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Der junge Taxiunternehmer Ali Gördüm wähnt sich am Ziel seiner Träume: Endlich hat sich seine draufgängerische Spielweise ausgezahlt und er erhält Zutritt zu einem illegalen Spielcasino, in dem um ernstzunehmende Einsätze gepokert wird. Doch nicht alles läuft nach Plan. Als es gefährlich wird, macht ihm ein Landsmann ein äußerst verlockendes Angebot. Maxwell Charles Schmidbauer nimmt unterdessen nach seinem Ausscheiden aus dem SEK Nordbayern einen Schreibtischjob in einem Kommissariat für Sexualstraftaten an. Schon bald jedoch wird er mit derart abscheulichen Machenschaften konfrontiert, dass er beschließt, auf eigene Faust zu ermitteln. Ziel ist Istanbul, wo er die Hintermänner eines Pädophilenrings vermutet.
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Seitenzahl: 502
AUF EIGENES RISIKO
Stefanie Mohr
EBOOK
Stefanie Mohr, geboren 1972, liebt ihre Heimatstadt Nürnberg, in der sie (fast) jeden Winkel kennt. Sie wohnt und arbeitet als Autorin und Fotodesignerin im Nürnberger Norden. Nähere Informationen: www.stefanie-mohr.com
Der junge Taxiunternehmer Ali Gördüm wähnt sich am Ziel seiner Träume: Endlich hat sich seine draufgängerische Spielweise ausgezahlt und er erhält Zutritt zu einem illegalen Spielcasino, in dem um ernstzunehmende Einsätze gepokert wird. Doch nicht alles läuft nach Plan. Als es gefährlich wird, macht ihm ein Landsmann ein äußerst verlockendes Angebot.
Maxwell Charles Schmidbauer nimmt unterdessen nach seinem Ausscheiden aus dem SEK Nordbayern einen Schreibtischjob in einem Kommissariat für Sexualstraftaten an. Schon bald jedoch wird er mit derart abscheulichen Machenschaften konfrontiert, dass er beschließt, auf eigene Faust zu ermitteln. Ziel ist Istanbul, wo er die Hintermänner eines Pädophilenrings vermutet.
Copyright © Stefanie Mohr, 2018.
All Rights Reserved - Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto und -gestaltung: Stefanie Mohr
Verlag: Edition Gelbes Sofa, Inh. Stefanie Mohr, Nordring 125, 90409 Nürnberg
Originalausgabe
ISBN 978-3-946035-15-2
Neun Stunden in einem alten Taxi ohne funktionierende Klimaanlage, am heißesten Tag des Jahres. Nicht nur die Kunden hatten geflucht.
Er musste den Wagen unbedingt reparieren lassen. Nächste Woche, wenn alles gut ging. Ein Geräusch ließ ihn innehalten. Er stellte das Wasser ab. Nebenan klingelte ein Handy. Das ältere, das er nur selten benutzte. Hatte er es nach dem letzten Telefonat nicht ausgeschaltet? Eine Nachlässigkeit, die ihn das Leben kosten konnte.
Ärgerlich griff er nach dem Handtuch, trocknete sich ab, rasierte sich. Danach ging er in das angrenzende Zimmer hinüber und überflog die Mitteilung. Einen Sekundenbruchteil pressten sich seine Kiefer aufeinander, die Lippen wurden zu schmalen Strichen. Unwirsch löschte er den Text. Dann nahm er die SIM-Karte heraus, lief ins Schlafzimmer, öffnete den Kleiderschrank und versteckte das kleine Stück Plastik in einem dicken Paar Wollsocken. Unsichtbar und nicht zu ertasten.
Für einen Moment legte er sich nackt aufs Bett, starrte an die Decke und versuchte, sich auf den bevorstehenden Abend zu fokussieren. Erst nach einer Weile kehrte seine innere Ruhe zurück. Er stand auf und kleidete sich sorgfältig an. Schwarze Stoffhose, weißes Hemd. Beides gebügelt. Auf eine Krawatte verzichtete er. Anders verhielt es sich mit der Rolex. Die schwere, goldene Uhr war ein unverzichtbares Accessoire.
Sein Blick schweifte durch den Raum. Er hatte nichts vergessen. Routinemäßig schaltete er die Alarmanlage ein.
Als er vor die Tür trat, hatte es noch immer angenehme zwanzig Grad. Und das kurz vor Mitternacht. Es waren viele Menschen unterwegs, die Stimmung war fröhlich und ausgelassen. Ein Radiosender spielte Joe Cocker, Summer in the City. Der cremefarbene Benz rollte durch Barmbek. Der Vorteil eines Taxis: Man konnte fahren, wo man wollte. Er hatte es nicht eilig und entschied sich für einen Umweg. An der Außenalster wollten ihn ein paar junge Leute anhalten, aber er schüttelte nur den Kopf. Fast im Schritttempo fuhr er durch Rotherbaum, bog ab, ohne zu blinken, genoss die laue Nachtluft.
Als er vor einem unsanierten Altbau in der Hoheluftchaussee aus dem Auto stieg, war er ruhig und entspannt. Seine Hand glitt noch einmal in die Hosentasche, tastete nach dem dicken Bündel Geldscheine. Ein schneller Blick über die Schulter. Der Dönerladen im Erdgeschoss hatte zu der späten Stunde längst geschlossen, und auch sonst war niemand auf der Straße.
Zufrieden drückte er auf den Klingelknopf im dritten Stock. Die Gegensprechanlage knackte, das rote Lämpchen der Kamera leuchtete auf, einen Wimpernschlag später summte der Türöffner. Er trat ein und eilte die ausgetretenen, knarrenden Holzstufen hinauf. Eine Frau öffnete ihm die Tür. High Heels und Minikleid, beides in billigem Rot. Ihr krauses Haar umspielte ihre karamellfarbene Haut und ihre bloßen Schultern. Sie war bisher bei jedem seiner Besuche hier gewesen.
»Guten Abend, Roxana.«
»Ali.« Ein gut kalkuliertes Lächeln lag auf ihren breiten, sinnlichen Lippen.
Er folgte ihr in einen Raum, der als Bar fungierte. Die Wohnung war hochwertig eingerichtet. Kein Vergleich zu den heruntergekommenen Absteigen, in denen er bis vor Kurzem dreimal pro Woche Poker gespielt hatte. Dort lag Unrat herum, die Tapete hing in Fetzen von den Wänden und es stank nach abgestandenem Rauch. Die Zocker waren fast ausschließlich Arbeiter und junge Auszubildende, keiner mit mehr als zweihundert Euro in der Tasche. Entsprechend vorsichtig spielten sie. Ali hingegen lebte für das Risiko. Verluste waren da natürlich nicht zu vermeiden. Seine Taktik blieb jedoch nicht lange unbemerkt. Ein Landsmann sprach ihn an und fragte, ob er nicht Lust habe, mal woanders sein Glück zu versuchen. In gediegener Atmosphäre und mit Gegnern, die über ein größeres Budget verfügten. Höhere Einsätze – höhere Gewinne. Das entsprach ganz seinen Vorstellungen und verschaffte ihm, dem Neuling in der Szene, auch bessere Kontakte.
Unaufgefordert schob er Roxana zwei Hunderteuroscheine über den Tresen. Seine Eintrittskarte für den Abend.
»Was trinkst du?«
»Gin Tonic. Und gib mir eine Schachtel Benson & Hedges.«
All inclusive. Drinks, Catering, Sevice.
Dann tauschte er zweitausend Euro in Jetons.
»Amüsier dich gut.«
Ali wandte sich den hell erleuchteten Jugendstilräumen zu. Es gab zwei geschmackvoll eingerichtete Zimmer. Seine Augen glitten über die Personen im ersten. Die Tische waren voll besetzt. Gespielt wurde Texas Hold’em. Ali schlenderte durch eine Flügeltür in den hinteren Raum. Dort stand nur ein einzelner Tisch. Die Männer waren fast doppelt so alt wie Ali und spielten Telesina-Poker in seiner ursprünglichen, italienischen Variante.
Ali grüßte mit einem kurzen Nicken und beanspruchte den einzigen freien Platz. Lässig stapelte er seine Jetons auf dem Tisch, öffnete die Manschettenknöpfe und krempelte die Ärmel hoch. Die Rolex glänzte im Licht des Kristallleuchters. Seine schlanken, gepflegten Hände nahmen eine Zigarette aus der goldfarbenen Packung, ließen das elegante Feuerzeug aufschnappen. Ein tiefer Zug, langsam stieß er den Rauch aus, musterte die anderen.
Der Kerl zu seiner rechten stank nach Knoblauch. Je mehr er schwitzte, desto schlimmer. Damit verriet er sein schlechtes Blatt, wie Ali wusste. Auch der Mann gegenüber, ein Steuerberater, schien deutlich nervös. Und der Autohändler neben ihm rauchte zu viel. Sein asthmatisches Pfeifen ging Ali jetzt schon auf die Nerven, auch wenn er sich das natürlich nicht anmerken ließ.
Endlich war das Spiel vorbei, und ein neues begann.
»No Limit?«Ali blickte in die Runde.
Knoblauchmann nickte.
Ali warf sein Ante in den Pot. Die anderen legten ebenfalls einen Jeton in die Mitte des Spieltischs. Der Steuerberater war mit Mischen und Geben an der Reihe. Er machte eine Show daraus, teilte die Karten in zwei Stapel, hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ sie ineinander schnalzen. Ein Aufschneider. Viel heiße Luft und nichts dahinter. Das letzte Spiel hatte ihn locker tausend Euro gekostet. Pure Dummheit.
Ali drückte seine Zigarette aus, konzentrierte sich ganz aufs Spiel. Gewann eine ordentliche Summe, später verlor er ein paar Hunderter, zweimal stieg er nach der dritten Runde aus, gewann wieder.
