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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Clemens Weigold sperrte die Tür zu seinen Büroräumen der Firma ›Weigold, Hoch- und Tiefbau‹ ab und verließ langsam das stille Gebäude. Er nahm die Treppe, die mit blauem Nadelfilzteppich belegt war, vom ersten Stock hinunter ins Erdgeschoss. Es war beinahe 22 Uhr. Längst waren sämtliche Angestellten und Führungskräfte, die in dem Geschäftsgebäude in der Ortsmitte von Kirchberg arbeiteten, in den Feierabend gegangen. Nur er hatte wieder einmal über seinen Unterlagen die Zeit vergessen. Doch das war nicht schlimm. Sein Beruf als Bauingenieur machte ihm Freude und zu Hause wartete niemand auf ihn. Er ging durch das verlassene Foyer. Die gläserne Eingangstür des Hauses klappte hinter ihm zu. Die Sommernacht war mild und sternenklar. Clemens blieb stehen und atmete tief die laue Luft ein, die noch warm von der Sonne des vergangenen Tages war. Für Sekunden sehnte er sich danach, jetzt nicht allein sein zu müssen. Eine Frau in seinem Leben und an seiner Seite zu haben, die sich auf ihn freute, vielleicht schon auf dem Gehweg, neben dem sein Wagen parkte, auf ihn wartete. Die ihn mit einem liebevollen Lächeln empfing und ihn fragte, wie sein Tag gewesen war. Clemens wischte seine unerwarteten Sehnsüchte beiseite. Seit Yvonne ihn vor vier Jahren verlassen hatte, hatte es keine Frau mehr in seinem Leben gegeben. Tief verletzte Gefühle und die unglaubliche Enttäuschung, weil sie ihn betrogen hatte, hatten ihn zu dem Entschluss kommen lassen, dass es besser war, alleine zu bleiben, als sich einem solchen Schmerz noch einmal auszusetzen. Mit der Fernbedienung des Zündschlüssels öffnete Clemens seinen Wagen, setzte sich hinter das Steuer und ließ den Motor an. In etwa zehn Minuten würde er zu Hause sein. Vielleicht auch eher, die Straßen waren jetzt um diese Uhrzeit weitgehend verlassen.
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Seitenzahl: 148
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Clemens Weigold sperrte die Tür zu seinen Büroräumen der Firma ›Weigold, Hoch- und Tiefbau‹ ab und verließ langsam das stille Gebäude. Er nahm die Treppe, die mit blauem Nadelfilzteppich belegt war, vom ersten Stock hinunter ins Erdgeschoss. Es war beinahe 22 Uhr. Längst waren sämtliche Angestellten und Führungskräfte, die in dem Geschäftsgebäude in der Ortsmitte von Kirchberg arbeiteten, in den Feierabend gegangen. Nur er hatte wieder einmal über seinen Unterlagen die Zeit vergessen. Doch das war nicht schlimm. Sein Beruf als Bauingenieur machte ihm Freude und zu Hause wartete niemand auf ihn.
Er ging durch das verlassene Foyer.
Die gläserne Eingangstür des Hauses klappte hinter ihm zu.
Die Sommernacht war mild und sternenklar. Clemens blieb stehen und atmete tief die laue Luft ein, die noch warm von der Sonne des vergangenen Tages war. Für Sekunden sehnte er sich danach, jetzt nicht allein sein zu müssen. Eine Frau in seinem Leben und an seiner Seite zu haben, die sich auf ihn freute, vielleicht schon auf dem Gehweg, neben dem sein Wagen parkte, auf ihn wartete. Die ihn mit einem liebevollen Lächeln empfing und ihn fragte, wie sein Tag gewesen war.
Clemens wischte seine unerwarteten Sehnsüchte beiseite. Seit Yvonne ihn vor vier Jahren verlassen hatte, hatte es keine Frau mehr in seinem Leben gegeben. Tief verletzte Gefühle und die unglaubliche Enttäuschung, weil sie ihn betrogen hatte, hatten ihn zu dem Entschluss kommen lassen, dass es besser war, alleine zu bleiben, als sich einem solchen Schmerz noch einmal auszusetzen.
