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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Das kann nicht dein Ernst sein.« Ungläubig sah Lorenzo Toccaceli seinen Sohn Rico an. »Du willst zurück nach Deutschland?« Entschlossen nickte Rico. Er saß mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester Rebecca in der geräumigen Küche ihres Hauses am Rande der Gemeinde Città della Pieve in der Region Umbrien. Die Morgensonne schien durchs Fenster. Es versprach ein herrlicher Tag zu werden. »Aber ich dachte … ich meine, es gefällt dir doch hier?«, forschte sein Vater. Rico nahm die Hilflosigkeit seines Vaters wahr, die dieser zu verbergen versuchte. »Ja, es gefällt mir hier. Für einen Urlaub oder eine längere Auszeit. Zu Hause fühle ich mich in Deutschland«, hielt Rico dagegen und sah vor seinem inneren Auge Irmela vor sich, mit der er seit Oktober vergangenen Jahres zusammen war. Irmela, die in dem Kinderheim Sophienlust lebte und die er schrecklich vermisste. »Junge. Wir sind hier zu Hause. Wir sind Italiener. Wir haben lediglich einige Jahre in Deutschland gelebt. Das war eine wunderbare Zeit, ich gebe es zu.
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»Das kann nicht dein Ernst sein.« Ungläubig sah Lorenzo Toccaceli seinen Sohn Rico an. »Du willst zurück nach Deutschland?«
Entschlossen nickte Rico. Er saß mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester Rebecca in der geräumigen Küche ihres Hauses am Rande der Gemeinde Città della Pieve in der Region Umbrien. Die Morgensonne schien durchs Fenster. Es versprach ein herrlicher Tag zu werden.
»Aber ich dachte … ich meine, es gefällt dir doch hier?«, forschte sein Vater. Rico nahm die Hilflosigkeit seines Vaters wahr, die dieser zu verbergen versuchte.
»Ja, es gefällt mir hier. Für einen Urlaub oder eine längere Auszeit. Zu Hause fühle ich mich in Deutschland«, hielt Rico dagegen und sah vor seinem inneren Auge Irmela vor sich, mit der er seit Oktober vergangenen Jahres zusammen war. Irmela, die in dem Kinderheim Sophienlust lebte und die er schrecklich vermisste.
»Junge. Wir sind hier zu Hause. Wir sind Italiener. Wir haben lediglich einige Jahre in Deutschland gelebt. Das war eine wunderbare Zeit, ich gebe es zu. Und tatsächlich hatten wir die Absicht, dort zu bleiben. Aber das Erbe meiner Großtante auszuschlagen oder das Haus zu verkaufen, das wäre eine verkehrte Entscheidung gewesen, findest du nicht?«, wandte Lorenzo Toccaceli ein.
»Aber Papa. Davon spricht doch niemand. Und was heißt ‚einige Jahre‘? Ich bin in Deutschland groß geworden, Becki ist dort geboren. Ich kann mich an die ersten Jahre hier gar nicht mehr erinnern.«
»Du warst fünf, als wir …«, setzte Lorenzo Toccaceli an und fing einen warnenden Blick seiner Frau Maria auf.
»Wie dem auch sei. Ich hatte immer vor, in Deutschland zu studieren. Das möchte ich jetzt tun«, sagte Rico ruhig. Er blickte rasch zu seiner kleinen Schwester Rebecca. Becki zerbröselte ihren Toast und sah dabei stumm auf ihren Teller. Ihm war flau im Magen. Die Kleine in dem ihr nach wie vor nicht allzu vertrauten Italien zurückzulassen, fiel ihm schwerer als der anstehende Abschied von seinen Eltern. Es war auch ungeschickt von ihm gewesen, das Thema anzuschneiden, ohne vorher mit Becki alleine zu sprechen. Bestimmt war sie nun schwer enttäuscht von ihm. Der Gedanke machte ihm zu schaffen.
»Und wie hast du dir das genau vorgestellt?«, fragte Maria Toccaceli. Ihr Frühstück lag unberührt auf ihrem Teller.
Rico straffte die Schultern.
