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Eigentlich wollte sich Kriminalhauptkommissar Frank Hackenholt in der Rehaklinik in Bad Bocklet von seiner Entführung erholen. Doch dann findet er in einem abgelegenen Waldstück einen Toten. Der junge Volontär eines Nürnberger Museums liegt erstochen auf der Ladefläche seines Transporters, und Hackenholt kehrt notgedrungen in den aktiven Dienst zurück. Kaum in Nürnberg angekommen, wird ein Werttransporter ausgeraubt. Erbeutet wird der zu den Reichskleinodien gehörende Reichsapfel, der nach einer Museumsausstellung wieder nach Wien zurückgebracht werden sollte.
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Seitenzahl: 394
Reichskleinodien
– Hackenholts sechster Fall –
von
Stefanie Mohr
EBOOK
Stefanie Mohr, geboren 1972, liebt ihre Heimatstadt Nürnberg, in der sie (fast) jeden Winkel kennt. Sie wohnt und arbeitet als freiberufliche Autorin und Fotodesignerin im Nürnberger Norden. Nähere Informationen: www.stefanie-mohr.com
In dieser Reihe bereits erschienen: »Die vergessenen Schwestern«, »Das letzte Lächeln«, »Die dunkle Seite des Sommers«, »Frauentormauer«, »Glasscherbenviertel«, »Reichskleinodien«, »Tödliche Kristalle«, »Bombenstimmung«, »Tief im Brunnen«, »Südstadtblüten«, »Schmerzhafte Wahrheit«und»Feuchtes Grab«.
Eigentlich wollte sich Kriminalhauptkommissar Frank Hackenholt in der Reha-Klinik in Bad Bocklet von seiner Entführung erholen. Doch dann findet er in einem abgelegenen Waldstück einen Toten. Der junge Volontär eines Nürnberger Museums liegt erstochen auf der Ladefläche seines Transporters, und Hackenholt kehrt notgedrungen in den aktiven Dienst zurück. Kaum in Nürnberg angekommen, wird ein Werttransporter ausgeraubt. Erbeutet wird der zu den Reichskleinodien gehörende Reichsapfel, der nach einer Museumsausstellung wieder nach Wien zurückgebracht werden sollte. Kommissar Hackenholt glaubt an einen Zusammenhang und ahnt doch nicht, wie recht er damit haben soll ...
+++HINWEIS:+++
Die Übersetzung der fränkischen Passagen befinden sich im Anhang und sind im Text mit Fußnoten gekennzeichnet. Klickt man auf die Ziffer, gelangt man direkt zur Übersetzung, klickt man dort erneut auf die Ziffer, gelangt man zurück an die Textstelle.
ISBN: 978-3-946035-26-8 (EPUB)
Copyright © Stefanie Mohr, 2022.
All Rights Reserved - Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto und -gestaltung: Stefanie Mohr
Verlag: Edition Gelbes Sofa, Inh.Stefanie Mohr, Nordring 125, 90409 Nürnberg
Für alle Exilfranken,
die in dem Krimi ein Stück Heimat wiederfinden
Kiss me again, but don’t let me see your eyes!
I forgive what you have done to me.
Emily Brontë, »Wuthering Heights«
Denken Sie bitte an den Vorfall, der Sie seit seinem Eintritt so stark belastet, und tragen Sie ein Stichwort ein, das ihn bestmöglich beschreibt:
____________________________________
Unschlüssig hielt Hackenholt den Kugelschreiber in der Hand und dachte nach. Sollte er wirklich »Entführung« in den Fragebogen schreiben? Missmutig schüttelte er den Kopf. »Dienstunfall« war neutraler, wenngleich es ein ebenso nichtssagender Ausdruck war.