Mit der Fernbedienung des Zündschlüssels öffnete Clemens seinen Wagen, setzte sich hinter das Steuer und ließ den Motor an. In etwa zehn Minuten würde er zu Hause sein. Vielleicht auch eher, die Straßen waren jetzt um diese Uhrzeit weitgehend verlassen. Er blinkte und rangierte das Auto aus der Parklücke. Ein Martinshorn, ein gutes Stück entfernt, durchbrach die Stille der Nacht.
Er fuhr durch die Osseckerstraße, bog nach rechts in die Hoferstraße ein, die von etlichen Laubbäumen gesäumt waren und fuhr auf eine um diese Uhrzeit ausgeschaltete Ampelanlage mit Fußgängerschaltung zu. Nur schemenhaft erkannte er die Umrisse eines Kindes, das mit schnellen Schritten über den Gehweg rechts der Fahrbahn lief. Im ersten Moment glaubte Clemens, sich getäuscht zu haben. Um die später Stunde war wohl kaum ein Kind alleine unterwegs. Vielleicht hatte er nur einen Schatten gesehen, verursacht vom Mondlicht, das durch die Zweige der Bäume drang. Er fuhr langsamer und sah noch einmal zur Seite. Doch, da war ein Kind. Es hielt den Kopf gesenkt und lief schnell. Für ihn völlig unerwartet sprang es vom Gehweg auf die Straße, auf Höhe der Ampel. Clemens bremste viel stärker, als es erforderlich gewesen wäre. Wie erstarrt blieb das Kind stehen und sah ihn entsetzt an. Es war ein Junge, vielleicht sechs Jahre alt. Offenbar war der Kleine wirklich alleine unterwegs. Clemens stellte, nach einem Blick in den Rückspiegel, den Motor ab und stieg aus.
»Ist dir was passiert?«, rief er, obgleich er sicher war, dass das nicht der Fall war. Glücklicherweise war er langsam gefahren und hatte noch gut anhalten können. Der Junge starrte ihn an. In dem kleinen Gesicht meinte er Furcht zu sehen. Nein, schlimmer. Panik.
›Er läuft vor etwas weg‹, fuhr es Clemens durch den Kopf.
»Wie heißt du denn?«, fragte er und ging einige Schritte auf ihn zu. Noch immer stand das Kind reglos auf der Fahrbahn. »Ich bin Clemens. Kann ich dir irgendwie helfen?«
Der Junge gab keine Antwort.
»Bist du alleine unterwegs?« In der Ferne hörte er noch immer das Geräusch eines Einsatzfahrzeuges. Vermutlich war ein Unfall passiert, vielleicht mit Verletzten. Stand der Junge in einer Verbindung zu dem Unfall? War er gar der Verursacher, weil er schon vor ein anderes Auto gelaufen war? Nein, gab Clemens sich selbst die Antwort. Der Klang des Martinshorns war zu weit entfernt. Oder doch? Er musste etwas tun. Er konnte das Kind hier nicht spät abends stehen lassen. Mitnehmen konnte er ihn natürlich auch nicht. Ihm blieb nur, die Polizei zu verständigen. Nicht unbedingt über die Notrufnummer, aber er konnte auf dem Präsidium im etwa fünf Kilometer entfernten Maibach anrufen. Sie würden sich um den Jungen kümmern. Er würde bei ihm bleiben, bis eine Streife hier war.
Clemens nahm sein Mobiltelefon aus der Brusttasche seines Hemdes. In dem Augenblick wandte sich der Kleine auf dem Absatz um und rannte davon.
»Warte!«, rief Clemens erschrocken. »Bleib hier, ich helfe dir!« Hastig sah er sich nach allen Seiten um. Er stand vor der ausgeschalteten Ampel, beinahe mitten auf der Kreuzung. Parkmöglichkeiten gab es hier keine und es hätte auch viel zu lange gedauert, den Wagen ordnungsgemäß abzustellen. Schon war der Junge in der Dunkelheit verschwunden. Himmel! So ein kleines Kind. Es konnte so viel passieren. Clemens Puls ging zu schnell. Ihm hinterherzulaufen war nicht möglich. Er wusste lediglich die Richtung, in die der Junge gerannt war. Es gab reichlich Seitenstraßen, er würde ihn kaum finden. Und da war ja noch immer sein Auto, dass er hier nicht stehen lassen konnte.
