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Ein gemütlicher Weihnachtsabend mit seinen Eltern. So weit, so normal. Normal, bis sich M. an einem der Weihnachtsplätzchen seiner Mutter verschluckt und das Zeitliche segnet. Wohin führt seine Reise nun? Himmel oder Hölle? Die für diese Entscheidung Verantwortlichen der kosmischen Annahmestelle haben mit dieser Entscheidung so ihre Schwierigkeiten, denn die guten Taten von M. wiegen exakt gleich auf mit seinen schlechten. Und so wird M. auf eine Mission geschickt, deren Gelingen ihm seinen Platz im Himmel sichern kann - finden Sie Henry! Henry, ein sogenannter Geheimnisträger, der Berichte gewaltiger und dunkler Wesen der Weltgeschichte überprüfen sollte, ist nämlich verschwunden. Und so macht sich M. mithilfe seines neuen intergalaktischen Zeitsaugers, der ihn in jede beliebige Epoche der Menschheitsgeschichte verfrachten kann auf die Suche, hin zurück bis zum Urknall. Was wird M. Auf seiner Reise finden? Dieses Buch erzählt auf unterhaltsame und humorvolle Weise von den schlimmsten Ereignissen unserer Geschichte und setzt sich auf kritische Weise mit der Bedeutung menschliche Ideologien, Philosophien und Errungenschaften auseinander. Der Mensch eine Farce?
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Seitenzahl: 234
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Michael Fische
Finden Sie Henry
Ein philosophischer Roman
Meinen lieben Eltern, Karin und
Dr. Edmund Fischer gewidmet.
© 2023 Michael Fischer
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Kapitel 1
Kapitel 2
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Kapitel 7
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Kapitel 1
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Kapitel 1
Es geschah am zweiten Adventssonntag im Jahr 2008, unmiRelbar nach dem gemeinsamen MiRagessen. Heute, an diesem Sonntag, musste M. unter doch recht banalen Umständen sterben. Noch ahnte er nichts von dem drohenden Unheil. Es haRe bereits seit mehreren Tagen geschneit. Das Thermometer am Eingang des kleinen Einfamilienhauses zeigte minus 13 Grad an. Daher beschloss M., den gesamten Tag zu Hause zu verbringen. Schliesslich haRe er seit einigen Wochen keine Arbeit mehr und verfügte daher nun über besonders viel Freizeit. Da war es doch mehr als angebracht, einmal überhaupt nichts zu unternehmen. Als er nun am Fenster sass, musste er an seinen Traum der vergangenen Nacht denken. Dass dieser Traum ein Vorbote kommender beunruhigender Ereignisse war, wusste er natürlich in diesem Moment noch nicht. Er haRe in der Nacht von einem neutralen Vakuum geträumt. In diesem Traum haRe er sich alles ganz anders vorgestellt, irgendwie dramatischer – und nun ein solch banaler Tod, nach einem so aussergewöhnlichen Leben. Bereits am Morgen war ihm übel und er dachte, er häRe etwas Falsches gegessen. Er nahm sich fest vor, ab sofort keine Meeresfrüchte mehr zu essen. Er häRe lieber die Pizza nehmen sollen. Die Übelkeit liess aber nicht nach, und der Träumer entschied, kurz in die Apotheke zu gehen, um sich ein Medikament zu kaufen. Als er jedoch einige Meter gelaufen war, spürte er plötzlich einen stechenden Schmerz in seinem Rücken, einen Schmerz, der schliesslich über seinen gesamten Brustkorb strahlte. Ihm wurde schwarz vor Augen, und er fiel auf die Strasse. Menschen eilten herbei und versuchten, ihm zu helfen. Zu spät, er erliR einen tödlichen