Nach einer Weile war er zum zweiten Mal mit Kartengeben dran. Erst eine verdeckte für alle, dann eine Sieben für den Autohändler, einen König für den Steuerberater, eine Dame für Knoblauchmann und ein Ass für ihn selbst.
»Zweihundert.«
Der Autohändler hatte offenbar genug für den Abend verloren, er ging nicht mit. Knoblauchmann und der Steuerberater legten nach.
Ali verteilte die dritte Karte: eine Dame, einen König und ein Ass für sich selbst. Sein drittes Ass.
»Dreihundert. Wer mit den Assen spielen will, muss zahlen«, forderte er die anderen heraus.
In der vierten Runde erhielt Knoblauchmann eine Zehn, der Steuerberater einen Buben.
»Dreihundert.«
»Ich schiebe«, erklärte Knoblauchmann.
Ali nickte.
Eine Zehn für Knoblauchmann, einen Buben für den Steuerberater und eine Dame für Ali.
»Fünfhundert.« Der Steuerberater sah Ali angriffslustig an. Die Retourkutsche für seinen großkotzigen Spruch. Ali schmeckte dem teuren Gin auf seiner Zunge nach. Ein kühler Blick in die Runde, dann legte er seine Jetons in den Pot.
»Tja, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als aufzudecken«, sagte Knoblauchmann mit Grabesstimme. Er schien sich in der Rolle des Paten zu fühlen. Drei Damen und zwei Zehner. »Full House.«
Der Steuerberater zog wieder eine große Show ab. Er hatte drei Buben und zwei Könige. Bemüht, sich seine Wut nicht anmerken zu lassen, warf Ali seine Asse spöttisch lächelnd auf den Tisch, stand auf und schlenderte an die Bar.
»Noch einen Gin Tonic?« Roxana sah ihn fragend an.
»Und ein Sandwich.«
Sie brachte ihm das Gewünschte. »Brauchst du noch ein paar Jetons oder machst du Schluss für heute?«
»Kommt drauf an.« Er grinste sie an. »Wann hast du Feierabend?«
»Noch lange nicht.« Sie griff nach einem Tablett, stellte Flaschen und Gläser darauf und ging nach nebenan.
Kein guter Abend. Ali schnitt eine Grimasse. Als sie zurückkam, wechselte er noch einmal Geld. Alles, was er einstecken hatte. Es hätte bis zum Ende des Monats reichen sollen.
Die Spieler an seinem Tisch hatten in der Zwischenzeit gewechselt. Ein Mann mit schwarzer Kleidung und roter Krawatte saß auf Alis verwaistem Platz. Jetzt wurde es interessant. Ali hatte den Kerl schon beim Zocken beobachtet. Für ihn schien es kein Limit zu geben. Immer ging er auf volles Risiko. Beeindruckend! Ali nahm ihm gegenüber Platz und wartete, bis die Runde beendet war.
Die ersten Spiele, nachdem er eingestiegen war, plätscherten dennoch eher so dahin. Einmal verlor er sechshundert Euro, dann gewann er mit einem Full House dreizehnhundert und einmal stieg er nach der dritten Karte aus.
Gegen drei Uhr morgens bestand die Runde aus Ali, dem Mann mit der roten Krawatte, dem Steuerberater und einem pickelgesichtigen Jungen. Ali fiel es schwer, dem Knaben nicht zu sagen, dass er um diese Uhrzeit im Bett besser aufgehoben sei. Wieder war der Steuerberater mit Mischen dran, wieder spielte er sich zum Pseudoprofi auf. Es war lächerlich.
Als Ali abgehoben hatte, wurden die Karten verteilt. Ali hatte eine Zehn verdeckt und eine offen. Pickelgesicht einen König, Krawattenmann eine Dame und der Steuerberater ein Ass.
»Hundert«, sagte der Steuerberater. Und alle anderen gingen mit.
Der Steuerberater teilte die dritte Karte aus. Ali bekam erneut eine Zehn, Krawattenmann noch eine Dame, Pickelgesicht einen Buben und der Steuerberater noch ein Ass.
»Zweihundert.«
Pickelgesicht wurde es zu heiß. Rote Krawatte und Ali gingen nach kurzem Zögern mit. Dann teilte der Steuerberater die vierte Karte aus. Ein Ass für Krawattenmann, eine vierte Zehn für Ali und eine Sieben für den Steuerberater.
»Fünfhundert.« Jetzt schlug der Mann mit der roten Krawatte zu. Der Steuerberater knirschte deutlich hörbar mit den Zähnen und schüttelte den Kopf. Ali erbat sich Bedenkzeit. Nur ein Bluff. Nichts in der Welt hätte ihn davon abgehalten mitzugehen.
Die letzten Karten wurden ausgeteilt. Eine Dame für Krawattenmann und einen König für Ali. Adrenalin schoss in seine Blutbahnen.
»Der mit den drei Damen sagt an.« Er hatte Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten.
»Du klingst, als hättest du einen Vierer oder ein Full House. Junge, denkst du, das reicht?« Kalte Augen bohrten sich in Alis Augen. »Tausend.«
Ali schluckte. Bluffte Krawattenmann? Hoffte er, sein Gegenüber würde den Schwanz einziehen und das letzte bisschen Kohle retten wollen, indem er ausstieg? Ali hatte schon einmal beobachtet, wie der andere einen solchen Stunt abzog, obwohl er das schlechtere Blatt hatte. Der Kerl war ein echter Spieler. Dann legte sich der Schalter in Alis Kopf um.
»Tausend und noch mal tausend.« Mit einem Mal war er ganz ruhig, als er all seine Jetons in die Tischmitte schob. Lächelnd warf der Mann seinerseits den Erhöhungsbetrag in den Pot.
»Zeigen!«, forderte er amüsiert.
Ali drehte seine vierte Zehn um. Full House. Der andere deckte sein Blatt auf. Ali starrte auf die Karten. Vier Damen. Es war kein Bluff gewesen.
»Chapeau!«, stieß er hervor, nickte seinem Gegner anerkennend zu und stand auf. Seine Hand suchte Halt an seinem Glas Gin Tonic.
»Keine Revanche?« Der Mann musterte ihn abschätzend.
»Auszeit.« Ali rang sich ein Lächeln ab. Er spürte die Blicke des anderen im Nacken, als er den Raum verließ. Ohne das Geschehen um ihn herum zu beachten, lief er zur Toilette, schloss sich ein, öffnete den Hahn und spritzte sich mit beiden Händen kaltes Wasser ins Gesicht. Viereinhalbtausend Euro. An einem einzigen Abend. Zusammen mit den tausendfünfhundert, die er in der vorherigen Woche verspielt hatte, belief sich sein Verlust auf sechstausend Mäuse. Die Klimaanlage in dem Benz konnte er erst einmal nicht reparieren lassen.
»Ha siktir!«Scheiße!
Er trat gegen den Korb, in dem die benutzten Papierhandtücher entsorgt wurden. Fluchen half nichts. Er holte ein paarmal tief Luft. Er hatte sich wieder im Griff, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und ging zurück an die Bar. Wie bei seinen früheren Besuchen nahm er den zu Beginn beiseitegelegten allerletzten Jeton aus der Hosentasche und schob ihn zu Roxana über den Tresen. Trinkgeld.
»Hast du einen Moment Zeit?«
Ali war überrascht. Sie führte ihn in ein Zimmer, das mit der Aufschrift Privat gekennzeichnet war und weiter über eine steile Treppe hinaus auf eine nach hinten gelegene Dachterrasse. Sein Kontrahent, der Mann mit der roten Krawatte, saß in einem Ledersessel. Seine Finger spielten auf der Armlehne mit einem fast leeren Glas Whisky. Erneut musterte er Ali eingehend, dann wandte er sich an Roxana.
»Bring uns noch einen.«
Die Frau entfernte sich.
»Deine Art gefällt mir.«
Ali lachte.
»Nein, wirklich. Du hast Mumm, Junge.« Es klang jovial.
»Mir würde es auch gefallen, wenn ich einen anderen wie eine Weihnachtsgans ausnehmen könnte.« Die Worte schmeckten bitter. Er war trotz aller Bemühungen eben doch ein schlechter Verlierer. Ohne eine Regung zu zeigen, griff der Mann in seine Jacketttasche, zog ein Bündel Geldscheine heraus und warf es achtlos auf den niedrigen Glastisch. Ali rührte es nicht an.
»Nimm, es ist deins.«
Die Knie wurden ihm weich. Das Angebot war verlockend. Aber es fühlte sich nicht gut an. Er schüttelte den Kopf. »Nächste Woche gehört es vielleicht wieder mir. Heute Abend nicht.«
»Ich wusste, dass mir deine Art gefällt.« Auf dem Gesicht des Mannes erschien ein Lächeln. Er blickte auf und nickte unmerklich. Roxana trat an den Tisch und reichte ihnen die Whiskygläser. Er nahm einen Schluck. Als die Frau gegangen war, sagte er: »Ich möchte dir ein Geschäft vorschlagen.«
Der Handyalarm piepte aufdringlich – ein Geräusch aus einer anderen Welt. Verschlafen tasteten Maxwells Finger über die dünne Bettdecke neben sich. Der darunter verhüllte nackte Frauenkörper lag zusammengerollt auf der Seite. Er zog ihn an sich. Ihr Haar roch nach Honig, die Haut nach warmer, weicher, schlafender Frau und bereitete ihm Lust. Mit sanftem Druck schob er seine rechte Hand unter ihrem Körper hindurch und berührte ihre Brüste, streichelte sie, bis ihn ein leises Stöhnen ermunterte, ihr Becken zu umfassen und ihren Körper an sich zu pressen. Als habe sie nur darauf gewartet, zog sie die Beine noch ein Stück höher. Lustvoll liebkoste er sie. Erst als ihr Atmen in ein Keuchen überging, drang er endlich in sie ein.
