Ein Zuhause für Nele - Simone Aigner - E-Book

Ein Zuhause für Nele E-Book

Simone Aigner

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Das Wohnmobil holperte über die Landstraße. Nele saß auf der Kindersitzerhöhung hinter Tamara und sah aus dem Seitenfenster, vor dessen Scheibe eine weiße Gardine gespannt war. Trotzdem erkannte sie Wiesen und Felder, auf die die Sonne schien. Sie konzentrierte sich auf den Anblick. Wenn Steffen schnell fuhr, und zwischendurch tat er das, dann war es, als würde die Landschaft außen am Fenster vorbeifliegen, und ihr wurde ein bisschen schwindelig im Kopf. Jetzt zum Beispiel. "Lass das", hörte sie Steffens ärgerliche Stimme. Erschrocken wandte sie den Kopf nach vorne und sah im Rückspiegel den unwirschen Blick des Mannes am Lenkrad auf sich gerichtet. "Wenn du ständig aus dem Fenster schaust, wird dir schlecht. Ich will nicht, dass du dich im Wagen übergibst. Nele schluckte. Ein wenig schlecht war ihr tatsächlich, aber das konnte auch daran liegen, dass sie Hunger hatte. Das Frühstück war schon eine ganze Weile her und sie hatte nichts essen wollen. Überhaupt wurde ihr nie schlecht, wenn sie beim Autofahren aus dem Fenster sah. Das hatte sie früher, wenn sie mit Mama und Papa unterwegs gewesen war, auch immer gemacht. Nele senkte den Kopf und wurde furchtbar traurig. Sie würde nie wieder mit Mama und Papa im Auto fahren... "Was ist? Ist dir schon übel? ", fragte Steffen und klang gereizt.

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Sophienlust - Die nächste Generation – 45 –

Ein Zuhause für Nele

Wie ein Mädchen wieder froh wurde

Simone Aigner

Das Wohnmobil holperte über die Landstraße. Nele saß auf der Kindersitzerhöhung hinter Tamara und sah aus dem Seitenfenster, vor dessen Scheibe eine weiße Gardine gespannt war. Trotzdem erkannte sie Wiesen und Felder, auf die die Sonne schien. Sie konzentrierte sich auf den Anblick. Wenn Steffen schnell fuhr, und zwischendurch tat er das, dann war es, als würde die Landschaft außen am Fenster vorbeifliegen, und ihr wurde ein bisschen schwindelig im Kopf. Jetzt zum Beispiel.

„Lass das“, hörte sie Steffens ärgerliche Stimme. Erschrocken wandte sie den Kopf nach vorne und sah im Rückspiegel den unwirschen Blick des Mannes am Lenkrad auf sich gerichtet.

„Wenn du ständig aus dem Fenster schaust, wird dir schlecht. Ich will nicht, dass du dich im Wagen übergibst.“

Nele schluckte. Ein wenig schlecht war ihr tatsächlich, aber das konnte auch daran liegen, dass sie Hunger hatte. Das Frühstück war schon eine ganze Weile her und sie hatte nichts essen wollen. Überhaupt wurde ihr nie schlecht, wenn sie beim Autofahren aus dem Fenster sah. Das hatte sie früher, wenn sie mit Mama und Papa unterwegs gewesen war, auch immer gemacht. Nele senkte den Kopf und wurde furchtbar traurig. Sie würde nie wieder mit Mama und Papa im Auto fahren...

„Was ist? Ist dir schon übel?“, fragte Steffen und klang gereizt. Stumm schüttelte Nele den Kopf, ohne hochzusehen.

„Sie wird müde sein“, vernahm sie Tamaras sanfte Stimme.

„Dann soll sie schlafen. Meine Güte, das fängt ja gut an. So habe ich mir unseren Urlaub nicht vorgestellt“, regte Steffen sich auf. Neles Augen füllten sich mit Tränen, die auf ihr Röckchen tropften. Steffen war so böse und so gemein. Niemand hatte sie gefragt, ob sie mit ihm und Tamara wegfahren wollte. Es hatte sie auch niemand gefragt, ob sie überhaupt zu Tamara und Steffen wollte. Viel lieber wäre sie bei Oma Luise geblieben, aber das ging nicht.