Herzinfarkt, einen banalen Herzanfall in einer banalen Fussgängerzone – was für ein langweiliges Ende! Im Anschluss schwebte er einfach im Nirgendwo vor sich hin. Seine Umgebung war blau, hellblau und er, an eine voluminöse Statue erinnernd, sass mit gekreuzten Beinen, im Schneidersitz, im blauen Nichts. Im weit enbernten Blau sah er plötzlich etwas direkt auf ihn zufliegen. Funken sprühten während des Anflugs, und aufgrund der enormen Geschwindigkeit des Flugkörpers befürchtete er einen sofortigen Zusammenstoss. Doch glücklicherweise bremste das Flugobjekt rechtzeitig ab und kam kurz vor ihm, von schimmerndem Blau eingehüllt, zum Stillstand. Ein Reagenzglas schwebte vor seinen Augen, das eine Art grünlichen Nebel in sich vereinigte und er stellte fest, dass das Grün mit dem Blau hervorragend harmonierte. «Hallo GoR» begrüsste er das Reagenzglas. «Ich bin nicht GoR», antwortete ihm der schwebende Behälter mit metallener Stimme. Diese Antwort liess ihn erschaudern, denn wenn das nicht GoR war, so musste es der Teufel sein, das wahrgewordene Böse. Ängstlich stellte er die Frage, ob es der Herr der Dunkelheit sei. «Nein, ich bin weder GoR noch ein Teufel, ich wurde von der Einheit entsandt, es existiert ausschliesslich die Einheit. Ich wurde hergeschickt, um Dich in Empfang zu nehmen.» «Ja, aber wer bist Du?» «Ich bin das neutrale Vakuum», antwortete das grüne Reagenzglas. «Das habe ich noch nie gehört, ein neutrales Vakuum, was ist das denn?», fragte er grinsend. «Alles ist ein neutrales Vakuum, selbst Du bist eins. Das neutrale Vakuum vereint positive und negative Teilchen in einem geschlossenen Wirkungskreis, um so die Ausgewogenheit sicherzustellen.» «Und was wird jetzt aus mir?», fragte er verunsichert das neutrale Vakuum. «Du wirst erst einmal wieder kompleR hergestellt, denn Du bist in den letzten Jahren sehr ungleich geworden, und das können wir auf keinen Fall akzeptieren. Deshalb waren wir auch gezwungen, Dich umgehend abzuschalten. Nachdem diverse Reparaturen vorgenommen wurden, reihen wir Dich wieder in das Ganze ein, und gemeinsam feiern wir Deine Funktionalität», sprach der gläserne Bote und befestigte sogleich einen Haken an seinem Hosengürtel, drehte sich um und zog ihn mit rasend schneller Geschwindigkeit hinter sich her. Während der Fahrt dachte er noch, dass er sich das alles ein bisschen anders vorgestellt haRe. Schweissgebadet schreckte M. am frühen Morgen aus dem Schlaf und dachte daran, dass ein Psychologe viel Freude an diesem Traum gehabt häRe. Er wäre persönlich aber niemals zu einem Psychologen gegangen. Für ihn waren sie alle Heuchler, die nur Geld verdienen wollten.
Als er wie gewohnt am frühen Morgen sein obligatorisches Marmeladenbrötchen zum Frühstück ass, wusste er natürlich noch nicht, dass er bereits in wenigen Stunden nicht mehr unter den Lebenden weilen würde. Den Hinweis seines vorangegangenen Traumes ignorierte er. Er interpretierte es als ein Vorzeichen für eine bevorstehende Änderung in seinem Leben. Den gesamten VormiRag verbrachte M. mit der Lektüre diverser Zeitschrijen, die seiner MuRer gehörten. Er haRe direkt nach dem Aufstehen noch überlegt, seinen gewohnten Kaffee beim Kiosk, nur wenige hundert Meter enbernt, zu trinken. Fast täglich trafen sich am Morgen einige Kollegen, um einen kleinen Plausch zu halten. Sie kamen aus allen Gesellschajsschichten, und das war das Spannende daran. Ob Banker, Taxifahrer oder Rentnerin, jeder haRe etwas Neues zu erzählen. Bei einem Becher Kaffee philosophierte man über das Weltgeschehen oder tauschte die aktuellsten Neuigkeiten aus der Nachbarschaj aus. Man offerierte sich gegenseitig einen Kaffee und unterhielt sich im SchniR ein bis zwei Stunden. Die Teilnehmer dieser Begegnungen waren äusserst weRerresistent. Es spielte keine Rolle, ob es regnete, schneite oder die Sonne schien. