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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Lena lag rücklings und mit geschlossenen Augen auf ihrem Bett, hatte die Kopfhörer übergestülpt und wippte mit einem Fuß und beiden Händen im Takt zu dem Lied ›Blinding Lights‹ von dem kanadischen Sänger The Weeknd, wobei sie die Lippen bewegte, als würde sie mitsingen. Sie erschrak fürchterlich, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, fuhr hoch und riss gleichzeitig den Kopfhörer von ihren Ohren. »Mama«, empörte sie sich. Die Mutter stand neben ihrem Bett. »Wieso erschreckst du mich so?« Ihr Herz schlug zu schnell, so erschrocken war sie. Annika schob die Bettdecke, auf der ihre Tochter lag, ein Stück zur Seite und setzte sich auf die Bettkante. »Ich habe angeklopft und du hast mich nicht gehört. Kein Wunder«, sagte sie und deutete auf die Kopfhörer. »Ich bin ins Zimmer gekommen und habe dich mehrfach angesprochen und du hast mich wieder nicht gehört.« Dafür hatte sie die Musik aus dem Hörer vernommen, die wie üblich viel zu laut gewesen war. Doch sämtliche Ermahnungen, dass sie ihrem Gehör schadete, interessierten Lena nicht. »Und was gibt es so Wichtiges?«, fragte Lena, warf sich wieder auf den Rücken und setzte eine gestresste Miene auf. »Deine Hausaufgaben zum Beispiel«, begann Annika Winter, die Frage ihrer Tochter zu beantworten. »Das ist heute nicht viel«, behauptete Lena.
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Seitenzahl: 148
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Lena lag rücklings und mit geschlossenen Augen auf ihrem Bett, hatte die Kopfhörer übergestülpt und wippte mit einem Fuß und beiden Händen im Takt zu dem Lied ›Blinding Lights‹ von dem kanadischen Sänger The Weeknd, wobei sie die Lippen bewegte, als würde sie mitsingen.
Sie erschrak fürchterlich, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, fuhr hoch und riss gleichzeitig den Kopfhörer von ihren Ohren.
»Mama«, empörte sie sich. Die Mutter stand neben ihrem Bett. »Wieso erschreckst du mich so?« Ihr Herz schlug zu schnell, so erschrocken war sie.
Annika schob die Bettdecke, auf der ihre Tochter lag, ein Stück zur Seite und setzte sich auf die Bettkante.
»Ich habe angeklopft und du hast mich nicht gehört. Kein Wunder«, sagte sie und deutete auf die Kopfhörer. »Ich bin ins Zimmer gekommen und habe dich mehrfach angesprochen und du hast mich wieder nicht gehört.« Dafür hatte sie die Musik aus dem Hörer vernommen, die wie üblich viel zu laut gewesen war. Doch sämtliche Ermahnungen, dass sie ihrem Gehör schadete, interessierten Lena nicht.
»Und was gibt es so Wichtiges?«, fragte Lena, warf sich wieder auf den Rücken und setzte eine gestresste Miene auf.
»Deine Hausaufgaben zum Beispiel«, begann Annika Winter, die Frage ihrer Tochter zu beantworten.
»Das ist heute nicht viel«, behauptete Lena.
»Die Englisch-Arbeit nächste Woche. Für die hast du noch so gut wie nichts getan«, fuhr Annika fort.
»Ich lerne morgen Nachmittag zusammen mit Julia«, hielt Lena dagegen.
»Und in deinem Zimmer musst du auch mal wieder Ordnung machen«, sprach Annika weiter und sah sich um. Unsortierte Kleidung lag in einem Stapel auf dem Schreibtischstuhl. Auf dem Schreibtisch selber herrschte ein heilloses Durcheinander aus Schulheften, Büchern, Jugendzeitschriften, CDs und dazwischen verstreut winzige Perlen, aus denen Lena bis vor Kurzem mit Begeisterung Armbänder aufgefädelt hatte.
