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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. "Kommst du? ", fragte Angelika Langenbach ungeduldig ihre jüngere Schwester Vicky, die noch damit beschäftigt war, ein buntes Band in ihre langen braunen Haare zu flechten. "Bin gleich soweit", nuschelte Vicky. Zwischen den Lippen hielt sie eine Klammer, mit der sie eine lose Strähne feststecken wollte. "Wenn du nicht vorwärts machst, verpassen wir den Bus", drängelte Angelika. "Fertig", versicherte Vicky und sprang von ihrem Schreibtischstuhl auf. Der ovale Frisierspiegel, der auf der Arbeitsplatte stand, fiel um. "Mann", stöhnte Angelika. Vicky stellte den Spiegel wieder auf. "Nichts passiert", sagte sie lachend. Kopfschüttelnd wartete Angelika ab, bis die kleine Schwester vor ihr das gemeinsame Zimmer verlassen hatte, das sie im Kinderheim Sophienlust bewohnten. Sie eilten den Flur entlang und liefen die breite Treppe hinunter, die zur Eingangshalle führte. Von der Halle gingen viele Türen ab. Eben öffnete sich eine davon und Dominik von Wellentin-Schoenecker, der Eigentümer des Kinderheims, kam aus seinem Büro. "Hallo Nick! ", riefen die Schwestern nahezu gleichzeitig. "Hallo Angelika, hallo Vicky. Ihr habt es ja eilig", sagte Nick freundlich. "Ja, wir wollen zu Saskia. Sie feiert heute ihren 14.
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Seitenzahl: 145
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„Kommst du?“, fragte Angelika Langenbach ungeduldig ihre jüngere Schwester Vicky, die noch damit beschäftigt war, ein buntes Band in ihre langen braunen Haare zu flechten.
„Bin gleich soweit“, nuschelte Vicky. Zwischen den Lippen hielt sie eine Klammer, mit der sie eine lose Strähne feststecken wollte.
„Wenn du nicht vorwärts machst, verpassen wir den Bus“, drängelte Angelika.
„Fertig“, versicherte Vicky und sprang von ihrem Schreibtischstuhl auf. Der ovale Frisierspiegel, der auf der Arbeitsplatte stand, fiel um.
„Mann“, stöhnte Angelika. Vicky stellte den Spiegel wieder auf.
„Nichts passiert“, sagte sie lachend. Kopfschüttelnd wartete Angelika ab, bis die kleine Schwester vor ihr das gemeinsame Zimmer verlassen hatte, das sie im Kinderheim Sophienlust bewohnten. Sie eilten den Flur entlang und liefen die breite Treppe hinunter, die zur Eingangshalle führte. Von der Halle gingen viele Türen ab. Eben öffnete sich eine davon und Dominik von Wellentin-Schoenecker, der Eigentümer des Kinderheims, kam aus seinem Büro.
„Hallo Nick!“, riefen die Schwestern nahezu gleichzeitig.
„Hallo Angelika, hallo Vicky. Ihr habt es ja eilig“, sagte Nick freundlich.
„Ja, wir wollen zu Saskia. Sie feiert heute ihren 14. Geburtstag und wir machen eine Schnitzeljagd“, verkündete Vicky aufgeregt.
„Dann wünsche ich euch viel Spaß. Seid ihr zum Abendessen zurück?“, erkundigte sich Nick.
„Nein. Tante Isi hat erlaubt, dass wir erst um acht Uhr wieder hier sein müssen“, sagte Angelika. Nick lächelte.
„Ihr seid ja auch schon ziemlich groß“, stimmte er zu. Vicky strahlte und reckte die Nase ein Stückchen höher. Sie war mit ihren zwölf Jahren zwei Jahre jünger als ihre Schwester, und umso stolzer darauf, dass auch sie auf Saskias Geburtstag eingeladen war.
„Bis später, Nick“, sagte Angelika. Vicky schloss sich dem Abschiedsgruß an.
„Habt einen schönen Nachmittag“, erwiderte Nick.