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, täglich zur gleichen Uhrzeit zu kommen. Seit Beginn seiner Arbeitslosigkeit war M. ein regelmässiger Gast der morgendlichen Zusammenkünje. Gestern war das bestimmende Thema der Bombenanschlag in Islamabad gewesen, bei dem über fünfzig Menschen ums Leben gekommen waren. Allerdings wechselte das Thema relativ schnell zu einem Anwohner, der am Vorabend laut grölend über die Biotonne der Kioskbesitzerin gestolpert war. Schliesslich musste die Polizei gerufen werden, weil der Verunfallte begann, den verschüReten Bioabfall nach vorbeigehenden Passanten zu werfen. Eine Bananenschale traf sogar die Besitzerin des Kiosks. Was für ein Skandal! Die Gesprächsrunde konnte sich aufgrund der geschilderten Ereignisse überhaupt nicht mehr beruhigen. Der Taxifahrer ergänzte denn auch sofort den Skandal mit einem Ereignis, das nur wenige Wochen zurücklag. Sein Nachbar, ein ausgesprochen aktiver Alkoholiker wäre auch andauernd über die Mülltonnen gefallen. Dies war ausschliesslich seinem ausserordentlichen, masslosen täglichen Alkoholkonsum geschuldet. Der Nachbar war einfach rund um die Uhr betrunken. Der Bankkaufmann ergänzte den Bericht noch mit einem Vorfall, der sich vor einigen Jahrzehnten ereignet haRe. Damals war es scheinbar üblich gewesen, sich nach ausgedehnten Kneipenbesuchen in sein Auto zu setzen, um persönlich nach Hause zu fahren. Er haRe mit seinem Kumpel eine ausgedehnte Zechtour absolviert. Da er auf dem Nachhauseweg offenbar das Auto nicht mehr mittig in der Fahrspur halten konnte, also von links nach rechts und wieder zurück fuhr, wurde er von zwei Streifenbeamten angehalten. Er kurbelte das Fenster herunter (damals gab es noch keine elektrischen Fensterheber). «Was fällt Ihnen ein, mich miRen in der Nacht anzuhalten!», lallte der betrunkene Bankkaufmann. Dann wurde ihm plötzlich sterbensübel. Er stieg aus seinem Auto, und als er vor den Beamten stand, kotzte er einem von ihnen über die Uniform. Er wurde schliesslich festgenommen. Man entzog ihm für zwölf Monate den Führerschein und belegte ihn mit einer empfindlichen Geldbusse. Wegen Beamtenbeleidigung, alkoholisierten Fahrens und Beschmutzens einer Dienstuniform musste er auch noch fünfzig gemeinnützige Stunden absolvieren.
Die Kioskbesucher schüRelten ungläubig die Köpfe. Man konnte sich das bei ihrem seriösen Bankkaufmann überhaupt nicht vorstellen. Doch alle Anwesenden waren einmal jung gewesen, und so häRe jeder von ihnen eine ähnliche Geschichte zum Besten geben können. Am gleichen Tag kam ein junger Mann mit zwei Doggen zum Kiosk. Nachdem er bezahlt haRe, fing er plötzlich an zu weinen. Einer seiner Hunde haRe Krebs im Endstadium, und der Besitzer war vollkommen verzweifelt. Die Anwesenden versuchten ihn zu trösten. In diesem Augenblick wurde M. erneut die Vergänglichkeit allen Lebens bewusst. Sie alle würden sterben. Das Leben als permanente Wiederholung von Abschieden. M. war betroffen und häRe am liebsten einfach nur losgeheult.