Geben Sie im Folgenden jeweils an, wie Sie in der vergangenen Woche zu diesem Ereignis gestanden haben:
1. Es kam mir so vor, als ob es gar nicht geschehen wäre oder irgendwie unwirklich war.
überhaupt nicht – selten – manchmal – oft
2. Ich hatte Schwierigkeiten, nachts durchzuschlafen.
überhaupt nicht – selten – manchmal – oft
3. Ich versuchte, Erinnerungen daran aus dem Weg zu gehen.
überhaupt nicht – selten – manchmal – oft
4. Die Erinnerungen daran lösten bei mir körperliche Reaktionen aus (beispielsweise: Schwitzen, Atemnot, Unwohlsein, Herzrasen oder andere Symptome).
überhaupt nicht – selten – manchmal – oft
5. Bilder, die mit dem Ereignis zu tun hatten, kamen mir plötzlich in den Sinn.
überhaupt nicht – selten – manchmal – oft
Nachdem er alle fünfundzwanzig Fragen beantwortet und den Bogen in ein Kuvert gesteckt hatte, stand Hackenholt auf und gab es bei der Rezeptionistin am Empfang ab.
Er wusste, was das Ergebnis dieses Tests besagen würde: PTBS. Posttraumatische Belastungsstörungen. Deswegen war er ja nach Bad Bocklet gekommen, in eine Klinik für psychosomatische Beschwerden. Um sich endlich behandeln zu lassen, denn zu guter Letzt hatte er selbst erkannt, dass er so wie bisher nicht weitermachen konnte. Er hatte sein inneres Gleichgewicht verloren, war fahrig und gereizt. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, er konnte nicht einschlafen, und wenn er es doch schaffte, wachte er durch einen Alptraum auf.
Aber vor allem: Arbeiten war unmöglich. Sobald er auch nur daran dachte, wurde ihm ganz anders. Mehr als einmal hatte er versucht, seine Kollegen in der Dienststelle zu besuchen; allein und auch gemeinsam mit Sophie. Aber nie kam er weiter als bis zur Pforte, bevor ihm eine Eiseskälte von den Füßen her in die Glieder kroch, unaufhaltsam seinen Körper hinaufwanderte, ihm den Atem raubte und sein Herz zum Rasen brachte.
Das Beklemmungsgefühl in seiner Brust ließ ihn anfänglich glauben, er hätte einen Herzinfarkt erlitten. Minutenlang stand er Todesängste aus, doch das EKG im Krankenhaus war ohne Befund.
»Ich werde die Unterlagen sofort an Frau Dr. Schweiger weiterleiten«, riss ihn die Rezeptionistin aus seinen Grübeleien, »damit sie einen Blick darauf werfen kann, bevor Sie heute Nachmittag um vierzehn Uhr Ihren ersten Termin bei ihr haben werden. Bis dahin können Sie es sich in Ihrem Zimmer gemütlich machen und unsere Hausbroschüre durchblättern.« Sie reichte ihm ein Faltblatt und einen Zimmerschlüssel.
»Bevor wir ins Detail gehen, hätte ich eine Bitte«, eröffnete Frank Hackenholt anderthalb Stunden später das Gespräch mit Dr. Elisabeth Schweiger. »In den Klinikunterlagen habe ich von der Möglichkeit gelesen, den Lebenspartner in die Therapie miteinzubeziehen und ihn mitzubringen. Auf meine Nachfrage hieß es dann allerdings, das würde vor Ort entschieden. Ich möchte meine Frau gerne hier in meiner Nähe haben.«
»Diesen Wunsch äußern viele Patienten bei ihrer Ankunft«, antwortete die Ärztin mit einem beruhigenden Lächeln. »Wir haben jedoch die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, wenn unsere Gäste zunächst von ihrem üblichen Umfeld losgelöst interagieren können.«
»Das heißt konkret?«