Clemens setzte sich wieder hinter das Steuer und googelte die Telefonnummer der Wache in Maibach.
*
Katrin Kleewald umarmte Pünktchen.
»Vielen, vielen Dank fürs Erklären, Pünktchen«, sagte sie und lächelte die Klassenkameradin an.
»Immer gerne. Sag einfach Bescheid, wenn ich dir nochmal helfen kann«, versicherte Angelina Dommin, die von jedem, der sie kannte, wegen ihrer vielen Sommersprossen, Pünktchen genannt wurde.
»Ich denke, ich habe diese elende Englischgrammatik jetzt verstanden. Trotzdem, danke, ich melde mich auf jeden Fall«, erwiderte Katrin. »Bist du sicher, dass du den Bus ins Kinderheim nehmen willst? Meine Mutter kommt in circa zwanzig Minuten von der Spätschicht. Sie fährt dich bestimmt gerne nach Hause.«
»Das ist lieb, Katrin, aber echt nicht nötig. Der Bus kommt in zwei Minuten und ist fünf Minuten später in Wildmoos. Ich liege wahrscheinlich schon Bett, noch ehe deine Mutter hier ist«, antwortete Pünktchen.
»Okay. Ich guck aus dem Fenster, dass du sicher in den Bus kommst und nicht überfallen wirst«, sagte Katrin und lächelte ihr zu.
»Alles klar.« Pünktchen lächelte zurück, legte den Riemen ihrer Tasche um die Schultern und verließ das Haus. Die Bushaltestelle war nur wenige Schritte entfernt, nicht einmal die Straße musste sie überqueren. Am beleuchteten Küchenfenster stand Katrin und winkte ihr noch einmal zu. Sie winkte zurück und sah auf ihre Handyuhr. Noch eine Minute, falls der Bus pünktlich kam. Sie war müde und freute sich auf ihr Zimmer und ihr gemütliches Bett im Kinderheim Sophienlust, in dem sie seit dem Tod ihrer Eltern vor einigen Jahren lebte.
Pünktchen blickte die Straße entlang, in die Richtung, aus der der Bus kommen sollte. Über den Gehweg rannte ein kleiner Junge. Verwundert erkannte sie, dass der Kleine offenbar allein unterwegs war. Außer Atem kam er an der Haltestelle an. Wollte er etwa jetzt, spätabends, mit dem Bus irgendwohin fahren? Nach Wildmoos ins Kinderheim sicher nicht. Das Kind atmete schnell und sah sich immer wieder um, als hätte es Angst.
»Hey«, sprach Pünktchen ihn an. »Alles klar? Bist du alleine unterwegs?« Der Junge senkte den Kopf und sie meinte, die Andeutung eines Nickens zu sehen.
»Du solltest doch um die Zeit daheim sein. Hast du dich verlaufen?« Besorgt musterte sie den Kleinen. Jeden Moment kam der Bus. Den Jungen hier stehen zu lassen, ging überhaupt nicht. Es war schon viertel elf.
»Ich kann nicht heim«, wisperte das Kind, so leise, dass sie nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte.
»Nicht? Warum denn nicht?« Sie sah wieder die Straße entlang. Der Bus kam nicht. Manchmal hatte er Verspätung.
»Es ist was ganz Schlimmes passiert«, flüsterte der Kleine und senkte den Kopf.
»Was denn? Kann ich dir helfen?«, fragte Pünktchen. Der Junge schüttelte den Kopf.
»Pünktchen? Was ist los?«, hörte sie Katrin rufen. Sie wandte sich um. Die Freundin hatte das Küchenfenster geöffnet.
»Warte«, rief Pünktchen zurück. Für Erklärungen hatte sie gerade keine Zeit, zumal sie eigentlich gar keine Erklärung wusste.
»Wie heißt du denn?«, wandte sie sich wieder an das Kind.
»Jan«, flüsterte der Kleine.
