderen der deutsche Atomphysiker Klaus Fuchs gehörte, über den Stand des «Manhattan-Projekts» informiert. Am 20. August 1945 ernannte Stalin zudem den gefürchteten Geheimdienstchef Lawrenti Beria zum Leiter des Atomprogramms. Unter seinem Kommando wurden ab 1946 durch Gulag-Häftlinge riesige «geheime Städte» und Atomlaboratorien wie Arsamas-16 (Sarow) und Tscheljabinsk-40 (später -65) bei Kyschtym aus dem Boden gestampft.
Ab dem Frühjahr 1945 fahndeten die Sowjets zudem im von ihnen besetzten Deutschland verstärkt nach Atomtechnik. Nach 1945 wurden Tausende deutsche Techniker und Wissenschaftler aus dem Bereich der Atomphysik, aber auch der Flugzeug- und Raketentechnik in die USA und in die Sowjetunion gebracht. Nachdem Igor Kurtschatow 1947 in einem Gutachten festgestellt hatte, dass es möglich sei, in zwei Jahren eine eigene Atombombe herzustellen, begann die Rote Armee im September 1947, in Kasachstan das neue Testgelände Semipalatinsk einzurichten, wo schliesslich am 29. August 1949 die erste sowjetische Atombombe gezündet wurde.
Der Koreakrieg von 1950 bis 1953 war der erste heisse Konflikt des Kalten Kriegs, bei dem es beinahe zu einem atomaren Schlagabtausch zwischen den USA und der Sowjetunion gekommen wäre. General Douglas MacArthur, der Oberbefehlshaber der UN-Truppen, setzte sich wiederholt vehement für eine atomare Bombardierung chinesischer Städte ein, bis schliesslich Präsident Harry S. Truman eine weitere militärische Eskalation des Konflikts stoppte. 1954 planten die USA während des Indochinakriegs erneut den Einsatz von Atomwaffen, um die Franzosen gegen die vietnamesische Unabhängigkeitsbewegung zu verteidigen.
Mit der Gründung der Nato 1949 und dem Warschauer Pakt 1955 formierten sich die Blöcke in Ost und West. Gleichzeitig begann auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs ein massiver Rüstungswettlauf, der eine gefährliche Eigendynamik entwickelte. Die finstere Absurdität des atomaren Wettrüstens führte dazu, dass vorerst nur die gegenseitige Abschreckung – das «Gleichgewicht des Schreckens» – den Ausbruch eines Dritten Weltkriegs, der zu einem globalen Atomkrieg geworden wäre, verhindern konnte. Die militärische Strategie der beiden Supermächte sah jeweils den massiven Einsatz von Atomwaffen vor.
Vor 1949 – noch bevor die Sowjetunion über Atombomben verfügte – gab es in den USA sogar Überlegungen, einen atomaren Präventivkrieg gegen sie zu führen. Ab 1951 liess auch Stalin die Strategie eines Atomkriegs entwickeln, bei der ein Präventivkrieg eine Option war. 1954 verkündeten die USA ihre ominöse Nuklearstrategie der «massiven Vergeltung» («massive retaliation»), die besagte, dass sogar ein begrenzter Angriff eines potenziellen Angreifers mit konventionellen Waffen mit Atombomben vergolten werden sollte. Umgekehrt war während des Kalten Kriegs auch für die Sowjetunion ein globaler Atomkrieg stets eine strategische Option.
Im atomaren Rüstungswettlauf erhöhte sich nicht nur die Anzahl der Bomben, sondern auch die Zerstörungskraft der Sprengköpfe. In den USA gelang unter der Leitung von Edward Teller am 1. November 1952 die Zündung der ersten amerikanischen Wasserstoffbombe, deren Sprengkraft tausendmal stärker war als die der Hiroshima-Bombe. Am 12. August 1953 folgte die Sowjetunion unter der Leitung von Igor Kurtschatow und Andrei Sacharow mit der Zündung ihrer ersten Wasserstoffbombe. Grossbritannien hatte am 3. Oktober 1952 ebenfalls seine erste Atombombe gezündet, und am 8. November 1957 folgte die erste Wasserstoffbombe.