Und am allerliebsten wollte sie, dass Mama und Papa wieder zurückkommen würden und sie für immer bei ihnen sein konnte. Aber auch das ging nicht. Sie waren nämlich jetzt oben im Himmel und ihr Auto war ganz kaputt.

Nele schluchzte auf. Das Wohnmobil schlingerte, und sie wurde im Sitz hin und hergeworfen.

„Herrschaft!“, fuhr Steffen wütend hoch. „Was fällt dir ein, mich so zu erschrecken?“

Nele presste beide Hände vors Gesicht.

„Steffen, bitte! Sie ist ein Kind und sie hat vor Kurzem einen furchtbaren Verlust erlitten“, sagte Tamara.

„Ja, ja. Von der Sache her tut mir das ja auch leid. Dennoch kein Grund, unvermittelt derart aufzuheulen. Beinahe hätten wir den nächsten Unfall gehabt. Ich bin einfach kein Kinderfreund. Vergiss nicht, du hast der Tussi vom Jugendamt zugesagt, dich um das Mädchen zu kümmern, ohne mit mir darüber zu reden.“

„Weil ich nicht damit gerechnet habe, dass du derart ablehnend und…“

„Halte mir bloß keinen Vortrag! Ich habe aus meiner Einstellung zu Kindern nie ein Geheimnis gemacht.“

„Es ist eine Notlage“, protestierte Tamara.

„Aber nicht meine und auch nicht unsere. Ich wollte die kommenden zwei Wochen mit dir genießen. Stattdessen…“

Durch die Finger sah Nele, dass Steffen mit einer heftigen Bewegung mit dem Daumen nach hinten zeigte. Sie atmete ganz vorsichtig.

„Es wird sich eine Lösung finden“, bemühte sich Tamara, ihn zu beschwichtigen. Steffen schnaubte.

„Ja, nach unserem Urlaub, auf den ich mich seit Monaten gefreut habe. Natürlich wird sich eine Lösung finden. Oder denkst du, wir spielen jetzt die nächsten Jahre Vater, Mutter, Kind? Mit mir nicht. Du musst schon wissen, was du willst.“

„Was hätte ich denn machen sollen? Sie hat doch sonst niemanden.“

„Für solche Fälle gibt es durchaus Möglichkeiten. Aber du…“

In Neles Kopf begann es zu rauschen, und plötzlich wurde sie ganz arg müde. Die Worte von Steffen und Tamara schienen sich zu entfernen und ihr fielen die Augen zu.

*

Das Wohnmobil hielt an und das Motorengeräusch verstummte. Nele blinzelte. Wo war sie? Lag sie daheim in ihrem Bett und alles war gut und sie hatte nur ganz schlimm geträumt?

Auf den vorderen Sitzen saßen Steffen und Tamara, und Nele wusste, es war gar nichts gut.

Steffen löste den Sicherheitsgurt.

„Komm, ehe sie aufwacht“, drängte er. „Ich will wenigstens in Ruhe einen Kaffee trinken, wenn wir sie schon ständig an der Backe haben.“

„Lass sie mich doch wecken und mitnehmen. Wir können sie doch nicht alleine im Wagen lassen“, entgegnete Tamara.

„Warum denn nicht? Ich sperr zu, es kann gar nichts passieren.“

„Sie wird auch Hunger haben und Durst, wenn sie aufwacht“, protestierte Tamara.

„Meinetwegen kauf ihr im Lokal eine Limonade und ein Stück Kuchen. Das kann sie haben, wenn wir zurück sind. Außerdem haben wir genug Proviant dabei, sie verhungert schon nicht.“

Nele verharrte still auf ihrem Platz und tat so, als würde sie noch immer schlafen. Sie hatte wirklich Hunger und vor allem Durst. Offenbar hielten sie gerade irgendwo, wo man was zu essen und zu trinken kaufen konnte.

„Geh schon vor. Ich komme sofort nach“, sagte Tamara.

„Beeil dich“, erwiderte Steffen. Nele hörte, wie die Sicherheitsgurte geöffnet wurden. Ein Luftzug von der Seite verriet ihr, dass Steffen die Fahrertür aufmachte und ausstieg. Gleich darauf klappte die Tür wieder zu.