»Ich heiße Angelina, aber jeder nennt mich Pünktchen«, stellte Pünktchen sich vor. Sie überlegte, ihm ihren Arm zu zeigen, auf dem ein Teil ihrer vielen Sommersprossen zu sehen waren. Dann aber dachte sie, dass diese beim trüben Licht vom Mond und einer Straßenlaterne schwer zu erkennen waren.
»Es ist also was ganz Schlimmes passiert und deswegen kannst du nicht nach Hause«, fasste sie stattdessen zusammen. Der Junge nickte.
»Wo ist denn dein Zuhause?«, fragte sie, obgleich sie sicher war, er würde es ihr nicht sagen. Falls er es überhaupt wusste. So klein und zart, wie er war, war sie im Zweifel, ob er nicht sogar noch im Kindergartenalter war.
Tatsächlich gab das Kind keine Antwort. Es würde wahrscheinlich zu nichts führen, eine Frage nach der anderen zu stellen, um seine Herkunft zu klären.
»Ich kann dich nicht alleine hier stehen lassen. Es ist schon fast mitten in der Nacht«, sagte Pünktchen. »Ich rufe jetzt jemanden an, der uns hilft. Ist das in Ordnung für dich?«
Die Schultern des Kindes sanken nach vorne und Jan fing zu schluchzen an.
»Na komm. Es wird bestimmt alles wieder gut.« Er war weggelaufen, da war Pünktchen sich nun sicher. Etwas in ihrem Bauch zog sich zusammen. Der Kleine tat ihr sehr leid.
»Setz dich mal auf die Bank«, forderte sie ihn sanft auf. Die Sorge, er könnte plötzlich weglaufen, beschäftigte sie. Wider Erwarten machte der Kleine, worum sie ihn gebeten hatte. Pünktchen setzte sich neben ihn und nahm ihr Handy wieder aus der Tasche. Sie sah die Lichter des Busses, der nun mit drei Minuten Verspätung kam. Den musste sie jetzt fahren lassen. Aber sie war sicher, dass Nick sie abholen würde und Rat für Jan wusste.
*
Dominik von Wellentin-Schoenecker saß mit seinem Stiefvater Alexander von Schoenecker im Wohnzimmer von Gut Schoeneich. Er verstand sich sehr gut mit dem zweiten Mann seiner Mutter Denise, der stets liebevoll und wie ein Vater für ihn da war. Sie hatten sich eine Weile über dieses und jenes unterhalten, vorwiegend über die Arbeit von Alexander, der von Beruf Landwirt war und zudem etliche Pferde besaß, deren Zucht und Pflege er sich mit Leidenschaft widmete. Dominik, der von seiner Familie und den Kindern im Kinderheim Sophienlust, dessen Eigentümer er war, von allen nur Nick genannt wurde, wollte sich eben zur Nacht verabschieden, als sein Handy läutete. Überrascht nahm er es vom Couchtisch, wo er es hingelegt hatte, weil es beim Sitzen in der hinteren Hosentasche immer störte.
Pünktchen rief an. Wahrscheinlich hatte sie den Bus verpasst und brauchte nun jemanden, der sie abholte.
»Pünktchen, hallo«, begrüßte er die 15-jährige. »Du hast bestimmt den letzten Bus verpasst«, fuhr er fort.
»Hallo, Nick. Ja und nein. Ich war rechtzeitig an der Haltestelle, aber es ist etwas passiert.«
Nick erfuhr von Jan, der meinte, nicht nach Hause zu können, weil etwas ›ganz Schlimmes‹ passiert war.
»Ich komme zu euch, Pünktchen«, sagte er und stand auf, noch während er sprach. Er tauschte einen Blick mit seinem Stiefvater. »Ich bin in wenigen Minuten da«, ergänzte er.
»Danke, Nick.« Das junge Mädchen klang erleichtert. Nick spürte, wie froh sie war, alle Sorgen nun in seine Hände zu legen. Er beendete das Gespräch.
»Ich muss los, Alexander«, sagte er und fasste rasch für ihn zusammen, worum es ging. Sein Stiefvater nickte.