»Sonst noch was?«, stöhnte Lena. »Oder kann ich jetzt weiter Musik hören?«
»Ich treffe mich heute Abend mit Peter. Er holt mich um 19 Uhr ab. Wir gehen Abendessen und dann ins Kino. Oma kommt und bleibt bei dir«, informierte Annika ihre Tochter.
»Nicht dein Ernst.« Lena setzte sich wieder, zog die Beine an den Bauch und schlang die Arme darum. »Du triffst dich schon wieder mit dem Typen?«
»Lena, bitte. Ich möchte nicht, dass du so über Peter sprichst«, sagte Annika ruhig und unterdrückte den aufsteigenden Ärger.
»Ich kann den nun mal nicht leiden«, beharrte Lena. Ihre Miene war finster.
»Du kennst ihn doch noch gar nicht richtig. Jedes Mal, wenn er kommt, bist du abweisend und verkriechst dich so schnell wie möglich in deinem Zimmer«, sagte ihre Mutter, so sachlich möglich.
»Weil ich ihn eben nicht mag.« Lena zog die Beine noch dichter an den Bauch. »Und Oma muss auch nicht kommen. Ich bin doch kein kleines Kind mehr«, ergänzte sie.
»Selbstverständlich kommt Oma. Sie schläft im Gästezimmer«, teilte die Mutter ihr mit.
»Sie schläft hier?« Ungläubig sah Lena sie an. »Warum denn das? Bleibst du die ganze Nacht weg?«
»Das habe ich nicht vor. Trotzdem wird es spät werden und ich möchte Oma nicht mitten in der Nacht quer durch die ganze Stadt nach Hause schicken«, sagte Annika.
»Oh nein.« Lena ließ sich rücklings aufs Bett fallen. Ihre Mutter stand von der Bettkante auf.
»Es wird Zeit für deine Schularbeiten«, sagte sie ruhig.
»Ich hab doch gesagt …«, begann Lena trotzig.
»Ich weiß, was du gesagt hast. Und ich sage, es wird Zeit, dass du dich an deinen Schreibtisch setzt, auf dem du allerdings erst Platz schaffen musst. Und für Englisch musst du auch alleine was tun, nicht nur mit Julia zusammen. Du hattest in der letzten Grammatikarbeit eine Fünf«, erinnerte sie ihre Tochter. Lena schlug ungehalten wie ein Kleinkind mit der flachen Hand auf die Matratze, sagte jedoch nichts mehr. Ihr Gesichtsausdruck allerdings sprach für sich.
Annika verließ das Zimmer und schloss sorgfältig die Tür. Sie hörte, wie Lena aus dem Bett sprang und mit den Füßen aufstampfte. Gleich darauf tat es einen Schlag. Sie ahnte, ihr Mädchen hatte den Schreibtisch auf ihre Weise ›abgeräumt‹. Vermutlich hatte sie mit einer Armbewegung einen Teil dessen zu Boden gefegt, was auf der Arbeitsplatte gelegen hatte.
Niedergeschlagen ging Annika in die Küche um für das Abendessen eine kalte Platte und einen Gurkensalat vorzubereiten. Wenn ihre Mutter schon bereit war, ihrem pubertierenden Töchterchen am heutigen Abend Gesellschaft zu leisten, so wollte sie wenigstens etwas Leckeres zum Essen bereitstellen.
Es wurde immer schwieriger mit Lena.
Annika holte eine Servierplatte aus dem Küchenschrank, als ihr Handy läutete, das auf dem Fensterbrett lag. Auf dem Display lächelte ihr ihre Freundin Birte entgegen.
Sie nahm das Gespräch an.
»Hey, Birte«, begrüßte sie sie.
»Hey, Annika. Alles klar bei dir?«, fragte Birte.
»So halbwegs.« Sie setzte sich an den Küchentisch.
»Das klingt aber nicht so. Läuft es nicht gut mit Peter?«, erkundigte sich die Freundin.
»Doch, mit ihm schon …«, begann Annika. Sie sah, dass die Küchentür geöffnet wurde. »Moment bitte, Birte«, sagte sie. Lena stand im Rahmen. Ihr Rucksack, mit dem sie täglich zur Schule ging, hing über ihrer Schulter.