»Sie haben sich entschieden, zu uns zu kommen, weil ein Erlebnis in Ihrem Leben Sie aus der Bahn geworfen hat. Um dieses Ereignis zu verarbeiten, ist es nötig, die Situation zu analysieren. Das kann Sie sehr aufwühlen, was zur Folge hat, dass Sie allein sein möchten, um in Ruhe nachzudenken. In solchen Momenten empfindet man die Anwesenheit eines Partners oftmals als beengend, sodass es unbewusst zu weiteren Spannungen kommt. Außerdem haben Sie selbst angegeben, sich seit dem traumatischen Ereignis verändert zu haben. Sie sind gereizter geworden«, formulierte die Psychiaterin ihre Antwort vorsichtig. »Unter Umständen ist es auch für Ihre Partnerin eine Entlastung, wenn Sie mal nicht vierundzwanzig Stunden am Tag zusammen sind.«
»Meine Frau ist im siebten Monat schwanger. Wir haben vor genau fünf Wochen geheiratet – ich glaube nicht, dass ich ihr jetzt schon auf die Nerven gehe.« Hackenholt merkte selbst, wie aggressiv er plötzlich klang. Früher wäre ihm das nicht passiert. Er schluckte. »Ich möchte Sophie und das Baby in meiner Nähe haben. Sie geben mir Halt.«
»Wie wäre es, wenn sich Ihre Frau zunächst einmal hier im Ort in einer kleinen Pension einmietet? Ich kenne eine ehemalige Physiotherapeutin, die in einem bezaubernden Häuschen am Waldrand wohnt und hin und wieder ein Zimmer vermietet. Auf diese Weise könnten Sie Ihre Partnerin täglich sehen und hätten gleichzeitig die Möglichkeit, sich nach den Therapien zurückzuziehen.« Sie legte den Kopf schief. »Lassen Sie es uns versuchen. Zumindest für die ersten zwei Wochen, dann sehen wir weiter.«
Hackenholt stieß einen Seufzer aus, nickte jedoch.
»Gut, ich werde das abklären und Ihnen schnellstmöglich Bescheid geben, wann Ihre Frau anreisen kann. Doch jetzt möchte ich Ihren Fragebogen mit Ihnen durchgehen. Sie haben einen Dienstunfall als traumatisches Ereignis angegeben. Was genau ist Ihnen widerfahren?«
»Ich bin Polizeibeamter und arbeite bei der Mordkommission. Anfang Dezember wurde ich durch einen fingierten Telefonanruf an eine einsame Stelle gelockt, wo mich drei Männer überfallen und verschleppt haben.«
Während er den Vorfall ausführlich schilderte, hielt er den Blick schuldbewusst auf seine im Schoß gefalteten Hände gesenkt. Es war ihm nach wie vor unangenehm, über das Erlebte zu sprechen, auch wenn er alles bereits mehrfach mit seinem Kollegen Manfred Stellfeldt und Oberstaatsanwalt Dr. Holm durchgegangen war. Die beiden Männer waren allerdings älter als er und hatten ihm mit ihrer väterlichen Art stets das Gefühl gegeben, sich in einer ausweglosen Situation befunden zu haben, gegen die er allein nichts hatte ausrichten können.
Im Stillen fragte er sich dennoch wieder und wieder, ob er nicht anders hätte reagieren müssen. Daneben irritierte es ihn ganz ungemein, dass er sich nicht bewusst an alle Details erinnern konnte – sein Unterbewusstsein aber ständig Momentaufnahmen heraufbeschwor. Diese Bilder wurde er nicht mehr los.
Sechseinhalb Wochen später
Hackenholt lag auf der Wiese unter einem Baum. Es sah aus, als würde er schlafen, doch Sophie wusste, dass dem nicht so war – er war einfach nur entspannt. So entspannt, wie sie ihn noch nie zuvor erlebt hatte.
Er hatte sie offenbar bemerkt, denn er setzte sich auf und klopfte einladend neben sich auf die Decke.
Mit einem Seufzen ließ sich Sophie möglichst sanft auf den Boden gleiten – was mit ihrem Bauchumfang gar nicht so einfach war. Hackenholt beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss.
»Wie geht es Ronja?« Liebevoll streichelte er über den Kugelbauch und ließ seine Hand dann an der Stelle liegen, an der er die Füße des Babys schon öfter gespürt hatte, wenn es gerade eine Runde Kickboxen trainierte.