Mehrere Jahrzehnte haRe M. als Führungskraj in verschiedenen Bereichen und Positionen gearbeitet. Er haRe die unternehmerischen Richtlinien stets devot und konsequent durchgesetzt und sich den politischen Gegebenheiten und Intrigen unterworfen. Wichtig war es immer gewesen, die richtigen Freunde zu haben. Viele Führungspositionen wurden durch Seilschajen, nicht durch Kompetenz oder Erfahrung besetzt. Dies führte unter anderem dazu, dass innerhalb eines Unternehmens ein Achtundzwanzigjähriger bereits in den Vorstand berufen wurde. Sein Onkel war der Vorstandsvorsitzende und griff seinem Neffen etwas unter die Arme. Der Neffe übersprang dann einfach ein paar Hierarchiestufen. Im letzten Jahr seiner beruflichen Tätigkeit haRe er aber immer mehr Mühe gehabt. Die politischen Intrigen, die Lügen und die Schauspiele seiner Kollegen widerten ihn zusehends an. Eigentlich haRe sich ja nichts geändert. Es wurde wie immer hinten herum gelästert, nach vorne aber gelächelt. In diesem Jahr wurde sein Zitat «Wenn Du gegen den Strom schwimmst, siehst du wenigstens keine Ärsche!» zu einer Art Lebensphilosophie. Er sass aber in einem riesigen Haifischbecken, deren Bewohner voller Inbrunst das MoRo «Fressen oder gefressen werden» zelebrierten. Viele Jahre zuvor war er noch motoviert und angriffslustig mitgeschwommen. Glücklicherweise wurde er nicht aufgefressen, dafür verspeiste er genussvoll den einen oder anderen kleineren und grösseren Fisch. Weltweit gibt es ungefähr 500 Haifischarten – mit wenigen Ausnahmen durchweg Fleischfresser. Sie ernähren sich von Fischen, grösseren Meeresbewohnern und eben auch kleineren Haien. Der Vergleich dieser Spezies mit den Führungskräjen der Unternehmen drängt sich dann förmlich auf. Es gesellten sich immer neue Hai-Arten dazu, auch ganz gefährliche Exemplare. Am schlimmsten waren die Führungskräje, die entweder Angst haRen oder um jeden Preis Karriere machen wollten. Die, die Angst haRen, versuchten ihre Kollegen zu diffamieren, um selbst in einem besseren Licht dazustehen. Und natürlich kannte ihre Unterwürfigkeit keine Grenzen. Fleischgewordene Arschkriecher, die ohne Unterlass irgendwelche Füsse küssten. Bedauernswerte Kreaturen, die einfach alles getan häRen, nur um ihren Job zu behalten. Die Karrieristen waren in ihrer Vorgehensweise dann noch um einiges brutaler. Da wurde dann schon mal gegen einen Kollegen, der den nächsten KarriereschriR behindern könnte, die eine oder andere Intrige eingefädelt. Natürlich mit dem erklärten Ziel, den Widersacher endgültig zu eliminieren. Er musste zerstört werden! In den vergangenen Jahren wurde zwar zunehmend eine «Du-Kultur» implementiert. Man begegnete sich auf Augenhöhe, Hierarchien sollten verschwinden und fortan nur noch hoch motivierte Teams existieren. Man war jetzt eine Familie. Aber der scheinbar lockere Umgang miteinander täuschte, nichts haRe sich geändert. Keiner wagte es, seine Meinung zu sagen, geschweige denn zu vertreten. Man wollte beim Chef gut dastehen, Karriere machen. Dafür durfte man durchaus seine Seele verkaufen. Es war ja für einen guten Zweck. Kompetenz war nicht gefragt, sondern gute Beziehungen zu vermeintlich einflussreichen Personen. Eigentlich war alles wie immer. M. befand sich in einem Dilemma. Er haRe tatsächlich gedacht, er könne die vorherrschenden Strukturen durchbrechen. Er wollte getreu seiner neu gewonnen Lebensphilosophie neue Wege beschreiten. Er war einfach ehrlich geworden und sagte seine Meinung. Nun musste er aber feststellen, dass er mit dieser Haltung vollkommen allein auf weiter Flur war. Und die