Die Schwestern verließen das Haus und eilten die Freitreppe zum Vorplatz von Sophienlust hinunter. Um das Kinderheim erstreckte sich ein weitläufiger Garten, der an einen Park erinnerte. Es gab viele Spielplätze und eine breite Zufahrt. Durch ein zweiflügeliges Tor, das immer offenstand, kam man nach draußen.
„Mensch, Angelika! Ich hör schon den Bus.“ Vicky fing an zu rennen. Angelika folgte ihr. Außer Atem erreichten die Schwestern die Bushaltestelle, die nur fünfzig Meter vom Zugangstor zu Sophienlust entfernt lag.
Der Fahrer, der sie kannte, weil er die Tour häufig fuhr, lächelte ihnen zu, warf einen flüchtigen Blick auf ihre Schüler-Monatskarten und schloss die Türen. Schwer atmend ließen sich die Mädchen auf zwei Plätze nebeneinander fallen.
„Wegen dir kommen wir jetzt zu spät“, sagte Angelika mit unbewegter Miene.
„Was?“ Entgeistert sah Vicky ihre Schwester an. Angelika knuffte sie in die Seite und fing an zu lachen.
„War nur Spaß. Oder glaubst du, wir wären schneller bei Saskia, wenn wir schon fünf Minuten an der Haltestelle gewartet hätten?“
Nun musste auch Vicky lachen.
Wenige Minuten später stiegen sie wieder aus. Saskia Hemberger wohnte mit ihrem Vater in einem Einfamilienhaus am Rand von Maibach.
Sie stand bereits im Kreis einiger Freudinnen im Garten vor dem Haus. Auch Saskias Vater Hannes war dabei. Freudig begrüßten sich die Mädchen.
„So, Mädels. Ich denke, wir sind vollzählig“, sagte Hannes. „Wir bilden jetzt zwei Gruppen. Der Weg geht da entlang.“ Er deutete zur Straße. „Achtet auf die Hinweise. Es gibt mehrere Stationen, an denen ihr Rätsel findet, die gelöst werden müssen um voranzukommen. Am Ziel ist ein Schatz versteckt.“
„Ein richtiger Schatz?“, rief Tilda, die schwarze, sehr kurz geschnittene Haare hatte. Vicky stellte fest, dass Tilda rosa Lippenstift trug. Das sah toll aus, so richtig erwachsen. Sie beschloss sich von ihrem Taschengeld demnächst auch einen zu kaufen.
„Nun ja, lasst euch einfach überraschen. Gewonnen hat, wer zuerst am Ziel ist und den Schatz gefunden hat“, sagte Hannes und schmunzelte.
„Du bleibst aber hier, Papa, oder?“, erkundigte sich Saskia besorgt.
„Natürlich. Oder soll ich mitkommen und auf euch aufpassen?“
„Bloß nicht!“, rief Saskia und lachte erleichtert. „Vicky, Angelika, wir gehen zusammen. Tilda, du gehst mit Mona und Suse.“
Unter freudigem Geplauder machten sich die Mädchen auf den Weg.
*
„Hier! Dort vorne seh’ ich einen Zettel“, rief Saskia eine halbe Stunde später aufgeregt und zeigte auf eine rot gestrichene Bank am Waldrand, von der schon die Farbe abblätterte. Vicky eilte an der Freundin und ihrer Schwester vorbei. Der Zettel war mit einem Bindfaden an eine Querstrebe der Rückenlehne gebunden. Sekunden später saßen die drei Mädchen auf der Bank und steckten die Köpfe zusammen. Vicky hatte den Zettel entfaltet.
Gehe zwanzig Schritte. Suche den nächsten Hinweis. Achte auf den Pfeil.
„Zwanzig Schritte, das ist ganz einfach“, rief Vicky und sprang auf.
„Und in welche Richtung?“, fragte Saskia.
