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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Nick von Wellentin-Schoenecker fuhr auf den Parkplatz des Supermarktes in Maibach. Obwohl es erst neun Uhr an diesem Samstagvormittag war, herrschte bereits reger Betrieb. Das mochte an den attraktiven Angeboten für die bevorstehende Adventszeit liegen, für die die Ladenkette seit Tagen Werbung machte. Es gab Kerzen und Lichterketten, Tannenkränze zum Selbstschmücken, weihnachtliche Servietten und Adventskalender. Auch Nick war wegen der Angebote hier. Besonders angetan hatten es ihm die roten handgroßen Holzschlitten, die eine schöne vorweihnachtliche Dekoration waren. Es gab auch kleine Laternen, in deren Inneren sich batteriebetriebene Teelichte befanden. In zwei Wochen war Nikolaustag. Es war sicher eine hübsche Überraschung für die Kinder, die im Kinderheim Sophienlust lebten, dessen Eigentümer er war, wenn sie am sechsten Dezember beim Frühstück an ihrem Platz im Esszimmer so einen kleinen Schlitten vorfanden, auf dem eine Laterne stand. Else Rennert, die Heimleiterin und von allen nur Tante Ma genannt, hatte sich bereit erklärt, aus Jutestoff kleine Säckchen zu nähen, für jedes Kind eines. Diese sollten mit Süßigkeiten gefüllt werden. Nick parkte seinen Wagen nahe dem Eingang, schaltete den Motor ab und stieg aus. Kalte Luft umfing ihn, und er schloss den Reißverschluss seiner Jacke, auch wenn es nur wenige Meter bis zur Tür des Discounters waren. Er warf einen Blick zum Himmel, an dem düstere Wolken hingen. Bestimmt gab es bald Schnee. Gut, dass er schon vor zwei Wochen die Winterreifen auf seinen Wagen montiert hatte. Bis Wildmoos, wo das Kinderheim Sophienlust lag, waren es zwar mit dem Auto nur etwa zehn Minuten, doch mit Sommerreifen über frisch gefallenen Schnee zu fahren, war nicht ungefährlich, zumal die Strecke teilweise durch den Wald und hügeliges Gelände führte. Nick holte einen Einkaufswagen und betrat den Einkaufsmarkt. »Jonas?« Anne Prechtl sah ins Zimmer ihres neunjährigen Sohnes.
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Seitenzahl: 155
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Nick von Wellentin-Schoenecker fuhr auf den Parkplatz des Supermarktes in Maibach. Obwohl es erst neun Uhr an diesem Samstagvormittag war, herrschte bereits reger Betrieb. Das mochte an den attraktiven Angeboten für die bevorstehende Adventszeit liegen, für die die Ladenkette seit Tagen Werbung machte. Es gab Kerzen und Lichterketten, Tannenkränze zum Selbstschmücken, weihnachtliche Servietten und Adventskalender.
Auch Nick war wegen der Angebote hier. Besonders angetan hatten es ihm die roten handgroßen Holzschlitten, die eine schöne vorweihnachtliche Dekoration waren. Es gab auch kleine Laternen, in deren Inneren sich batteriebetriebene Teelichte befanden.
In zwei Wochen war Nikolaustag. Es war sicher eine hübsche Überraschung für die Kinder, die im Kinderheim Sophienlust lebten, dessen Eigentümer er war, wenn sie am sechsten Dezember beim Frühstück an ihrem Platz im Esszimmer so einen kleinen Schlitten vorfanden, auf dem eine Laterne stand. Else Rennert, die Heimleiterin und von allen nur Tante Ma genannt, hatte sich bereit erklärt, aus Jutestoff kleine Säckchen zu nähen, für jedes Kind eines. Diese sollten mit Süßigkeiten gefüllt werden.
Nick parkte seinen Wagen nahe dem Eingang, schaltete den Motor ab und stieg aus. Kalte Luft umfing ihn, und er schloss den Reißverschluss seiner Jacke, auch wenn es nur wenige Meter bis zur Tür des Discounters waren. Er warf einen Blick zum Himmel, an dem düstere Wolken hingen. Bestimmt gab es bald Schnee. Gut, dass er schon vor zwei Wochen die Winterreifen auf seinen Wagen montiert hatte. Bis Wildmoos, wo das Kinderheim Sophienlust lag, waren es zwar mit dem Auto nur etwa zehn Minuten, doch mit Sommerreifen über frisch gefallenen Schnee zu fahren, war nicht ungefährlich, zumal die Strecke teilweise durch den Wald und hügeliges Gelände führte.