„Nele?“, wisperte Tamara. Nele legte beide Hände vors Gesicht, ohne die Augen zu öffnen. Dass Tamara von ihrem Platz aufstand und sich vor ihrem Sitz hinkniete, hörte und spürte sie mehr, als dass sie es sah.

„Kleines? Ich bring dir was mit, ja? Vielleicht ist es wirklich besser, wenn du im Wagen bleibst.“ Sacht zog Tamara ihr die Hände vom Gesicht weg. Mamas Freundin sah sehr traurig aus, und so groß ihr eigener Kummer war, so tat sie ihr doch auch ein wenig leid. Steffen war auch zu ihr gar nicht nett.

„Magst du dich nicht lieber hinten auf das Sofa legen? Ich klappe es dir zum Bett aus. Das ist gemütlicher als im Sitz“, sagte Tamara und streichelte ihren Arm. Wortlos nickte Nele.

Tamara löste ihren Sicherheitsgurt, und Nele kletterte vom Sitz. Im hinteren Bereich des Wohnmobils gab es außer einem ausklappbaren Sofa noch eine kleine Küchenzeile, ein winziges Duschbad mit Toilette sowie eine Tür, die in einen separaten Schlafraum führte. Nele zeigte zu der Tür.

„Darf ich da drinnen schlafen?“, flüsterte sie. Dort drinnen war es gemütlich. Sie hatte schon vor der Abfahrt einmal heimlich reingucken dürfen, während Steffen die Koffer aus dem Haus geholt hatte. In dem Raum gab es ein großes Bett, das beinahe den gesamten Platz ausfüllte, und links und rechts einen winzigen Nachttisch mit einer Lampe darauf. Vor dem einzigen Fenster war eine dunkelblaue Jalousie angebracht, auf die goldene Sterne gedruckt waren.

Bittend sah sie zu Tamara hoch. Diese zögerte und Nele ahnte, sie hatte Sorge, Steffen könnte das nicht recht sein. Dennoch nickte sie.

„Gut. Leg dich dort hin, bis wir wiederkommen. Ich hole dich dann. Während der Fahrt musst du angeschnallt auf deinem Sitz sitzen.“

Artig nickte Nele.

„Soll ich die Schuhe ausziehen?“, fragte sie leise.

„Ja“, erwiderte Tamara.

Nele öffnete die Klettverschlüsse ihrer weiß-blau gestreiften Stoffturnschuhe und kletterte über das Fußende in das große Bett.

„Bis später“, verabschiedete sich Tamara und schloss die Tür, die dabei ein quietschendes Geräusch von sich gab.

Nele kuschelte sich unter die Decke, obwohl ihr gar nicht kalt war. Die blaue Sternchen-Jalousie war heruntergezogen, doch an den Rändern schien das Tageslicht durch, sodass sie die Umrisse im Raum gut erkennen konnte. Einschlafen konnte Nele nicht.

Stattdessen dachte sie an ihre Eltern, die nicht mehr wiederkommen würden, und an Oma Luise, und ihr wurde ganz schwer im Bauch. Sie verstand auch nicht, warum sie nicht bei Oma Luise hatte bleiben dürfen.

Vielleicht war es, weil die Oma nicht ganz gesund war. Das Herz machte ihr zu schaffen, sagte sie oft. Sie hatte nur einen Tag und eine Nacht auf Nele aufpassen sollen, während Mama und Papa zum Arbeiten weggemusst hatten.

An dem Nachmittag, an dem die Eltern wieder nach Hause kommen sollten, hatte Oma Luise ihr vorgelesen, damit die Zeit schneller verging. Endlich hatte es an der Tür geläutet. Doch im Hausflur hatten nicht Mama und Papa gestanden, um sie wieder abzuholen, sondern zwei Leute von der Polizei. Eine junge Frau und ein Mann. Sie hatten mit Oma Luise gesprochen.

Worum es ging, hatte Nele nicht verstanden, denn die junge Polizistin hatte unbedingt mit Nele ins Wohnzimmer gehen wollen und sich das Buch anschauen wollen, aus dem sie gelesen hatten.