Es war eine sinnliche Art, sich zu lieben – und damit etwas, das eigentlich nicht zu seinem eher ungestümen Naturell passte. Aber Susanne mochte es. Vor allem, wenn sie am frühen Morgen, unmittelbar nach dem Aufwachen miteinander schliefen.
Als Maxwell zum zweiten Mal wach wurde, schien die Sonne hell zu den hohen Sprossenfenstern seiner loftähnlichen Wohnung herein. Die Betthälfte neben ihm war verwaist, Susanne längst zum Dienst in die Klinik gegangen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es auch für ihn höchste Zeit war aufzustehen. Stattdessen drehte er sich auf den Rücken und starrte das Nest an, das ein Schwalbenpaar in fünf Metern Höhe zwischen einem der Metallpfeiler und der Decke gebaut hatte.
Schließlich stand er doch auf. Einer jahrelangen Routine folgend, schlurfte er als Erstes in die Küche, um Kaffee zu kochen, aber die Maschine war bereits eingeschaltet. Susanne hatte welchen gemacht. Es war gut gemeint, trotzdem ärgerte es ihn jedes Mal, wenn er ihren über Stunden warmgehaltenen Rest trinken sollte. Er war inzwischen so bitter, dass man ihn nicht ohne Zucker hinunterbekam. Und Maxwell hasste Zucker im Kaffee.
Ohne das Problem zu lösen, ging er ins Badezimmer. Auf der Schwelle blieb er wie angewurzelt stehen. Der Raum schien sich über Nacht wieder einmal in einen Drogeriemarkt verwandelt zu haben. Die Ablage vor dem Spiegel, auf der normalerweise nur sein Zahnputzbecher stand, war voller Tiegel und Dosen. Auf dem Badewannenrand thronte eine ganze Batterie fremder Utensilien. Er starrte das Sammelsurium an. Einen Augenblick später warf er erbost alles, was nicht ihm gehörte, in ihr Necessaire und stopfte es in den hintersten Winkel des Regals. Das hier war seine Wohnung und kein verdammter Wellnesstempel! Danach erst konnte er duschen. Das kühle Wasser tat ihm gut. Nach ein paar Minuten wurde er ruhiger und begann, Gesicht und Schädel zu rasieren.
Eigentlich war es ein guter Tag, denn er hatte keine Schmerzen. Weder in der Lunge noch im Kopf. Die Beschwerden in der Brust waren mittlerweile Vergangenheit. Nicht einmal mehr beim Joggen fühlte er sich beeinträchtigt. Anders sah es mit den Kopfschmerzen aus. Sie waren ihm seit dem Kopfschuss geblieben, genauso wie die ihn für immer entstellenden Narben. Die Kopfverletzung war auch der Grund, warum er den Dienst beim SEK Nordbayern hatte quittieren müssen. Und sein Alter. Aber hauptsächlich war es der Kopf gewesen.
Obwohl Dr. Susanne Schirmer ihn bestmöglich mit Medikamenten eingestellt hatte, gab es Tage, an denen er auf starke Betäubungsmittel zurückgreifen musste. Heimlich. Hätte sein Dienstherr davon gewusst, wäre ihm seine Waffe abgenommen worden und er hätte nur noch Innendienst schieben dürfen. So hatte man ihn von der Spezialeinheit an den Schreibtisch eines Kommissariats versetzt, in dem es um Sexualdelikte ging, und wo er zumindest gelegentlich auf die Straße durfte, wenn auch nicht annähend in dem Maß, das er sich wünschte.
Bevor er die Wohnung verließ, band er sich wie üblich eine Bandana um. Er wollte seinen Mitmenschen den Anblick seines entstellten Schädels ersparen. Und sich selbst die mitleidigen Blicke, die auf den ersten Schock hin unwillkürlich folgten.
Vor dem Hinterhaus parkte ein Kleintransporter, der die Schreinerei im Erdgeschoss mit Holz belieferte. Der Fahrer hatte den Wagen so unglücklich abgestellt, dass Maxwell nicht an sein Mountainbike kam. Anstatt zuzusehen, half er beim Entladen der großen Platten. Danach war er so verschwitzt, dass er am liebsten gleich wieder geduscht hätte, aber dann wäre er in Teufels Küche gekommen. Um neun Uhr dreißig hatte er eine Vernehmung. Ein Vergewaltiger, den die eigene Ehefrau angezeigt hatte.
»Wo kommst du denn jetzt her?« Seine Kollegin sah ihn entgeistert an. »Der Chef hat nach dir gefragt.«
»Was hast du ihm gesagt?«
»Dass du beim Sport bist.«
Er nickte. Gabi seufzte unüberhörbar. Maxwell wusste, dass er nur einen Atemzug von einem Vortrag darüber entfernt war, dass sie ihn nicht ständig decken konnte, dass er sich endlich anpassen müsse. Ihm blieb nur die Flucht in die Teeküche. Dort vertrödelte er so viel Zeit, wie er nur konnte, um sich einen Kaffee aus dem Vollautomaten herauszulassen. Als er ins Büro zurückkam, war es leer. Zumindest dieser Kelch war an ihm vorübergegangen. Er sank in seinen Bürostuhl und fühlte sofort, wie sich die bleierne Müdigkeit auf ihn legte, die ihn immer erfasste, wenn er an einem Schreibtisch saß.
Gelangweilt nahm er die Ermittlungsakte zur Hand und blätterte sie durch. Er schaffte es, sich ein paar Fragen zu notieren, bevor sein Telefon klingelte und der Pförtner ihm mitteilte, dass ein Herr Hellmann am Haupteingang auf ihn wartete. Wie von einer Feder getrieben schnellte Maxwell aus seinem Stuhl und verließ das Zimmer. Hauptsache raus hier.
Als er durch die dicke Panzerglastür in den Vorraum trat, erblickte er ein Pärchen, das händchenhaltend in einer Ecke saß. Er rief den Namen des Beschuldigten. Doch anstatt des Mannes erhob sich die vierschrötige Frau.
»Ich möchte die Anzeige zurückziehen.« Sie vermied es, Maxwell anzusehen.
»Wer sind Sie?«
»Frau Hellmann.« Ihr Tonfall schwankte zwischen vorwurfsvoll und verwundert.
Das Opfer. Maxwell hatte von ihr bislang nur Fotos in der Akte gesehen, die eine Rechtsmedizinerin bei der Untersuchung nach der Tat gemacht hatte. Großflächige Hämatome an den Oberschenkeln, eine Bisswunde an der linken Brustwarze, eine Risswunde am Anus. So sah also der Mensch aus, dem die sinnlose Gewalt angetan worden war. Ihr Gesicht war aufgedunsen, die Nase von vielen roten Äderchen durchzogen, ihr Atem roch nach Alkohol. Aus der Akte wusste er, dass sowohl sie als auch der Typ, mit dem sie verheiratet war, zum Trinkermilieu gehörten. Beide waren seit Jahren arbeitslos und mehrfach wegen Kleindelikten aufgefallen.
»Ist das Ihr Mann?« Maxwell nickte zu dem Kerl hinüber, mit dem sie bei seinem Eintreten Händchen gehalten hatte.
»Ja.«
»Dann nehmen Sie bitte so lange Platz, bis ich ihn vernommen habe.«
»Thorsten muss nicht mit Ihnen sprechen. Wir haben uns informiert.«
»Frau Hellmann, Sie haben Ihren Mann angezeigt, weil er Sie vergewaltigt hat. Und jetzt sagen Sie mir, dass er nicht mit mir reden muss?« Er sah sie verständnislos an.
»Ich habe es mir anders überlegt.« Trotz in der Stimme.
»Wohnen Sie noch im Frauenhaus?«
Sie schüttelte den Kopf und zerrte ein zerknittertes Kuvert aus ihrer Tasche.
»Was ist das?«
»Ist für Sie.«
Maxwell überflog den Brief. Er war mit der Hand geschrieben, kaum leserliche Krakel. Die Formulierungen ließen darauf schließen, dass sie sich die Worte nicht selbst ausgedacht hatte. Zu viele juristische Ausdrücke, zu nuancierte Abstufungen. Die Fachtermini ohne einen einzigen Rechtschreibfehler, dafür hatte sie viele Adjektive großgeschrieben, manche Substantive hingegen klein.
Der Tenor: Sie habe die Nacht von Samstag auf Sonntag mit ihrem Mann und ein paar Kumpel in einer Parkanlage verbracht und gefeiert. Als sie am nächsten Morgen aufgewacht war und die vielen blauen Flecken an ihrem Körper sah, sei sie erschrocken und habe befürchtet, dass sich jemand an ihr vergangen habe, während sie ihren Rausch ausschlief. Deshalb sei sie zur Polizei gegangen. Dort habe man sie so gründlich missverstanden, dass am Schluss eine Anzeige gegen ihren Mann herauskam. Als sie diesem später begegnete, habe er sie erinnert, dass sie im Park Sex gehabt hatten. Sie habe das vergessen, der viele Alkohol sei schuld daran. Der Geschlechtsverkehr mit ihrem Mann habe jedoch einvernehmlich stattgefunden.
Maxwell blickte auf. »Warum tun Sie das?«
Keine Antwort.
»Frau Hellmann –«
»Können wir jetzt gehen?«
»Ich kann Sie nicht aufhalten.« Maxwell zuckte resigniert mit den Schultern. Wider besseres Wissen unternahm er einen letzten Versuch. »An Ihrer Stelle würde ich mir noch einmal ganz genau überlegen, ob Sie Ihren Mann einfach so davonkommen lassen wollen. Er wird es wieder tun. Aber vielleicht wissen Sie das ja, weil es nicht das erste Mal war?« Es fiel ihm schwer, ruhig zu bleiben. Am liebsten hätte er sie angeschrien und gefragt, wieso sie sich von ihrem Mann wie ein Stück Dreck behandeln ließ. Wenn er den Vorgang nun an die Staatsanwaltschaft weiterleitete, würde das Verfahren eingestellt werden. Frau Hellmann wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und ging.