Nick holte einen Einkaufswagen und betrat den Einkaufsmarkt.
*
»Jonas?« Anne Prechtl sah ins Zimmer ihres neunjährigen Sohnes. Jonas saß an seinem Schreibtisch, den Kopf über seine Bücher und Hefte gebeugt.
»Hm?«, machte der Junge, ohne aufzusehen.
»Ich muss rasch zum Supermarkt. Kannst du kurz auf Lina achten? Ich denke, ich bin in zwanzig Minuten zurück«, bat sie ihren Sohn.
»Mann, Mama. Ich muss Hausaufgaben machen«, protestierte Jonas und warf seiner Mutter einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Ich mag aber auch mit!«, rief Alina, die im Wohnzimmer auf dem Boden saß und versuchte, ein Puzzle zu legen. Anne wandte sich um. Ihre Tochter rappelte sich auf und kam zu ihr. »Ich mag mit Mama, bitte«, versuchte sie ihre Mutter zu überzeugen.
»Aber Schätzchen. Ich brauche nur ein wenig Gemüse«, argumentierte Anne dagegen. Mit der Kleinen zum Einkaufen zu gehen, dauerte erfahrungsgemäß die dreifache Zeit. Zeit war das, was sie als berufstätige, alleinerziehende Mutter am wenigsten zur Verfügung hatte.
»Ich. Mag. Mit.« Alina sprang von einem Fuß auf den anderen. »Fahren wir mit dem Fahrrad?«
»Also gut«, gab Anne nach. »Hast du gehört Jonas? Ich nehme Lina mit.«
»Bringst du mir was mit?«, erkundigte sich Jonas, ohne auf den Entschluss seiner Mutter einzugehen.
»Mal sehen, Großer.« Anne strich ihrem Sohn über die Schulter.
*
Nick bezahlte seine Besorgungen und verließ den Kassenbereich des Discounters. Durch die große Glasfront konnte er nach draußen und auf den Parkplatz sehen. Tatsächlich hatte es mittlerweile zu schneien begonnen. Dicht an dicht fielen große weiße Flocken vom Himmel, minderten die Sicht und überzogen die Autos, Bäume und den Platz mit einem dicken Polster. Er würde den Wagen vom Schnee befreien müssen, ehe er losfahren konnte.
Nick trat nach draußen, schlug den Kragen seiner Jacke hoch und wollte eben zu seinem Auto gehen, als er eine junge Frau an einer Reihe der parkenden Fahrzeuge vorbeiradeln sah. Für die Wetterverhältnisse fuhr sie zügig und hielt sich auch dichter an den abgestellten Autos, als er für richtig hielt. In einiger Entfernung folgte der Frau ein Kind mit einem rosa Jäckchen auf einem Fahrrad mit Stützrädern. Immer wieder sah die Frau nach hinten zu dem Kind, während sie dennoch in die Pedale trat. Die Rücklichter eines Autos flammten auf. Nick durchlief es eiskalt. Der Wagen rollte rückwärts aus der Parklücke, die Frau radelte direkt darauf zu, sah aber über die Schulter zu dem Kind.
»Halt! Vorsicht!«, rief Nick, wohl wissend, dass die Personen, denen sein Warnruf galt, ihn entweder nicht hören konnten oder den Ausruf nicht auf sich bezogen. Der ausparkende Wagen stieß gegen das Vorderrad der Frau, sie kam ins Schlingern und stürzte auf der schneebedeckten Parkfläche zu Boden.
Nick ließ seinen Einkaufswagen stehen und rannte zu der Unfallstelle.
*
Tobias Seewald umklammerte das Lenkrad und vernahm seinen Herzschlag dumpf in den Ohren. Er hatte jemanden angefahren. Eine Radfahrerin. Er hatte nicht aufgepasst, er war in Gedanken bei Ricarda gewesen. Er hatte mit sich und dem Schicksal gehadert und die Welt um sich nur schemenhaft wahrgenommen. Letzteres allerdings war nicht nur seinem Gemütszustand geschuldet, hier spielte auch das Wetter eine Rolle. Die Sicht war schlecht und die Scheibenwischer kamen kaum hinterher, um ihre Aufgabe zu erfüllen, so intensiv war der plötzliche Schneefall.
