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Während sich Kommissariatsleiter Frank Hackenholt auf Anweisung seines Chefs einem fast verjährten Fall von Fahrerflucht widmen muss, wird in Moorenbrunn eine Bankfiliale überfallen und ein Polizeibeamter mit einem gezielten Schuss getötet. Die Ermittler rätseln, ob es sich um ein Zufallsopfer oder einen geplanten Mord handelt. Ein Zeuge meldet sich - er hat den sportlichen Bankräuber auf einem Fahrrad flüchten sehen und kann eine präzise Personenbeschreibung abgeben. Mit Schrecken wird Hackenholt klar, dass es sich um einen seiner Kollegen handelt. Ein Mörder aus den eigenen Reihen?
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Seitenzahl: 412
Schmerzhafte Wahrheit
– Hackenholts elfter Fall –
von
Stefanie Mohr
EBOOK
Stefanie Mohr, geboren 1972, liebt ihre Heimatstadt Nürnberg, in der sie (fast) jeden Winkel kennt. Sie wohnt und arbeitet als freiberufliche Autorin und Fotodesignerin im Nürnberger Norden. Nähere Informationen: www.stefanie-mohr.com
In dieser Reihe bereits erschienen: »Die vergessenen Schwestern«, »Das letzte Lächeln«, »Die dunkle Seite des Sommers«, »Frauentormauer«, »Glasscherbenviertel«, »Reichskleinodien«, »Tödliche Kristalle«, »Bombenstimmung«, »Tief im Brunnen«, »Südstadtblüten«und»Schmerzhafte Wahrheit«.
Während sich Kommissariatsleiter Frank Hackenholt auf Anweisung seines Chefs einem fast verjährten Fall von Fahrerflucht widmen muss, wird in Moorenbrunn eine Bankfiliale überfallen und ein Polizeibeamter mit einem gezielten Schuss getötet. Die Ermittler rätseln, ob es sich um ein Zufallsopfer oder einen geplanten Mord handelt. Ein Zeuge meldet sich - er hat den sportlichen Bankräuber auf einem Fahrrad flüchten sehen und kann eine präzise Personenbeschreibung abgeben. Mit Schrecken wird Hackenholt klar, dass es sich um einen seiner Kollegen handelt. Ein Mörder aus den eigenen Reihen?
+++HINWEIS:+++
Die Übersetzung der fränkischen Passagen befinden sich im Anhang und sind im Text mit Fußnoten gekennzeichnet. Klickt man auf die Ziffer, gelangt man direkt zur Übersetzung, klickt man dort erneut auf die Ziffer, gelangt man zurück an die Textstelle.
Copyright © Stefanie Mohr, 2018.
All Rights Reserved - Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto und -gestaltung: Stefanie Mohr
Verlag: Edition Gelbes Sofa, Inh.Stefanie Mohr, Nordring 125, 90409 Nürnberg
Originalausgabe
Für
Julia & Manuel Weigelt
A person who has not done one half his day's work by ten o'clock,runs a chance of leaving the other half undone.
Emily Brontë, »Wuthering Heights«
Sophie Hackenholt stand am Fenster und sah in den Garten. Nebel lag feucht und schwer in der Luft, umhüllte die obersten Äste des Flieders und einen Teil des Straßenschilds. Die Astern taten ihr Möglichstes, um gegen das trostlose Novembergrau anzukämpfen. Doch ihre Strahlkraft war begrenzt. Und mit dem ersten Frost würden auch sie zu braunen Gebilden verschrumpeln. Wo war nur der Sommer geblieben? Und der Herbst mit seinen goldenen Tagen? Morgen wollte Sophie die Rosen anhäufeln und die Pötte der drei frei stehenden Rhododendren mit Luftpolsterfolie umwickeln, um das Wurzelwerk vor der Kälte zu schützen.
Das Ankleidezimmer mit der breiten, Licht spendenden Terrassentür hatte sich bereits am vergangenen Wochenende in ein Treibhaus verwandelt, als sie mit ihrem Mann die zwei empfindlichen Palmen an ihren Überwinterungsplatz gewuchtet hatte. Hackenholt machte sich stets über sie lustig, wenn sie darauf achtete, dass die Temperatur im Winter in dem Raum um die zehn Grad lag. Zu kalt, um sich länger als unbedingt nötig darin aufzuhalten. Aber gerade richtig für die Pflanzen.
Auf dem Gehweg blieb eine ältere Dame stehen und spannte umständlich ihren Regenschirm auf. Sophie sah zu der Blechbadewanne hinüber, die als Seerosenteich diente. Auf der Wasseroberfläche bildeten vereinzelte Tropfen kleine Kreise. Auf einmal hielt ein gelbes Postauto vor dem Haus. Der Fahrer sprang heraus, hob einen Karton von der Ladefläche und eilte durch den einsetzenden Regen in Richtung Gartentür. Einen Moment später klingelte es. Sophie war überrascht, denn sie erwartete keine Sendung. Ein Paket für die Nachbarin, das der Zusteller nicht in den vierten Stock tragen wollte? Wider Erwarten stand jedoch ihr Name auf dem Versandlabel. Stirnrunzelnd überflog sie die Absenderinformationen. Kochbuchverlag Köln. Sie zögerte einen Augenblick. Doch dann erinnerte sie sich, und sofort begann ihr Herz aufgeregt zu hüpfen.
Vor ein paar Wochen hatte sie im Wartezimmer ihrer Zahnärztin in einer Zeitschrift geblättert und war auf ein Gewinnspiel gestoßen. Gesucht wurden Deutschlands beste Rezepte für den Weihnachtsteller. Zu gewinnen gab es neben einer Traumreise und einem Wochenende mit einem Cabriolet eine teure Küchenmaschine. Und die hatte es Sophie schon immer angetan. Also fotografierte sie die Anzeige rasch ab, wälzte zu Hause ihre Sammlung und sandte das Lebkuchenrezept ihrer Großmutter ein.
Nun war ein großes Paket vom Verlag gekommen. Das konnte nur bedeuten: Sie hatte gewonnen! Voller Vorfreude trug sie die Schachtel ins Arbeitszimmer, kramte eine Schere aus dem Schreibtisch, schnitt das Paketband auf, klappte den Deckel zurück – und erstarrte. Aus dem Inneren blickten ihr Augen entgegen. Dutzende Augen von kleinen rosafarbenen Quietscheentchen.
»Ja, was ist denn ...?« Sophie guckte auf die Gummitiere. Sie hätte es sich denken können. Für das ersehnte Küchengerät war der Karton zu leicht gewesen. Offenbar hatte sie einen Trostpreis erhalten. »Euch werde ich noch mal das Geheimrezept meiner Oma anvertrauen!«
Kopfschüttelnd griff sie nach dem weißen Kuvert, das obenauf lag. Darin kam eine Glückwunschkarte zum Vorschein. Sophie überflog sie – und las den Text ein zweites Mal. Ihr Mund formte ein stummes »Oh!«. Sie hatte den Hauptgewinn abgeräumt. Eine vierzehntägige Reise für zwei Personen auf einem Kreuzfahrtschiff im Wert von über zehntausend Euro. Die Entchen waren nur illustres Beiwerk. Sophie begann hemmungslos zu lachen. Noch nie hatte sie etwas gewonnen. Wie auch? Sie nahm ja höchst selten an einem Gewinnspiel teil. Und jetzt das.
Während sie in Träumen von einem Luxusurlaub schwelgte, drang ein Quengeln aus dem hinteren Teil der Wohnung an ihr Ohr. Ronja war aufgewacht. Abrupt wurde Sophie ins Hier und Jetzt zurückgeholt. Mit Ronja zwei Wochen auf einem Schiff? Unmöglich. Wochenlang ohne sie? Ausgeschlossen. Und ihr Mann? Vierzehn Tage Urlaub irgendwo auf dem Meer, von wo aus er nicht heimlich in der Dienststelle anrufen und seinen Kollegen bei ihren Ermittlungen helfen konnte? Sophies Schultern sackten nach unten.
Ernüchtert faltete sie die Flügel des Kartons mit den Gummienten ineinander und schob ihn in die hinterste Ecke unter den Schreibtisch. Das Kuvert legte sie in eine Schublade. Die Küchenmaschine wäre ihr wesentlich lieber gewesen. Sie hielt inne. War das die Lösung? Sollte sie beim Kochbuchverlag anfragen, ob sie ihren Hauptgewinn gegen den dritten Preis eintauschen konnte?