»Sie hat mich die halbe Nacht wach gehalten, dafür schläft sie tagsüber.«
»Vielleicht können wir sie überlisten, wenn du dich jetzt ein bisschen hinlegst?«
»Ich glaube, damit überlistest du eher mich als den Zwerg.«
»Bist du so müde?«
Sophie nickte.
»Gut, dann machen wir eben alle drei ein kleines Nachmittagsschläfchen.« Hackenholt lehnte sich zurück und zog Sophie an sich. »Ich habe heute mit Frau Dr. Schweiger gesprochen: Sofern sie nichts Gravierendes mehr zutage fördert, denkt sie, wir könnten Ende kommender Woche unsere Zelte hier abbrechen.«
»Wirklich?« Sophie war fast ein Jubelschrei entfahren. Deutlich verhaltener fragte sie: »Wie soll es denn zu Hause weitergehen?«
»So ganz genau weiß ich es noch nicht. Dr. Schweiger hat mir einen Kollegen in Fürth empfohlen, der mich ambulant behandeln könnte. Ich glaube, dass ich das machen werde. Zumindest eine Zeit lang. Tja und außerdem will mich mein Dienstherr allmählich auch mal wieder sehen.«
»Denkst du, du schaffst das?«, fragte Sophie behutsam. »Ich meine, kannst du dir vorstellen, jeden Tag ins Präsidium zu gehen?«
»Ich habe einen Brief von meinem Dezernatsleiter bekommen«, erzählte Hackenholt, ohne ihre Frage zu beantworten.
»Was will er?«
»Der Chef vom K26 geht demnächst in Ruhestand. Ich könnte mich um seine Stelle bewerben. Die Führungsriege würde mich nachhaltig unterstützen.«
»Du sollst Kommissariatsleiter werden? Ich dachte, dazu müsste man im höheren Dienst sein und nicht nur im gehobenen?«
Hackenholt schüttelte den Kopf. »Das ist nicht ganz richtig. Unsere Dezernatsleiter sind alle im höheren, aber viele Kommissariate werden von einem Kriminalhauptkommissar oder einem Ersten Kriminalhauptkommissar geleitet. Meine letzte Beurteilung war sehr gut. Und nach dem, was passiert ist, scheint man eine solche Beförderung für gerechtfertigt zu halten. Zumindest klingt der Brief sehr wohlwollend.«
»Gibt es dafür dann mehr Geld?«
»Nein. Zumindest auf absehbare Zeit nicht.«
»Womit genau beschäftigt sich das K26?«
»Dort bearbeitet man Dinge wie Betrug, Falschgeld, betrügerisches Abschließen von Handyverträgen oder Fälschung beziehungsweise Einreichung von gefälschten Schecks. Es geht um Warenbetrug, Leistungsbetrug und so weiter.«
»Aha.« Sophie nagte eine Weile an ihrer Unterlippe, bevor sie so neutral wie möglich sagte: »Also eine ganz andere Richtung im Vergleich zu dem, was du bisher gemacht hast.«
»Hm-mh. Im Grunde genommen habe ich von dem Bereich überhaupt keine Ahnung und müsste mich erst einmal gründlich in die Thematik einarbeiten. In meinem ganzen Leben ist mir noch kein gefälschter Scheck untergekommen, geschweige denn habe ich eine Ahnung von Glücksspiel.«
»Würde dir die Arbeit Spaß machen?«
Hackenholt zuckte mit den Schultern. »Es wäre wohl vor allem ein ruhigerer Job als bisher. Außerdem ist das Kommissariat nicht im Präsidium am Ludwigsplatz untergebracht, sondern in einem Bürokomplex am Plärrer. Der Chef dachte, das käme mir eventuell gelegen, weil er doch erlebt hat, dass ich zuletzt ein Problem damit hatte, die Dienststelle zu betreten.«
»Meinst du wirklich, ein Kommissariatsleiter schiebt eine ruhige Kugel?«
»Das nicht gerade, aber ich wüsste nicht, warum ich am Wochenende arbeiten müssen sollte. Ich denke einfach, ich wäre insgesamt mehr zu Hause als bisher. Dann würde ich Ronja nicht immer nur abends in ihrem Bettchen schlafen sehen, sondern könnte auch mal unter der Woche mit euch auf den Spielplatz gehen.«