»Ich habe mich bei der Uni in Stuttgart beworben. Es wird noch ein paar Wochen dauern, bis ich Antwort bekomme.«
»Ohne vorher mit uns zu sprechen«, warf sein Vater ein. Rico hörte einen verbitterten Unterton heraus. »Du hättest genauso gut in Bologna studieren können.«
»Das will ich aber nicht«, hielt Rico dagegen. Allmählich fiel es ihm schwer, die Ruhe zu bewahren. Sein Vater mauerte förmlich, seine Mutter würde jeden Augenblick in Tränen ausbrechen, und dass Becki kein Wort sagte, war Aussage genug.
»Okay«, sagte seine Mutter und legte die Fingerspitzen aneinander. »Okay. Wir wussten ja, dass du im Grunde gar nicht mit hierher wolltest. Aber es ist noch ein wenig Zeit. Bewirb dich auch in Bologna. Wenn es in Stuttgart nicht klappt, dann soll es wohl nicht sein.«
»Nein, Mama. Es gibt auch in Deutschland noch andere Universitäten. Stuttgart war mir am liebsten. Außerdem ist keine Zeit mehr. Ich möchte nächste Woche zurückfahren.«
»Was?« Aufgebracht setzte sich Lorenzo Toccaceli so gerade hin, als hätte er plötzlich einen Stock im Rücken. »Warum denn das? Wo genau willst du denn hin? Und was ist, wenn du den Studienplatz nicht bekommst?«
Über den Punkt hatte er auch schon nachgedacht, ohne zu einer Lösung gekommen zu sein. Rico betrachtete die Tischplatte.
»Das überlege ich mir dann«, erwiderte er störrisch und wusste, dieser Antwort fehlte Weitblick und Vernunft. Aber letzten Endes zählte für den Moment nur, rechtzeitig in Deutschland zu sein, und das war nächste Woche, am Samstag.
»Da steckt doch dieses Mädchen dahinter, diese Irmela«, stieß sein Vater empört hervor. Rico schoss die Hitze ins Gesicht.
»Na also. Wusste ich es doch«, ergänzte Lorenzo Toccaceli.
»Irmela wird 18 Jahre, nächste Woche. Ich will sie überraschen«, gab sein Sohn zu.
»Hat die jetzt auch das Abitur? Will sie auch in Stuttgart studieren?«, forschte sein Vater, ohne auf Ricos Information zu Irmelas Geburtstag einzugehen.
»Sie hat das Abitur, ja. Und wo sie studieren wird, weiß ich noch nicht. Sie möchte jetzt erst einmal ein Praktikum bei einem Arzt oder in einer Klinik machen. Sie will Kinderärztin werden«, informierte er seine Eltern.
Maria Toccaceli putzte sich die Nase.
»Wie genau hast du dir denn das alles vorgestellt?«, fragte sie beherrscht. Dankbar sah Rico zu seiner Mutter.
»Ich habe mir alles gut überlegt. Ich nehme nächste Woche am Freitagabend den Zug. Er fährt über Nacht durch und ist am anderen Vormittag in München. Dort muss ich umsteigen und komme dann direkt bis Maibach. Von dort aus nehme ich den Bus nach Wildmoos. Ich kann ein paar Tage in Sophienlust bleiben und dort auch übernachten. Außerdem habe ich mich nach einer Wohnmöglichkeit umgesehen. Ich habe ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft in Maibach gefunden, und ich werde vorübergehend Nachhilfeunterricht geben, um ein wenig Geld zu verdienen.«
Bei der Erwähnung des Kinderheims hob Rebecca den Kopf und ihr Gesichtchen hellte sich auf. Die Eltern beachteten sie nicht.
»Aha«, machte Lorenzo Toccaceli. »Nur wird das, was du verdienen kannst, nicht reichen, mein Junge. Wer soll denn das alles finanzieren? Die Zugfahrt, das WG-Zimmer, deinen Lebensunterhalt?«
Rico verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich habe gespart. Eine Weile reicht das wohl.« Jeden Cent hatte er auf die Seite gelegt, seit er mit seinen Eltern und Rebecca nach Italien hatte umsiedeln müssen. Er hatte Nachhilfe gegeben, in einem Café in Città della Pieve gejobbt und im örtlichen Kino Einlasskarten, Popcorn und Cola verkauft und saubergemacht.