Lieber Himmel! Hoffentlich war die Frau nicht… Ihn schauderte und es schnürte ihm die Luft ab. Er fürchtete das Schlimmste. Doch es half nichts, er musste sich dem stellen, was er zu verantworten hatte.
Tobias schaltete den Motor aus, löste den Sicherheitsgurt und zwang sich, auszusteigen. Seine Knie zitterten.
Die Frau lag am Boden, ein Bein in verrenkter Haltung an den Körper gezogen und mit schmerzverzerrtem Gesicht. Aus einer Wunde an der Schläfe sickerte Blut und lief in ihre blonden Haare. Das vordere Rad ihres Fahrrades war verbeult. Aber sie lebte und atmete. Tobias drückte es dennoch die Kehle zu. Über die Frau gebeugt stand ein junger Mann, höchstens zwanzig Jahre alt. Er strich ihr leicht über den Arm.
»Hören Sie mich? Haben Sie schlimme Schmerzen? Der Krankenwagen ist schon unterwegs«, versuchte der Mann sie zu beruhigen.
»Lina!«, stieß die Frau hervor. Tobias sah, nur wenige Meter entfernt, das kleine Mädchen, ganz in Rosa gekleidet, auf einem ebenfalls rosafarbenen Fahrrad sitzen. Ob das Lina war? Ihm wurde bewusst, dass auch sie jederzeit angefahren werden konnte. Klein wie sie war, höchstens fünf Jahre alt, mochte sie ein Autofahrer im ungünstigsten Fall übersehen. Er musste das Kind dort wegholen. Er fühlte sich wie gelähmt, seine Gedanken flossen wie zäher Honig. Ehe es ihm gelang sich in Bewegung zu setzen, eilte schon der junge Mann zu dem Kind, der eben noch versucht hatte, die verletzte Frau zu trösten. Urplötzlich fing das Mädchen an zu schreien.
»Maaama!«
Tobias wurde schwindelig und er musste sich am Kofferraum seines Fahrzeuges abstützen.
*
Anne hörte ihr Tochter schreien und versuchte, in sitzende Position zu kommen. Ihr war kalt, ihr Kopf schmerzte, ebenso das linke Bein. Ihre Handflächen brannten, ein Handgelenk war aufgeschürft. Der junge Mann, der eben etwas von einem Krankenwagen gesagt hatte, stand bei Lina und sprach mit ihr. Nun kamen die beiden zu ihr. Der Mann dirigierte das Mädchen, das noch immer auf seinem Rad saß, sacht vor sich her, was ihn zu leicht gebeugter Haltung zwang.
»Lina.« Anne streckte die Hand nach der Kleinen aus. »Ist dir was passiert?«
»Mama.« Die Kleine schluchzte. »Warum bist du hingefallen?«
»Ich habe nicht aufgepasst«, gab Anne zu.
»Dein Rad ist ganz kaputt«, jammerte das Kind.
»Ja, das stimmt. Man kann es sicher richten«, versicherte Anne. Ihre Kopfschmerzen wurden schlimmer. Inzwischen hatte sich eine Menschenmenge um sie herum gebildet. Ein Mann und eine Frau vom Rettungsdienst schoben sich durch die Schaulustigen. Die Frau beugte sich über Anne.
»Hallo, mein Name ich bin Regina Maßen. Wie geht es Ihnen? Was ist passiert?«
»Ich bin mit dem Rad gestürzt«, gab Anne Auskunft. Auf der orangefarbenen Jacke der Frau leuchtete ein Schildchen mit der Aufschrift ›Notarzt‹.
»Haben Sie Schmerzen?«, fragte Dr. Maßen.
»Kopfschmerzen, ja. Und das Bein und die Hüfte. Und der Arm«, gab Anne Auskunft. Je gründlicher sie in sich hineinhörte, umso mehr tat ihr tatsächlich weh.
»Sehen Sie mich bitte an«, sagte die Ärztin. Sie leuchtete Anne mit einer kleinen Lampe in die Augen. Das Licht war unangenehm.
»Wie heißen Sie?«, fragte Dr. Maßen und fühlte Annes Puls.
»Anne Prechtl. Das ist meine Tochter Alina.« Anne versuchte zu Lina zu sehen, doch der Rettungssanitäter stand in ihrem Blickfeld.