Haifischschwärme begannen ihn bereits mit einem süssen Lächeln zu umkreisen. Bei diesem Lächeln konnte man die Zähne besser erkennen. Aber er konnte sich nicht mehr ändern, er haRe sein neues LebensmoRo einfach schon zu fest in sich etabliert. Dann kamen noch körperliche Beschwerden dazu. Es passierte das erste Mal an einem Meeting, ungefähr ein Jahr vor seinem ungewollten AustriR. Sein Vorgesetzter spielte wieder einmal den neRen Onkel von nebenan, sprach von einer unglaublichen Teamentwicklung und ausserordentlichen Ergebnissen. Dabei wusste jeder der Anwesenden, dass er ein eiskalter und berechnender Mann war, von seiner Inkompetenz ganz zu schweigen. Aber er haRe sehr mächtige Freunde in der Geschäjsleitung und stand deshalb unter Artenschutz. Ein gewaltiger Haifisch wachte über ihm. Eigentlich konnte er machen, was er wollte – es haRe keine Konsequenzen. Da sass nun M. in diesem Meeting und hörte sich an, wie wichtig doch eine ehrliche und offene Kommunikation sei, «nur gemeinsam sind wir stark» und weitere Führungsfloskeln, die aber letztendlich reine Alibifunktion haRen. Es wurden neue Führungsgrundsätze in grossen Buchstaben auf ein Board geschrieben. Plötzlich wurde M. kurz nach der Kaffeepause schlecht. Er häRe vielleicht den Marzipanriegel, den sein Kollege vom Einkauf mitgebracht haRe, nicht anrühren sollen. Er versuchte, noch rechtzeitig aufzustehen, um zur ToileRe zu gelangen. Aber da war es bereits zu spät. Die Sekretärin schrie, und er kotzte das halbverdaute Marzipan seiner Sekretärin gegenüber direkt über ihre neue weisse Bluse. Am Vortag war sie extra für das Meeting noch beim Friseur gewesen. Sie wollte aRraktiv aussehen, denn auch sie wollte Karriere machen. ARraktive junge Frauen haRen beste Chancen, schnell auf der Karriereleiter emporzusteigen. Jetzt haRe sie Marzipanstückchen in der Dauerwelle. Sie schrie inzwischen ebenfalls hysterisch, und alle Augen waren entsetzt auf M. gerichtet. Diesen Vorfall begründete man wieder nur mit einer gebräuchlichen Floskel: «Er hat sicher etwas Schlechtes gegessen, ja, das Kantinenessen ist auch nicht mehr, was es mal war.» Aber es handelte sich hier um etwas ganz anderes. Seit diesem Vorfall liR M. eigentlich permanent an Unwohlsein. Vielleicht war der Auslöser die Ausarbeitung der neuen Führungsgrundsätze gewesen, die die so gänzlich im Widerspruch zur gelebten Realität standen. Er wusste es einfach nicht. Sehr schnell erkannte er, dass es tatsächlich verschiedene Schweregrade seiner Übelkeit gab. Sie liess sich nach den Erfahrungen weniger Wochen in drei Kategorien klassifizieren. Stufe eins bis zwei war eine leichtere bis miRelschwere Übelkeit, ein permanentes Unwohlsein, dass aber nicht zu einer Entleerung des Magens führte. Stufe drei bedeutete, dass M. sich auf jeden Fall erbrechen musste. M. war analytisch begabt und stellte natürlich schnell fest, dass er jedes Mal, wenn er mit seinem Chef länger als dreissig Minuten in einem Raum war, mit 100 Prozent Wahrscheinlichkeit einfach loskotzen musste. Es war so schlimm, dass M. gezwungen war Ausreden zu erfinden. Er versuchte verzweifelt, seiner Gesundheit zuliebe, ein Zusammentreffen mit seinem Chef zu um jeden Preis vermeiden, um sich nicht wieder auf den Tisch übergeben zu müssen. Es war wirklich alles sehr unangenehm. Sein Vorgesetzter, der zwar die emotionale Intelligenz eines Eiswürfels haRe, bemerkte das merkwürdige Verhalten von M. Der Ursprung war auf jeden Fall gefunden: Das auslösende Bakterium war sein Chef. Da das Unwohlsein sich bei anderen Personen im Unternehmen in Grenzen hielt und