»Aber dann bist du ja an deinem Geburtstag in drei Wochen gar nicht hier«, wandte Rebecca ein und sah ihren Bruder vorwurfsvoll an.
»Das stimmt«, gab Rico zu. Diese Gegebenheit tat ihm zwar für seine Familie leid, die sich an sämtlichen Festen immer sehr viel Mühe gab, alles schön zu gestalten, doch es war nicht zu ändern.
Die Eltern schwiegen. Rebecca zupfte Rico am Ärmel.
»Nimmst du mich mit nach Sophienlust? Ich mag so gern Kim und Heidi wiedersehen und die Hunde«, bat sie.
»Kommt nicht infrage«, fuhr Lorenzo seine Tochter an. Er betrachtete seinen Sohn finster.
»Niemals hätte ich dir neben der Schule all diese Mini-Jobs erlaubt, wenn ich gewusst hätte, wofür das Geld sein soll. Ich dachte, du sparst auf ein Auto.«
»Papa, ich werde bald neunzehn«, erinnerte Rico seinen Vater. Rebecca rutschte von ihrem Stuhl, ging zu ihrer Mutter und schlang die Arme um deren Hals.
»Mama, bitte. Lasst mich mit Rico fahren. Es sind doch Ferien. Und die sind soo lang und ich habe hier gar niemanden zum Spielen«, bettelte sie. Maria Toccaceli streichelte ihrer Tochter den Rücken. »Wir werden sehen«, murmelte sie.
*
Lorenzo Toccaceli lud Ricos Koffer in das Auto, um seinen Sohn zum Bahnhof in Città della Pieve zu bringen. Zwar passten ihm dessen Pläne nach wie vor nicht, doch nach dem er den ersten Schrecken und die erste Empörung überwunden hatte, war er sogar ein wenig stolz auf ihn.
Rico hatte weitblickend und umsichtig gehandelt, gearbeitet, gespart, mit Dominik von Wellentin-Schoenecker, dem Eigentümer des Kinderheims, telefoniert und ihm seine Pläne dargelegt und zwei Übernachtungen in Sophienlust vereinbart. Er hatte sich in Stuttgart an der Universität beworben und ein WG-Zimmer in Maibach gesucht und gefunden. Natürlich wäre es Lorenzo lieber gewesen, der Junge hätte sich vorderhand mit seinen Eltern besprochen. Doch letzten Endes wusste Lorenzo genau, er hätte in seiner Jugend nicht anders gehandelt. Schon weil klar war, dass Rico innerhalb der Familie jede Menge Einwände zu überwinden gehabt hätte bei seinem Vorhaben.
Das Zimmer in der Wohngemeinschaft war ab kommenden Montag frei. Die Zeit bis dahin überbrückte er mit den beiden Übernachtungen im Kinderheim.
Rebecca kam aus dem Haus gerannt.
»Rico kommt gleich«, informierte sie ihren Vater. »Mama hilft ihm noch, das Geschenk für Irmela einzupacken.«
Lorenzo nickte. Sie lagen gut in der Zeit.
Bis zum Bahnhof würden sie nicht länger als zehn Minuten brauchen. Der Zug nach Deutschland fuhr erst in einer Stunde. Rebecca schob ihre Hand in die des Vaters.
»Papa, warum kann ich denn nicht jetzt schon mit Rico nach Sophienlust fahren? Mir ist so langweilig«, bat sie.
»Schätzchen, das haben wir dir nun schon einige Male erklärt. Rico hat jetzt genug mit sich und der neuen Situation zu tun. Ich fahre dich nächste Woche ins Kinderheim, und du kannst bis zum Ende der Ferien dort bleiben.«
Und er konnte sich vergewissern, dass der Junge gut untergekommen war... Besonders das WG-Zimmer beschäftigte ihn. Lag es in einer ordentlichen Wohngegend? War das Preis-Leistungs-Verhältnis für die Unterkunft angemessen? Wer war der Mitbewohner? Es sollte eine WG mit nur zwei Zimmern sein. Lorenzo Toccaceli wollte sich selbst ein Bild machen.
Rebecca seufzte schwer.