In Windeseile holte sie Ronja aus ihrem Bettchen, lief zurück ins Arbeitszimmer, nahm die Glückwunschkarte aus der Schreibtischschublade und wählte die angegebene Nummer. Kaum hatte sich Sophie der Verlagsmitarbeiterin als Gewinnerin des Hauptpreises offenbart, wurde sie ausführlich beglückwünscht. Es war ihr daher äußerst peinlich, ihr Anliegen vorzubringen.
»Nein, das geht leider nicht«, antwortete die Dame am anderen Ende der Leitung auf einmal ziemlich schroff. »Sie haben die Kreuzfahrt gewonnen. Das lässt sich nicht ändern. Die anderen Gewinnerinnen wurden ebenfalls benachrichtigt.«
»Aber ich kann doch nicht mit einem Kleinkind auf ein Schiff«, argumentierte Sophie, wenngleich sie den Eindruck hatte, die Schlacht bereits verloren zu haben.
»Dann müssen Sie sich eben etwas einfallen lassen. Falls Sie die Reise nicht antreten, verfällt sie.« Die Tonlage besagte deutlich, für wie undankbar die Mitarbeiterin Sophie hielt.
Eine Entschuldigung murmelnd beendete sie das Gespräch.
»Und was machen wir jetzt, meine Süße?« Sie sah Ronja ratlos an. »Fahren wir zwei ohne Papa in den Urlaub? Oder sollen Papa und ich dich vierzehn Tage in Tante Christines Obhut geben?«
»Papa! Papa!«, rief Ronja begeistert.
»Der Papa soll auf dich aufpassen, während ich auf einem Schiff durch die Weltgeschichte tuckere?« Bei dem Gedanken kehrte Sophies Unbeschwertheit zurück. »Das will ich sehen. Euch zwei gebe ich keine vierundzwanzig Stunden.« Sie strich ihrem Töchterchen über den Kopf. »Nein, ich werde wohl Onkel Maurice fragen, ob er Tante Christine dieses Jahr ein besonders tolles Weihnachtsgeschenk machen möchte. Die beiden passen viel besser in Smoking und Abendkleid als deine Eltern.« Lächelnd erinnerte sie sich an ihren Hochzeitstag, an dem Maurice Puellen in einer eleganten Maßanfertigung aufgekreuzt war und damit Hackenholt fast die Show gestohlen hatte.
Erster Kriminalhauptkommissar Frank Hackenholt saß in seinem Büro und las ein Rundschreiben, als das Telefon klingelte. Sein Blick glitt zum Display. Oberstaatsanwalt Dr. Holm wollte ihn sprechen. Neugierig, welchem Umstand er den Anruf zu verdanken hatte, meldete er sich. In ungewohnter Ausführlichkeit berichtete der Anklagevertreter von einem Betrugsprozess am Landgericht, von dem Hackenholt in der Zeitung gelesen hatte.
»Bei dem Hauptbelastungszeugen handelt es sich um einen ehemaligen Gebrauchtwagenhändler, der in der JVA Bayreuth einsitzt und kurzzeitig wegen dem Prozess nach Nürnberg verlegt wurde. Mit seiner Aussage steht und fällt die Anklage. Ihre Kollegen vom zuständigen Fachkommissariat haben die Angaben im Vorfeld natürlich minutiös überprüft. Er scheint ein glaubwürdiger Zeuge zu sein.«
Hackenholt runzelte die Stirn und fragte sich, warum Dr. Holm ihm all das erzählte. Hatte er Redebedarf und keiner seiner Mitarbeiter ein offenes Ohr?
»Heute Vormittag hat er mich vor Sitzungsbeginn angesprochen und behauptet, er könne auch in einem anderen Fall Licht ins Dunkel bringen«, fuhr der Oberstaatsanwalt jedoch in dem Moment fort.
»Ach ja?« Hackenholts Aufmerksamkeit stieg.
»Vor fast fünf Jahren, in der Nacht vom 11. auf den 12. Dezember 2012, wurde auf der Staatsstraße zwischen Kornburg und Katzwang ein sechzehnjähriger Junge totgefahren. Fahrerflucht. Erinnern Sie sich?«
»Nein, das fällt in den Aufgabenbereich der Verkehrspolizei. Damit habe ich –«
»Das weiß ich doch«, unterbrach ihn Dr. Holm. »Ich dachte nur, Sie hätten davon gehört. Der Vorfall ging seinerzeit groß durch die Presse.«
»Tut mir leid.«
»Na, ist ja egal. Jedenfalls hat der Zeuge angegeben, er könne in dieser Angelegenheit ebenfalls zur Aufklärung beitragen. Und deshalb möchte er mit Ihnen sprechen.«
»Aber ich bin doch gar nicht für Verkehrssachen zuständig«, protestierte Hackenholt.
»Das habe ich ihm erklärt. Er besteht jedoch explizit auf einem Gespräch mit Ihnen. Sonst sagt er nichts.«
Hackenholt wollte erwidern, dass er es dann eben bleiben lassen solle, als Dr. Holm weitersprach.
»Natürlich dürfen wir nicht nach der Pfeife eines Strafgefangenen tanzen. In Anbetracht der Gesamtumstände wäre es aus meiner Sicht allerdings lediglich ein kleines Zugeständnis. Uns sitzt die Verjährungsfrist im Nacken. Wenn wir den Täter nicht bald finden, bleibt der Tod des Teenagers ungesühnt. Tun Sie mir den Gefallen und reden Sie mit dem Mann. Ich habe schon mit Ihrem Vorgesetzten gesprochen. Der Abschnittsleiter Kriminalpolizei weist Ihnen den Fall bis auf Weiteres offiziell zu.«
Damit konnte sich Hackenholt nicht länger sträuben. »Wie heißt der Häftling?«, erkundigte er sich resigniert.
»Bertram Gundel. Ich gebe den Kollegen von der JVA gleich Bescheid, dass Sie vorbeischauen. Passt es Ihnen um fünfzehn Uhr?«
»Heute?«, fragte Hackenholt perplex.
»Herr Gundel wird übermorgen nach Bayreuth zurückverlegt. Es besteht also ein gewisser Zeitdruck. Außerdem geht es zunächst ja nur um einen allerersten Kontakt. Ich möchte sein Vertrauen in die Ermittlungsbehörden festigen.«
Mit einem Seufzen blickte Hackenholt auf die Uhr. Kurz nach zwei. Es war absurd, in einer Sache, in der er sich nicht auskannte, aus dem Stand heraus einen Zeugen zu befragen. Andererseits mochte er Dr. Holm nicht hängen lassen. Zumindest ein informatorisches Gespräch konnte er mit dem Mann führen.
»Einverstanden. Ich versuche, nachher noch in der Haftanstalt vorbeizuschauen. Kennen Sie den Namen des Opfers?«
»Lennart Höß.«
»Und wann war der Unfall?«
»Dezember 2012, auf der Staatsstraße 2407 zwischen Kornburg und Katzwang.« Dr. Holm nannte ihm das Aktenzeichen.
Nachdem Hackenholt das Telefonat beendet hatte, wandte er sich seinem Computer zu. Einen Augenblick später hatte er den Vorgang auf dem Bildschirm. Erneut griff er zum Telefonhörer, um den Sachbearbeiter der Verkehrspolizei anzurufen. Es klingelte und klingelte, aber niemand hob ab. Hackenholt legte auf und wählte die Nummer des Geschäftszimmers.
»Ich hätte gerne Kollege Küffner gesprochen«, sagte er, als sich die dortige Beamtin meldete. »Unter seiner Durchwahl habe ich ihn nicht erwischt.«
»Kunststück. Kurt Küffner ist letztes Jahr in Pension gegangen.«
»Und wer ist jetzt für den Fall Lennart Höß zuständig?«
»Sagt mir nichts.«
»Der Jugendliche, der vor knapp fünf Jahren in der Nähe von Kornburg überfahren wurde.« Hackenholt nannte das polizeiliche Aktenzeichen. Am anderen Ende der Leitung klapperte eine Tastatur.