somit erträglich war, beschloss M., das Bakterium als Krankheitsträger zu eliminieren. Eigentlich eine simple Angelegenheit, der Chef bot täglich ein Potpourri an gesprochenen und gelebten Inkompetenzen. Er war die fleischgewordene, personifizierte Inkompetenz. Es war wirklich ein Wunder, dass er überhaupt noch im Unternehmen war. Das dachten eigentlich alle, und hinter vorgehaltener Hand wurden WeRen über den Zeitpunkt seines AustriRs geschlossen. Aber es gab einen Grund für den EintriR in das Unternehmen und das Verweilen bis zur regulären Rente, im schlimmsten Fall sogar noch darüber hinaus. Der Grund war sein langjähriger Kollege in der Geschäjsleitung. Er verteidigte seinen Kollegen bis zum letzten Blutstropfen. Das war der Albtraum aller, er könnte doch den Rentenbeginn nach hinten schieben, noch ein paar Jahre dranhängen. Das wäre verständlich gewesen, denn sein überaus grosszügiges Gehalt war wirklich leicht verdient. Sein Gehaltscheck ähnelte denn auch mehr einer monatlichen Spende. Sein alter Kumpel, Freund und Mentor, der bereit war, alles zu unternehmen, um seinen Kameraden zu schützen, sorgte für ihn. M.s Vorgesetzter war ja nicht unbedingt mit emotionaler Kompetenz gesegnet, dennoch bemerkte er zusehends M.s Abwehrhaltung ihm gegenüber. Aber M. konnte nicht mehr anders, er konnte sich jetzt nicht mehr anpassen. Der Chef suchte jedoch nicht die offene Konfrontation mit ihm, sondern lächelte weiterhin sein Dauergrinsen. M. überlegte, ob er vielleicht am Morgen seine Gesichtszüge mit Alleskleber in die lächelnde Form brachte. Er war ja sowas von humorlos. Aber hinten herum, in einem kleinen Kämmerlein, schmiedete er einen bösen Racheplan. M. musste weg und zwar so schnell wie nur möglich. Er wurde nicht müde. sich bei seinem Mentor auszuheulen und zu betonen, dass M. ja so überhaupt nicht in dieses sonst so ausgesprochen erfolgreiche Team passte. Die anderen waren so gefügig und himmelten ihn an. Nur M. war das schwarze Schaf und das musste jetzt endlich geschlachtet werden. Irgendwann knickte der Kollege, der permanenten Heulerei inzwischen überdrüssig, ein und es war beschlossene Sache: M. musste exekutiert werden. Dann ging alles ganz schnell. Man verabschiedete M., sehr zur Freude seines Vorgesetzten. Es ist aber anzunehmen, dass er die Freude darüber nicht im klassischen Sinn zeigte, so wie normale Menschen es eben in diesem Augenblick tun. Vielleicht ein leises «Hurra», mehr darf man bei einer emotionslosen Person auch nicht erwarten. Vielleicht gab es zur Feier des Tages einen ungewohnten emotionalen Ausbruch. Ein Lachen oder einen kleinen Lujsprung. Vielleicht ein besonderes Dessert nach dem MiRagessen. Auf jeden Fall haRe er sein persönliches Ziel erreicht. Die grossen Haie haRen den kleineren Haifisch einfach aufgefressen.
Seit M.s Entlassung war dann wenigstens das Unwohlsein verschwunden und M. ahnte, dass es der einzig richtige SchriR gewesen war. Nach einigen Wochen war er sich dann auch nicht mehr sicher, ob er vielleicht unterbewusst sein Ausscheiden sogar provoziert haRe. Jetzt wollte er sich erst einmal sammeln, vielleicht kompleR neue Wege beschreiten. Vielleicht ein Buch schreiben oder ein Bild malen. Er beschloss, ein Buch über Führung zu schreiben. Jetzt galt es, erst einmal Abstand zu gewinnen und sich neu zu orientieren. Aus Angst, er könne etwas vergessen, notierte er aber bereits seine wichtigsten Erkenntnisse aus dem Beruf in einem Notizbuch: 1. Auf ehrlichem Wege sind die von der Unternehmensleitung geforderten Inventurergebnisse unmöglich zu erreichen. Warenverluste und Diebstähle im Verkauf lassen die geforderten Ergebnisse einfach nicht zu. Die Mitarbeiter müssen sich manipulativ verhalten, um nicht entlassen zu werden. 