»Na gut. Aber du fährst mich hin, ganz bestimmt?«, erkundigte sie sich noch einmal.
»Versprochen«, bestätigte ihr Vater. So verkehrt war es gar nicht, Becki ein paar Wochen in Sophienlust unterzubringen. Sie war dort bestens aufgehoben. Hier, am Rand von Città della Pieve, hatte sie keine Spielgefährten, und die Ferien in Italien waren lang. Während er und Maria arbeiteten, war die Kleine viel sich selbst überlassen.
Rico kam aus dem Haus. In der Hand hielt er eine Papiertüte. Er grinste.
»Worüber lachst du?«, fragte Rebecca.
»Mama hat mir ein Survival-Kit geschenkt, damit ich in Deutschland überlebe«, verkündete er. Seine Schwester krauste das Näschen.
»Ein was?«, fragte sie.
»Ein Survival-Kit. Das ist ein Überlebenspaket«, erklärte Rico. Er grinste noch immer.
»Und was ist da drin?«, forschte sie weiter.
»Das weiß ich noch nicht. Ich darf es erst aufmachen, wenn ich in der WG bin«, antwortete er.
»In der Wohngemeinschaft?«, fragte sie.
»Genau«, bestätigte Rico.
»Erzählst du mir dann, was drin ist?«, fuhr Rebecca fort.
»Klar«, versicherte er.
»Bist du noch in Sophienlust, wenn ich nächste Woche komme?«
»Nein. Da wohne ich dann schon in der WG«, gab Rico Auskunft.
»Rico kommt sicher ganz oft ins Kinderheim«, sagte Lorenzo und drückte die Hand seiner Tochter.
»Ja, wegen Irmela.« Rebecca kicherte.
»Also los. Verabschiedet euch«, verlangte Lorenzo. Nicht, dass doch noch die Zeit knapp wurde. Er sah sich schon dem verpassten Zug hinterherfahren, damit Rico nur ja rechtzeitig am morgigen Samstag bei seiner Freundin sein konnte. Er hoffte von Herzen für die beiden, dass jeder Eingeweihte in Sophienlust das Geheimnis gewahrt hatte, damit die Überraschung gelang.
*
Irmela schlug die Augen auf und lag ganz still. Der Wecker auf ihrem Nachtschränkchen zeigte fünf Minuten nach sechs Uhr.
Die Morgensonne drängte durch die Ritzen der Jalousie vor ihrem Zimmerfenster. Etwas war heute anders als sonst. Sie lauschte in sich hinein. Was war es? Es war etwas Gutes, etwas Schönes, etwas, worauf sie sich schon seit einiger Zeit freute. Ruckartig fuhr sie in die Höhe. Sie hatte heute Geburtstag und sie wurde 18 Jahre! 18 Jahre. Sie war volljährig. Sie war vor dem Gesetz erwachsen! Es war unglaublich. Ihr Herz schlug einige Takte schneller. Irmela schob die Beine über die Bettkante, eilte zu einem der beiden Fenster und zog die Jalousie nach oben. Es war ein herrlicher Tag. Die Sonne schien, der Himmel war wunderbar blau, mit wenigen schneeweißen Wölkchen. Die Vögel zwitscherten und über den Rasen tollten Barri und Anglos, die beiden Hunde, die zu Sophienlust gehörten. Jetzt, zu der frühen Uhrzeit, waren noch keine Kinder in dem parkartigen Garten, der zu dem Kinderheim gehörte, nur Tante Ma, die Heimleiterin, die eigentlich Else Rennert hieß, war damit beschäftigt, die Rosenrabatte am Rand der Zufahrt zu gießen. Eben kam ein Wagen die Zufahrt entlang. Am Steuer saß Denise von Schoenecker, die das Kinderheim bis zur Volljährigkeit ihres Sohnes Nick vor etwa einem Jahr verwaltet hatte. Denise, die von den Kindern im Heim nur Tante Isi genannt wurde, parkte und stieg aus. Sie lächelte Tante Ma zu und wechselte ein paar Worte mit ihr. Seite an Seite gingen die beiden Frauen zum Haus und entschwanden somit Irmelas Blickfeld. Sie war sicher, Tante Ma würde am Wasserhahn seitlich des Gebäudes ihre große grüne Gießkanne mit frischem Wasser füllen, und Tante Isi würde über die Freitreppe das Haus betreten und in ihr Büro gehen. Oder sie ging in die Küche zu Magda, der Köchin. Magda hatte ihr gegenüber gestern geheimnisvoll angedeutet, sie hätte eine Überraschung für sie. In Irmelas Bauch kribbelte es vor Aufregung und sie musste kichern. Sekundenlang fühlte sie sich wie ein kleines Mädchen, das sein Geburtstagsgeschenk kaum abwarten konnte.