Ab den 1950er-Jahren fanden in den USA und in der Sowjetunion Tausende Atombombentests statt. Die Tests waren vor allem eine Machtdemonstration der beiden Supermächte, die der gegenseitigen Abschreckung dienen sollte; gleichzeitig wurden die Tests aber auch zur Messung der Wirkung und damit zur Weiterentwicklung und Perfektionierung der Atomwaffen genutzt. Die USA testeten ihre Atombomben hauptsächlich in der Wüste von Nevada sowie im Pazifischen Ozean. Der grösste amerikanische Atombombentest, «Bravo», fand am 1. März 1954 auf dem Bikini-Atoll statt. Die radioaktive Verstrahlung eines japanischen Fischkutters sorgte weltweit, vor allem aber in Japan, für Empörung. Der grösste jemals durchgeführte Atombombentest war die Zündung der durch ein Team um Andrei Sacharow entwickelten sowjetischen Wasserstoffbombe «Zar», die am 30. Oktober 1961 auf dem Testgelände Nowaja Semlja im Arktischen Ozean explodierte. Deren Sprengkraft war mit rund 50 bis 60 Millionen Tonnen TNT rund 4000-mal so stark wie jene von «Little Boy», der Bombe, die über Hiroshima abgeworfen wurde.
Die Atombombentests hatten schwerwiegende Folgen für Mensch und Umwelt. Der radioaktive Fallout fiel direkt auf die bewohnten Gebiete rund um die Testgelände und verteilte sich über die Atmosphäre auf dem ganzen Globus, sodass die Strahlenbelastung in den 1950er-Jahren weltweit stark zunahm. Die Bedürfnisse der Bevölkerung in den meist spärlich besiedelten Regionen am Rande der Testorte wurden bewusst ignoriert. Gleichzeitig wurden die beteiligten Wissenschaftler und Soldaten oft fahrlässig und teilweise sogar vorsätzlich der radioaktiven Strahlung ausgesetzt. Ganze Bevölkerungsgruppen wurden umgesiedelt, vertrieben und als medizinische Versuchsobjekte missbraucht.75 Man geht heute davon aus, dass an den Spätfolgen der weltweit über 2100 Atombombentests über 200000 Menschen gestorben sind.76 Die Strahlenopfer starben an Leukämie, Gehirntumoren und Schilddrüsenkrebs, die Fehlgeburten häuften sich, und die zur Welt gekommenen Kinder und Enkel wiesen vermehrt Missbildungen auf.
In der sowjetischen Atombombenfabrik Tscheljabinsk bei Kyschtym im Ural explodierte am 29. September 1957 in der kerntechnischen Anlage Majak ein Lager für hochaktive Abfälle aus der Plutoniumproduktion. Majak war die erste Anlage zur industriellen Herstellung von spaltbarem Material in der Sowjetunion. Bei dem bisher grössten jemals bekannt gewordenen militärischen Atomunfall wurden rund 250000 Menschen radioaktiv verstrahlt. Der Wind verteilte die Strahlung bis 400 Kilometer nördlich von Majak. Aufgrund der Wetterverhältnisse konzentrierte sich die Verseuchung hauptsächlich auf den Südural, Europa blieb verschont. Die Sowjetunion konnte den Vorfall während 30 Jahren geheim halten. Majak ist heute der radioaktiv am stärksten verstrahlte Ort der Erde. Die dortige marode gewordene kerntechnische Anlage ist immer noch in Betrieb und wird weiterhin streng militärisch abgeschottet. Es werden dort weiterhin Radioisotope für die russische Atomwaffenproduktion produziert und abgebrannte Brennelemente, die teilweise auch aus dem Westen kommen, wieder aufbereitet.77
Die gigantische nukleare Aufrüstung erzeugte auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs eine permanente atomare Bedrohung. Der ständige Ausbau von immer stärkeren Atomwaffen schuf kein Gefühl der Sicherheit, sondern steigerte die Gefahr eines Atomkriegs und potenzierte damit die Angst vor der atomaren Katastrophe. Mit der ideologischen Teilung der Welt in Ost und West wurden die Fronten klar abgesteckt und die gegenseitigen Feindbilder zementiert. Sie wurden im Westen wie im Osten durch intensive Propaganda gepflegt und weiter verstärkt. Die angenommene Bedrohung durch die Gegenseite prägte dabei die rasante Dynamik der ideologischen, politischen, wirtschaftlichen und militärischen Auseinandersetzung.