2. Widerspreche nicht Deinem Vorgesetzten, er könnte dies als Herabsetzung seines Egos deuten. Die Wahrheit interessiert sowieso niemanden. 3. Schleime Deinen Vorgesetzten voll, bis sich die Balken biegen. Du bist in einem Bordell und musst zusehen, dass Du Dir den reichsten Freier angelst. 4. Zeige niemals Deinem Vorgesetzten, dass Du Angst vor ihm oder Deinem Job hast, sonst wird er Dich systematisch quälen. Denn die Leittiere eines Rudels wiRerten sofort, wenn ein Mitglied geschwächt war. Da wurde der Jagdinstinkt geweckt. Das schwächste Tier wurde gerissen. 5. Du sollst nicht denken oder zweifeln – tu, was der Chef Dir aujrägt. Ein denkender Mitarbeiter war ja sowas von unerwünscht. 6. Sag Deinem Chef regelmässig, was für ein toller Typ er ist, denn das erhöht Deine Karrierechancen exorbitant. 7. Es müssen keine rechtlichen Gründe für eine Kündigung vorliegen. Wesentlich für solch einen Entscheid ist «mögen oder eben nicht mögen». Jeder Rechtsstreit konnte durch eine entsprechende Abfindung verhindert werden. 8. Du bist heterosexuell, sportlich und ein Mann. 9. Du bist heterosexuell, eine wahre Schönheit und eine Frau mit grossen Brüsten. 10. Sei glücklich über jeden Tag, an dem Du in unserem Unternehmen arbeiten darfst. Denn Du weisst nicht, ob es nicht Dein letzter ist.
Ein Aussenstehender konnte jetzt durchaus zu dem Schluss kommen, dass M. desillusioniert und frustriert war. Vielleicht war es auch so.
Dann wurde auch schon zum MiRagessen aufgeboten, und M. setzte sich wie gewohnt an die Stirnseite des alten Esstisches. Seine MuRer haRe sich wieder einmal selbst übertroffen. Es gab gebratene Ente mit hausgemachten Kartoffelklössen. Sein Onkel, ein übergewichtiger Staatsanwalt, brillierte natürlich wieder mit dem unmässigen Verzehr von fünf Knödeln. Alle Versuche von M.s Tante, ihrem Ehemann zu einer gesünderen Lebensweise zu verhelfen, scheiterten kläglich. So ass und trank der Onkel jeden Tag, als gäbe es kein Morgen mehr. Nach der üppigen Mahlzeit und einem Dessert, einem englischen Pudding, nahmen alle im Wohnzimmer Platz. Der Tee dujete köstlich und seine MuRer, eine rüstige Rentnerin, reichte ihre traditionell gebackenen Weihnachtsplätzchen. Der Onkel trank lieber ein Glas Scotch nach dem anderen, denn den alkoholischen Freuden war er natürlich ebenfalls sehr zugetan. Zum Gebäck trank der Rest der Familie einen extra für diesen Anlass importierten Darjeeling Tee. Überhaupt gab es bei MuRer in letzter Zeit sehr viele importierte Lieferungen aus aller Welt, denn sie haRe in den letzten Monaten die mannigfaltigen Möglichkeiten des Internet entdeckt. Sie verbrachte mehrere Stunden am Tag damit, Bestellungen auf der ganzen Welt aufzugeben. Als M. vor einigen Wochen nach Hause kam, sass ein älterer Mann in Anzug und KrawaRe im Wohnzimmer seiner MuRer. Auf dem Wohnzimmertisch stand ein üppiger Blumenstrauss in der Vase. Die MuRer strahlte, denn für sie war es eine grosse Auszeichnung. Der Besucher war leitender Angestellter eines Versandhandels. Er wollte doch einmal persönlich der besten Kundin des Unternehmens mit einem kleinen Blumengruss danken. M. wurde blass, seine MuRer lächelte mit roten Bäckchen. M. beäugte diese Entwicklung kritisch, immerhin reduzierte sich mit jeder müRerlichen Bestellung im Internet sein Erbe. M. war Einzelkind und es folglich nicht gewohnt zu teilen. Ihm fehlte jegliches Verständnis für das Verhalten seiner MuRer. Verärgert