Ob es sehr warm draußen war? Bestimmt. Sie meinte zu sehen, wie warm es jetzt schon war. Irmela musste lachen. Wie albern. Man konnte doch nicht sehen, ob es warm war. Sie öffnete das Fenster. Milde Luft strömte ins Zimmer und brachte den Duft des Sommers mit. Sie schnupperte Blüten und gemähtes Gras und hätte für einen Moment die ganze Welt umarmen können. Sie war erwachsen.
Irmela lehnte den Kopf an den Fensterrahmen. Bei aller Freude über den Tag krochen plötzlich kleine kalte Schatten aus den Ecken. Rico war so weit weg, in Italien. Ob er sich heute melden würde? Ob er an sie dachte? Es wäre so schön gewesen, den Tag mit ihm zu teilen.
Und ihre Mutter, die mit ihrem zweiten Mann im fernen Indien lebte? Ob sie sich erinnerte, dass sie eine Tochter hatte, die heute volljährig wurde? Seit Jahren hatten sie einander nicht gesehen. Gelegentlich meldete sie sich, schrieb eine Postkarte oder eine WhatsApp-Nachricht. Doch der Austausch war oberflächlich geworden. Die Distanz war zu groß.
Und was war mit Sophienlust? Wie lange würde sie noch bleiben können? Offiziell konnte sie nun ihr Leben selbst in die Hand nehmen, doch bereit dafür fühlte sie sich noch lange nicht.
Irmela verscheuchte sämtliche trüben Gedanken. Es gab so viel Schönes in ihrem Leben. Nicht nur, dass sie heute 18 Jahre alt wurde. Sie hatte auch zwei Wochen zuvor das Abitur bestanden, als Beste ihres Jahrgangs. Mit dem angestrebten und erreichten Notendurchschnitt von 1,0 stand ihrem beruflichen Ziel, Kinderärztin zu werden, nun nichts mehr im Weg. Und sie hatte Rico, ihren Freund, der im vergangenen Herbst für einige Wochen mit seiner kleinen Schwester Rebecca auch hier im Kinderheim gewohnt hatte. Leider lebte er mittlerweile mit seinen Eltern in Italien. Die Familie hatte in Umbrien das Haus einer Großtante geerbt. Irgendwann würde sie Rico wiedersehen, daran wollte sie ganz fest glauben.
Irmela wandte sich vom Fenster ab. Sie würde jetzt Zähneputzen, sich anziehen und eine Runde joggen gehen, so lange es noch nicht allzu warm war. Das hatte ihr schon immer gutgetan.
*
Irmela eilte die Treppe hinunter, die von den Schlafräumen der Kinder zur Eingangshalle ins Erdgeschoss führte. Sie trug ein leichtes T-Shirt, eine kurze Jogginghose und Turnschuhe.
Von der Eingangshalle gingen zwei Flure und etliche Türen ab. Dahinter befanden sich das Spielzimmer, das Esszimmer, das Biedermeier-Zimmer in dem die Besucher des Heims empfangen wurden, sowie auch die Büros von Nick und Denise. Seitlich führte ein Flur zur Küche des Hauses, dem Refugium der Köchin Magda. Über diesen Flur kam man auch in einen Seitentrakt von Sophienlust. Dort gab es einige Gästezimmer. Immer wieder kam es vor, dass Angehörige der Kinder anlässlich eines Besuches im Heim übernachteten.
Irmela hüpfte die letzte Stufe der Treppe hinunter. In dem Moment öffnete sich die Tür zu Tante Isis Büro. Denise stand im Rahmen und lächelte ihr zu.