Der Kalte Krieg war eine ideologische und machtpolitische Konfrontation der Weltanschauungen, die auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs als ein Kampf zwischen Gut und Böse angesehen wurde. In den USA machte sich insbesondere in der McCarthy-Ära von 1947 bis 1956 ein rabiater Antikommunismus breit. Der republikanische Senator Joseph McCarthy stand stellvertretend für die weitverbreitete antikommunistische Hysterie in der amerikanischen Gesellschaft, die überall und jederzeit eine kommunistische Unterwanderung befürchtete. McCarthy heizte die Stimmung kontinuierlich mit Beschuldigungen und Verschwörungstheorien weiter an. Die «Hexenjagd» gegen tatsächliche oder vermeintliche Kommunisten betraf zunehmend auch Bibliothekare, Lehrer, Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler. Einer der bekanntesten Wissenschaftler, der Ende 1953 in die Mühlen des von McCarthy geleiteten House Committee on Un-American Activities geriet, war der Atomphysiker J. Robert Oppenheimer, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Entwicklung einer amerikanischen Wasserstoffbombe kritisiert hatte und deshalb nun als ein Sicherheitsrisiko angesehen wurde.
Im ideologischen Kampf zwischen Ost und West stand die Schweiz während des Kalten Kriegs trotz der ständigen Beteuerung ihrer «Neutralität» ideologisch, politisch, wirtschaftlich und militärisch klar auf der Seite des Westens. Mit dem Hotz-Linder-Agreement vom Juli 1951 beugte sie sich dem Diktat der USA, das auf ein Verbot des Osthandels hinauslief.78 Der Antikommunismus wurde in der Schweiz während des Kalten Kriegs zur bürgerlichen Staatsideologie und damit zum festen Bestandteil der nationalen Kultur. Die USA wussten, dass der kommunistische Einfluss in der Schweiz vernachlässigbar war; die Sowjetunion ihrerseits wertete den Schweizer Antikommunismus als ein deutliches Zeichen der Zugehörigkeit zum Westen und zählte die Schweiz ab 1963 daher zum Kampfgebiet der Nato.79
Nach dem Ungarn-Aufstand 1956 erreichte der Antikommunismus in der Schweiz seinen Höhepunkt. Die sowjetische Niederschlagung des Freiheitskampfs löste damals in der Schweizer Bevölkerung eine Welle der Solidarität für Ungarn aus. Wie der Historiker Thomas Buomberger in seinem Buch Die Schweiz im Kalten Krieg 1945–1990 zeigte, war der Antikommunismus geprägt von der Vorstellung einer akuten oder schleichenden Gefahr aus dem Osten.80 Er schürte die Angst vor der «roten Gefahr» und vermittelte den Eindruck, dass sich die Schweiz zusammen mit dem Westen und den «unterdrückten» Völkern des Ostens in einem permanenten Abwehrkampf gegenüber dem aggressiven, expansiven und gottlosen Sowjetkommunismus befinden würde, der danach strebe, die Weltherrschaft zu erobern und alle freien Völker dieser Erde zu versklaven. In diesem in Schwarz-Weiss gemalten Weltbild des Kalten Kriegs war das eigene System gut, das der anderen Seite böse. Im Westen konnte das Gute im Menschen zu seiner vollen Entfaltung kommen. Der Kommunismus dagegen war die Inkarnation des Bösen.81 Das Feindbild des Kommunismus wurde auch gezielt zur Diskreditierung der politischen Gegner eingesetzt.82 Die Bedrohung aus dem Osten wurde zum Lebenselixier der Schweizer Innenpolitik.83 Mit dem Vorwurf des Kommunismus konnte jede Kritik im Keim erstickt werden. Die massive militärische Aufrüstung der Schweizer Armee wurde ebenso wie die Ausweitung des Staatsschutzes mit der kommunistischen Gefahr legitimiert.84