über die permanente Minderung des Erbes schob M. ein Plätzchen nach dem anderen in seinen Mund und zählte die Mitglieder der neuen Sammelleidenschaft seiner MuRer. Es standen tatsächlich schon 22 Hummelfiguren in der Vitrine. Daneben haRe MuRer vier Fabergé-Eier stehen. Die waren vor zwei Wochen auch noch nicht da gewesen. Innerlich kochte M. vor Wut. Das achte Plätzchen, ein Spritzgebäck mit HagebuRenkonfitüre, wurde M. schliesslich zum Verhängnis. Er verschluckte sich, versuchte sich röchelnd aufzurichten und fiel bei diesem Versuch auf den Glastisch seiner MuRer. Der Tisch zerbarst und zerschniR ihm das Gesicht und seine Unterarme. Seine MuRer schrie, wedelte mit den Armen, sein Gesicht lief blau an und schliesslich verlor er das Bewusstsein. Sämtliche ReRungsversuche der anwesenden Familienmitglieder blieben erfolglos. Sein übergewichtiger Onkel sprang sogar auf seinen Brustkorb, festentschlossen, das Plätzchen auf diese Weise herauszuschleudern. Als wäre nicht schon alles schlimm genug gewesen, brach er mit dieser Aktion M. auch noch zwei Rippen. Aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. So konnte der kurz darauf eintreffende Notarzt nach misslungener Reanimation nur noch den Tod feststellen. «Erstickungstod durch Spritzgebäck» lautete die Todesursache, und M. wurde auf einer Trage aus dem Haus befördert. Seine MuRer schrie hysterisch und versuchte, ihn von der Trage zu zerren. Beinahe wäre ihr das auch gelungen. Nur das beherzte Eingreifen des Onkels, der an diesem Tag durch aussergewöhnlichen Tatendrang glänzte, konnte Schlimmeres verhindern. «Was für ein langweiliges Ende», dachte er sich, während er abtransportiert wurde. Nachbarn standen auf der Strasse, um dem Spektakel beizuwohnen. Im Leichenwagen angekommen, wurde alles um ihn herum endgültig schwarz.
Die Pforte öffnete sich langsam, und M. trat in einen kleinen Raum. «Ach, Herr M., treten Sie ein, nehmen Sie Platz!» Er setzte sich auf eine kleine grüne Couch, die inmiRen des Zimmers stand. Vor ihm ein alter Schreibtisch aus Kirschholz. Dahinter drei schemenhaje Gestalten, die gut und gerne doppelt so gross wie er waren. M. erschrak, denn seine Gesprächspartner schienen überhaupt kein Gesicht zu haben, und er blickte in drei ovale Spiegel. «Jetzt schauen Sie nicht so ängstlich, Herr M., hier oben brauchen wir kein Gesicht. Das würde uns nur in der Ausübung unserer Tätigkeit behindern. Gesichter lenken nur vom eigentlichen Thema ab.» Aus diesen drei Spiegeln strahlte ein derart helles grünliches Licht, dass M. gezwungen war, seine Augen zu schliessen.
Man schob ihm eine Schachtel mit Sonnenbrillen vor die Füsse. Offenbar war man sich hier oben der Problematik durchaus bewusst. M. setzte eine Sonnenbrille auf. Diese Gestalten verdeckten ihre Körper mit schwarzen Leinentüchern, was im Zusammenspiel mit dem grünen Licht aus den Spiegeln durchaus eine ansehnliche Komposition ergab. So sehr er sich auch anstrengte, konnte er keine klaren Konturen erkennen. «Wo bin ich, bin ich jetzt im Himmel oder in der Hölle?» «Keines von beiden, Sie sitzen gerade im Wartebereich, der universellen Wartelounge», antwortete eine tiefe Stimme. «Das Problem ist, dass sowohl der himmlische als auch der weniger beliebte Raum weiter unten kompleR überbelegt ist. Es gibt schlichtweg keinen Platz, wir sind hoffnungslos überfüllt. Eine haltlose Überbevölkerung der Erde bedeutet in der Konsequenz, dass wir viel zu viel NeueintriRe zu verzeichnen haben. Es sterben einfach zu viele Menschen.» Dann verschwand eine der Gestalten kurz unter dem alten Tisch aus