»Dann bis später, Nick«, verabschiedete er ihn. Nick verließ das Wohnzimmer.
*
Esther Hofmann saß zusammengekauert und einen Arm um die Schultern ihres Töchterchens gelegt, auf dem niedrigen Mäuerchen, das anstelle eines Zaunes ihr Grundstück umgab. Irgendjemand hatte ihnen beiden eine Decke um die Schultern gelegt. Auf Annelies Schoß saß Katze Mimi, völlig verstört, wie ihre starre geduckte Haltung zeigte und die weit aufgerissenen Augen.
Die Feuerwehrmänner hatten den Brand löschen können. Eben rollten sie die Wasserschläuche wieder ein. Ein Arzt hatte Esther und Annelie untersucht und Esther, die wie von Sinnen nach ihrem Sohn geschrien hatte, eine Beruhigungsspritze gegeben. Nun hüllte dumpfe Taubheit sie ein. Wie durch eine dicke Glasscheibe nahm sie das Geschehen um sich herum wahr. Sie spürte Annelies zarten kleinen Körper an ihrer Seite, hörte die Feuerwehrmänner reden und die zwei Polizeibeamten, die sich Notizen machten. Aus den Fenstern ihres Hauses drang Qualm und der Geruch nach Verbranntem war unerträglich. Wahrscheinlich war der Qualm rabenschwarz, doch in der nächtlichen Dunkelheit konnte sie das nicht sehen. Über dieser schauderhaften Szenerie stand ein heller Vollmond, als wollte er sich das Geschehen ansehen. Esther krallte die Fingernägel der rechten Hand in ihren Oberschenkel.
Wo war Jan? Angst und Verzweiflung wollten die Wirkung der Spritze durchdringen, doch wirklich an die Oberfläche konnten sämtliche Qualen jetzt nicht mehr.
»Frau Hofmann?« Sie hörte eine weibliche Stimme und zwang sich, hochzusehen. »Im Haus ist niemand mehr. Wir haben alles abgesucht, soweit möglich.« Die Frau gehörte zur Feuerwehr, das erkannte sie an ihrer mit Leuchtstreifen versehenen Schutzkleidung und dem Helm.
› …soweit möglich.‹ Der Schmerz und die Panik hämmerten wie besessen in ihr, trotz des Beruhigungsmittels.
»Gibt es jemanden, der Sie und Ihre Tochter die Nacht beherbergen könnte?«, fragte die Frau ruhig.
»Und Mimi«, flüsterte Annelie. Esther schüttelte den Kopf. Es gab niemanden. Ein paar Bekannte durchaus, aber keine wirklichen Freunde. Ihre Freunde wohnten alle in Birkenberg. Hier in Kirchberg gab es niemanden, den sie um diese Uhrzeit hätte bitten können, sie aufzunehmen und Familie hatte sie keine mehr.
»Dann bringen wir Sie in die Pension Rüttger. Bleiben Sie ganz ruhig hier sitzen, wir kümmern uns um alles«, sagte die Frau. Esther glaubte, sich nie wieder bewegen zu können. Wo war Jan? Was war passiert? Sie waren doch einfach nur ganz friedlich schlafen gegangen, bis Mimi geschrien hatte, als würde sie aufgespießt. Dann hatte sie auch schon unheilvolles Knistern und Knacken gehört, Brandgeruch bemerkt und die Flammen gesehen, sowie sie aus dem Bett gestürzt war, um nachzusehen, was geschehen war.
Irgendwer nahm sie behutsam am Arm und zog sie sanft von ihrem Platz.
»Kommen Sie bitte mit, Frau Hofmann«, sagte die Frau, die vorhin schon mit ihr gesprochen hatte.
»Wo ist Jan?«, flüsterte Esther, ungläubig, dass sie überhaupt etwas hatte sagen können.
»Die Polizei sucht ihn. Er kann nicht weit sein«, bemühte sich die Frau, sie zu beruhigen.