»Ah, einer von den ungeklärten Fällen. Die Akte liegt bei der Staatsanwaltschaft. Unsere Ermittlungen sind abgeschlossen, es sei denn, es ergeben sich neue Hinweise. Wer dann übernehmen würde, weiß ich nicht. Das entscheidet der Chef.«
Hackenholt beendete das Gespräch und wandte sich wieder seinem Bildschirm zu. Laut Kurztext, der allen Beamten zugänglich war, hatte eine Frau um kurz nach fünf Uhr morgens den Notruf gewählt, weil sie auf der Staatsstraße zwischen Kornburg und Katzwang eine auf der Straße liegende Person überrollt hatte. Bei der Obduktion stellte sich heraus, dass Lennart Höß zu dem Zeitpunkt bereits mehrere Stunden lang tot gewesen war. Todesursache war ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Der Fahrer des eigentlichen Unfallfahrzeugs hatte Unfallflucht begangen. Ein Abgleich der sichergestellten Spuren mit der zentralen Autolacksammlung ergab, dass es sich bei dem Wagen um einen roten Opel Astra handeln musste. Baujahr Februar 1998 bis Dezember 2009. Auf den Fahndungsaufruf hin meldete sich weder eine Privatperson, die ein solches Auto mit einem einschlägigen Schaden bemerkt hatte, noch eine Werkstatt. Daher klapperten die Beamten sämtliche Halter der in der Region gemeldeten und infrage kommenden Fahrzeug ab. Darüber hinaus baten sie im Rahmen der Rechtshilfe Kollegen aus dem nordbayerischen Raum, Fahrzeughalter in den Einzugsgebieten der jeweiligen Dienststellen aufzusuchen und zu überprüfen. Gebracht hatte die Aktion nichts. Ein Astra mit einem entsprechenden Unfallschaden wurde nirgendwo aufgefunden.
Und jetzt wollte ein inhaftierter Gebrauchtwagenhändler eine Aussage machen. Neugierig geworden schlüpfte Hackenholt in seine Jacke und gab Manfred Stellfeldt Bescheid, dass er eine Weile außer Haus sein werde.
Bertram Gundel war ein kräftig gebauter Mann Mitte vierzig. Nicht nur die typische mittelblaue Anstaltskleidung wies ihn als Häftling aus: Auf einem der Unterarme prangte ein unbeholfen wirkendes Tattoo, das ein nicht sonderlich versierter Mitgefangener bei einem früheren Gefängnisaufenthalt vor Jahren gestochen haben musste.
»Oberstaatsanwalt Dr. Holm bat mich, Sie zu einem Unfall auf der Staatsstraße 2407 vor knapp fünf Jahren zu befragen. Es hieß, Sie könnten Angaben zum Täter machen?«
Bertram Gundel nickte.
»Bevor wir uns dem Sachverhalt widmen, hätte ich gerne gewusst, warum Sie auf einem Gespräch mit mir bestanden haben. Ich ermittle üblicherweise in Kapitalverbrechen.«
»Ich weiß.« Bertram Gundel hatte eine sonore Stimme, die ihm vor Gericht eine gewisse Souveränität verleihen mochte.
»Soll das heißen, hinter dem Delikt steckt mehr als ein Unfall mit Fahrerflucht?«
»Ich habe mich erkundigt, wem man hier in Nürnberg trauen kann. Dabei fiel Ihr Name.« Gundel zuckte mit den Schultern. »Ich wollte nicht an den Falschen geraten. Es gibt schließlich solche und solche Beamte.«
»So ein Blödsinn.« Hackenholt merkte, dass er den Mann nicht mochte, und fragte schroffer als beabsichtigt: »Was können Sie mir über das Geschehen auf der Staatsstraße sagen?«
»Nichts.«
Hackenholt starrte sein Gegenüber durchdringend an. Im Stillen zählte er bis zehn, dann machte er Anstalten zu gehen. Veralbern lassen würde er sich nicht einmal von einem Häftling, von dessen Aussage Dr. Holms gesamter Prozess abhing.
»Ich habe keinerlei Erkenntnisse hinsichtlich des Unfalls – so geschwollen drückt ihr Polizisten das doch aus, nicht wahr?«, spottete Gundel. »Aber ich kann euch was zu dem roten Opel Astra sagen, mit dem der Bub überfahren wurde.«
Widerwillig drehte sich Hackenholt um und kehrte zum Tisch zurück. Mit einer auffordernden Geste bedeutete er dem Mann weiterzusprechen.
»Kurz vor Weihnachten vor fünf Jahren kam ein Typ auf mein Firmengelände. Er behauptete, ein Bekannter hätte ihm geraten, sich an mich zu wenden. Angeblich war ihm ein Reh vors Auto gelaufen. Er wollte den Schaden nicht der Versicherung melden, weil er schon zweimal hochgestuft worden war. Reparieren lassen konnte er ihn aber auch nicht. Wir haben gefeilscht und uns auf siebenhundert Euro geeinigt. Ich dachte, ich müsste ein paar Teile austauschen und den Wagen neu lackieren, um ihn anschließend in den Osten weiterverkaufen zu können. Als er die Karre brachte, stand sie auf einem Hänger und war mit einer Plane gut gegen neugierige Blicke geschützt. Es war ein roter Opel Astra mit einem veritablen Frontschaden. Ein großer Haufen Schrott. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Auto zu zerlegen und in Einzelteilen zu verscherbeln. Zwei Monate später erhielt ich Besuch von einem Polizeibeamten. Er fragte, ob ich in letzter Zeit einen roten Opel Astra mit einem Frontschaden gesehen hätte. Mir ging ganz schön die Muffe, das kann ich Ihnen sagen.« Gundel grinste. »Ich nahm an, der Kerl hätte die Kiste bei seiner Versicherung als gestohlen gemeldet, wäre damit aufgeflogen und hätte mich verpfiffen. Aber dann erfuhr ich, dass es um einen Unfall mit Fahrerflucht ging. Da bekam ich natürlich gleich noch viel schlimmere Gewissensbisse. Leider konnte ich nicht sagen, was mit dem Wagen passiert war, ohne mich selbst reinzureiten. Er ist nämlich nicht in meinen Büchern aufgetaucht.«
»Zumindest dieses Problem sind Sie inzwischen zum Glück los«, entgegnete Hackenholt trocken.
»Deshalb habe ich Dr. Holm gesagt, dass ich gerne mit Ihnen sprechen möchte. Ich wollte mein Gewissen erleichtern.«
Hackenholt glaubte dem Mann kein Wort. Es ging wohl eher darum, schneller aus dem Knast zu kommen. »Wie hieß der Fahrzeughalter?«
»An den Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er ihn genannt hat.«
»Kennzeichen?«
»Waren keine mehr dran.«
»Wann und bei welcher Zulassungsbehörde haben Sie das Auto abgemeldet?«
»Darum wollte sich der Verkäufer kümmern.«
»Und wer war dieser Bekannte des Herrn, der Sie weiterempfohlen hat?«
»Weiß ich nicht. Danach habe ich nicht gefragt.«
»Was für ein Spiel soll das werden? Es gibt nichts, dem wir nachgehen können. Sie verschwenden meine Zeit!« Hackenholt sah Gundel wütend an. »Wieso sollte es sich bei dem Astra überhaupt um den gesuchten Unfallwagen handeln? Der Frontschaden kann wer weiß wovon stammen. Vielleicht war es tatsächlich ein Wildunfall.«
»Dann wäre der Kerl nicht zu mir gekommen. Es muss mehr dahinterstecken als ein umgenietetes Reh. Marke, Farbe, Alter des Fahrzeugs und der Zeitpunkt passen genau zu Ihrem Fall. Und mir war sofort klar, dass der Typ Dreck am Stecken hat. Niemand fährt einmal quer durch Oberfranken, nur um ein Auto loszuwerden, das er genauso gut jedem Gebrauchtwagenhändler in Nürnberg hätte verkaufen können.«
»Warum ausgerechnet hier?«
»Der Anhänger, auf dem der Wagen transportiert wurde, hatte ein Nürnberger Nummernschild. Außerdem sprach der Kerl einen hiesigen Dialekt. Ich achte auf solche Details, wenn der Verkäufer unerkannt bleiben will.«
»Auf Kleinigkeiten haben Sie also geachtet, aber die wichtigen Dinge haben Sie vergessen?«
»Noch mal: Der Astra kam ohne Kennzeichen. Und einen Fahrzeugbrief habe ich nie gesehen. Der Zettel, auf dem ich mir die Nummer des Anhängers notiert habe, ist an dem Tag im Reißwolf gelandet, an dem ich die Einzelteile des Astra an einen Afrikaner verscherbelt habe. Die weiß ich wirklich nicht mehr. Aber ich kann den Mann beschreiben, der den Wagen bei mir abgeliefert hat. Für ein Phantombild reicht es. Ihr könnt es veröffentlichen und die Bevölkerung um Mithilfe bitten. Das macht ihr doch ständig. Dann habt ihr euren Täter, denn der Kerl war sicher auch der Fahrer.«
Als Hackenholt die JVA verließ, begann es zu dämmern. Er sah auf die Uhr. Es war erst kurz nach vier.