Zurück in seiner Dienststelle zeigte Maxwell Gabi den Brief.
»Habe ich es dir nicht gesagt? Du musst zu unterscheiden lernen, wann du wirklich helfen kannst und wann nicht.«
Er beugte sich unter den Schreibtisch und zog seine Sporttasche hervor.
»Hee! Wo willst du hin?«
»Zeit für ein bisschen Fitnesstraining.«
»Du warst doch erst gestern anderthalb Stunden lang im Kraftraum.«
»Sport kann man nie genug machen. Ich weiß beim besten Willen nicht, wie ihr es schafft, den ganzen Tag im Büro zu sitzen. Ich bekomme nach spätestens einer Stunde einen Krampf in den Beinen.«
»Aber du bist heute noch nicht einmal eine halbe Stunde lang an deinem Schreibtisch gesessen.«
Mit einem Augenzwinkern lächelte er sie an und ging hinaus. Auf dem Flur hörte er jemanden seinen Namen rufen. Der Abteilungsleiter. Maxwell war sich noch nicht sicher, was er von ihm hielt. Beim SEK war er selbst Gruppenführer gewesen. Er wusste, worauf es bei einer schwierigen Einsatzlage ankam, hatte seine Männer ruhig und präzise instruiert und war immer an vorderster Front dabei gewesen. Sich jetzt einem Jüngeren unterordnen zu müssen, der weniger Erfahrung hatte, fiel ihm nicht leicht. Außerdem war er es gewohnt, in einem Team zu arbeiten, das sich blind aufeinander verlassen konnte. In dieser Dienststelle hatte er den Eindruck, dass alle einzeln vor sich hin wurstelten und jeder nur an sich selbst dachte.
»Was gibt’s, Holger?«
»Hast du morgen Abend schon was vor?«
Maxwell sah ihn überrascht an. Wollte der Kollege vorschlagen, gemeinsam etwas zu unternehmen, um sich endlich ein bisschen besser kennenzulernen?
»Nein, nicht wirklich«, antwortete er freundlich.
»Könntest du dann bei der Sitte aushelfen?«
Er war in die Falle getappt. Sofort machte sich Resignation in ihm breit. »Was heißt das im Klartext?«, fragte er genervt.
»Modellwohnungen überprüfen und eine Großrazzia in einem Bordell. Dienstbeginn: sechzehn Uhr.«
Bellealliancestraße, von vielen nur Belle genannt. Turgay Baschtir, der Mann mit der roten Krawatte, hatte ihm die Adresse gegeben. Ali parkte den Benz im Schatten, schloss die Fenster und ging in den türkischen Imbiss. Eine lange Glastheke, vier schmale Tische, billige blaue Plastikstühle. Jetzt, um halb fünf am Nachmittag, gab es dort nur den Inhaber. Ali grüßte, bestellte ein Glas Tee und setzte sich. Der Ventilator wirbelte heiße Luft durch den Raum, brachte jedoch keine Abkühlung.
Eine Frau kam herein, verlangte zwei Döner zum Mitnehmen. Der Typ hinter dem Tresen kannte sie, unterhielt sich mit ihr über das Wetter, die für Hamburg ungewöhnliche Hitze. Ein paar Minuten später war der Laden wieder leer. Ali trank aus, stand auf, bezahlte und verabschiedete sich. Der Chef legte eine grüne, halbtransparente Plastiktüte auf den Tresen.
»Dein Essen.«
Ali nickte, lief zurück zu seinem Benz, wendete und reihte sich in die kurze Taxischlange am U-Bahnhof Christuskirche ein. Der Inhalt der Tüte verströmte einen penetranten Knoblauchgeruch. Er stopfte sie ins Handschuhfach und zündete sich eine Zigarette an, hoffte, so das Übel zu übertünchen.
Als er in der Schlange an erster Stelle stand, wurde die Beifahrertür geöffnet. Eine Frau in den Vierzigern. Sie trug hochgestecktes Haar und wirkte wie eine Barbie in Businesskleidung. Sie war schon halb auf den Sitz gerutscht, als sie angeekelt das Gesicht verzog und wieder ausstieg. Im Spiegel sah er, wie sie zu dem Wagen hinter ihm marschierte. Arrogante Schlampe.
Sobald das Taxi weggefahren war, roch er verschämt an seinem T-Shirt. Keine Spur von Schweiß. Es konnte also nur am Auto liegen. Er sollte an der Tankstelle eins dieser Duftbäumchen kaufen und an den Rückspiegel hängen. Oder die Döner aus dem Handschuhfach nehmen.
Ein älteres Ehepaar näherte sich dem Taxistand. Sie zogen zwei voluminöse Rollkoffer hinter sich her. Touristen. Bevor sie einen Bogen um ihn machen konnten, stieg Ali aus, öffnete freundlich lächelnd den Kofferraum und lud hilfsbereit das Gepäck ein. Die Frau rutschte auf die Rückbank, der Mann nahm den Beifahrersitz. Ali beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er schien den Knoblauchdunst nicht wahrzunehmen.
»Wohin möchten Sie?«
»Bahnhof Altona.«
Eine Zehn-Minuten-Fahrt. Nicht gerade das große Los. Trotzdem verzichtete Ali auf einen Umweg, der den Taxameter in die Höhe getrieben hätte. Der Mann dankte es ihm mit einem knappen Trinkgeld. Ali schwor sich, beim nächsten Mal nicht den kürzesten Weg zu nehmen. Und nie wieder Döner ins Handschuhfach zu stopfen.
Er entschied, in die Firma zu fahren, um den Knoblauchgestank loszuwerden. Inzwischen war es fast sechs Uhr, und die Chancen standen gut, dass Birthe, die gute Seele des Büros, nach Hause gegangen war. Wobei man bei ihr nie wissen konnte. Sie tauchte oftmals zu den unmöglichsten Zeiten auf, um Belege zu buchen oder ein Auto auszusaugen.
Aber Ali hatte Glück. Als er in der Schnackenburgallee im östlichsten Zipfel von Hamburg-Lurup ankam, lag der kleine Taxihof verlassen da. Er machte das Handschuhfach auf. Augenblicklich stieg ihm eine Knoblauchwolke in die Nase. Angeekelt zog er die Tüte heraus und lief zum Haus. Auf halbem Weg kehrte er um, öffnete sämtliche Wagentüren, hoffte, der Geruch werde sich verflüchtigen, bis er zurückkam. Im Putzraum holte er sich Einweghandschuhe und nahm die beiden in Alufolie eingeschlagenen Pakete aus der Plastiktüte. Noch einmal ging er hinaus. Aus der Papiertonne fischte er eine alte Zeitung, mit der er den Schreibtisch abdeckte. Dann widmete er sich endlich dem ersten Dönerpaket.
Die Vorsichtsmaßnahmen waren unnötig. In der Folie waren lediglich Geldscheine eingewickelt. Kein Brot, kein Fleisch, kein Salat, keine Knoblauchsoße. Ali griff zum Handy und knipste ein Foto. Er sortierte die Scheine, zählte. Siebzehnhundert Euro. Ein weiteres Foto. Danach packte er das Geld wieder ein und steckte es in einen großen braunen Briefumschlag.
Anschließend öffnete er das zweite Päckchen. Schon als er an den Enden der Verpackung zupfte, quoll dickflüssige Knoblauchsoße heraus. Dennoch zwang er sich, das Brötchen auseinanderzunehmen und gewissenhaft zu untersuchen. Kein versteckter Hinweis, kein Geld. Dafür hatte er jetzt soßenverschmierte Finger. Widerlich. Er zog die Handschuhe aus, wickelte alles in der Zeitungsunterlage ein und warf das Bündel draußen in den Mülleimer. Auf dem Rückweg wusch er sich mit Birthes flüssiger Kokosseife die Hände. Nun roch alles süßlich. Kaum besser. Aber eine frische Zitrone hatte er nicht.
Ali schaltete den Computer ein und rief seine E-Mails ab. Spam, Spam und noch mehr Spam. Dazwischen eine Nachricht von einem türkischen Reisebüro. Genau wie Baschtir es angekündigt hatte. Ali checkte die Uhrzeit. Sie war fünf Minuten, nachdem er den Imbiss verlassen hatte, gesendet worden. Interessantes Timing.
Ein Klick, und die Mail erschien auf dem Bildschirm. Man bedankte sich für die Buchung und bat, die Anzahlung in den kommenden sieben Tagen zu überweisen. Ein Doppelklick und Ali erstarrte. Die im Anhang enthaltene Rechnung für eine dreiwöchige Urlaubsreise nach Antalya für zwei Personen war an seine private Anschrift in Barmbek adressiert. Wie war das Reisebüro beziehungsweise Turgay Baschtir in deren Besitz gekommen? Kannte er einen Mitarbeiter in der Meldebehörde? Oder hatte er Ali beschatten lassen? Wahrscheinlich. Niemand würde einem Unbekannten so viel Geld überlassen. Erst recht nicht, wenn der Kerl beim Poker größere Beträge verlor.
Ali druckte sowohl die Rechnung als auch die E-Mail aus. Dann öffnete er einen Internetbrowser und recherchierte seinen angeblichen Urlaub. Das Hotel gab es tatsächlich, die All-inclusive-Reise wurde von einem namhaften Veranstalter angeboten und der Preis lag nur minimal über dem im Internet angegebenen. Ali war beeindruckt. Da hatte sich jemand wirklich Mühe gegeben.