Bald darauf war Oma Luise wieder ins Wohnzimmer gekommen, hinter ihr der Polizeimann. Oma Luise hatte sich in ihren Sessel gesetzt und ganz schwer geatmet und ihre Tabletten gebraucht. Nele hatte Angst bekommen, ganz schreckliche Angst. Keiner hatte ihr gesagt, was los war, und sie hatte so sehr gewartet, dass endlich ihre Eltern kamen.

Statt der Eltern kam ein Doktor, der Oma Luise eine Spritze gegeben hatte, und irgendwann, da war es schon dunkel draußen, war noch eine Frau gekommen. Die Frau hatte endlich mit Nele gesprochen. Sie hatte ihr gesagt, dass Mama und Papa sie nicht abholen konnten, und dass sie auch nicht bei Oma Luise bleiben konnte. Aber sie könnte zu Mamas Freundin Tamara Schmied, die würde schon auf sie warten. Nele wollte nicht zu Tamara. Sie wollte, dass die vielen fremden Leute aus Oma Luises Wohnzimmer weggingen und dass Mama und Papa endlich kamen. Sie kamen aber nicht.

Schließlich war die fremde Frau aufgestanden und hatte Neles Reiseköfferchen aus dem kleinen Zimmer geholt, in dem sie vergangene Nacht geschlafen hatte, und hatte sie zu Tamara gebracht.

Tamara hatte geweint und sie in den Arm genommen, und dann war Steffen, ihr Freund, gekommen. Er hatte Nele ganz böse angesehen und türenschlagend die Wohnung verlassen. Mit Türen durfte man nicht schlagen, das hatte ihr Papa immer gesagt.

Nele setzte sich auf. Sie fand es plötzlich gar nicht mehr gemütlich in dem kleinen Schlafraum. Obwohl sie sich vor Steffen fürchtete, hatte sie auf einmal Angst, er und Tamara würden nicht zurückkommen.

Sie verließ die Schlafkabine, schloss sorgfältig die Tür und zog ihre Schuhe wieder an. Danach kletterte auf das Sofa und guckte aus dem Fenster.

Das Wohnmobil stand auf einem großen Parkplatz, und Nele sah ein schönes Haus gegenüber, vor dem viele Tische und Stühle und ein paar Sonnenschirme standen. An fast allen Tischen saßen Leute, die aßen und tranken.

Die Eingangstür zu dem schönen Haus stand offen.

Nele war sicher, das Haus war ein Restaurant. Mit Mama und Papa war sie sonntags auch manchmal in einem Restaurant gewesen. Dann hatte sie Hühnchen-Nuggets und Pommes bekommen und eine Apfelschorle dazu. Nele merkte, dass sie ganz doll Hunger hatte.

Das Lokal war recht groß, und im ersten Stock gab es einen Balkon aus Holz, an dessen Geländer vielen rote und rosa Blumen hingen. Das waren Geranien. Oma Luise hatte auch Geranien an ihrem Balkon. Nele hatte ihr geholfen sie zu gießen, als sie bei ihr gewesen war.

Tamara und Steffen sah sie nirgends, aber vielleicht waren sie auch ins Haus hineingegangen.

Nele schob die Scheibengardine am Fenster zur Seite, um besser sehen zu können. Seitlich vom Lokal gab es einen schönen großen Spielplatz, mit einer Schaukel, einem großen Klettergerüst mit einem Netz und einem Haus auf Stelzen. Von dem Haus aus führte eine ganz lange Rutsche zu einer großen Sandkiste. Eine Seilbahn gab es auch. Für einen Augenblick schlug Neles Herz schneller. Seilbahnfahren mochte sie zu gerne, und diese hier war richtig lang.

Sie sah wieder zum Außenbereich der Gaststätte. Eine Bedienung lief zwischen den Tischen herum.

Auf dem Spielplatz war niemand, und sie wäre zu gern einmal mit der Seilbahn gefahren. Und die Rutsche sah auch so schön aus und glänzte silbern in der Sonne.