»Verdammte Zeitumstellung!«
Wie jedes Jahr hatte Hackenholt Adaptionsprobleme. Er mochte es nicht, wenn es so früh dunkel wurde. Warum konnte man nicht die Winterzeit komplett abschaffen? Missmutig zückte er sein Handy.
»Müller-Kolokowski, Apparat Dr. Holm«, meldete sich die unangenehm schrille Stimme von dessen Vertreterin.
Reflexartig hielt Hackenholt das Telefon ein Stück vom Ohr weg.
»Halloooooo?«
»Ich ... äh ... Entschuldigung. Falsche Nummer.« Rasch legte er auf und steckte das Handy weg. Wenn Dr. Holm nicht im Büro war, konnte er sich einen kurzfristigen Besuch in der nahe gelegenen Staatsanwaltschaft sparen.
Im Kommissariat empfing ihn Manfred Stellfeldt mit der Mitteilung, dass Passanten am Zentralen Omnibusbahnhof eine Leiche gefunden hatten.
»Fremdbeteiligung?«, hakte Hackenholt automatisch nach.
»Die Meldung kam erst vor einer halben Stunde herein. Saskia Baumann und Martin Groß sind hingefahren. Wahrscheinlich ein Junkie. Am helllichten Nachmittag wird auf offener Straße nur selten ein Mord verübt. Zumindest in Nürnberg.«
Hackenholt nickte, zögerte einen Moment, dann zog er sich einen Bürostuhl heran und setzte sich. In knappen Sätzen umriss er, womit Dr. Holm ihn beauftragt hatte und das mulmige Gefühl, das er in Bezug auf Bertram Gundel nicht loswurde.
»Warum sollte er dich ohne Not anlügen und sich solch eine Geschichte ausdenken?«, versuchte Stellfeldt, Hackenholts Bedenken zu zerstreuen.
»Er könnte sich wichtigmachen wollen.«
»Das halte ich für unwahrscheinlich, denn der Schuss kann gehörig nach hinten losgehen. Immerhin stehen durch seine Aussage diverse mögliche Straftaten zu seinen Lasten im Raum. Wieso sollte er sich freiwillig selbst belasten? Außerdem scheint Dr. Holm ihn als glaubwürdig einzuschätzen.« Stellfeldts Handy klingelte. Die Nummer von Martin Groß erschien im Display. Der Ermittler nahm den Anruf entgegen und schaltete auf Lautsprecher, damit Hackenholt mithören konnte.
»Der Tote hier am ZOB heißt Florian Taube. Er ist dreiunddreißig Jahre alt und ohne festen Wohnsitz. Auf den ersten Blick weist er keine Spuren von äußerer Gewalteinwirkung auf.«
»Hatte er ein Drogenbesteck bei sich?«
»Wir haben in seiner Tasche ein Tütchen gefunden, das möglicherweise Reste einer Kräutermischung enthält. Dr. Puellen denkt, Taube könnte an den Folgen des Konsums gestorben sein. Nach der Obduktion wissen wir mehr.«
»Alles klar«, brummte Stellfeldt. »Grüße an den Doc.«
»Ist schon wieder weg.«
»Auch gut. Ich versuche einstweilen herauszubekommen, ob der Tote Angehörige hat, die benachrichtigt werden müssen.«
Als Hackenholt nach Hause kam, hörte er bereits an der Wohnungstür Ronjas fröhliches Kinderlachen. Es drang aus dem Badezimmer – zusammen mit einer anderen ihm wohlbekannten Stimme. Dazwischen ertönte immer wieder das Quietschen einer Gummiente. Hackenholt zog seine Schuhe aus, hängte die Jacke in den Garderobenschrank und wollte Richtung Bad gehen, als ihm Sophie aus dem Esszimmer entgegenkam.
»Sitzt Ronja in der Wanne? Heute ist doch gar nicht ihr Badetag«, stellte er zur Begrüßung fest.
»Ihre selbst ernannte Patentante hat ihr ein ganz besonderes Geschenk mitgebracht. Da ließ es sich nicht vermeiden, den Badetag vorzuverlegen.«
»Was hat sich Christine jetzt wieder einfallen lassen? Hoffentlich keine Wasserspritzpistole. Dafür ist Ronja noch viel zu klein.«
»Schau am besten selbst«, grinste Sophie.
Neugieriger als er zugegeben hätte, dass er war, ging er zum Badezimmer, öffnete die Tür – und blieb wie angewurzelt stehen. Seine Kollegin kniete vor der Wanne, in der Ronja mit Dutzenden rosafarbener Quietscheentchen saß. Ein bisschen erinnerte ihn die Szene an ein Foto, auf dem Tausende von Gummienten im Ozean schwimmend abgelichtet worden waren. Mit dem Unterschied, dass diese gelb und nicht zartrosa gewesen waren.
»Du Kindskopf!«, bedachte er Christine Mur mit einer gemurmelten Begrüßung und gab seinem Töchterchen einen Kuss. Ronja hielt in jeder Hand eine Ente und patschte damit rhythmisch auf das nur wenige Zentimeter tiefe Wasser. Es spritzte dennoch gehörig. »Woher hat Tante Christine denn so viele Entchen?«, fragte er in geheuchelt freudigem Tonfall.
»Maurice ist doch Mister Oberwichtig im Lions Club«, erwiderte Mur lapidar.
»Ja, und?« Hackenholt war keinen Deut schlauer.
»Die Herrschaften richten den Entencup auf der Pegnitz aus. Dieses Jahr mussten die Enten ausgetauscht werden. Und Maurice war offenbar für die Bestellung der neuen zuständig. Er erzählt von solchen Dingen ja kaum was. Gestern stand er jedenfalls mit einem Karton überzähliger Entchen da. Für Ronja.« Mur grinste vergnügt, griff sich eins der Gummitiere und drückte es kräftig zusammen. Ein lautes Quietschen ertönte. »Entchenangeln war zu meinen Kindergartenzeiten übrigens der Renner bei Geburtstagen.«
Auf einmal schrillte die Türklingel. Ronja fuhr herum.
»Endlich! Das ist sicher der kleine dicke Onkel.«
»Keine diskriminierenden Äußerungen vor meinem Kind!«, warnte Hackenholt.
»Aber es stimmt. Ich habe ihn am Wochenende dabei überrascht, als er versucht hat, sich in seinen Smoking zu quetschen. Keine Chance«, kicherte Mur.
Nach der Morgenlage-Besprechung griff Hackenholt zum Telefon und versuchte, Dr. Holm zu erreichen. Diesmal hatte er mehr Glück als am vorherigen Spätnachmittag. Der Oberstaatsanwalt meldete sich noch während des ersten Klingelzeichens. Hackenholt gab ihm eine Zusammenfassung seines Gesprächs mit Bertram Gundel und fragte, ob sie wirklich so überstürzt ein Phantombild erstellen lassen sollten.
»Wir dürfen nichts unversucht lassen. Das sind wir der Familie und auch dem Opfer selbst schuldig«, wischte Dr. Holm Hackenholts Bedenken beiseite. »Wir ziehen das heute durch. Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald absehbar ist, wann Herr Gundel aus dem Zeugenstand entlassen wird. Danach steht er ganz zu Ihrer Verfügung.«
»Ich werde ihn aus der JVA abholen lassen«, bestätigte Hackenholt. »Was ist mit den Angehörigen des Jungen? Jemand muss die Eltern informieren, dass wir in der Sache noch einmal an die Öffentlichkeit gehen und nach einem wichtigen Zeugen fahnden. Das dürfen sie nicht aus der Zeitung erfahren.«
»Richtig. Die müssen Sie natürlich unterrichten. Sagen Sie aber bitte nichts, was ihre Hoffnungen zu sehr aufkeimen lässt. Einfach die nackten Fakten. Die Ermittlungsakte wurde gestern bereits versandfertig gemacht. Der Kurier sollte sie Ihnen im Laufe des Tages bringen.«
Als Hackenholt gegen zehn Uhr die Stimme von Martin Groß aus dem gegenüberliegenden Büro schallen hörte, ging er hinüber.