Als Nächstes tippte er den Namen des Reisebüros in die Suchmaschine. Es gehörte einer gewissen Meral Gül und lag ganz in der Nähe des Schanzenparks, wo er oft seine Mittagspausen verbrachte. Konnte nicht schaden, sich die Firma bei Gelegenheit mal anzusehen. Wenn er sich schon an krummen Geschäften beteiligte, wollte er zumindest wissen, mit wem er es zu tun hatte und in welcher Beziehung die Inhaberin zu Turgay Baschtir stand.
Auf einmal hörte Ali Schritte. Birthe, die Bürofee, die seinen Laden schmiss, überquerte den Hof. Rasch löschte er den Browserverlauf, schloss das Programm und schob die Ausdrucke in das Kuvert mit dem Geld.
»Moin. Hattest du viele Fahrten?« Birthe schien guter Dinge zu sein. Plötzlich hielt sie inne, schnüffelte. »Was riecht hier denn so?«
»Mein verspätetes Mittagessen.« Ali schaltete den Computer aus und griff nach dem Umschlag. »Ich muss los.«
Maxwells Telefon klingelte. Ein Blick aufs Display, aus seiner Vermutung wurde Gewissheit. Es war Susanne. Sofort hatte er das morgendliche Chaos in seinem Badezimmer vor Augen.
»Wie war dein Tag?«, fragte sie gut gelaunt. »Oder bist du gar nicht erst aufgestanden?«
»Doch, leider.«
»Warum? Was ist passiert?«
»Unangenehme Ermittlungen.« Er war nicht in der Laune für ein längeres Gespräch.
»Kommst du später zu mir?«
»Ich muss Wäsche waschen«, log er.
»Und morgen Abend steht Bügeln auf dem Programm?«
»Nein, Arbeit. Der Chef hat mich für eine Razzia in ein paar Bordellen eingeteilt.«
»Soso.« Auf einmal klang sie spöttisch. »Da konntest du natürlich nicht widerstehen.«
»Wieso sagst du das?«
»Ach, ich hatte mal einen Patienten mit einer Kopfschussverletzung auf meiner Intensivstation. Ein Polizeibeamter. Ich glaube, er hat beim SEK gearbeitet. Er konnte sich zwar nicht erinnern, was geschehen war und wer ihn so zugerichtet hatte. Aber so ziemlich das Erste, worüber er sich mit einem Kollegen unterhalten hat, war, wer die Strichliste in seiner Abwesenheit anführte und die meisten Frauen flachgelegt hat. Der Mann hieß Maxwell Charles Schmidbauer.«
»Ich habe es mir nicht ausgesucht. Bei der Sitte ist offenbar jemand ausgefallen.« Er hatte keine Lust, auf ihre Neckereien einzugehen, obwohl sie der Wahrheit entsprachen. »Aber du hast recht: Es ist mir lieber, die Ausweise von ein paar Nutten zu überprüfe, als mir anhören zu müssen, dass eine angezeigte Vergewaltigung eigentlich ein einvernehmlicher Beischlaf war.« Nun hatte er es doch gesagt und war dabei heftiger geworden, als er beabsichtigt hatte.
»So schlimm?« Susanne hatte ihren verständnisvollen Oberärztinnenton angeschlagen, den er zuweilen mochte, der ihn aber auch zur Weißglut treiben konnte. Heute war Letzteres der Fall. Er sagte das erstbeste, was ihm in den Sinn kam.
»Ich habe mir übrigens erlaubt, deinen Krimskrams in meinem Bad auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.«
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
»Ich wusste nicht, dass du heimlich deinen halben Hausstand in meine Wohnung geschmuggelt hast.«
»Mir war nicht klar, dass du ein Problem damit hast, wenn ich mein Necessaire bei dir lasse.« Nun hatte die Stimme ihre mitfühlende Note verloren.
»Und was ist mit dem Zeug im Schrank?«
»Das sind nur Kleider zum Wechseln. Die hängen da seit Monaten.«
»Es wird von Woche zu Woche mehr. Wenn du bei mir einziehen willst, solltest du mir das vorher vielleicht mitteilen.«
»Max? Was ist los? Hast du Kopfschmerzen?« Sie klang irritiert.
»Nicht mehr als sonst. Warum?«
»Du bist seit einiger Zeit phasenweise so was von kratzbürstig, dass ich dich manchmal gegen die Wand klatschen möchte.«
»Das würdest du nicht schaffen.«
»Ich weiß. Deshalb belasse ich es ja beim Wunschdenken. Aber wenn du so weitermachst ...«
»Dann?«
»Gehe ich ins Fitnessstudio, um dich in zwanzig Jahren aus dem Rollstuhl schubsen zu können.« Auf einmal war ihr Humor zurück.
»Guter Plan.« In zwanzig Jahren wäre er dreiundsiebzig. Fünf Jahre älter als seine Mutter geworden war.
Susanne seufzte. »Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du dir die Sache mit Istanbul überlegt hast. Wenn du mich zu dem Ärztekongress begleitest, könnten wir ein paar Tage Urlaub dranhängen.«
»Ich hatte noch keine Gelegenheit, auf den Urlaubsplan zu schauen.« Eine glatte Lüge. Natürlich hatte er nachgesehen. Es wäre kein Problem, eine Woche Urlaub einzutragen. Aber er mochte nicht. Dass sie heimlich immer mehr Gegenstände von sich in seiner Wohnung bunkerte, machte ihm Angst. Für ihn war das, was sie hatten, das, was er sich wünschte. Ihr schien das nicht mehr zu genügen. Vermutlich wünschte sie sich einen Mann an ihrer Seite, der jeden Tag mit ihr zusammen war. Ein Leben, wie sie es mit ihrem verstorbenen Mann gehabt hatte, konnte er ihr jedoch nicht bieten. Er brauchte seinen Freiraum. Manchmal fragte er sich, ob sie am Ende ihrer Beziehung angekommen waren.
Daher war es ganz gut, wenn er testhalber eine Weile ohne sie verbrachte, seinen alten Hobbys nachging, mit einem ehemaligen Kollegen durch Klubs und Kneipen zog, sich auslebte. Vielleicht wusste er danach, ob er oft so unruhig wurde, weil er genau das vermisste.
Die Welt verdunkelte sich, als wolle sie untergehen. Im nächsten Moment prasselten dicke Regentropfen auf die ausgedörrte Grünfläche herab. Ein greller Blitz zuckte über den Himmel, und sechs Sekunden später vernahm Ali ein krachendes Donnergrollen. Zwei Kilometer Entfernung, ungefähr. Anzahl der Sekunden mal Schallgeschwindigkeit. Seit ihm sein Ziehvater vor fast dreißig Jahren den Zusammenhang zwischen Blitz und Donner erklärt hatte, überschlug er immer die Distanz.
Ali betätigte den Scheibenwischer. Der Kunde saß nun schon eine halbe Stunde lang im Reisebüro. Ali wurde ungeduldig. Er wollte heute zeitig Feierabend machen. Wenn der Kerl nicht gegangen war, bis er die Zigarette fertig geraucht hatte, musste er hineingehen, solange der Typ noch dort war. Es wäre ihm jedoch lieber gewesen, mit der Mitarbeiterin allein zu sein. Oder war die zierliche Frau mit den kurz geschnittenen Haaren die Inhaberin?
Endlich erhob sich der Kunde, steckte die Unterlagen in die Innentasche seines Jacketts, trat aus der Tür und blieb unter dem Vordach stehen. Sein Blick suchte die Umgebung ab. Obwohl das Taxischild auf dem Dach ausgeschaltet war, signalisierte er Ali mit erhobenem Arm, dass er gefahren werden wollte. Ali schüttelte den Kopf. Daraufhin schlug der Mann den Kragen hoch und rannte durch den Regen Richtung Schlump zur Bushaltestelle. Ali blickte ihm nach, dann wanderten seine Augen zurück zum Reisebüro. Die Frau war aufgestanden, räumte die Kataloge auf, die sie im Verlauf des Gesprächs aus einem Ständer genommen hatte.
Ali zog den Autoschlüssel ab. Zehn Sekunden, und er hatte die Straße überquert. Trotzdem war sein Hemd durchnässt. Die Frau im Reisebüro bemerkte ihn und hielt ihm mit einem freundlichen Lächeln die Tür auf. Sie war älter, als er sie aus der Entfernung geschätzt hatte, und trug ein sorgfältig aufgetragenes Make-up. Das Namensschild an ihrer Bluse wies sie als Meral Gül aus. Die Inhaberin.
»Möchten Sie Tee?«
»Gern.«
Sie verschwand in einem Hinterzimmer, kehrte jedoch fast umgehend mit einem Tablett zurück. Silber. Darauf ein geschwungenes Teeglas, eine Untertasse, ein Löffel, eine Zuckerdose. Wieder lächelte sie Ali an und bat ihn, Platz zu nehmen.
»Womit kann ich Ihnen helfen?« Sie ging um ihren Schreibtisch, setzte sich ebenfalls.
»Ich habe gestern einen Brief erhalten.« Ali zog den Ausdruck aus seiner Hosentasche. Das Blatt war zerknittert. Rasch strich er es glatt und reichte es ihr. Sie überflog das Schreiben. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Kein Erschrecken, kein Wiedererkennen, keine Neugier.
»Ist damit etwas nicht in Ordnung?« Sie hatte dunkelbraune Augen mit helleren Einsprenkelungen.