»Guten Morgen, Irmela. Ich sehe, du möchtest joggen gehen. Komm doch bitte trotzdem kurz zu mir.«
»Guten Morgen, Tante Isi«, grüßte Irmela zurück und kam der Bitte nach. Denise drückte die Tür hinter ihr ins Schloss und reichte ihr die Hand.
»Ganz herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag und zur Volljährigkeit, Liebes.«
»Danke, Tante Isi«, antwortete Irmela und ein Hauch Röte stieg in ihre Wangen ob der liebevollen Anrede.
»Ich habe eine Kleinigkeit für dich.« Denise nahm ein Päckchen von ihrem Schreibtisch, das in Geschenkpapier eingewickelt und mit einer Schleife verziert war.
»Oh, wie lieb! Vielen Dank«, entfuhr es Irmela. »Darf ich es gleich aufmachen?«
»Natürlich.«
Denise lächelte. »Außerdem möchte ich dir sagen, dass wir alle hier sehr stolz auf dich sind. Du hast ein hervorragendes Abitur geschrieben und warst überhaupt über all die Jahre vorbildlich. Besteht denn dein Wunsch, Kinderärztin zu werden, noch? Oder hat sich etwas geändert?«
»Nein.« Irmela schüttelte den Kopf. »Ich habe schon zwei Bewerbungen geschrieben, um ein Praktikum zu machen. Die Antworten stehen noch aus, aber ich hoffe sehr, dass es bei einer Stelle klappt.«
»Möchtest du mir erzählen, wo du dich beworben hast?«, fragte Denise.
»Aber sicher. Einmal in der Klinik in Maibach, da habe ich ja früher schon gelegentlich gejobbt, in der Abteilung von Doktor Künzel. Er steht kurz vor der Pensionierung, aber noch arbeitet er. Vielleicht kann er sich an mich erinnern und ich habe eine Chance.«
»Bestimmt«, warf Denise ein.
»Dann hat in Brückenbach hat vor zwei Monaten eine neue Arztpraxis eröffnet. Dorthin habe ich auch geschrieben«, fuhr Irmela fort und betrachtete das kleine Päckchen, das Tante Isi ihr überreicht hatte. Es war etwas größer als eine Schmuckschachtel und in weißes Papier eingewickelt, auf das viele kleine Sonnenblumen aufgedruckt waren.
»Bis Brückenbach sind es etwa drei Kilometer«, meinte Denise. »Der Bus, der nach Maibach fährt, hält dort.«
»Ja, das dachte ich eben auch. Ich kann auch mit dem Rad fahren, wenn das Wetter halbwegs passt«, antwortete Irmela.
»Ich wünsche dir von Herzen viel Erfolg«, versicherte Denise.
»Danke, Tante Isi.« Sie zögerte. Sie hätte Denise gerne noch etwas gefragt, doch sie scheute die Antwort. Wenn sie anders ausfiel, als sie hoffte, hatte sie ein Problem.
»Was beschäftigt dich, Irmela?«, fragte Denise.
Schüchtern lächelte Irmela sie an. Es beeindruckte sie immer wieder, welch feines Gespür Nicks Mutter für die Sorgen und Nöte ihrer Schützlinge hatte. Obgleich sie ja seit heute gar kein Schützling mehr war. Doch so fühlte es sich gar nicht an.
»Wie lange darf ich hierbleiben, Tante Isi?«, platzte es aus ihr heraus. »Ich meine, ich bin doch jetzt eigentlich erwachsen, oder? Ich muss jetzt für mich selbst sorgen. Ich weiß nur nicht, wie. Es wird noch lange dauern, bis ich genug Geld zum Leben verdienen kann. Ich werde natürlich jobben, neben dem Studium. Im Praktikum verdiene ich aber wohl kein Geld und …«
Besänftigend legte Denise ihr die Hand auf den Arm.
»Beruhige dich, Irmela, und mach dir keine Sorgen. Natürlich kannst du noch eine ganze Weile hierbleiben. Mach dein Praktikum, suche dir einen Studienplatz und dann sehen wir weiter. Je nachdem, wo du studieren kannst oder möchtest, besprechen wir die Situation neu. Du kannst sicher sein, wir sind nach wie vor für dich da.«