»Was ist bei der Obduktion des mutmaßlichen Giftlers vom ZOB herausgekommen?«
»Die Todesursache ist weiterhin unklar. Zwar gab es einige organische Auffälligkeiten, die auf einen jahrelangen Drogenmissbrauch hinweisen, aber ursächlich für den Tod waren sie nicht. Frische Einstichstellen gab es ebenfalls keine. Dennoch spricht vieles dafür, dass Florian Taube das sechsundzwanzigste Nürnberger Drogenopfer ist. Zum einen, weil er in einem Methadonprogramm war. Zum anderen soll er in letzter Zeit alles, was er konsumierte, geraucht haben – um keine verräterischen Spuren am Körper zu hinterlassen, die seine Teilnahme an eben jenem Programm gefährdet hätten. Wir müssen das chemisch-toxikologische Gutachten abwarten.«
Hackenholt nickte.
»Der Erkennungsdienst hat auf dem Tütchen, in dem sich die restliche Kräutermischung befand, einen Fingerabdruck gesichert. Er stammt nicht vom Opfer und taucht auch sonst in keiner Datenbank auf. Ich möchte mich daher in Taubes Umfeld umhören. Vielleicht lässt sich ermitteln, von wem er die Drogen gekauft hat.«
Hackenholt nickte erneut und wollte sich abwenden, als Martin Groß fortfuhr.
»Da ist noch was anderes, Frank. Ich brauche am Freitag einen Tag Urlaub.«
Hackenholt zögerte einen Augenblick. Ralph Wünnenberg war die gesamte Woche auf Fortbildung in Ainring. Und in den anderen zwei Mordkommissionen hatte die Grippe einige Kollegen flachgelegt. Trotzdem, einen Tag sollten sie ohne Martin Groß klarkommen.
»Leg mir deinen Urlaubsantrag auf den Schreibtisch«, bat Hackenholt. Im Hintergrund begann ein Telefon zu klingeln. Schnellen Schritts lief er in sein Büro zurück.
»Gut, dass ich dich erreiche«, begrüßte ihn Clemens Kandt, der Leiter der Verkehrspolizei. »Kannst du mir verraten, wie aus einer fahrlässigen Tötung auf einmal ein Mord geworden ist? Haben die Eltern des Jungen dem Herrn Oberstaatsanwalt diesen Floh ins Ohr gesetzt, um die drohende Verjährungsfrist zu umgehen? Seit dem Unfall haben sie mich immer wieder gedrängt, etwas zu unternehmen und weitere Ermittlungen anzustellen, obwohl es keinerlei neue Anhaltspunkte gab. Und das sag ich dir: Meine Leute sind akribisch jedem Hinweis nachgegangen. Monatelang haben wir überall nach dem Halter des Tatfahrzeugs gesucht. Über fünftausend Autos haben wir in Augenschein genommen. Nichtsdestotrotz haben uns die Eltern mit ihren aus der Luft gegriffenen Vorwürfen bombardiert.« Endlich musste der Kollege Atem schöpfen.
»Clemens, ich gebe dir vollkommen recht«, ergriff Hackenholt die sich ihm bietende Chance, dem Dienststellenleiter den Wind aus den Segeln zu nehmen. »Ich will dir nicht ins Handwerk pfuschen. Aber du weißt ja, wie es ist. Die Staatsanwaltschaft ...« Er ließ den Satz in der Schwebe, vor allem, weil er nicht wusste, wie er ihn beenden sollte.
»Wie immer«, knurrte Kandt. »Versteh mich bitte nicht falsch. Du hast meine volle Unterstützung. Wir müssen zusammenhalten, wenn die Herren Juristen versuchen, uns gegeneinander auszuspielen. Als ob wir einen Mord nicht von einer fahrlässigen Tötung unterscheiden könnten!«
»Ich werde mich auf jeden Fall dafür einsetzen, dass die Ermittlungen so schnell wie möglich an euch abgegeben werden«, versprach Hackenholt. »Ich bin ebenfalls der Meinung, dass die Sache bei uns in den falschen Händen ist.«
Gegen halb zwölf rief eine Angestellte der JVA Hackenholt an. Gundel war vom Gericht entlassen worden und stand für eine Befragung seitens der Polizei zur Verfügung. Sogleich informierte Hackenholt seinerseits die Spezialistin vom Erkennungsdienst und machte sich mit Martin Groß auf den Weg in die Haftanstalt. Gemeinsam brachten sie Gundel ins Präsidium am Jakobsplatz. Das Phantombild wurde erstellt. Hackenholt war überrascht, an wie viele Details sich der Mann nach annähernd fünf Jahren noch erinnern konnte.
Während Martin Groß und Manfred Stellfeldt Bertram Gundel nach der anschließenden Vernehmung ins Gefängnis zurückbegleiteten, ging Hackenholt in sein Büro. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich mehrere dicke Aktenordner. Es waren die angekündigten Ermittlungsakten im Fall Lennart Höß. Hackenholt überflog einige Seiten, aber die Unterlagen waren zu umfangreich, als dass er sie auf die Schnelle hätte durchlesen können. Er legte sie zur Seite und überprüfte, ob der Fahndungsaufruf und das soeben erstellte Phantombild im internen System gelistet wurden. Als Nächstes verständigte er die Pressestelle und überließ den Kollegen einen Infotext, in dem er den Zusammenhang zwischen der Unfallflucht aus dem Jahr 2012 und dem damaligen Fahrer eines roten Opel Astra mit Unfallschaden erläuterte, der nun mithilfe des Phantombilds gesucht wurde.
Hackenholt hoffte inständig, dass sich die Medien auf die Meldung stürzen würden. Je mehr Präsenz die Nachricht in der Presse erhielt, desto größer waren die Chancen, den Mann zu identifizieren. Und vielleicht konnte auch das Social-Media-Team des Polizeipräsidiums helfen, den Text zu pushen.
Danach ließ sich der Besuch bei den Eltern des getöteten Jungen allerdings nicht länger aufschieben. Einem Bauchgefühl folgend, bat Hackenholt Saskia Baumann, ihn zu begleiten. Sie hatte oftmals ein sehr feines Gespür für Menschen in Extremsituationen.
Die letzten Jahre waren an Lennarts Mutter Silvia Höß nicht spurlos vorübergegangen. Sie war nicht sonderlich groß, aber unnatürlich schlank. Vor allem die Wangen wirkten eingefallen und die Augen lagen tief in den Höhlen. Als Hackenholt sich und seine Kollegin vorstellte, wechselten sich auf ihrem Gesicht Überraschung, Hoffnung und Angst in schneller Folge ab.
»Haben Sie den Täter festgenommen?« Nervös knetete sie ihre Finger.
»Könnten wir hineingehen?«, schob Hackenholt die Antwort auf die Frage noch ein wenig hinaus.
Frau Höß trat von der Tür zurück, drehte sich abrupt um und geriet ins Straucheln. Sofort war Baumann bei ihr, fasste sie behutsam am Ellenbogen und führte sie in die Küche.
»Setzen Sie sich, Frau Höß«, bat Hackenholt. »Es gibt Neuigkeiten. Aber wir wissen im Moment noch nicht, wer Ihren Sohn überfahren hat.«
Silvia Höß ließ sich schwer auf einen Stuhl sinken, schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Abgrundtiefe Verzweiflung. Hackenholt sah sich in der Küche um. Auf einem Gestell neben der Spüle trocknete Geschirr. Er nahm ein Glas, füllte es mit Leitungswasser und stellte es auf den Tisch, während Baumann beruhigende Worte murmelte. Nach einer Weile wurden die Schluchzer leiser. Frau Höß griff nach einem Päckchen Taschentücher, wischte sich über die Augen und bat um Verzeihung.
1»Dringgns ern Schlugg«, antwortete Baumann mitfühlend.
Erst nachdem Frau Höß das Glas wieder abgestellt und Hackenholt ihre volle Aufmerksamkeit hatte, berichtete er von dem Zeugen, der sich gemeldet und Hinweise auf eine Person gegeben hatte, die damals einen beschädigten Opel Astra fuhr und ihn verschwinden lassen wollte.