»Die Sache ist ...« Er druckste herum, rieb mit den Händen über die Hosenbeine. Sie beobachtete ihn aufmerksam. Schließlich holte er tief Luft. »Ich habe zu diesem Zeitpunkt bereits einen Urlaub in Griechenland gebucht. Die Daten überschneiden sich um eine Woche.« Er leckte sich mit der Zunge über die Lippen, wie es der Steuerberater am Pokertisch immer tat. »Könnten Sie die Reise verlegen? Vielleicht in die Ferien? Da würde es nicht auffallen.« Nun wippte er nervös mit dem Fuß, hoffte im Stillen, dass er es nicht übertrieb. »Ich meine nur, falls jemand nachprüft. Das Finanzamt zum Beispiel.«
Ein verständnisvolles Nicken. »Kein Problem, Herr Gördüm. Lassen Sie mir den Brief einfach da und löschen Sie die E-Mail. Ich werde Ihnen eine neue Buchungsbestätigung schicken.«
»Ich danke Ihnen.« Alis Stimme klang erleichtert. Er stand auf. »Dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Sie haben sicher viel zu tun.« Rasch verabschiedete er sich, rannte durch den Regen zurück zu seinem Taxi und fuhr Richtung Lurup. Er war noch nicht weit gekommen, als sein Handy klingelte. Birthe aus dem Büro. Er nahm den Anruf an.
»Wo bist du?«
»Auf dem Weg zu dir.«
»Du hast eine Fahrt.«
»Ich kann nicht.«
»Gerade hat ein Mann angerufen. Er hat explizit Wagen 305 verlangt. Ich habe ihm gesagt, dass du Feierabend hast, aber er hat darauf bestanden, dass du das übernimmst.«
»Wie heißt er?«
»Baschtir.«
»Und wo soll ich ihn abholen?«
»Neuer Pferdemarkt. Vor der Disco.«
»Okay.«
Bevor Birthe noch etwas sagen konnte, beendete Ali das Gespräch.
Sie waren zu sechst, immer ein Mann und eine Frau pro Fahrzeug. Maxwell trug seine übliche Jeans-Uniform. Schwarze Hose, schwarzes Hemd. Letzteres saß nicht mehr so eng an Brust und Oberarmen, wie es vorletzten Sommer noch der Fall gewesen war, dafür spannte die Hose am Bauch. Er musste sich einen privaten Trainingsplan erstellen, jetzt, wo er nicht mehr regelmäßig mindestens vier Stunden am Tag dienstlich trainieren konnte.
Die Temperatur im Dienstwagen betrug weit über vierzig Grad. Eigentlich war Maxwell Hitze lieber als Kälte. Allerdings die trockene Wärme südlicher Länder, nicht die klebrige Schwüle, die ihn nun wie eine zweite Haut umschloss.
»Bist du dir sicher, dass es sinnvoll ist, bei dem Wetter Bordelle zu überprüfen? Wer geht denn bei vierunddreißig Grad zu einer Nutte?« Er sah die Kollegin, der er zugeteilt worden war, fragend an.
»Manche Etablissements sind klimatisiert. Außerdem wollen wir ja auch nicht die Freier kontrollieren.« Sandras Hand tastete nach dem Türgriff. »Der Ablauf ist klar?«
Maxwell nickte.
»Dann nichts wie raus aus dieser Sauna.«
Ein Beamter sicherte die Vorderseite des Gebäudes, einer die Rückseite. Die anderen klingelten und warteten, bis ihnen Zutritt gewährt wurde. Sandra folgte der Betreiberin ins Büro, um sich den aktuellen Belegungsplan geben zu lassen, die anderen Polizeibeamten streiften durch die Etage und sahen nach, wer sich dort befand, verlangten Ausweise, notierten Namen. Alles Routine.
Eine Zimmertür war zu. Maxwell rief Polizei und ging hinein. Auf dem Bett lag ein nackter Mann. Geschlossene Augen, wollüstiger Gesichtsausdruck. Eine Hand ruhte auf dem Kopf der Frau, die ihn mit dem Mund befriedigte. Einen Moment später blickte sie auf und Maxwell zuckte zusammen, als habe ihm jemand einen Elektroschock versetzt.
Große, weit aufgerissene Kinderaugen starrten ihn an. Mit drei Schritten war er neben dem Bett. Das Kind schrie auf und hielt sich in einer Geste, die seine Schutzlosigkeit nur noch grotesk verdeutlichte, die dünnen Arme und die kleinen Hände vor die kaum ausgebildeten Brüste. In einer fließenden Bewegung riss Maxwell den Freier von dem Mädchen weg. Der Schwung katapultierte ihn durch den Raum. Er war von dem plötzlichen Angriff viel zu überrascht, um sich zu wehren. Sein Körper prallte gegen den Schrank, der Kopf schlug gegen das Holz, Blut schoss ihm aus der Nase. Maxwell packte das linke Handgelenk und drehte ihm den Arm auf den Rücken. Ein Schmerzensschrei.
»Hee, lass ihn los!«
Maxwells Kopf fuhr herum. Die Kleine kniete nicht mehr schüchtern auf dem Bett, sondern hatte sich drohend vor ihm aufgebaut. Er zögerte einen Sekundenbruchteil, dann machte er einen Schritt zur Seite. Der Mann wagte nicht, sich zu rühren. Maxwell ergriff das Handtuch, das die Bettwäsche vor Spermaflecken schützen sollte und wollte es dem Mädchen geben, damit es sich bedecken konnte. Aber anstatt danach zu greifen, ging es zu einem Stuhl und schlüpfte in einen Bademantel, der darauf lag. Von dem Lärm aufgeschreckt, stürzte Maxwells Kollegin ins Zimmer.
»Was ist los?«
»Der Scheißkerl hat sich gerade von dem Kind befriedigen lassen, als ich hereingekommen bin.«
»Hat er dich angegriffen?« Sandra hatte die blutende Nase des Freiers entdeckt.
»Zu viel Schwung.«
»Verdammt!« Kaum mehr als ein Murmeln. Sie straffte die Schultern. »Ich übernehme das hier. Es ist besser, wenn du draußen wartest.«
Maxwell blieb wie angewurzelt stehen. Sandra warf ihm einen eindringlichen Blick zu. Schließlich fasste sie ihn am Arm und schob ihn mit sanfter Gewalt aus dem Zimmer.
»Ziehen Sie sich bitte an«, sagte sie an den Freier gewandt, der sich noch immer nicht zu rühren wagte.
Erst als sie die Tür von außen sorgfältig hinter sich geschlossen hatte, beugte sie sich zu Maxwell und flüsterte: »Bist du total verrückt? Du darfst den Mann nicht zusammenschlagen!«
»Habe ich auch nicht. Das war allenfalls eine etwas zu schwungvolle Festnahme.«
»Du bist nicht mehr beim SEK, Max. Du musst nicht mehr Angst und Schrecken bei den Leuten verbreiten. Wie willst du das rechtfertigen? Du kannst nicht einfach so jemanden ohne Grund festnehmen.«
»Ohne Grund?«Maxwell verschlug es fast die Sprache.
»Hast du den Ausweis von der Prostituierten überprüft?«
»Dazu war noch keine Zeit.«
»Das hättest du aber als Erstes tun sollen, dann –«
»Ich kann doch nicht in aller Ruhe nach dem Ausweis fragen, während er sich von einem Kind einen blasen lässt.«
»Die Frau ist Anfang zwanzig.«
»Was?!« Er starrte seine Kollegin ungläubig an.
Wie aufs Stichwort öffnete sich hinter ihnen die Tür. Maxwell musterte das Mädchen. Es war zwölf, höchstens dreizehn. Er schüttelte den Kopf. Dreizehnjährige sahen heutzutage anders aus. Wahrscheinlich war sie elf.
»Zeig mir mal deinen Ausweis.«
»Lass gut sein, Max. Ich kenne sie«, zischte Sandra ungehalten.
»Turner-Syndrom. Früher hätte man mich im Zirkus vorgeführt. Heute lässt sich damit richtig viel Geld verdienen.« Die Frau zwinkerte ihm jovial zu.
»Geh jetzt. Ich kümmere mich um den Mann«, murmelte Sandra.
»Und wer bezahlt mir meinen Verdienstausfall?«, motzte die Prostituierte. Sie spielte mit einer Haarsträhne, was bei einer voll entwickelten Frau lasziv hätte wirken können. In Verbindung mit ihrem Kinderkörper rief es bei Maxwell jedoch abgrundtiefe Abscheu hervor.
In zehn Minuten vom Volksparkstadion nach St. Pauli-Nord. Das schaffte man nur, wenn man es mit Verkehrsregeln nicht allzu genau nahm. Als Ali ankam, lag der Parkplatz der Diskothek verlassen da. Er hielt unmittelbar vor dem Gebäude, stieg die Stufen zum Eingang hinauf und probierte die Tür. Sie war unverschlossen.
»Hallo?«
Keine Antwort. Ali zögerte. Der dunkle Flur war nicht erleuchtet. Einmal allein in einer Disco. Der Traum eines jeden Jugendlichen. Je tiefer er in die leeren Räume vordrang, desto schneller lief er. Im großen Saal blieb er stehen. An einer der seitlichen Theken bemerkte er Licht. Eine Gestalt schälte sich aus dem Schatten. Turgay Baschtir.
»Gehört dir der Laden?« Unbefangen drehte sich Ali um die eigene Achse, den Blick an Decke und Wände geheftet, an denen sich nachts die Discokugeln spiegelten. Der Türke musterte ihn aufmerksam.
»Was wolltest du mit deinem Auftritt vorhin bezwecken?«
In Sekundenbruchteilen entschied Ali, sich nicht dumm zu stellen. Meral Gül hatte Turgay Baschtir offenbar berichtet, dass er um eine Terminverlegung für seinen angeblichen Urlaub ersucht hatte. Ali ging zum Tresen hinüber, zog einen der gepolsterten Barhocker zurück und setzte sich.