Sehnsüchtig ging ihr Blick zwischen dem Spielplatz mit seinen verlockenden Möglichkeiten und den Gästen des Lokals hin und her. Sie hätte gerne Tamara gefragt, ob sie, anstatt zu schlafen, einmal rutschen und einmal Seilbahn fahren durfte, nur sah sie Tamara nirgends. Aber vielleicht war das besser so. Steffen war bestimmt bei ihr, und er würde es ihr nicht erlauben, sondern wahrscheinlich wütend werden, weil sie nicht im Wohnmobil wartete.

Nele kletterte vom Sofa. Sie würde sich beeilen. Sie würde nur einmal rutschen und einmal mit der Seilbahn fahren.

*

„Ich nehme den Jägerbraten mit Klößen und ein alkoholfreies Bier dazu“, sagte Steffen, ohne von der Speisekarte aufzusehen, die er gründlich studierte.

„Was? Ich dachte wir trinken nur einen Kaffee?“, erkundigte sich Tamara überrascht.

„Ich habe es mir anders überlegt.“ Steffen klappte die Karte zu und streckte die Beine unter dem Tisch aus.

„Aber was ist mit Nele? Ein richtiges Essen dauert doch viel zu lange und außerdem…“

„…hat sie bestimmt auch Hunger“, ergänzte er ihren Satz und rollte genervt mit den Augen. „Meinetwegen lass ihr noch ein Schnitzelbrötchen einpacken.“

„Ich hole sie jetzt.“

„Nein.“ Steffens Hand schnellte vor und legte sich auf ihr Handgelenk. „Pass auf. Ich habe mich auf unsere gemeinsame Zeit sehr gefreut. Nun habe ich mich bereit erklärt, ob der Umstände, die Tochter deiner Freundin mitzunehmen. Leicht fällt mir das nicht, das kannst du mir glauben. So ein Kind als Anhängsel bedeutet gewaltige Einschränkungen. Zudem hast du vorhin gesagt, sie würde schlafen, nebenbei bemerkt in unserem Bett. Auch das hast du wieder entschieden, ohne mich zu fragen. Nun gönn mir unser Mittagessen in Ruhe und ohne Kindertheater, in Ordnung?“

Tamara schnürte es die Kehle zu. Warm und locker lag Steffens Hand auf ihrem Handgelenk. Sie hätte sie wegziehen können und die Kleine holen. Was sie davon abhielt war einerseits die Hoffnung, dass Nele tatsächlich schlief. Schwerer jedoch wog, dass Steffen in einem Punkt recht hatte. Als vor wenigen Tagen am frühen Abend eine Mitarbeiterin des Jugendamtes bei ihr angerufen hatte, um ihr die entsetzliche Nachricht vom Unfalltod ihrer besten Freundin Pamela und deren Mann Matthias zu überbringen, hatte sie keine Sekunde gezögert, Nele zu sich zu nehmen. Natürlich hatte sie gewusst, dass sie Steffen, mit dem sie seit einem halben Jahr zusammenlebte, in diese Entscheidung mit hätte einbeziehen müssen. Doch das hatte sie in jenem Moment ignoriert. Ihr war klar gewesen, er hätte niemals zugestimmt. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl gehabt, das kleine Mädchen, das sicher völlig verstört und verzweifelt war, umgehend auffangen zu müssen. Sie selbst war völlig erschüttert. Für eine Auseinandersetzung mit Steffen hatte sie weder Zeit noch Kraft gehabt.

Die Mitarbeiterin des Jugendamtes war ihr sehr dankbar gewesen, schließlich hatte sie sich zu dem Zeitpunkt bereits seit Stunden bemüht, eine schnelle Lösung für Nele zu finden. Die betagte Nachbarin der verstorbenen Eheleute, Luise Seibold, bei der sich das Kind gerade aufhielt und die selbst unter Schock stand, hatte letztendlich auf sie verwiesen. Sie kannten einander. Tamara hatte bis vor zwei Jahren im gleichen Haus gewohnt. Luise Seibold war gesundheitlich nicht in der Lage, länger als ein oder zwei Tage auf Nele aufzupassen. So hatte sich das Jugendamt an sie gewandt.

Steffen hatte, vor vollendete Tatsachen gestellt, an dem Abend türenschlagend die Wohnung verlassen.