»Im Augenblick können wir leider nicht einmal sagen, ob es sich bei dem Wagen tatsächlich um das Unfallfahrzeug handelt. Wir folgen dieser Spur jedoch mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln. Deshalb wird es einen öffentlichen Fahndungsaufruf geben. Halten Sie sich aber bitte immer vor Augen, dass der Fahrer möglicherweise gar nichts mit Lennarts Tod zu tun hat. Wir suchen ihn als Zeugen, nicht als Tatverdächtigen.« Hackenholt sprach eindringlich. Es war ihm wichtig, der Frau klarzumachen, was auf sie zukam. »Wahrscheinlich wird der Unfall in diesem Zusammenhang erneut durch die Presse gehen. Das muss für Sie sehr schmerzhaft sein. Für unsere Ermittlungen birgt es aber die Chance, dass sich weitere Personen melden, denen etwas aufgefallen ist.«
Silvia Höß nickte. »Ich bin so froh, dass Sie etwas unternehmen.« Wieder liefen ihr Tränen über die Wangen. »Die ganze Zeit habe ich Herrn Kandt von der Verkehrspolizei bekniet, noch einmal an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich habe sogar bei der Zeitung angerufen, aber stets wurde ich abgewimmelt.«
Hackenholt war von der Haltung der Mutter überrascht, bat sie aber noch einmal ganz ausdrücklich, ihre Hoffnungen zu zügeln. Erst als er den Eindruck hatte, dass sie sich keinen falschen Erwartungen hingab, fuhr er mit Saskia Baumann zurück ins Präsidium.
Sophie wartete bereits ungeduldig auf ihren Mann, als der wieder einmal erst kurz vor neunzehn Uhr nach Hause kam.
»Ronjas Abendbrei steht in der Mikrowelle. Anderthalb Minuten auf Stufe 3. Nicht länger, sonst wird er zu heiß. Danach nur noch wickeln, Zähne putzen, Schlafanzug anziehen und ab ins Bett.«
Hackenholt sah sie verwundert an. Er hatte den Kurs am Bildungszentrum vergessen, zu dem sie an diesem Abend gehen wollte. Rasch erinnerte sie ihn daran.
»Oh, ich müsste eigentlich ...« Sein Blick schweifte zu den Ermittlungsakten, die er mitgebracht hatte. »Kein Problem, das bekomme ich hin.«
»Das will ich meinen.« Sophie gab ihm einen Kuss und eilte davon.
Einen Moment lang sahen sich Ronja und Hackenholt bedröppelt an. Dann begann die Kleine von einer Sekunde auf die andere zu brüllen. Hackenholt rutschte das Herz in die Hose. Ronja war in letzter Zeit sehr auf ihre Mutter fixiert.
Er setzte seine Tochter auf den Boden und versuchte sie zu animieren, einen von ihm aus Holzklötzen gebauten Turm einzuwerfen. Etwas, das sie normalerweise gefühlt stundenlang und mit größtem Entzücken tat. Heute hatte er damit keinen Erfolg. Die Spieluhr fand sie genauso uninteressant wie ihr Lieblingsbilderbuch. Nach einer Weile wusste sich Hackenholt nicht mehr anders zu helfen und gab ihr sein Handy zum Spielen. Schlagartig kehrte das Lachen auf ihr Gesicht zurück.
Das Abendessen wurde ein langwieriges Vergnügen. Ronja bestand darauf, ihren Brei selbst zu löffeln. Schlussendlich landete mehr auf ihr und in der näheren Umgebung als in ihrem Mund. Hackenholt fragte sich, wie Sophie es hinbekam, dass das Kind bei ihr keine solchen Sperenzchen machte. Ihm blieb jedenfalls nichts anderes übrig, als Ronja danach zu baden, um ihr den Brei aus den Haaren zu waschen.
Zwar besserte sich Ronjas Laune mithilfe des Schaumwassers und der Entchen und sank auch während des ihr verhassten Abtrocknens nicht sofort wieder in den Keller. Doch sobald Hackenholt das Kinderzimmer betrat, um sie ins Bett zu legen, ging das Gebrüll von Neuem los.
Als Sophie kurz vor Mitternacht nach Hause kam, schlief Hackenholt tief und fest im Ehebett. Auf der zweiten Betthälfte lag eine aufgeklappte Lichtbildmappe. Zu seiner Linken stand Ronjas Reisebett, in dem sie übernachtete, wenn sie krank war und Sophie sie in ihrer Nähe haben wollte. Lächelnd trug Sophie ihre Tochter ins Kinderzimmer, dann legte sie die Akte beiseite und breitete eine Bettdecke über Hackenholt. Um ihn nicht zu wecken, schlich sie auf Zehenspitzen ins Badezimmer.
»Du wirst bei dem Wetter doch nicht mit dem Fahrrad in die Arbeit fahren wollen?« Sophie starrte Hackenholt entgeistert an.
»Wieso nicht?«
»Schatz, es regnet in Strömen. Außerdem ist es stockdunkel. Selbst wenn du dir ein blaues Blinklicht auf den Helm montierst, wird dich ein Autofahrer übersehen. Und das Chaos in der Küche ist nun wirklich kein ausreichender Grund, sich totfahren zu lassen.« Resolut nahm sie ihm seinen Friesennerz aus der Hand und hängte ihn wieder in den Garderobenschrank. »Tu mir den Gefallen und fahr mit dem Auto.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und hielt ihm auffordernd einen Regenschirm hin.
Im Polizeipräsidium angekommen parkte Hackenholt auf dem für ihn reservierten Stellplatz in der Tiefgarage. Anstatt auf direktem Weg ins Kommissariat zu gehen, machte er einen Abstecher zum Kriminaldauerdienst, um sich zu erkundigen, ob Hinweise hinsichtlich des veröffentlichten Phantombilds eingegangen waren. Aber der Dienstgruppenleiter schüttelte den Kopf.
»Ziemlich ungewöhnlich, nicht?«, fragte Hackenholt. »Normalerweise melden sich die ersten Zeugen doch in aller Herrgottsfrüh.«
»Die Sache liegt fünf Jahre zurück. Ich könnte dir nicht mit Sicherheit sagen, welche Automarke mein Nachbar damals gefahren hat.«
»Aber du würdest ihn auf dem Phantombild erkennen. Das wäre ein erster Schritt. Alles Weitere lässt sich anschließend ermitteln.«
Manfred Stellfeldt hatte im Geschäftszimmer bereits den Kaffeevollautomaten eingeschaltet. Hackenholt ließ sich einen Cappuccino heraus. Während Wünnenbergs Abwesenheit waren dessen Kaffeemaschine und seine exotischen Bohnen für die anderen tabu. Der Automat röchelte und verspritzte eine magere Schaumkrone.
In seinem Büro packte Hackenholt die Ermittlungsakte aus dem Rucksack und machte es sich gemütlich. Endlich hatte er die nötige Ruhe, sich in den Sachverhalt zu vertiefen.
Das erste Protokoll war eine Beschuldigtenvernehmung. Heike Büttner war der tödliche Unfall ursprünglich zur Last gelegt worden, bis das Obduktionsergebnis ihre Unschuld bewies. Am 12. Dezember 2012 war sie um kurz nach fünf Uhr in die Arbeit gefahren. Sie gab an, weder in Gedanken noch anderweitig abgelenkt gewesen zu sein, als wie aus dem Nichts etwas aus dem Nebel vor ihr auftauchte. Es lag auf der Fahrbahn. Sie dachte zunächst, es sei ein Tier oder ein großer Müllsack. Obwohl sie bremste und versuchte, dem Hindernis auszuweichen, touchierte sie es mit der rechten Fahrzeugfront. Es gab einen lauten Schlag, sie erschrak, verriss das Steuer, und der Wagen geriet ins Schlingern. Mit klopfendem Herzen kam sie halb auf der Gegenfahrbahn zum Stehen. Sie war fahrig, brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, dass sie einen Unfall gehabt hatte und den Warnblinker einschalten musste. Schließlich stieg sie aus und lief in der Dunkelheit zu dem Gegenstand zurück, den sie überrollt hatte. Eine Hand ragte aus dem Stoffknäuel. Dann sah sie einen Kopf. Als ihr klar wurde, dass es sich um einen Menschen handelte, wurde ihr schlecht. Ein Auto hielt, der Fahrer wollte nach dem Rechten sehen und leitete alles Erforderliche in die Wege.