„Wahrscheinlich von hier aus in den Wald“, sagte Angelika. „Schaut, da ist ein Weg!“
„Das ist kein Weg. Höchstens ein Pfad“, wandte Saskia ein. Die Vorstellung in den Wald zu laufen, gefiel ihr nicht. Sie fand es immer ein wenig gruselig, zwischen den hohen Bäumen. „Vielleicht sollen wir nur am Waldrand entlanglaufen. Hier ist das Gras niedergetreten, das sieht auch nach einem Weg aus.“
„Glaub ich nicht, das wäre zu einfach“, überlegte Vicky.
„Egal, wir versuchen es erstmal im Wald“, sagte Angelika entschieden.
„Genau.“ Vicky sprang auf. „Ich geh’ vor“, verkündete sie. Saskia gab sich geschlagen. Immerhin waren sie zu dritt und ihr Vater, der die Hinweise zur Schnitzeljagd gelegt hatte, hatte nur zwanzig Schritte notiert. Das war nicht weit. Bestimmt war der nächste Anhaltspunkt rasch gefunden und sie konnten wieder raus aus dem Wald.
„Du machst die Schritte viel zu groß“, kritisierte Angelika ihre Schwester, die vor ihr lief.
„Hier ist der Pfeil“, rief Saskia erleichtert, die als Letzte kam. Sie zeigte auf ein paar Äste, die am Waldboden lagen. Mit ein wenig Fantasie konnte man glauben, sie wären in Form eines Pfeils angeordnet.
„Niemals“, protestierte Angelika. „Die Zweige liegen zufällig so da. Außerdem sind wir erst fünfzehn Schritte gelaufen. Seht mal, dort vorne auf dem Stein. Der Tannenzapfen könnte auch ein Hinweis sein.“ Sie eilte an Vicky vorbei. Saskia unterdrückte ein Seufzen. Sie hätte ihren Vater bitten sollen, keine Spuren in den Wald zu legen. Sie war selbst schuld. Sie hatte ihm nie erzählt, dass es sie alleine zwischen den Bäumen gruselte. Dazu hatte es auch noch nie einen Anlass gegeben, denn üblicherweise gab es für sie keinen Grund ohne seine Begleitung in den Forst zu gehen.
„Das ist auch kein Pfeil“, erklärte Vicky. „Ich glaube, wir müssen noch ein Stück weiter.“ Sie standen um den abgeflachten felsbrockenartigen Stein, auf dem ein Tannenzapfen lag.
„Aber die zwanzig Schritte haben wir“, erinnerte Saskia. Auf keinen Fall wollte sie sich weiter ins Gehölz vorwagen. Am Ende fanden sie den Rückweg nicht mehr.
„Okay, wir suchen von hier aus den Pfeil. Vicky du guckst dich in der Richtung um, Saskia, du hier und ich da“, übernahm Angelika das Kommando.
Saskia gab keine Antwort und rührte sich auch nicht von der Stelle. Von ihrem Platz aus sah sie konzentriert zwischen die Baumstämme und plötzlich glaubte sie, einen Hieb in den Magen zu bekommen. Der Busch dort hinten bewegte sich. Eindeutig, es versteckte sich jemand in den Zweigen.
„Vicky, Angelika“, krächzte sie. Ihre Knie zitterten.
„Was ist?“ Angelika wandte sich ihr zu.
„Dort hinten. Da ist wer.“ Sie konnte nur noch flüstern. Eiskalt lief es über ihren Rücken. Wer sich verbarg, hatte meist nichts Gutes im Sinn, oder?
„Wer? Wo?“ Nun hörte sich auch Angelika beklommen an. Sie kam zu ihr. Unter ihren Schritten knackten Zweige und das Laub raschelte. Konnte sie nicht leiser auftreten? Saskia spürte kalten Schweiß im Nacken.
„Dort“, wisperte sie und starrte in den Wald. Sie glaubte, unterdrückten Atem zu hören. Saskia streckte die Hand aus und klammerte sich an Angelikas Arm. Aus dem Gebüsch kam ein Geräusch, ähnlich einem Niesen. Angelika entwand sich ihrem Griff.
„Ich seh’ da jetzt nach“, sagte sie entschlossen. Saskia presste die verschränkten Arme vor die Brust. Wie war sie nur auf die dumme Idee gekommen, eine Schnitzeljagd machen zu wollen!