„Was möchtest du essen?“, erkundigte er sich nun und holte Tamara aus ihren Erinnerungen. Sie spürte einen Druck im Hals und auf der Brust und glaubte, keinen Bissen hinunterzubringen.

„Die Kartoffelsuppe“, presste sie hervor, nur, damit er Ruhe gab. Steffen rollte mit den Augen, kommentierte aber ihre Wahl nicht weiter.

*

Alexander von Schoenecker lenkte den Wagen ruhig und sicher über die einsame Landstraße, zu deren beiden Seiten sich weitläufige Wiesen in der Mittagssonne erstreckten. Immer wieder musste er zu seiner Frau Denise sehen, die auf dem Beifahrersitz saß. Ihr dunkles Haar schimmerte seidig und auf ihren ebenmäßigen Zügen lag der Hauch eines Lächelns, der ihr vermutlich gar nicht bewusst war. Wie sehr er sie liebte! Spontan legte er seine Hand auf ihre und drückte sie. Denise wandte ihm das Gesicht zu, und nun lächelte sie richtig.

„Es war ein herrliches Wochenende, Alexander. Ich danke dir.“

„Ich bitte dich, mein Schatz. Ich habe dir zu danken. Für zwölf wundervolle Jahre an deiner Seite. Einen tollen Sohn, den wir gemeinsam haben, und einen weiteren, den du in unsere Ehe mitgebracht hast. Für das Leben mit dir.“

Denise hob seine Hand an ihre Wange und schmiegte sie hinein.

„Ich freue mich sehr auf Sophienlust und die Kinder. Dennoch schade, dass das Wochenende schon vorbei ist.“

„Das empfinde ich genauso. In etwa einer Stunde sind wir in Schoeneich. Was hältst du davon, wenn wir im Restaurant ‚Am Sonnenhügel‘ noch eine kleine Pause einlegen? Sozusagen, um das Wochenende noch ein wenig zu verlängern?“

„Sehr gern“, stimmt Denise zu.

„Schön, dann biege ich gleich hier ab“, sagte Alexander und setzte den Blinker.

Nur wenige Minuten darauf war das Lokal zu sehen.

Alexander fuhr auf den Parkplatz und fand eine Lücke zwischen einem Wohnmobil und einem Motorrad.

„Ganz schön viel los hier“, sagte er, während er den Motor ausschaltete. „Hoffentlich bekommen wir noch einen Platz.“

„Bestimmt“, antwortete Denise zuversichtlich. Sie sah zu dem Spielplatz, der etliche Meter seitlich vom Restaurant lag. Alexander folgte ihrem Blick. Auf der Schaukel saß ein kleines Mädchen. Sie schaukelte nicht, sondern schwang nur, scheinbar gelangweilt, mit den Beinen hin und her, sodass sich der Sitz leicht bewegte. Außer dem Kind war weit und breit niemand zu sehen. Die Kleine hielt den Blick auf den Boden gerichtet.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Alexander, der das feine Gespür seiner Frau für Probleme und Kümmernisse von Kindern kannte.

„Ich weiß es nicht“, gab Denise zu. „Die Kleine wirkt einsam und unglücklich.“

„Nun ja. Alleine scheint sie im Moment zu sein. Aber unglücklich? Auf die Entfernung ist ihr Gesichtchen nicht zu erkennen“, wandte er behutsam ein. „Vielleicht wartet sie auf jemanden oder schmollt, weil sie irgendwas nicht darf“, fuhr er fort.

„Möglich“, erwiderte Denise. Sie klang nicht überzeugt. In dem Augenblick rannte vom etwa zwanzig Meter entfernten Waldrand ein kleiner weißgefleckter Hund Richtung Spielplatz. Am Waldrand selbst stand ein Mann, der mit Gesten und Rufen offenbar versuchte, den Hund zurückzubeordern. Das Tier flitzte mit fliegenden Ohren auf das Mädchen zu, der Mann folgte ihm. Die Kleine wandte sich den beiden zu, ihr Gesichtchen war nun nicht mehr zu sehen.

Schwanzwedelnd sprang der Hund um die Beine des Kindes, das sich zu ihm beugte. Der Mann hatte den Spielplatz erreicht und sagte etwas. Das Mädchen sah hoch, ob sie antwortete, war nicht auszumachen.