Mit Temperaturen um die zehn Grad plus und dichtem Nebel herrschten an jenem Morgen eher herbstliche als winterliche Straßenverhältnisse. Einige Fotos in der Lichtbildmappe zeigten, dass die Sicht bei allenfalls fünfzig Metern lag und die Fahrbahn feucht war. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit betrug an der Stelle siebzig Stundenkilometer. Frau Büttner hatte angegeben, deutlich langsamer gefahren zu sein. Ob das stimmte, hätte ein hinzugezogener Gutachter berechnen sollen. Doch sobald feststand, dass sie einen leblosen Körper überfahren hatte, war der Auftrag des Sachverständigen abgeändert worden.
Als Nächstes war in die Ermittlungsakte das Protokoll einer Zeugenvernehmung abgeheftet worden. Ein von Katzwang kommender Lastwagenfahrer hatte Frau Büttners mitten auf der Straße stehenden Wagen bemerkt und ebenfalls angehalten. Gemeinsam mit dem anderen Zeugen sicherte er die Unfallstelle ab und kümmerte sich um die völlig aufgelöste Frau.
Es folgte der Obduktionsbericht. Die Sektion war von einem Arzt durchgeführt worden, den Hackenholt nur vom Sehen kannte. Lennart Höß war in der Nacht vom 11. auf den 12. Dezember 2012 zwischen zweiundzwanzig und zwei Uhr gestorben. Er musste gestanden haben, als ihn das Fahrzeug frontal gerammt und beide Schienbeine zertrümmert hatte. Verletzungen an der rechten Hand und Schulter legten nahe, dass er zunächst gegen die Windschutzscheibe des Autos und sodann in die Luft geschleudert worden war. Beim Aufprall auf den Asphalt zog er sich das schwere Schädel-Hirn-Trauma zu, das zum sofortigen Tod führte. Es fanden sich auch Anzeichen, dass die Leiche des Jungen in der Folgezeit mindestens zwei weitere Male überrollt wurde. Heike Büttner war nicht die Einzige gewesen, die nicht rechtzeitig bremsen konnte. Allerdings hatten die vorherigen Fahrer, im Gegensatz zu ihr, niemanden informiert.
Laut einer Aktennotiz des damaligen Sachbearbeiters der Verkehrspolizei gab es vor Ort zwei, womöglich sogar drei verschiedene Bremsspuren. Den tödlichen Unfall hatte ein roter Opel Astra verursacht. Das ließ sich durch Lackpartikel nachweisen, die der Rechtsmediziner am Schienbeinknochen sicherstellte und die im Labor mit gespeicherten Daten der zentralen Autolacksammlung abgeglichen wurden. Die Reihe mit der entsprechenden chemischen Farbzusammensetzung war von Februar 1998 bis Dezember 2009 gebaut worden.
Bevor Hackenholt weiterlesen konnte, riss ihn das Klingeln des Telefons aus seinen Gedanken. Der Kollege vom Kriminaldauerdienst teilte ihm mit, eine Frau habe angerufen. Sie sei gestern um zwölf Uhr vierunddreißig in einem Discounter in der Reutersbrunnenstraße einkaufen gewesen und behauptete nun, der mittels Phantombild gesuchte Mann habe vor ihr an der Kasse gestanden. Die Uhrzeit hatte sie auf dem Kassenbeleg nachgesehen.
Hackenholt fuhr selbst zum Supermarkt. An der Kasse stellte er sich dem Mitarbeiter vor und bat um ein Gespräch mit der Filialleitung. Der Kassierer murmelte daraufhin etwas in sein Headset. Kurze Zeit später erschien ein glatzköpfiger Mittdreißiger.
»Ich bin der stellvertretende Filialleiter. Der Chef hat heute frei. Worum geht’s?«
Hackenholt zog eine Kopie des Phantombilds aus der Jackentasche. »Kennen Sie diesen Herrn?«
Der Angestellte musterte den Ausdruck. »Das könnte ein Kunde sein. Ich bin mir aber nicht sicher.«
»Wir haben einen Hinweis erhalten. Der Mann soll gestern Mittag bei Ihnen eingekauft haben. Deshalb würde ich gerne Ihre Überwachungsvideos von dem fraglichen Zeitraum einsehen.«
Der Mitarbeiter nickte und führte Hackenholt zu einer Tür, hinter der sich die Personal- und Büroräume befanden.
»Wissen Sie eine ungefähre Uhrzeit?«
»Gegen halb eins.«
Der stellvertretende Filialleiter rief ein Programm auf. Um die Mittagszeit waren zwei Kassen geöffnet gewesen. Hackenholt wusste nicht, an welcher die Zeugin bedient worden war. Also musste er den Unbekannten in beiden Warteschlangen suchen. Schließlich entdeckte er ihn. Er wies tatsächlich eine große Ähnlichkeit mit dem Phantombild auf. Hackenholt beobachtete, wie er zwei Sandwichpakete und eine Flasche Apfelsaftschorle kaufte.
»Mist!«, ärgerte sich Hackenholt leise. Als ihn der Discountermitarbeiter fragend ansah, erklärte er: »Ein Barzahler. Hätte er eine Karte verwendet, könnten wir ihn identifizieren. Wird der Parkplatz videoüberwacht?« Er hoffte, das Kennzeichen des Fahrzeugs herauszubekommen, mit dem der Unbekannte gekommen war.
»Es gibt eine Kamera im Außenbereich. Sie zeichnet jedoch nur den Eingang und die Stellfläche für die Einkaufswagen auf.«
Sie sahen sich die Aufnahme dennoch an. Aber der Angestellte hatte recht. Für Hackenholts Zwecke war sie nicht zu gebrauchen.
Hackenholt schnitt eine Grimasse. »Kommt der Herr öfter zu Ihnen?«
»Ich habe ihn ein paarmal gesehen. Immer um die Mittagszeit.«
»Dann bleibt uns nur eine Möglichkeit: Sensibilisieren Sie Ihr Personal. Sobald er wieder da ist, rufen Sie die 110. Es wäre auch hilfreich, wenn Sie das Nummernschild seines Wagens notieren könnten, falls die Kollegen nicht schnell genug eintreffen.«
Der stellvertretende Filialleiter nickte.
»Eine andere Frage: Wie lange reichen Ihre Aufzeichnungen zurück?«
»Zwei Wochen.«
»Ich brauche eine Kopie. Vielleicht hat der Mann zuvor mal mit Karte bezahlt.«
»Hoffentlich haben Sie Zeit mitgebracht. Es wird eine Weile dauern, bis ich Ihnen diese riesige Datenmenge auf eine Wechselplatte gezogen habe.«
Hackenholt beobachtete missmutig den Balken auf dem Bildschirm, der anzeigte, dass noch weitere vierundzwanzig Prozent kopiert werden mussten, als Stellfeldt anrief.
»Hast du Lust, als Nächstes einen Ausflug nach Schwarzenbruck zu unternehmen?«
»Nein. Warum?«
»Wir haben einen neuen Hinweis erhalten. Eine Zeugin will den Gesuchten im dortigen Saunaklub gesehen haben.«
»Lass eine Streife von der PI Altdorf überprüfen, ob tatsächlich eine Ähnlichkeit mit dem Phantombild besteht. Falls ja, sollen sie die Videodateien sicherstellen und sich bei mir melden.«
Als Hackenholts Handy geraume Zeit später das nächste Mal piepte, erklomm er gerade die letzten Stufen zum Kommissariat. Der Anrufer war einer der beiden Streifenbeamten, die in das Etablissement in Schwarzenbruck gefahren waren.
»Wir haben uns die Aufnahmen der Überwachungskamera angesehen. Bei dem Mann könnte es sich um den Gesuchten handeln. Die Ähnlichkeit ist groß.«
»Schick mir bitte ein Foto von ihm aufs Handy. Gibt es Hinweise auf seine Identität?«
»Ich bezweifle, dass hier jemand seinen echten Namen preisgibt. Allerdings wird der hauseigene Parkplatz videoüberwacht. Wir haben das Kennzeichen des Fahrzeugs, mit dem er gekommen ist.«
»Habt ihr eine Halterabfrage gemacht?«
»Noch nicht. Kann ich aber sofort veranlassen.«
»Nicht nötig. Gib es mir einfach durch.«
»Ich sende dir ein Foto des Autos aufs Handy. Was sollen wir mit dem Videomaterial machen?«
»Zieh eine Kopie und lass sie mir schnellstmöglich zukommen«, bat Hackenholt. Er bog auf den Flur seiner Dienststelle ein. Kurz nachdem er aufgelegt hatte, piepte sein Handy erneut. Zwei Nachrichten. Sofort öffnete er die Bilder. Eins zeigte denselben Mann, den er auf den Überwachungsvideos des Discounters gesehen hatte. Das andere einen Mercedes A-Klasse. Mit großen Schritten eilte Hackenholt in Stellfeldts Büro.