»Ich geh zu Julia. Dann lernen wir eben heute schon zusammen«, ließ sie sie mit finsterer Miene wissen, wandte sich um und wollte gehen.
»Moment«, wiederholte Annika und konnte nicht vermeiden, dass sie jetzt doch aufgebracht sprach. »Das war nicht vereinbart.« Es war unerhört, dass Lena sich das Recht herausnahm, eigenständig zu entscheiden, wann sie außer Haus ging.
»Dann ist es eben jetzt vereinbart«, bockte ihre Tochter und bekam rote Wangen. »Ich muss los, sonst ist der Bus weg.«
Annika lag auf der Zunge, Lena das Treffen mit der Schulfreundin zu verbieten. Dann besann sie sich anders.
»Um 18 Uhr bist du wieder hier. Keine Minute später, sonst kannst du die Abschiedsparty bei Tine am Wochenende vergessen«, wies sie sie an.
»Wir wollten nach dem Lernen noch einen Film gucken. Julias Vater bringt mich zurück. Ihre Eltern wollen dann später eh weg. So gegen acht, halb neun«, bemühte Lena sich, ihre Mutter zu überzeugen.
»Kommt nicht infrage. 18 Uhr«, wiederholte Annika sich.
»Mama! Ich bin groß genug!«, protestierte Lena, der die Möglichkeit den Bus zu verpassen, plötzlich gleich zu sein schien.
»Die Alternative ist, du bleibst ganz hier.«
Lena stampfte mit dem Fuß auf, machte Anstalten, die Küchentür zuzuschlagen und ließ sie dann doch offenstehen. Sekunden darauf knallte stattdessen die Wohnungstür ins Schloss.
»Meine Güte«, stöhnte Annika und fasste sich an die Stirn.
»Okay, mit Peter läuft es gut, mit Lena nicht«, brachte Birte es auf den Punkt.
»Du hast es erfasst«, sagte Annika.
»Lena ist eifersüchtig«, stellte Birte fest.
»Ich fürchte du hast recht. Sie rebelliert gegen alles und jeden, seit ich mich mit ihm treffe. Ganz besonders aber gegen mich«, gab Annika zu.
»Sie vermisst ihren Vater immer noch, denke ich«, sagte Birte.
»Ja, das stimmt. Sie spricht zwar kaum mehr von ihm, aber die beiden hatten ein sehr gutes Verhältnis«, antwortete Annika.
»Wie lange triffst du dich jetzt mit Peter?«, fragte Birte.
»Ziemlich genau sechs Wochen. Lena war von Anfang an gegen ihn. Ich hatte gehofft, es wird mit der Zeit besser, aber allmählich glaube ich nicht mehr daran«, gab sie zu.
»Das tut mir leid, Nika. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, lass es mich wissen. Tim fährt in den Herbstferien wieder ins Zeltlager. Von der Gemeinde aus, du kennst das ja. Vielleicht mag Lena mit, es hat ihr doch schon mal sehr gut gefallen«, schlug Birte vor.
»Das ist lieb von dir. Ich frage sie«, erwiderte Annika. Sie wollte Birte nicht zurückweisen, doch sie war überzeugt, Lena hatte kein Interesse mehr.
Das letzte Mal, als sie mit Birtes Sohn und etlichen anderen Kindern an dem Zeltlager teilgenommen hatte, das von der Gemeinde Breitenau ausgerichtet wurde, war drei Jahre her. Für die damals Neunjährige war es ein tolles Abenteuer gewesen. Doch seit geraumer Zeit gingen ihre Interessen Richtung Mode, moderne Zeitschriften, die erste Make-up-Tipps gaben, und Partys, die lieber am Abend als am Nachmittag beginnen sollten.
»Wann lerne ich denn nun den neuen Mann an deiner Seite kennen?«, wechselte Birte das Thema und lachte leise.
Auch Annika lachte, obwohl ihr nicht wirklich danach war. Zu sehr belastete sie das angespannte Verhältnis, was sie derzeit mit ihrer Tochter hatte.
»Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung«, gab sie zu.
»Also bitte, Nika. Jetzt sind wir seit unserer Kindheit befreundet, du bist seit sechs Wochen mit ihm zusammen und weißt nicht, wann du ihn mir vorstellen sollst?«, neckte Birte sie. Ihr Tonfall war deutlich amüsiert. Gleichzeitig wusste Annika, dass Birte sehr neugierig auf Peter war. Seit ihr Mann Jochen vor vier Jahren bei einem Unfall auf der Baustelle, auf der er als Ingenieur gearbeitet hatte, tödlich verunglückt war, hatte es niemanden mehr an ihrer Seite gegeben. Jetzt gab es Peter. Mit ihm konnte sie wieder lachen, mit ihm war das Leben leicht und hell und unbeschwert. Der Wermutstropfen war Lenas Abneigung gegen ihn.
»Ich lasse mir etwas einfallen«, versprach Annika. Bei dem Gedanken an Peter schlug ihr Herz ein wenig schneller.
»Nicht nötig, meine Liebe. Ich lade euch einfach zu meinem Geburtstag in zwei Wochen ein. Untersteh dich und bring ihn nicht mit«, sagte Birte entschieden.
»Geht klar«, versprach Annika amüsiert. Peter kam bestimmt gerne mit zu Birte. Er war ein fröhlicher, geselliger Mensch, der gerne neue Leute kennenlernte. »Jetzt muss ich aber Schluss machen«, sagte Annika nach einem Blick auf die Küchenuhr. »Ich bin um sieben Uhr mit Peter verabredete und muss vorher noch einiges schaffen.«
»Das kann ich mir vorstellen. Mach dich schick, hübsch bist du ja von Natur aus. Bis bald, Süße.«
»Bis bald, Birte.« Annika beendete das Gespräch. Es wurde höchste Zeit, dass Abendessen vorzubereiten.
*
Kurz vor halb sechs Uhr läutet es an der Wohnungstür. Annika, die schon eine Weile ratlos vor dem Kleiderschrank stand und nicht wusste, was sie heute Abend tragen wollte, verließ ihr Schlafzimmer. War das schon Lena? Dass sie von einer Freundin früher nach Hause kam, war ungewöhnlich.
Sie öffnete die Tür. Im Hausflur stand ihre Mutter. Über ihrer Schulter hing der Riemen ihrer Handtasche, über ihrem rechten Arm ein Stoffbeutel und in der linken Hand hielt sie eine kleine Reisetasche.
»Mama«, begrüßte sie sie überrascht. »Ich dachte, du kommst erst in einer Stunde?«
Gisela Schubert lächelte und schüttelte den Kopf.
»In einer Stunde wäre ich gekommen, wenn ich den Bus hätte nehmen müssen.«
Sie trat in den Flur, stellte ihre Reisetasche und die Handtasche auf den Boden und nahm das zarte, bunt gemusterte Halstuch ab, das sie unerschütterlich zu jeder Jahreszeit trug.
Annika schloss die Tür hinter ihr.
»Wie bist du denn dann gekommen, wenn nicht mit dem Bus? Doch nicht etwa zu Fuß?« Und das mit dem ganzen Gepäck. Wobei sie sich fragte, was ihre Mutter für die eine Nacht alles meinte zu brauchen.
»Nein, nein. Die Strecke ist mir viel zu weit.« Gisela Schubert streifte ihre Schuhe ab und nahm aus der Stofftasche, die sie noch immer über dem Arm trug, ein paar Pantoffeln.
»Als ich vorhin das Altpapier in die Tonne gebracht habe, habe ich Andreas getroffen, den Sohn vom Hausmeister«, berichtete sie. »Wir sind ins Gespräch gekommen und ich habe ihm erzählt, dass ich heute Abend auf Lena aufpasse. Und weil er sowieso in die Stadt und ins Fitnessstudio wollte hat mir angeboten, mich mitzunehmen. Stell dir vor, er hat mich bis direkt hierher vor die Tür gefahren. Das war doch sehr nett von ihm, findest du nicht auch?«, plapperte ihre Mutter.