*
Jan saß mit gesenktem Kopf und zusammengezogenen Schultern neben dem großen Mädchen, dass den eigentlich ganz lustigen Namen Pünktchen hatte. Lustig sein konnte er jetzt gerade gar nicht. Wahrscheinlich konnte er sogar nie wieder lustig sein. Es war so furchtbar. Daheim brannte es. Die Flammen hatten die Zeitung gefressen, die Katze hatte zu schreien begonnen und er hatte entsetzliche Angst gekriegt und war davongelaufen. Und jetzt war er sicher, dass er es ganz falsch gemacht hatte. Mama, Annelie und Mimi waren doch noch im Haus. Vielleicht war das Feuer jetzt noch viel größer, fraß alles auf und sie konnten nicht mehr raus. Ihm war eiskalt vor Angst und schlecht war ihm auch.
»Jan?« Sanft legte das Pünktchen-Mädchen ihm eine Hand auf die Schulter. »Es wird bestimmt alles wieder gut. Nick ist gleich da. Er hilft dir. Nick weiß immer Hilfe.«
Wer immer dieser Nick auch war, er konnte nicht machen, dass das Feuer gar nicht angefangen hätte. Und zurück nach Hause konnte er auch nicht. Nie mehr. Jan zog die Beine an den Bauch, schlang die Arme darum und machte sich ganz klein. Es wäre gut, er könnte einfach verschwinden. Ganz weg sein, für immer. Trotz seiner grenzenlosen Verzweiflung hörte er das Geräusch von einem Auto durch die Nacht kommen. Der Wagen stoppte, scheinbar direkt vor der Bushaltestelle. Jan presste die Stirn auf die Knie. Eine Tür wurde geöffnet und klappte gleich wieder zu. Ein Mann sprach mit Pünktchen. Er verstand nicht, was sie sagten, weil er nicht zuhören wollte. ›Mama‹, dachte er unentwegt und in ihm war alles ganz eng, sodass er kaum Luft bekam. ›Annelie, Mimi.‹
Wieder legte sich eine Hand auf seine Schulter.
»Jan?« Es war jetzt der Mann, der sprach. Er klang ruhig und sanft. Aber er wusste ja auch von nichts.
»Jan? Ich bin Nick. Mir gehört ein Kinderheim, gar nicht weit von hier. Pünktchen wohnt dort und viele andere Kinder auch. Magst du mich bitte einmal ansehen?«
Ganz vorsichtig hob Jan den Kopf und blinzelte. Der Mann sah zwar ernst aus, aber auch sehr nett. Er war auch noch gar nicht alt.
»Erzählst du mir, was passiert ist?«
Jan schwieg. Selbst wenn er es gewollt hätte, es wäre nicht gegangen. Die Worte steckten irgendwie in ihm fest.
Nick setzte sich neben ihn.
»Kannst du mir sagen, wie du noch heißt? Ich meine deinen Nachnamen?«, fragte er behutsam. Das Kind gab keine Antwort.
»Wir möchten dir gerne helfen, Jan«, fuhr Nick fort, zu sprechen. »Ich bin sicher, du hast großen Kummer. Ein bisschen was müssen wir aber wissen, damit wir etwas für dich tun können.«
Es ging nicht. Wieder senkte er den Kopf.
»Gut, Jan. Ich merke, du bist im Moment zu unglücklich, um uns mehr zu sagen. Vielleicht hast du auch Angst. Ich würde dich gerne mit ins Kinderheim nehmen. Dort bekommst du etwas zu essen und ein Zimmer, in dem du schlafen kannst. Vielleicht magst du mir morgen erzählen, was passiert ist.«
Er hatte keinen Hunger, aber er war sehr müde. Außerdem wusste er gar nicht, wohin er hätte laufen können. Dem Heimweg würde er auch nicht mehr finden und dorthin konnte er ja sowieso nicht. Er durfte zwar nicht mit Fremden mitgehen, aber jetzt war schon alles egal.
»Kannst du dir das vorstellen?«, fragte Nick. Langsam nickte Jan.
*
Jan saß auf der Rückbank von Nicks Auto, auf einer Sitzerhöhung. Pünktchen saß vorne auf dem Beifahrersitz. Sie fuhren eine einsame Straße entlang. Ein Stück ging es durch den Wald, das konnte er im Mondlicht sehen.