»Na, bis sie auf einem Spielplatz herumräubert, wird es noch ein bisschen dauern. Was macht man als Leiter denn so? Sich durch Berge von Papier wühlen und von einer Konferenz zur nächsten hetzen?«
»Mit Ersterem dürftest du ziemlich richtigliegen. In kleineren Kommissariaten übernehmen die Chefs auch mal eine Ermittlung – in Fürth oder in Erlangen zum Beispiel –, aber in Nürnberg ist das leider anders. Normalerweise sind die Dienststellenleiter zuständig für administrative Aufgaben: Sie haben den Überblick über die Sachbearbeitungen und teilen die eingehenden Anzeigen von den Inspektionen ihren Mitarbeitern zu. Unter bestimmten Umständen fassen sie einzelne Fälle zu einer einzigen Ermittlung zusammen. Beispielsweise, wenn derselbe Fälscher zig Schecks in Umlauf bringt. Daneben müssen sie darauf achten, dass die Vorgaben umgesetzt werden. Außerdem hält der Chef den Kopf hin, wenn etwas schiefläuft.«
»Und die Kriminellen? Wie sind die so drauf?«
Hackenholt blinzelte in die Sonne. »Die Klientel vom K26 ist breit gefächert: Vom Geschäftsmann im Nadelstreifenanzug, der mal schnell seine Mitmenschen abzockt, über den Geldfälscher in Latzhose aus der Hinterhofwerkstatt bis hin zum arbeitslosen Hartz-IV-Empfänger ist alles dabei.«
»Was ist mit deinem Team? Wie werden Manfred, Ralph und Saskia reagieren, wenn du weggehst? Und erst Christine?«
Hackenholts Blick glitt in die Baumkrone. Sophie sah, wie seine Augen rhythmisch über das Blätterdach hin und her wanderten, während der Wind die Äste bewegte.
»Bis wann musst du denn Bescheid sagen, ob du dich für die Stelle bewirbst?«, brach sie nach einer Weile das Schweigen.
»Das hat er nicht geschrieben, aber ich denke, wir sollten es nicht auf die lange Bank schieben.«
Als Hackenholt und Sophie am frühen Nachmittag in den Kurgarten kamen, sahen sie bereits von Weitem die beiden Männer, die es sich an einem Tisch auf der Terrasse des Cafés unter einem Sonnenschirm gemütlich gemacht hatten und auf sie warteten. Mit einem Lächeln erkannte Hackenholt, dass sein Kollege Ralph Wünnenberg diesmal nicht allein den weiten Weg auf sich genommen, sondern Manfred Stellfeldt mitgebracht hatte.
»Wie läuft es bei euch im Kommissariat? Habt ihr viel zu tun?«, fragte Hackenholt, nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten.
»Im Augenblick ist nicht viel los.« Stellfeldt sah hilfesuchend zu Sophie. Offenbar war er unsicher, wie viel er Hackenholts Psyche zumuten durfte.
»Ich würde nicht fragen, Manfred, wenn es mich nicht ehrlich interessieren und ich die Antwort vertragen würde«, erklärte der Hauptkommissar mit ruhiger Stimme. »Mir geht es gut. Ich bin dabei, mit dem, was passiert ist, abzuschließen, und kann jetzt viel besser damit umgehen. Also, woran arbeitet ihr?«
»Im Grunde genommen sind es drei Fälle: In einem geht es um einen jungen Volontär aus dem Nürnberger Staatsmuseum, der für ein Jahr zu einer Grabungsstätte nach Südamerika wollte und spurlos verschwunden ist«, begann Wünnenberg mit der anscheinend harmlosesten Sache.
»Außerdem wurden auf dem Gebiet der PI Ost drei junge Frauen leblos in einem Zelt aufgefunden. Allem Anschein nach ein gemeinschaftlicher Suizid. Sie befanden sich in einem schwer zugänglichen Waldstück und hatten einen kleinen Holzkohlegrill mit im Zelt stehen«, zählte Stellfeldt die Fakten auf.