*
Angelika näherte sich vorsichtig dem Busch, dessen Zweige sich immer wieder bewegten, obwohl es im Wald völlig windstill war. Ein bisschen mulmig war ihr schon auch, doch so ein Angsthase wie Saskia war sie nicht. Vielleicht fand sie im Gebüsch ein ausgesetztes Tierchen? Ein paar kleine Kätzchen? Manche Menschen hatten so gar kein Herz für Tiere und überließen sie einem ungewissen Schicksal. Das konnte sie überhaupt nicht verstehen. Hinter dem Busch musste keine Gefahr lauern, redete Angelika sich gut zu. Je näher sie dem Gesträuch kam, umso mehr meinte sie, dahinter etwas Rotes und etwas Weißes zu sehen. Ein Tier war das nicht. Behutsam bog sie die Zweige auseinander. Am Waldboden saß ein kleines Mädchen, mit rotem T-Shirt und weißem Röckchen, den Kopf auf die Knie gedrückt.
„Hey“, sagte Angelika überrascht. „Wer bist du denn? Hast du dich versteckt oder verlaufen?“
Das Kind hob den Kopf. Das kleine Gesicht war völlig verweint.
„Ich wollte den Osterhasen suchen“, wisperte die Kleine mit heiserem Stimmchen.
„Oje. Ganz alleine?“
Vorsichtig nickte das Mädchen.
„Die Mama muss arbeiten und hat keine Zeit. Und Oma Ines ist eingeschlafen“, erklärte es.
„Und dann bist du ausgebüxt?“, fragte Angelika weiter. Das Mädchen war höchstens vier Jahre alt. Sie fand wohl den Weg nach Hause nicht mehr.
„Ich wollte nur ganz kurz weg“, versicherte die Kleine und senkte den Kopf.
„Ich hab ihn auch gesehen, aber dann bin ich hingefallen und mein Fuß tut jetzt weh und Oma Ines ist bestimmt ganz böse auf mich und die Mama auch.“ Wieder fing das Mädchen an zu weinen.
Angelika wandte sich zu Vicky und Saskia.
„Ihr könnt herkommen. Alles in Ordnung“, sagte sie und winkte ihnen. Vicky beeilte sich, Saskia kam nur langsam näher.
„Wie heißt du denn?“, fragte sie das Kind.
„Nele.“ Die Kleine schniefte und rieb sich mit dem Handrücken über die Nase. Angelika nahm aus ihrem kleinen Umhängetäschchen ein Papiertaschentuch und reichte es dem Kind. Nele drückte sich das Taschentuch ins Gesicht.
„Ach du meine Güte“, sagte Saskia, die neben Angelika getreten war. „Was macht die denn hier?“
„Die“, antwortete Angelika und betonte das Wort, „heißt Nele und hat sich scheinbar verlaufen. Wir müssen sie heimbringen.“
„Heimbringen?“ Saskia zog die Augenbrauen hoch. „Und die Schnitzeljagd?“
„Die hat Pause“, schaltete sich Vicky ein.
„Aber dann gewinnt die andere Gruppe“, hielt Saskia dagegen. Empört wandte Angelika sich ihr zu.
„Wir können die Kleine doch nicht einfach sitzen lassen. Am Fuß hat sie sich auch wehgetan.“
„Ja, da“, jammerte Nele und streckte ein Bein vor.
„Wo wohnst du denn?“, fragte Angelika und ging in die Knie, um das Kind besser ansehen zu können.
„Bei der Mama“, erwiderte Nele. Sie klang unsicher, als wüsste sie genau, dass die Auskunft nicht genügte.
„Weißt du denn, wie du noch heißt? Ich meine, mit Nachnamen, außer ‚Nele‘?“, forschte Angelika weiter. Langsam schüttelte die Kleine den Kopf.
„Und wo wohnt deine Mama?“, schaltete sich nun Vicky ein und ging ebenfalls in die Knie.
„In der Wohnung über Oma Ines“, erklärte Nele bereitwillig.