»Allerdings.« Annika musste lächeln. Andreas war ein zuvorkommender junger Mann, der ihrer alleinstehenden Mutter ab und an zur Hand ging. Im Frühjahr half er ihr stets Blumenerde und Geranien aus dem Discounter zu holen und trug ihr alles in die Wohnung und auf den Balkon, damit sie die Brüstung verschönern konnte. Vor Kurzem hatte er für sie auch die klemmende Schublade ihrer Kommode gerichtet.
»Zeitlich musste ich mich natürlich nach ihm richten, deswegen bin ich jetzt ein wenig zu früh«, erklärte Gisela. »Ich wollte dich anrufen, damit du Bescheid weißt, aber es ging plötzlich alles so schnell. Ich musste ja auch noch meine Sachen für die Übernachtung zusammensuchen. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich schon hier bin?«, fragte Gisela und sah ihre Tochter erwartungsvoll an.
»Natürlich nicht, Mama. Ich bin aber noch nicht ganz fertig zum Ausgehen«, antwortete Annika und sah an sich herunter. Sie trug noch ihr schlichtes, hellgrünes Sommerkleid und flache weiße Riemchen-Pantoletten.
Ihre Mutter winkte ab.
»Du siehst wunderbar aus mein Kind. Wo ist denn Lena? In ihrem Zimmer? Warum kommt sie nicht? Ich habe doch geläutet.«, stellte Gisela eine Frage nach der anderen. »Habt ihr euch wieder gestritten?«
»Sie ist bei ihrer Freundin Julia und sie muss um 18 Uhr wieder hier sein«, sagte Annika, mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. Bis dahin waren es noch zwanzig Minuten. »Und gestritten haben wir leider wieder, ja«, ergänzte sie seufzend.
»Wieder wegen deinem Freund, nehme ich an?«, erkundigte sich Gisela und hob ihre Tasche vom Boden auf.
»Natürlich«, gab Annika zu.
»Das ist wirklich eine schwierige Situation. Ich bringe rasch meine Sachen ins Gästezimmer. Vielleicht können wir noch ein wenig reden, ehe Lena heimkommt? Dann kannst du mir erzählen, worum es diesmal ging«, schlug Gisela vor.
»Gern«, stimmte Annika zu. Eine Viertel Stunde Zeit konnte sie sich noch nehmen.
»Und gegen eine Tasse Tee hätte ich auch nichts«, rief ihr ihre Mutter zu, die bereits auf dem Weg ins Gästezimmer war.
»Kommt sofort«, antwortete Annika und musste lächeln. Es tat gut, dass ihre Mutter hier war. Sie wusste, sie gönnte ihr ein neues Glück von Herzen.
*
»Sie ist in der Pubertät«, erinnerte die Mutter sie, als sie kurz darauf im Wohnzimmer saßen. Eben hatte Annika ihr von dem neuen Disput mit Lena berichtet. »Sie braucht Zeit und ich denke, sie hat Angst, dich an Peter zu verlieren. Außerdem bin ich sicher, sie vermisst ihren Vater immer noch.«
»Du hast ja recht«, stimmte Annika zu. »Ich weiß aber nicht, wie ich ihr die Angst nehmen kann. Ich liebe Lena von ganzem Herzen. Sie steht in meinem Leben immer an erster Stelle.«
Sie spürte ein sachtes Ziehen in ihrem Bauch. Es war völlig klar, Lena war der Mittelpunkt ihrer Welt. Und doch … ein Stück musste ihre Tochter zur Seite rücken, um Platz für Peter zu machen.