»Frau Prechtl, wir müssen Sie zur Untersuchung mit ins Krankenhaus nehmen. Sie haben vermutlich eine Gehirnerschütterung und vielleicht auch Knochenbrüche«, sagte die Ärztin.
»Nein! Das geht nicht. Ich muss mich um Alina kümmern und um Jonas«, protestierte Anne. Heftige Angst stieg in ihr auf. Sie konnte doch nicht ihr kleines Mädchen hier auf dem Parkplatz stehen lassen. Und was war mit Jonas? Er saß allein zu Hause.
»Gibt es jemand, den wir für Ihre Kinder anrufen können?«, fragte die Ärztin. »Ihren Mann?«
»Es gibt niemanden. Ich muss nach Hause. Können Sie mir nicht was gegen die Schmerzen geben? Ich muss mich um meine Kinder kümmern.« Anne fühlte einen Anflug von Hysterie.
»Ein Schmerzmittel wird nicht reichen, Frau Prechtl. Ich kann Sie nicht nach Hause lassen. Sie müssen ins Krankenhaus.«
»Nein!« Anne fing an zu schluchzen.
»Entschuldigung.« Der junge Mann, der Lina geholt hatte, beugte sich wieder zu ihr. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
Anne war kalt und die Schmerzen wurden schlimmer. Sie wollte aufstehen und konnte sich kaum rühren. Jede Bewegung jagte neue Schmerzen durch ihren Körper. Von wo genau die Schmerzen ausgingen, konnte sie nicht zuordnen.
»Mein Name ist Dominik von Wellentin-Schoenecker. Ich bin der Eigentümer des Kinderheims Sophienlust in Wildmoos. Ich könnte Ihre Kinder mit ins Kinderheim nehmen, bis Sie wieder gesund sind oder bis sich eine anderweitige Betreuung gefunden hat«, schlug der junge Mann vor.
»Was?« Durch einen Tränenschleier sah Anne ihn an. Er war sympathisch und sah sie voller Anteilnahme und Verständnis an. Dennoch, sie kannte ihn ja gar nicht. Von dem Kinderheim hatte sie allerdings schon gehört, es war ja nicht weit von Maibach.
»Sie sind Nick?«, die Ärztin wandte sich an den jungen Mann und musterte ihn.
»Tatsächlich, ja. Alle nennen mich so«, sagte er. »Sind wir uns schon einmal begegnet?«, fuhr er fort.
»Nein.« Die Ärztin lächelte. »Mein Neffe war vergangenes Jahr für zwei Wochen bei Ihnen im Kinderheim. Es hat ihm sehr gut gefallen. Er spricht noch immer viel von Sophienlust und auch vom Personal, daher habe ich Ihren Namen schon gehört.«
Anne verfolgte das Gespräch, so gut es ihr Zustand zuließ. Ihr war kalt und sie hatte Angst.
»Frau Prechtl? Vertrauen Sie Herrn von Wellentin-Schoenecker ruhig Ihre Kinder an. Sie sind in Sophienlust bestens aufgehoben, das kann ich Ihnen versichern.«
»Aber wie soll denn das gehen?«, fragte Anne verzweifelt. »Jonas ist zu Hause und weiß von nichts, und die Kinder brauchen doch auch ein paar Sachen. Und…« Wieder fing sie an zu schluchzen.
»Haben Sie ein Handy?«, fragte Nick.
»Natürlich«, murmelte Anne. Sie fühlte sich ganz schwach.
»Wir könnten Ihren Sohn anrufen. Sie sagen ihm, was passiert ist, und bereiten ihn darauf vor, dass ich ihn abholen komme. Sicher kann ich auch mithilfe der Kinder das Nötigste für die beiden zusammenpacken«, schlug Nick vor. Anne schnürte es die Kehle zu. Fieberhaft überlegte sie, wen sie bitten könnte, sich um Jonas und Alina zu kümmern, doch es gab niemanden. Höchstens Gerda Schulte. Sie war 82 Jahre und wohnte in der Wohnung gegenüber. Jonas war schon recht vernünftig für seine neun Jahre. Ihn hätte sie ihr für ein oder zwei Tage anvertrauen können. Doch Linchen… Lebhaft wie die Kleine war, war das der betagten Dame nicht zuzumuten. Zudem, so glaubte sie sich zu erinnern, wollte Frau Schulte die Tage verreisen. Hilflos schluchzte Anne auf.