»Ich wollte sichergehen, dass es das Reisebüro, das Hotel und die ganze Reise wirklich gibt. Ich kenne dich nicht. Und im Gegensatz zu dir habe ich dich auch nicht ausspioniert. Ich weiß nur, dass du verdammt gut pokerst. Es ist mir scheißegal, wohin ich angeblich in den Urlaub fahre, um ein paar Kröten zu waschen, denn nichts anderes tue ich, wenn ich dein Geld auf mein Geschäftskonto einzahle und es anschließend an das Reisebüro überweise. Aber wenn ich schon eine Straftat begehe, dann muss ich sicher sein, dass ich es nicht mit einem Dilettanten zu tun habe.«
Ein amüsiertes Lächeln erschien auf Turgay Baschtirs Gesicht. »Ich hoffe, ich habe dich nicht enttäuscht?«
»Nicht soweit ich es nachprüfen konnte.«
»Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich deine Art mag.« Plötzlich lachte er, schüttelte den Kopf. Dann wurde er wieder ernst. »Wenn du einen Job für mich erledigst, kannst du dich darauf verlassen, dass alles wasserdicht ist.«
»Gut.«
Turgay Baschtir nahm seinen Aktenkoffer. »Gehen wir. Ich nehme an, du hast den Taxameter laufen lassen.«
Ali nickte.
»Ich muss in den Hagendeel, Lokstedt.«
»Was war das für ein merkwürdiger Anruf vorhin? Wieso hat der Mann explizit Wagen 305 verlangt? Woher wusste er, dass du Dienst hattest? Und wenn er sich schon von keinem anderen fahren lassen will, warum ruft er dich dann nicht gleich auf dem Handy an?«
Birthe war nicht dumm.
»Jetzt ist Feierabend«, überging Ali ihre Fragen jedoch. »Ich brauche das Auto erst wieder am Montagmittag. Du könntest also deinen Freund beknien, die Klimaanlage zu reparieren, während ich weg bin.«
»So gut wie du möchte ich es auch mal haben.«
»Dann musst du Chef werden.« Er sah sie mit seinem gewinnendsten Lächeln an. »Eine Wäsche könnte die Kiste übrigens auch vertragen.«
Anstelle einer Antwort warf sie eine leere Wasserflasche in seine Richtung. Er musste sich nicht einmal ducken, um ihr auszuweichen. Gut gelaunt schulterte er seine prall gefüllte Reisetasche. »Wir sehen uns am Montag. Schönes Wochenende.«
»Du mich auch«, murmelte Birthe leise.
Wenngleich die S-Bahn-Haltestelle Eidelstedt nur wenige Minuten vom Taxihof entfernt lag, hatte sich Ali eine Route nach Stellingen zurechtgelegt, die ihn vor allem durch kaum befahrene Straßen führte. Ein Stück des Weges war sogar nur für Fußgänger und Zweiradfahrer freigegeben. So ließ sich leicht feststellen, ob ihm jemand folgte. Dennoch rannte er die Treppe zum Bahnsteig erst hinauf, nachdem der Zug bereits eingefahren war. Als er in den Wagen sprang, ertönte das Warnsignal. Die Türen schlossen sich. Ein rascher Blick zurück: Nach ihm hatte niemand den Bahnsteig betreten.
Während er in der Bahn saß, nahm er die SIM-Karte aus seinem Handy, wickelte beides in eine kleine Plastiktüte und verstaute sie in einem Seitenfach seines Gepäcks. Dieses Wochenende gehörte ihm.
Obwohl es noch immer unerträglich heiß war, harrte Maxwell im Dienstwagen vor einem Döner-Imbiss aus. Plötzlich knackte das Funkgerät, mehrere Streifenwagenbesatzungen wurden gerufen. Maxwells Aufmerksamkeit stieg. Sein Blick glitt zum Fenster: Sandra stand am Tresen und wartete auf ihr Essen. Der Beamte in der Einsatzzentrale nannte eine Grünanlage ganz in der Nähe. Eine Frau war überfallen und möglicherweise vergewaltigt worden, der Täter flüchtig.
Ein feines Bitzeln lief Maxwell vom Nacken aus die Wirbelsäule hinunter. Sein Jagdtrieb war geweckt. Schlagartig fühlte er sich in seine SEK-Zeit zurückversetzt, als er in den Nachtschichten mit einer Handvoll Männer durch die Stadt gefahren war und die Streifenkollegen bei kritischen Einsätzen unterstützt hatte. Schnell hin, für Ruhe sorgen, schnell wieder weg. Kein Papierkram. Er griff zum Funkgerät, identifizierte sich und sagte, dass sie sich in dem Stadtteil befänden. Dann drückte er auf die Hupe, bis Sandra aus dem Laden rannte.
»Wir haben einen Einsatz«, murmelte er knapp, als sie die Beifahrertür öffnete. Sie konnte gerade noch auf den Sitz rutschen, als er die Kupplung kommen ließ. Der Wagen machte einen Satz nach vorn, als sei er genauso begierig auf die vor ihnen liegende Aufgabe wie Maxwell.
Erst als er in die Straße einbog, die am Rand des Parks entlangführte, skizzierte er grob die Lage. Seine Blick schweifte über den Bürgersteig. Auf einmal sah er eine Frau in Sportkleidung, sie winkte. Er stoppte und war schon aus dem Auto, als ihm einfiel, dass er sich besser zurückhalten sollte, wenn es wirklich um ein Sexualdelikt ging. Er wartete, bis Sandra aufgeschlossen hatte und blieb dann immer einen Schritt hinter ihr.
Versteckt neben einem geparkten Minivan kauerte jemand auf dem Gehweg. Die Knie bis zum Kinn hochgezogen, die Arme um die Knie geschlungen. Eine junge Frau. Lange blonde Haare und streichholzdünne Beine. Je näher Maxwell kam, desto mehr Details erkannte er. Sie blutete. Im Gesicht, an den Händen, an den Beinen. Ihre Kleidung war zum Teil zerrissen. Er blieb in einigem Abstand stehen, überließ es Sandra, das Opfer anzusprechen, aber sie erzielte keine sichtbare Reaktion.
Maxwell wandte sich an die Joggerin. Er benötigte eine Täterbeschreibung. Die Frau war jedoch nur wenige Minuten zuvor vorbeigekommen, hatte die Verletzte bemerkt und die Polizei verständigt. Maxwell bat sie, nicht wegzugehen. Ihre Personalien mussten aufgenommen werden, die Kollegen von der Streife würden gleich da sein.
Maxwell drehte sich um. Sandra saß bei der jungen Frau und versuchte, ihr Vertrauen zu gewinnen. Er hörte Beteuerungen, alles käme in Ordnung, sie müsse keine Angst mehr haben, alles werde gut werden. Doch das Mädchen starrte mit hochgezogenen Schultern auf den Asphalt und sank immer weiter in sich zusammen. So ging es nicht. Sie brauchten Hinweise, wo und nach wem sie suchen mussten. Die Zeit lief ihnen davon. Die Martinshörner wurden lauter. Kurzentschlossen ging Maxwell zu den beiden, kniete sich auf den Boden.
»Ich bin Max. Ich brauche Ihre Hilfe«, stellte er sich vor. Er sprach mit ruhiger Stimme, nicht laut, aber eindringlich. So, wie er es bei all den verschüchterten Menschen getan hatte, mit denen er während seiner SEK-Zeit zu tun gehabt hatte, um zu ihnen durchzudringen. »Wir müssen nach dem Täter fahnden.«
Sandra sah ihn wütend an.
»Ein rascher Fahndungserfolg hilft dem Opfer mehr als einfühlsame Worte«, kam er ihrem Protest zuvor.
Auf einmal hob die junge Frau den Kopf. Die Wimperntusche hatte die Tränenspuren auf ihrem Gesicht schwarz gefärbt. Blanke Verzweiflung lag in ihren Augen. Maxwell erschrak. Sie war fast noch ein Kind. Das Zittern ihres schmalen Körpers verstärkte sich. Sofort begann Sandra wieder, leise Beruhigungen zu murmeln.
»Ist dir kalt?« Maxwell wusste aus eigener Erfahrung, dass zu viel nicht abgebautes Adrenalin zu Muskelzittern führte. Aber der kalte Schweiß konnte zu einer Unterkühlung führen. Auch bei dreißig Grad.
Das Mädchen nickte.
»Möchtest du dich in unser Auto setzen? Dort ist es warm.« Notfalls würde er die Heizung einschalten.
»Ich kann nicht aufstehen.« Es war nur ein Flüstern.
Ohne einen Sekundenbruchteil zu zögern, hob er ihren federleichten Körper hoch. Sandra protestierte, doch das kümmerte ihn nicht.
»Rettungsfolie!«, befahl er knapp.
Sandra verstand und holte den Verbandskasten aus dem Kofferraum. Neben dem Dienstwagen ließ er das Mädchen behutsam auf die Füße gleiten und drehte sich weg, während Sandra es in die goldfarbene Folie wickelte, die die zerrissene Kleidung, die Blöße bedeckte.
»Setz dich.« Er öffnete die Beifahrertür. »Soll ich die Heizung anstellen?«
»Ja, bitte.«
Er lief um das Auto herum, startete den Motor und schaltete das Gebläse auf volle Leistung.
»Besser?«
»Ein bisschen.«
Sandra beugte sich in den Wagen. Sie hielt eine Schwimmtasche in den Händen. Einer der Streifenbeamten hatte sie in der Nähe gefunden.
»Ist das deine?«
Das Mädchen reagierte nicht, starrte Maxwell an.
Sandra reichte ihm einen Schülerausweis. Anna Weber. Dreizehn Jahre. Nach geltendem Jugendschutz ein Kind.
»Anna, wir müssen dir ein paar Fragen stellen. Es geht leider nicht anders.«
Das Mädchen nickte. Maxwell erwartete, dass Sandra übernahm, aber sie blieb stumm. Maxwell räusperte sich.