»Haben sie Abschiedsbriefe hinterlassen?«
»Nein, aber alle drei hatten eine hohe Dosis Schlaftabletten im Blut, und das Zelt war von innen mit Paketband abgeklebt, damit jegliche Luftzirkulation unterbunden wurde. Außerdem hat sich eins der Mädchen vorab in einem einschlägigen Internetforum Tipps geholt.«
»Und dann ermitteln wir noch gegen einen Mann, der seine Frau vor den Augen ihrer Kinder mit Benzin übergossen und angezündet hat. Es ist also alles wie immer – der ganz normale Wahnsinn, wie wir ihn kennen«, brummte Wünnenberg.
»Oh mein Gott!«, entfuhr es Sophie. »Vielleicht ist der Vorschlag deines Dezernatsleiters doch nicht so dumm, Frank.«
Hackenholt griff nach ihrer Hand und drückte sie, während er sich an seine Kollegen wandte. »Der Chef hat mich gefragt, ob ich nicht ins K26 wechseln möchte.«
»Zu den Betrügern?«, fragte Wünnenberg entsetzt. »Ja, was willst du denn dort?«
»Der Kommissariatsleiter geht in Pension, und ich könnte seine Stelle übernehmen.«
»Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, dass du über einen Wechsel nachden–« Sophies wohldosierter Tritt unter dem Tisch brachte Wünnenberg abrupt zum Schweigen.
»Vor vielen Jahren war ich mal als junger Beamter beim K2 in Ansbach«, erinnerte sich Stellfeldt, während er seine Glatze zu massieren begann. »Mein Gott, bei denen ging es drunter und drüber. Man hat alles kreuz und quer bearbeitet: Raub, Erpressung, schweren Diebstahl, Kfz-Delikte, Unterschlagung, Hehlerei. Na ja, so etwas wie das K26 selbst gibt’s ja nicht bei normalen Dienststellen wie Fürth, Erlangen oder Ansbach, sondern nur bei uns in der ehemaligen Kriminaldirektion.« Plötzlich hob er den Kopf und sah Hackenholt bekümmert an. »Ich habe noch zwei Jahre, dann bin ich sechzig.«
Der Hauptkommissar wusste genau, was Stellfeldt damit sagen wollte: Da er zur alten Garde gehörte und mehr als zwanzig Jahre Schichtdienst geleistet hatte, konnte er mit sechzig den Dienst quittieren. Er war unter den Beamten der Dienstälteste, der mit der meisten Erfahrung im K11. Natürlich kehrten neue Besen oftmals gut, wenn nicht sogar besser – aber es gab Dinge, in denen langjährige Erfahrung und Kontakte jugendlichen Aktionismus ausstachen. Stellfeldt hatte Hackenholt in den Jahren, in denen er nun in Nürnberg arbeitete, immer wieder das nötige Wissen über die hiesigen Besonderheiten und Gepflogenheiten nahegebracht. Wenn sie nun beide innerhalb relativ kurzer Zeit die Dienststelle verließen, würde das Kommissariat zwei ihrer Leistungsträger verlieren.
Als wollte er dem Ganzen das i-Tüpfelchen aufsetzen, meldete sich nun Wünnenberg mit einer schlichten Feststellung zu Wort: »Wenn du weggehst, suche ich mir auch etwas anderes. Oder glaubst du allen Ernstes, ich bleibe allein mit Saskia zurück und höre mir dazu noch ständig Christines Wutausbrüche an?«
»Welche Wutausbrüche denn bitte?«, fragte in dem Moment eine empörte Stimme hinter ihnen.
Wünnenberg und Stellfeldt fuhren erschrocken herum, während Hackenholt ebenso erstaunt aufblickte. Nur Sophie schien die beiden Neuankömmlinge bemerkt zu haben, während sie sich durch das Café an sie anschlichen.