»Frau Prechtl? Wo ist denn ihr Handy? Kann ich Ihnen helfen, Ihren Sohn anzurufen?«, fragte Nick sanft. Mühsam nickte Anne. Ihr Kopf tat so weh.
»Rechte Jackentasche«, murmelte sie unter Tränen.
*
Tobias Seewald setzte sich wieder in sein Auto. Eben war der Krankenwagen mit der verletzten Anne Prechtl davongefahren. Nick von Wellentin-Schoenecker hatte die kleine Alina mitgenommen, ebenso ihr Fahrrad. Die Menge der Schaulustigen hatten sich inzwischen aufgelöst. Nur er war eigentlich von niemandem richtig wahrgenommen worden. So groß der Schock auch war, dass er die Frau angefahren hatte, mittlerweile war ihm, als wäre er nur ein unbeteiligter Zuschauer des Geschehens gewesen. Zum Einkaufen fühlte er sich nicht mehr in der Lage. Der Schneefall hatte nachgelassen. Nur noch wenige winzige Schneekörnchen fielen vom Himmel. Irgendwer hatte das demolierte Rad von Anne Prechtl seitlich des Parkplatzes an einen Strauch gelehnt.
Er musste zu dieser Frau ins Krankenhaus. Er musste mit ihr reden und sich seiner Schuld und Verantwortung stellen. Nicht jetzt sofort, sie war ja wahrscheinlich noch nicht einmal dort angekommen. Aber heute Nachmittag oder spätestens morgen. Er sah wieder das ängstliche kleine Mädchen vor sich, mit seinem rosa Mäntelchen und der rosa Mütze, farblich passend zum Rad. Annes Rad stand einsam und verlassen.
Tobias stieg wieder aus dem Auto. Er würde es mitnehmen und zur Reparatur bringen. Das war für den Anfang das Mindeste, was er tun konnte.
Sie hatte noch einen Sohn, hatte sie gesagt. Lieber Himmel, was für ein Drama. Und alles nur, weil seine Gedanken beständig um Ricarda und seine gescheiterte Ehe kreisten.
Jene Anne hatte, mit Nicks Hilfe, zuerst ihren Sohn verständigt und ihm mitgeteilt, dass sie mit dem Rad gestürzt wäre und zum Doktor müsste. Möglicherweise, so hatte sie gesagt, würde sie auch ein oder zwei Tage ins Krankenhaus müssen. Deswegen würde Nick mit Alina kommen, ihnen helfen ein paar Sachen zu packen, und sie mit in ein Kinderheim nehmen. Eindeutig hatte der Junge große Angst bekommen, denn Anne hatte ihn immer wieder versucht zu beruhigen, was wohl nicht viel geholfen hatte. Erst, als der Name Gerda Schulte gefallen war, schien sich der Junge gefasst zu haben.
Tobias hatte dem Gespräch entnommen, dass es bei der Frau um eine Nachbarin ging. Nick sollte zuerst bei ihr klingeln und dann gemeinsam mit ihr zu Jonas gehen.
Tobias ließ den Wagen an. Er würde jetzt das Rad zur Reparatur bringen und heute Nachmittag in die Klinik fahren, zu Anne Prechtl.
*
Jonas saß an seinem Schreibtisch und eine Träne nach der anderen tropfte auf sein Rechenheft und verwischte die Aufgaben, die er bisher gelöst hatte. Er hatte schreckliche Angst. Angst um seine Mama und Angst vor dem Mann, der gleich kommen und ihn und Lina mit in ein Kinderheim nehmen sollte. Er wollte in kein Kinderheim! Er wollte zu Hause bleiben und dass seine Mama wiederkam. Jonas schluchzte auf.
Es läutete an der Wohnungstür und er fuhr zusammen. Ganz gruselig wurde ihm vor Furcht. Normalerweise durfte er die Tür nicht aufmachen, wenn die Mama nicht zu Hause war. Nur, wenn Gerda Schulte vor der Tür stand, die gegenüber wohnte. Mama hatte gesagt, Oma Gerda würde zusammen mit dem fremden Mann, der Nick hieß und dem ein Kinderheim gehörte, zu ihm in die Wohnung kommen.
Jonas rieb sich mit dem Ärmel seines Pullovers das Gesicht ab und tappte in den Flur. Neben der Garderobe stand der Hocker. Er stellte ihn vor die Tür, stieg darauf und sah durch den Spion. Draußen stand die Nachbarin.