Die Doppelkrise Ungarn/Suez löste im Herbst 1956 in der Schweiz Hamsterkäufe von Nahrungsmitteln aus, die den vom Bundesrat ernannten Delegierten für wirtschaftliche Kriegsvorsorge dazu veranlassten, eine Propagandakampagne zur Anschaffung eines Notvorrats zu lancieren.85 Der Notvorrat wurde damit zu einem Teil der totalen Landesverteidigung. Wer keinen Notvorrat hatte, galt als suspekt und als unschweizerisch.86 Die Behörden schufen ein Klima ständiger Angst und Unsicherheit, indem sie unablässig auf die potenzielle Versorgungsknappheit hinwiesen. Die Ideologie der geistigen Landesverteidigung, die dieser Notvorratskampagne zugrunde lag, propagierte die Armee im Kalten Krieg als den «Kristallisationskern der ‹nationalen Identität› der Schweiz».87 Die Freiheit und Unabhängigkeit durch ständige Wehrbereitschaft und eigenständige Vorsorge prägten diese idealisierte Vorstellung der schweizerischen Identität.88
Nach der Suezkrise und dem Ungarn-Aufstand 1956 folgte ein Jahr später, 1957, der sogenannte Sputnikschock. In den 1950er-Jahren fand zwischen den USA und der Sowjetunion nicht nur ein nuklearer Rüstungswettlauf, sondern parallel dazu auch ein Wettlauf ins All statt. Beide Supermächte wollten dabei ihre technologische Überlegenheit beweisen. Als am 4. Oktober 1957 der sowjetische Satellit Sputnik erstmals eine Erdumlaufbahn erreichte, löste das im Westen einen Schock aus, da die Sowjetunion nun offenbar in der Lage war, die USA mit nuklearen Interkontinentalraketen zu erreichen. Der Weltraum wurde zum neuen Schlachtfeld des Kalten Kriegs. Am 3. November 1957 wurde die Hündin Laika als erstes Lebewesen und am 12. April 1961 Juri Gagarin als erster Mensch mit einer sowjetischen Rakete in den Weltraum geschickt. Die USA mussten erkennen, dass sie der Sowjetunion im Bereich der Raumfahrt unterlegen waren. Am 25. Mai 1961, nur eineinhalb Monate nach dem Start von Juri Gagarin, hielt der US-Präsident John F. Kennedy eine Rede, in der er das Ziel vorgab, noch im selben Jahrzehnt einen Menschen zum Mond und wieder zurück zu bringen. Im Zuge der NASA-Mission Apollo 11 fand dann am 21. Juli 1969 die erste Landung von Menschen auf dem Mond statt.
Die wissenschaftlich-technologische Konkurrenz wurde zur Überlebensfrage im Kalten Krieg.89 Für beide Supermächte gab es nur zwei Möglichkeiten: entweder die Hegemonie oder den Untergang. Die technische Überlegenheit bedeutete mehr militärische Macht und entschied damit über Leben oder Tod. Nebst dem Bau von Atom- und Wasserstoffbomben gehörten Flugzeuge und Raketen sowie die Raumfahrt zu den militärischen Technologien, bei denen die beiden Supermächte miteinander konkurrierten. Daneben wurden auch Teile der konventionellen Waffensysteme atomar aufgerüstet: Bomberflotten, U-Boote, Minen, Artillerie, tragbare Raketenwerfer, Kurz- und Mittelstreckenraketen. Der Entwicklung der Interkontinentalraketen kam eine besondere Bedeutung zu, da ein zukünftiger Atomkrieg mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Raketenkrieg sein würde.
1954 gaben die USA erstmals ihre Strategie der «massiven Vergeltung» bekannt. Jeder sowjetische Angriff auf Nato-Staaten in Europa, ob mit Atomwaffen oder ohne, sollte mit einem vernichtenden atomaren Gegenschlag beantwortet werden. Durch die Androhung massiver Vergeltung versuchten die USA eine weitere Expansion der Sowjetunion zu verhindern. Diese nukleare Strategie der Nato nahm enorm hohe Verluste der Zivilbevölkerung in Kauf. Europa hätte sich in einem Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion in ein atomares Schlachtfeld verwandelt und wäre infolge der radioaktiven Verstrahlung zu einer nuklearen Wüste geworden.