»Rutsch mal ein Stück!«, grummelte Christine Mur, während sie sich zwischen Hackenholt und Wünnenberg drängte, um Ersteren herzlich zu umarmen. »Du wirkst richtig erholt, Frank«, raunte sie ihrem Kollegen ins Ohr. »Ich hoffe, dir geht es so gut, wie du aussiehst und wie uns deine Frau berichtet hat.« Dann ging sie zu Sophie und machte damit Platz für ihren Begleiter.
»Maurice«, rief Hackenholt erfreut aus. »Was für eine Überraschung!«
Der Rechtsmediziner, der fast einen Kopf kleiner, dafür jedoch deutlich fülliger war als Hackenholt, schüttelte mit gewohntem Enthusiasmus dessen Hand. »Wie mir zu Ohren gekommen ist, reißen sich im Augenblick mehrere Dienststellen um dich. Ich verstehe zwar nicht so ganz, warum, aber es freut mich natürlich, weil es dir zeigt, wie beliebt du im ganzen Haus bist. Allerdings gehe ich davon aus, dass du uns treu bleibst. Das habe ich letzte Woche auch Dr. Holm gesagt. Wo kämen wir denn hin, wenn du in ein anderes Kommissariat wechseln würdest?«
Hackenholt zog sichtlich überrascht die Augenbrauen hoch. Er fragte sich, wie Maurice Puellen bereits letzte Woche mit dem Oberstaatsanwalt über eine mögliche Versetzung diskutieren konnte, wenn er selbst erst gestern davon erfahren hatte.
»Hast du schon mit deinem Chef über die Wiedereingliederung gesprochen? Das ist absolut wichtig, denn nach so langer Zeit musst du es langsam angehen«, plapperte Puellen enthusiastisch weiter. »Normalerweise fängt man mit zwei Stunden pro Tag an und steigert das Pensum nach zwei, drei Wochen allmählich.«
»Was? Da kann er ja gleich zu Hause bleiben. In zwei Stunden schafft man doch gar nichts. Da trinkt man allenfalls eine Tasse Kaffee und überfliegt die Berichte vom Vortag«, rief Wünnenberg entsetzt.
»Das gilt vielleicht für dich, Ralph. Aber nicht jeder beginnt seinen Tag mit einem einstündigen Kaffeeritual, währenddessen er nicht gestört werden darf«, konterte Mur. Sie zwängte einen Stuhl vom Nachbartisch in die Lücke zwischen Hackenholt und Wünnenberg und setzte sich. »Maurice hat ganz recht: Du musst dir die Zeit nehmen, die du brauchst, bis du wieder voll arbeiten kannst.« Damit griff sie nach Hackenholts Hand und tätschelte sie ein paarmal.
»Tja, ich habe euch doch von Anfang an gesagt, dass alles gut werden wird und ihr euch nicht so einen Kopf machen sollt.« Dr. Puellen grinste in die Runde, bevor er einen Blick in die Karte warf. »Was nimmst du denn, Schnurzelchen? Ein Eis oder lieber einen Kuchen? Also ich werde wohl der Schwarzwälder Kirschtorte nicht widerstehen können.«
Sekundenbruchteile lang herrschte am Tisch absolute Stille, dann begannen Sophie und Hackenholt gleichzeitig zu reden, während sich Mur die Speisekarte noch ein klein wenig höher vors Gesicht hielt, damit nur ja keiner ihren hochroten Kopf sah – und sie auch nicht in die angestrengt ernsten Gesichter ihrer Kollegen blicken musste. Die Art und Weise, wie Wünnenberg neben ihr auf seinem Stuhl herumzappelte, signalisierte ihr deutlich genug, dass er vor unterdrücktem Lachen über den Kosenamen fast platzte.
Nachdem der Besuch gegen achtzehn Uhr gegangen war, hakte sich Sophie bei Hackenholt unter.
»Wollen wir noch einen kleinen Spaziergang machen, oder soll ich dich direkt zu deiner Pension bringen?« Er sah sie fragend an.