*
Angelika und Vicky tauschten einen ratlosen Blick. Saskia stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie sah ihren Geburtstagsnachmittag dahinschwinden.
„So wird das doch alles nichts“, sagte sie. „Ich rufe meinen Vater an. Der weiß bestimmt, was zu tun ist.“ Sie zog ihr Handy aus ihrer Tasche, die mit dem Riemen quer über ihrer Schulter hing.
„Hallo Papa, ich bin es, Saskia. Wie? Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Aber wir brauchen trotzdem deine Hilfe …“
Wenige Minuten darauf beendete sie das Telefonat.
„Er kommt“, informierte sie Vicky und Angelika, die sich mittlerweile auf den Waldboden zu Nele gesetzt hatten. In einem guten Meter Entfernung entdeckte sie einen Baumstumpf. Sie beschloss, sich darauf zu setzen. Das war besser als auf Laub und Tannennadeln. Nachdem sie die hölzerne Oberfläche nach Harz und Sonstigem, was ihrer Jeans schaden konnte, abgesucht hatte, kauerte sie sich auf die Kante.
„Bringt dein Papa mich heim?“, piepste Nele.
„Wie soll er denn das machen? Du weißt ja nicht, wo du wohnst“, antwortete Saskia. Sie hob einen trockenen Ast vom Boden auf und stocherte damit im Laub herum.
„Was macht er dann mit mir?“, fragte Nele ängstlich.
„Keine Ahnung“, gab Saskia zu. Ein bisschen tat ihr die Kleine leid, aber hauptsächlich war sie frustriert. Sie hatte sich so auf ihren Geburtstag und die Schnitzeljagd gefreut. Jetzt war klar, dass Tilda, Mona und Suse gewinnen würden. Alles wegen der kleinen Göre.
*
Nele senkte den Kopf. Obwohl die drei Mädchen ganz nett aussahen und ihr versuchten zu helfen, hatte sie doll Angst. Ein fremder Mann sollte kommen und sich um sie kümmern. Der Vater von dem Mädchen mit den langen blonden Haaren. Sie durfte nicht mit Fremden mitgehen. Eigentlich durfte sie mit gar niemandem mitgehen, wenn die Mama es nicht vorher erlaubt hatte. In Neles Hals und Brust wurde es ganz eng. Sie überlegte, ob sie schnell aufstehen und weglaufen sollte. Aber ihr Fuß tat immer noch weh und die großen Mädchen waren bestimmt schneller als sie und würden sie nicht lassen.
„Guck doch nicht so traurig“, ermunterte sie das Mädchen, das sie zuerst entdeckt hatte. „Saskias Papa ist echt cool und weiß ganz viel. Der kann dir bestimmt helfen. Ich bin Angelika und das ist Vicky, meine Schwester.“
So viele Namen.
„Mann, bin ich doof.“ Angelika schlug sich plötzlich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Verwundert sah Nele zu ihr auf. „Wir hätten doch auch Nick anrufen können.“
„Stimmt“, sagte Saskia. Sie klang ziemlich schlecht gelaunt.
„Ja, Nick weiß immer, was zu tun ist“, stimmte Vicky zu. Unsicher sah Nele von einem Mädchen zum anderen. Wer war jetzt wieder Nick?
Ein großer Mann kam plötzlich auf sie zu.
„Papa, endlich“, sagte Saskia, hörbar erleichtert.
„Hallo, Mädels“, begrüßte der Mann sie und sah lächelnd von einer zur anderen. „Es hat ein bisschen gedauert, weil ich mit dem Auto nicht direkt an den Waldrand fahren konnte und ein Stück laufen musste“, erklärte er.
„Du bist also Nele, die den Heimweg nicht mehr findet“, wandte er sich an sie. Nele wagte weder etwas zu sagen, noch zu nicken. Er sah wirklich freundlich aus, aber die Mama hatte ihr schon ganz oft gesagt, dass sie auch dann mit niemandem mitgehen durfte, wenn er nett war. Ihr Herz schlug ganz doll vor Angst.
„Ich heiße Hannes“, sagte der freundliche Mann.