»Das weiß ich doch, Nika«, sagte ihre Mutter und legte ihr die Hand auf den Arm. »Aber sie ist ein Einzelkind. Sie hat ›nur‹ dich, seit Jochen nicht mehr ist. Ihr hättet damals ein zweites Kind adoptieren sollen.«
»Ich weiß. Das hast du oft gesagt«, sagte Annika niedergeschlagen. »Aber wir waren so froh, dass wir Lena zu uns nehmen durften, nach den ganzen mühsamen Behördengängen und Anträgen, Formularen und Gesprächen mit dem Jugendamt.«
»Ihr wolltet das kein zweites Mal durchstehen müssen«, erwiderte die Mutter und nickte. »Es ist ja jetzt ohnehin zu spät.«
»Ja. Und den Moment, Lena die Wahrheit zu sagen haben wir auch verpasst«, ergänzte Annika niedergeschlagen.
»Das ist Jochens Verantwortung. Er wollte das nicht«, erinnerte sie die Mutter.
»Er wollte auf den richtigen Moment warten«, verteidigte Annika ihren verstorbenen Mann.
»Nika.« Ihre Mutter zog die Hand von ihrem Arm zurück. »Gibt es bei einer solch großen Angelegenheit ›den richtigen Moment‹? Doch wohl nicht. Lena hätte einfach mit dem Wissen aufwachsen müssen, dass ihr zwar nicht ihre leiblichen Eltern seid, sie aber mit aller Liebe von euch angenommen wurde.«
Annika nickte. All das half ihr nicht weiter. Schon seit geraumer Zeit beschäftigte sie der Gedanke, dass Lena dennoch irgendwann die Wahrheit erfahren musste.
»Entschuldige, Mama«, sagte sie und sah auf die Uhr. Schon kurz nach 18 Uhr. »Ich muss mich jetzt wirklich zurechtmachen, sonst werde ich nicht rechtzeitig fertig.«
Sie stand auf und meinte, ein Geräusch aus dem Flur zu hören.
»Lena?«, rief sie. In der Wohnung blieb es still. Annika ging zur Wohnzimmertür und öffnete sie. Der Flur war leer.
»Lena?« Sie ging in das Zimmer ihrer Tochter, doch auch da war sie nicht.
»Sie ist zu spät«, stellte Gisela fest, die ihr nachgekommen war. »Nun mach dich fertig. Sie wird sicher bald hier sein. Wenn nicht, rufe ich sie auf dem Handy an oder ich frage gleich bei Julias Mutter nach, ob sie noch dort ist.«
»Danke, Mama«, sagte Annika beklommen. Sie hätte sich lieber selbst gekümmert, doch inzwischen wurde die Zeit knapp. Peter kam immer pünktlich, um sie abzuholen.
*
Lena saß mit angezogenen Beinen im Zimmer ihres besten Freundes Marius am Boden, den Kopf auf die Knie gelegt und konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Hilflos klopfte ihr Marius, der neben ihr saß, auf die Schultern.
»Mensch, Lena. Bist du sicher, dass du nicht irgendwas total verkehrt verstanden hast?«, fragte er.
»Nein!« Schluchzen schüttelte sie durch.
»Aber … das gibts doch gar nicht.« Das, was sie ihm eben erzählt hatte, brachte er nicht in seinen Kopf.
Es klopfte an die Zimmertür, die sofort darauf geöffnet wurde.
»Hallo, Marius, ich bin wieder da …« Sein Vater stand im Rahmen und brach mitten im Satz ab. »Lena. Was ist denn passiert?«, fragte er erschrocken.
Lena sah weder auf, noch antwortete sie. Stattdessen krampfte sie sich zusammen und wippte auf und ab, als versuchte sie mit der Bewegung ihre Verzweiflung zu betäuben.
Der Vater wandte sich Marius zu und hob fragend die Augenbrauen. Marius zuckte mit den Schultern.
»Lena.« Stephan Behring betrat das Zimmer und ging neben Lena in die Hocke. »Kann ich dir irgendwie helfen? Magst du mir erzählen, was los ist?«
»Ich hab … ich hab …«, begann Lena. Sie würgte, als würde sie keine Luft bekommen und ihre Zähne schlugen aufeinander.
»Ganz ruhig.« Behutsam legte Stephan seine Hand auf den Oberarm des verzweifelten Mädchens. »Weiß Marius, worum es geht?«, fragte er und sah dabei von Lena zu seinem Sohn.
Lena nickte.
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