»Was sagst du: Ist das der Gesuchte?«, fragte er den Kollegen anstelle einer Begrüßung.
Stellfeldt nahm ihm das Telefon aus der Hand und musterte das Foto. »Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Phantombild besteht.« Er hielt das Display so, dass Baumann es ebenfalls sehen konnte.
2»Des maan iech allerweil aa.«
»Mach mal bitte eine Halterabfrage.«
Stellfeldt zog die Tastatur seines Computers zu sich, und Hackenholt diktierte ihm das Kennzeichen. Einen Augenblick später war klar, dass der Wagen auf eine Kerstin Ulrich zugelassen war. Sie wohnte in der Schwanhardtstraße in Nürnberg. Unter derselben Adresse war auch ein Mathias Ulrich gemeldet.
»Willst du hinfahren?«
Hackenholt nickte und drehte sich zum Nachbarbüro um. Es war leer. »Wo ist Martin?«
»In einer Vernehmung. Es geht um den Toten vom ZOB. Martin hat tatsächlich einen Obdachlosen gefunden, der beobachtet haben will, dass eine Person Taube kurz vor seinem Tod ein Tütchen mit einer Kräutermischung gab.«
3»Iech kennddi begleidn«, schlug Baumann vor. »Iech hobb erwengerla Zeid.«
Familie Ulrich bewohnte eine Etagenwohnung im ersten Stock eines Sandsteinhauses. Hackenholt stellte sich und Baumann vor, dann konfrontierte er Kerstin Ulrich mit dem Phantombild.
»Kennen Sie diese Person?«
»Soll das Mathias sein?«
»Ich weiß nicht.« Hackenholt nahm sein Smartphone aus der Tasche und zeigte ihr das Foto aus dem Saunaklub und eins vom Besuch im Supermarkt. »Ist er das?«
»Ja.«
»Haben Sie oder jemand in Ihrem Umfeld vor fünf Jahren einen roten Opel Astra gefahren?«
Frau Ulrich schüttelte den Kopf.
»Wo ist Ihr Mann jetzt?«
»In der Arbeit. Er ist Abteilungsleiter in der JVA.«
»Das kann ja wohl nicht sein«, rief Hackenholt. Damit ließ sich zwar erklären, warum der vermeintlich Gesuchte des Öfteren mittags im Discounter in der Reutersbrunnenstraße einkaufte. Allerdings stieß sich Hackenholt daran, dass ausgerechnet ein Häftling den Hinweis auf ihn gegeben hatte. Und das, wo er Gundel anfänglich sowieso nicht getraut hatte.
»Rufen Sie Mathias an, wenn Sie mir nicht glauben!«, empörte sich Frau Ulrich, die Hackenholts Worte falsch verstanden hatte.
Mathias Ulrich holte die beiden Ermittler an der Pforte in der Mannertstraße ab und führte sie in sein Büro. Dort angekommen legte Hackenholt auch ihm das Phantombild vor. Ulrich verdrehte gequält die Augen.
»Meine Kollegen machen sich seit heute Morgen über mich lustig.«
»Dann sind Sie also die abgebildete Person?«
»Nein. Ich sehe ihr nur ähnlich. Ich kann nicht derjenige sein, den Sie suchen. Ich habe noch nie ein rotes Auto besessen – und schon gar keinen roten Opel.«
»Sie hätten sich trotzdem melden sollen. Uns wäre viel unnötige Arbeit erspart geblieben.« Hackenholt dachte an die Stunden, die er im Discounter verbracht hatte.
4»Wou wårnsnern in der Nachd vom 11. afn 12. Dezember 2012?« Baumann war nicht gewillt, so leicht aufzugeben.
»Das ist jetzt ein Witz, oder?« Mathias Ulrich sah die Beamtin scharf an. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Kein Mensch weiß, was er an einem x-beliebigen Abend vor fünf Jahren gemacht hat, wenn es nicht gerade sein Hochzeitstag oder so war.«
5»Homms ern aldn Kalender, wous Ihre Dermine aafgschriem homm? Odder homms erweng wos in die soziåln Nedzwerge bousded?«
Mathias Ulrich gab ein Grollen von sich, doch dann riss er sich sichtlich zusammen. »Ich werde am Wochenende mein Arbeitszimmer durchstöbern. Aber machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen. Ich bin mir sicher, dass ich den damaligen Kalender längst weggeworfen habe. Und auf Facebook und Co bin ich nicht vertreten.«
6»Vergessns fei ned, dass Ihr Fraa frång. Villeichd konnsersi an den Åmd erinnern. Odder däi Herrschaffdn in Saunaglubb.«
»Annähernd fünf Jahre nach einem Unfall mit Todesfolge entscheidet sich ein Strafgefangener plötzlich, einen Hinweis auf den Täter zu geben. Für das Phantombild beschreibt er eine Person, die einem Bediensteten der JVA täuschend ähnlich sieht.« Hackenholt sah Manfred Stellfeldt an. »Das kann kein Zufall sein. Gundel wollte Mathias Ulrich eins auswischen.«
»Warum sollte er das tun?«
»Weil er sich über ihn geärgert hat«, mutmaßte Hackenholt.
»Gundel war nur für die Dauer des Prozesses, in dem er ausgesagt hat, in Nürnberg. Womit sollte Ulrich ihn in der kurzen Zeit derart auf die Palme gebracht haben?« Stellfeldt schüttelte den Kopf. »Außerdem hat Dr. Holm Gundel als zuverlässigen Zeugen beschrieben. Und woher sollte er überhaupt von dem Tod des Jungen wissen, wenn es sich nicht so zugetragen hat, wie er es behauptet?«
»Lügen beruhen meistens auf einem Funken Wahrheit«, entgegnete Hackenholt. »Gundel könnte damals tatsächlich von den Kollegen aufgesucht worden sein, die nach dem roten Opel Astra gefahndet haben.«
»Oder Ulrich ist schlicht und ergreifend nicht der Gesuchte, sondern jemand, der ihm lediglich ähnlich sieht.«
7»Mier häddn ern Ulrich frång solln, obbs middn Gundl Brobleme geem hodd.«
Hackenholt nickte. »Das muss bis morgen früh warten. Jetzt gehe ich heim. Es ist nämlich schon wieder halb sechs.«
Er wollte im Blumenladen einen Strauß Rosen für Sophie besorgen. Wegen des Zustands, in dem er die Küche zurückgelassen hatte. Und weil sie das mit Ronja so gut hinbekam und neben ihrer Arbeit auch noch den Haushalt schmiss.
Im Stechschritt eilte er die Stufen des Treppenhauses hinunter, zog die Glastür auf und trat in den Regen. Mit einer Hand hielt er den Jackenkragen fest, damit ihm der böige Wind das Wasser nicht in den Ausschnitt drückte. Fünf große Schritte, und er erreichte die Tür zur Tiefgarage. Sein Auto stand im ersten Untergeschoss. Er warf seinen Rucksack auf den Beifahrersitz und stieg ein. Während er sich anschnallte und das Licht einschaltete, glitt sein Blick über das Armaturenbrett. Etwas irritierte ihn. Aber da war nichts. Kopfschüttelnd parkte er aus und fuhr zur Ausfahrt. Im selben Moment, in dem er die Garage verließ, begann der Regen auf den Wagen zu prasseln. Als er den Scheibenwischer betätigte, sah er es: Ein zusammengefaltetes Stück Papier steckte in bester Knöllchenmanier am Wischergestänge. Fluchend schnallte sich Hackenholt ab, öffnete die Tür und fischte den Zettel von der Windschutzscheibe.
Es war eine handschriftliche Nachricht. Doch anders als erwartet, witzelte kein Kollege darüber, dass er offenbar nur ein Schönwetterfahrradfahrer war. Noch einmal flogen Hackenholts Augen über den knappen Text.
Großartig, dass ihr die Ermittlungen im Fall Höß übernommen habt! Es kann keine fahrlässige Tötung gewesen sein. Davon war ich von Anfang an überzeugt. Aber Küffner, dieser sture Bock, wollte das nicht einsehen. Viel Glück bei euren Ermittlungen, schnappt den Mörder!