»Was ist passiert, Anna?«
»Er hat mich ... vergewaltigt.« Sie sprach sehr leise. Maxwell musste sich zu ihr beugen, um sie zu verstehen.
»Eine Person?«
»Ja.«
»Wo?«
Sie zeigte vage aus dem Fenster. »Ich bin vom Freibad gekommen. Er hat mich ins Gebüsch gestoßen und festgehalten. Ich konnte nichts machen.« Sie schluchzte.
»Wie sah der Kerl aus?« Maxwell wollte ihr keine Zeit lassen, um über ihre Gefühle nachzudenken.
Sie zuckt mit den Schultern, zitterte wieder heftiger, wisperte: »Von hinten.«
»Wohin ist er geflüchtet?«
»Hab ich nicht gesehen.«
Alles nicht sonderlich hilfreich.
»Wir brauchen Spürhunde«, sagte er mehr zu sich selbst, als an Sandra gewandt. Er wollte aussteigen, aber in dem Moment schnellte die Hand des Mädchens vor, griff nach seinem Handgelenk, hielt ihn fest.
»Gehen Sie nicht weg.«
»Meine Kollegin kümmert sich um dich.«
»Bitte.« Sie sah ihn an. »Bleiben Sie hier.«
Anna sah noch immer ziemlich blass aus. Die Wunden, die das Unterholz, in das sie gestoßen worden war, in ihrem Gesicht hinterlassen hatte, traten dadurch deutlich hervor. Maxwell fühlte sich an die Narben auf seinem eigenen Schädel erinnert und hoffte, dem Mädchen bliebe es erspart, für immer optisch gezeichnet zu sein.
»Wie geht es dir?«
»Nicht so gut.« Kaum mehr als ein Flüstern.
Er suchte nach etwas Nettem, das er sagen konnte, aber ihm fiel nichts ein. Sein Repertoire an Plattitüden erstreckte sich auf Anmachsprüche für die Disco. Er räusperte sich.
»Du hast mir in deiner SMS geschrieben, dass dir noch etwas Wichtiges eingefallen ist?«
Sie nickte, sagte aber nichts. Maxwell sah sie ratlos an. Worauf wartete sie? Was musste er tun? Schließlich zog er sich einen Stuhl heran, nahm Platz und schwieg ebenfalls.
»Sie dürfen es aber nicht meinen Eltern verraten.«
Kein guter Anfang. Maxwell zog sich der Magen zusammen.
»Versprechen Sie’s?«
Maxwell wusste, dass er das keinesfalls tun durfte, tat es trotzdem.
»Ich glaube, es waren zwei Männer.« Wieder war es nur ein leises Murmeln.
»Was?!«, entfuhr es ihm. Gestern hatte sie doch behauptet, es wäre nur einer gewesen. Ein Gefühl der Hilflosigkeit überkam ihn. Sandra hätte das alles mit Sicherheit viel besser gekonnt als er. Warum hatte Anna nicht die Wahrheit gesagt? »Erzähl mir jetzt bitte ganz genau, was wirklich passiert ist.« Er hörte selbst den harten Unterton in seiner Stimme.
Sie sah ihn an, unsicher, fast ängstlich.
»Haben dich ein oder zwei Männer vergewaltigt?«
»Einer. Aber der zweite hat alles gefilmt.«
»Woran erinnerst du dich im Einzelnen?«
»Als er mich ins Gebüsch gestoßen hat, habe ich den Kopf zur Seite gedreht. Wegen den Ästen. Und da war plötzlich ein grelles Licht. Es hat mich geblendet. Ich habe nichts gesehen, aber es hat sich bewegt, mal kam es näher und dann war es wieder weiter weg.«
»Du meinst das Kameralicht von einem Handy?«
Sie nickte.
»War es die ganze Zeit über da?«
»Ich weiß nicht. Ich hab doch die Augen zugemacht.« Sie hielt inne. Offenbar war ihr etwas eingefallen. »Nachdem er sich auf mich gelegt hat und ... Als es plötzlich so weh getan hat, habe ich es noch mal gesehen. Erst war es weiter weg, aber dann kam es ganz nah an mein Gesicht.« Sie begann zu weinen. »Ich habe solche Angst, dass er das ins Internet stellt und es alle meine Freunde sehen können.«
Maxwell lief zum Stahlschrank, in dem er die Plattensammlung seiner Mutter und seine eigenen CDs aufbewahrte. Er griff hinein und holte wahllos eine heraus. Johnny Cash. Er legte die CD ein und ging wieder zum Schreibtisch. Seine Augen brannten. Er sollte sich endlich eine Lesebrille zulegen. Einziges Hindernis: seine Eitelkeit.
Seit er von seinem Besuch bei Anna zurück war, durchsuchte er das World Wide Web nach einem Video, das die Vergewaltigung einer dreizehnjährigen Nürnberger Schülerin zeigte. Aussichtslos. Er war sich nicht einmal sicher, ob Annas Angst begründet war oder nicht. Konnte jemand wirklich so unverschämt sein, diesen Film bei YouTube einzustellen? Oder musste er auf Sex-Portalen suchen? Es war unwahrscheinlich, dass sich Annas Klassenkameradinnen auf einschlägigen Pornoseiten herumtrieben. In den sozialen Netzwerken würden sie das Video wohl am ehesten entdecken. Aber wurde es dort nicht umgehend vom Betreiber gelöscht? Er verfügte über keinerlei Erfahrung mit derlei Dingen. Beim SEK hatte man ihm jahrelang Einsatztaktiken eingebläut, Zugriffe geübt, für sämtliche Eventualitäten ein gesondertes Vorgehen. Und trotzdem war stets Improvisieren gefragt. Nach seinem Wechsel hatte man ihn in ein Büro gesetzt, eine Akte auf den Schreibtisch gelegt und damit alleingelassen. Auch hier schien Improvisieren gefragt zu sein.
Draußen erklang das lang gezogene Quietschen einer Fahrradbremse. Maxwell lief zum Fenster und sah hinaus. Er hatte sich nicht getäuscht. Das Mountainbike, das jeden anderen Verkehrsteilnehmer das Fürchten lehrte, gehörte Mickey. War es schon so spät? Ein Blick auf die Uhr. Er hatte fünf Stunden lang am Computer gesessen. Kein Wunder, dass ihm die Augen wehtaten.
Mickey. Seit Maxwells endgültigem Weggang von der Spezialeinheit hatten sich fast alle privaten Kontakte zu den ehemaligen Kollegen verflüchtigt. Seinen Platz hatte ein jüngerer Beamter eingenommen. An den Wochenenden ging man kaum noch zusammen auf die Piste. Das lag vor allem an Maxwell selbst, doch das mochte er sich nicht eingestehen. Mickey war geblieben. Wie eine Klette am Hosenbein. Maxwell hatte dem zwanzig Jahre Jüngeren mehrfach klarzumachen versucht, dass er nicht aus falsch verstandenem Pflichtgefühl oder gar aus Mitleid seine Freizeit mit ihm verbringen musste. Aber Mickey hatte nur geantwortet, er solle mal versuchen, ihn davon abzuhalten.
Maxwell ging zur Tür und öffnete.
»Gut siehst du aus.«
Augenblicklich war Maxwell auf der Hut. »Wenn du darauf hinauswillst, dass ich langsam alt und fett werde, dann liegt das daran, dass ich mir den ganzen Tag den Hintern plattsitzen und Berichte schreiben muss.«
»Und ich dachte, du würdest jetzt Bordelle verunsichern.« Mickey grinste anzüglich.
»Wie meinst du das?« Maxwells Augen verengten sich zu Schlitzen.
»Was hast du angestellt?« Fast zehn gemeinsame Jahre im Einsatzkommando hatten Mickey gelehrt, Maxwells Reaktionen zu deuten.
»Nichts.«
»Das glaube ich dir nicht.«
Maxwell erzählte von dem Zwischenfall mit dem Freier. Dann wechselte er abrupt das Thema. »Ich habe mir übrigens überlegt, dass wir in Zukunft ins Fitnessstudio gehen könnten, anstatt uns die Birne zuzusaufen.«
»Damit du Susanne auch weiterhin imponierst?« Mickey legte den Kopf schief. »Wo ist sie eigentlich? Warum lässt sie dich an einem Samstagabend mit mir durch die Klubs ziehen?«
»Sie hat zum Glück Nachtdienst.«
»Zum Glück? Habt ihr Stress?«
»Nicht der Rede wert.«
»Wäre schade. Ihr passt so gut zueinander. Wenn eine Frau mit dir klarkommt, dann Susanne.«
Maxwell wünschte, Mickey würde seine Einschätzungen für sich behalten.
»Ich habe mir gestern das Freibad angesehen und mit einer der Schwimmmeisterinnen gesprochen.«
»Wieso überrascht mich das jetzt nicht?«, murmelte Sandra vernehmlich.
Ein paar Kolleginnen grinsten. Maxwell ignorierte sie.
»Ich denke nicht, dass wir Annas Besuch dort allzu große Bedeutung beimessen sollten. Die Schwimmmeisterin ist auf Zack. Wenn sich auf dem Gelände jemand auffällig verhalten oder die Kinder gefilmt hätte, wäre ihr das aufgefallen.«
»Die Frau muss aber verdammt gut aussehen.« Sandra verdrehte die Augen.
»Was soll das?«, fragte Maxwell verständnislos.
»Was du erzählst, ist testosterongesteuerter Bullshit. Bei diesen Temperaturen stellen die Freibäder gerade einen Besucherrekord nach dem anderen auf. Wir sprechen von mehreren Tausend Menschen – und wie vielen Mitarbeitern? Zehn? Fünfzehn? Die müssen froh sein, wenn ihnen keiner absäuft. Die bekommen nicht mit, was auf den Liegewiesen passiert.«