„Papa.“ Saskia war zu ihnen gekommen. „Was machen wir denn jetzt mit ihr?“
„Gute Frage.“ Hannes rieb sich den Nacken und musterte das Kind.
*
Das kleine Mädchen schien völlig verängstigt. Saskia hatte ihm am Telefon schon gesagt, dass Nele weder ihren Nachnamen wusste noch, wo sie wohnte. Nur eine Oma Ines hatte sie erwähnt. Das half ihm nicht weiter. Das Einzige, was ihm einfiel, war, sie zur Polizeistation in Maibach zu bringen, damit sich die Beamten darum kümmerten, dass das Kind wieder nach Hause kam. Vielleicht wurde sie auch schon vermisst.
„Papa“, drängte Saskia. „Wir haben die Schnitzeljagd bestimmt schon verloren, weil wir so lange nicht weitermachen konnten.“
„Ja, Sassi, ja. Das tut mir auch sehr leid.“ Vielleicht sollte er bei der Polizei anrufen und den Behörden so jedwede Entscheidung überlassen. Andererseits gab das sicher einen ziemlichen Wirbel, der das verschreckte kleine Mädchen noch mehr ängstigen würde. Er ging davon aus, dass man ihm keineswegs antrug, Nele zur Polizeistation zu bringen. Wahrscheinlich sollte er vor Ort hier mit ihr warten und man schickte einen Wagen mit zwei Beamten. Er sah bereits die uniformierten Staatsdiener durch die Bäume stapfen.
„Sie können Nele doch ins Kinderheim bringen“, schaltete sich Angelika ein. „Nick und Tante Isi wissen bestimmt, was zu tun ist“, fuhr sie fort.
Der Vorschlag war nicht der schlechteste, wenngleich ihm auch damit nicht wirklich wohl war. Zwar war er sicher, in Sophienlust war Nele bestens aufgehoben und wurde liebevoll umsorgt, doch auch dafür musste er sie mitnehmen.
„Nele“, sprach er die Kleine an. „Du willst doch sicher wieder nach Hause zu Oma Ines, oder?“
„Ich will zu meiner Mama.“ Dicke Tränen kullerten über das Gesicht des Kindes. Am liebsten hätte er das Mädchen in den Arm genommen, um es zu trösten und nach Hause getragen, wo immer das war. Nele erinnerte ihn an Saskia, als sie im gleichen Alter gewesen war. Wie hatte Mara, seine Ex-Frau, ihrer gemeinsamen Tochter nur so entschieden den Rücken zukehren können, um ohne ihn und ihr Kind ein neues Leben anzufangen? Saskia war damals genauso klein, zart und schutzbedürftig gewesen wie diese Nele hier. Er verdrängte die Gedanken an die schwere Zeit, die zehn Jahre zurücklag.
„Wenn du mir sagen kannst, wo ich deine Mama erreiche, dann rufe ich sie an“, schlug Hannes vor.
„Sie muss ar…bei…ten“, schluchzte Nele.
„Und wo?“
„In dem großen Geschäft.“
Er kam nicht weiter. Wenn er der Kleinen die Polizei ersparen wollte, blieb ihm tatsächlich nur das Kinderheim. Wie er aus Erzählungen von Angelika und Vicky wusste, gelangen es sowohl Nick von Wellentin-Schoenecker, dem Eigentümer des Heims, als auch seiner Mutter Denise stets, auf sehr einfühlsame Weise den Kindern Halt und Sicherheit zu vermitteln, Geborgenheit zu geben und reale Probleme so zügig wie möglich zu lösen.
„Angelika“, sagte Hannes, „könntest du im Kinderheim anrufen und fragen, ob ich Nele bringen kann?“
„Klar.“ Angelika nahm ihr Handy aus der Tasche.
*
Ines Rabke erwachte ruckartig und fuhr hoch. Liebe Güte, sie war eingeschlafen. Sie setzte sich mühsam auf. Ihr Rücken schmerzte und die Stelle, mit der sie bis eben auf der Wärmflasche gelegen hatte, fühlte sich jetzt unangenehm kühl an.