Jonas öffnete ganz vorsichtig die Tür, nur einen Spalt.
»Jungchen.« Oma Gerda hatte eine rote Nase und ihre weißen Locken wackelten, während sie sprach. »Deine Mama hat mich angerufen. Lässt du uns bitte rein?«
Jonas nickte langsam und öffnete die Tür ein bisschen weiter. Neben Oma Gerda stand ein Mann, und neben dem stand Lina. Lina hatte auch geweint, das sah er gleich. Oma Gerda kam in die Wohnung und streckte die Arme nach ihm aus. Er war nicht sicher, ob er sich umarmen lassen wollte, aber er war so traurig und hatte so viel Angst, dass er nicht auswich. Oma Gerda drückte ihn, und es tat sogar ein bisschen gut.
»Ihr müsst keine Angst haben«, versicherte Oma Gerda. »Die Mama wird wieder ganz gesund. Das ist Herr von Wellentin-Schoenecker. Er hat ein sehr schönes Haus für Kinder und er nimmt euch ein paar Tage mit.«
»Hallo, Jonas. Ich bin Nick«, sagte der Mann, der noch im Türrahmen stand. Jonas wand sich aus der Umarmung der Nachbarin. Der Mann sah nett aus. Ihm war trotzdem bange. Er schob die Hände hinter den Rücken.
»Ich will aber hierbleiben«, sagte er und seine Stimme wackelte. Lina schob sich an Oma Gerda vorbei, rannte durch den Flur in ihr Zimmer und schlug die Tür zu. Jonas zuckte zusammen.
»Das verstehe ich«, sagte Nick. »Ihr seid sicher sehr erschrocken, wegen eurer Mama. Damit sie schnell wieder gesund wird und nach Hause kann, muss sich jetzt aber erst mal ein Doktor um sie kümmern, und alleine könnt ihr nicht bleiben.«
»Oma Gerda ist aber doch da«, protestierte Jonas, und wieder füllten sich seine Augen mit Tränen. Er presste die Fäuste davor.
»Jungchen.« Sanft berührte Oma Gerda ihn am Arm. »Ich muss doch nächste Woche zu meinem Bruder nach Plauen fahren. Der muss auch paar Tage ins Krankenhaus, wegen seinem wehen Knie. Ich hab ihm versprochen, dass ich komme.«
Jonas wischte sich die Tränen weg. Ein Versprechen musste man halten, das wusste er.
»Und außerdem ist es in dem Kinderheim ganz schön«, sprach Oma Gerda weiter. Jonas sah zu ihr hoch.
»Woher weißt du das?«, fragte er.
»Ich war schon mal dort«, sagte die Nachbarin.
»Du?« Erstaunt musterte er die alte Dame. »Aber du bist doch kein Kind mehr.«
»Da hast du recht. Erinnerst du dich, dass ich im Frühjahr mein Portemonnaie verloren hatte?«
»Ja. Du warst doll aufgeregt«, antwortete Jonas. »Und dann hat dich eine Frau angerufen, die dein Geld gefunden hatte und es dir wiedergeben wollte.«
»Richtig. Die Frau hieß Regine Nielsen und sie arbeitet in dem Kinderheim. Ich bin hingefahren, um meinen Geldbeutel wieder abzuholen. Frau Nielsen war ganz lieb, und ich war so froh, dass sie es war, die mein Portemonnaie gefunden hatte.«
»Hm«, machte Jonas. Überzeugt war er noch immer nicht.
»Deswegen war ich schon mal in diesem Kinderheim«, ergänzte Oma Gerda. »Ich habe dort einen großen Spielplatz gesehen und viele Kinder und zwei Hunde.«
»Ja«, sagte Nick, der bisher ruhig daneben gestanden hatte. »Die Hunde heißen Barri und Anglos. Sie wohnen auch im Kinderheim.«
»Hm«, machte Jonas wieder.
»Magst du Hunde?«, fuhr Nick fort.
»Ja. Habt ihr auch Meerschweinchen?«, fragte Jonas.
»Nein. Aber es gibt noch Pferde und Ponys in Sophienlust«, antwortete Nick.
»Keine Meerschweinchen?«
»Leider nicht. Hättest du wohl gerne eins?«, erkundigte sich Nick.
»Ja. Robin hat sogar zwei«, verkündete Jonas.