»Lass uns ein bisschen die Beine vertreten. Das wird mir nach dem stundenlangen Sitzen sicher guttun.«
Mit seinen verschlungenen Wegen unter den schattigen Bäumen war der Kurgarten zu einem ihrer Lieblingsorte geworden. Von dort aus schlenderten sie die Allee des sich anschließenden Kurparks entlang, folgten ein Stück der Saale, überquerten zwei Straßen und kamen schließlich am Waldrand an. Als sie einen Forstweg entdeckten, folgten sie ihm. Schon nach wenigen Metern umgab sie der typische Geruch von Kiefernnadeln. Nun erst brach Hackenholt das einvernehmliche Schweigen.
»Das war kein zufälliges Treffen heute. Du hast gewusst, dass sie alle kommen wollten, nicht wahr?«
Sophie senkte schuldbewusst den Blick. »Ralph hat gestern Abend angerufen und gefragt, ob es okay wäre, wenn Manfred ihn begleiten würde. Ich habe gedacht, du freust dich, ihn wiederzusehen.« Ihre Stimme klang unsicher.
»Das sollte kein Vorwurf sein.« Er lächelte sie beruhigend an. »Und was ist mit Christine und Maurice? Warum sind sie nicht gleich mit den zwei mitgefahren?«
»Ich weiß es nicht. Christine hat ungefähr eine halbe Stunde nach Ralph angerufen und gefragt, ob es nicht schön wäre, wenn wir uns alle treffen würden.«
»Hast du ihnen von dem Brief von meinem Chef erzählt?«
»Natürlich nicht.« Sophie sah ihn entrüstet an. »Das ist deine Sache, da mische ich mich nicht ein. Allerdings hatte ich den Eindruck, als ob Christine etwas davon wüsste. Sie hat ein paar komische Fragen gestellt.«
»Tja, unser Schnurzelchen scheint mal wieder über alles Bescheid zu wissen, bevor es die eigentlich Betroffenen erfahren.« Nur mühsam konnte er ein Lachen unterdrücken. »Sie kann einem fast leidtun – den Spitznamen wird sie nie wieder los. Dafür werden Manfred und Ralph sorgen.«
Sie waren am Ende des Wäldchens angekommen und bogen links in einen Feldweg ab, der sie nach wenigen hundert Metern zunächst zurück in den Forst und anschließend in einem Bogen nach Bad Bocklet führen würde. Hackenholt war in den vergangenen Wochen mehr als einmal hier entlanggejoggt. Nach ungefähr hundert Metern kamen sie an einem kleinen Waldparkplatz vorüber, auf dem ein weißer Transporter stand. Das Fahrerfenster war heruntergelassen, eine Nachrichtensprecherin plärrte die Staumeldungen in die Stille.
»Hast du dich inzwischen entschieden?«, nahm Sophie das Gespräch wieder auf. »Wirst du ins K26 wechseln?«
»Was wünschst du dir? Soll ich es tun?«
Sophie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht.«
»Siehst du, mir geht es genauso. Es gibt vieles, was dafür-, aber auch einiges, was dagegenspricht.«
»Zum Beispiel?«
»Einerseits wäre es natürlich eine neue Herausforderung. Andererseits bin ich mir nicht sicher, ob mir die Tätigkeit wirklich liegt. Ich wollte mich nie um eine Beförderung bemühen, wenn sie bedeutet, dass ich nicht mehr meine Arbeit machen kann. Nur am Schreibtisch sitzen ...« Er blähte die Wangen auf. »Dann käme ich überhaupt nicht mehr raus und mit dem Bürger in Kontakt. Und Schnurzelchen und Co. würde ich wohl auch vermissen.«
»Na, du hast ja noch Zeit, es dir zu überlegen. Vielleicht solltest du erst einmal mit der Wiedereingliederung beginnen und sehen, ob du Lust auf deine alte Arbeit bekommst.«
Hackenholt schüttelte den Kopf. »Wenn ich wechsle, dann werde ich sofort eine Abordnung zum K26 beantragen und dort eine Weile hospitieren. Ins K11 gehe ich dann gar nicht mehr zurück.«
Es war kurz nach fünf Uhr, als Hackenholt am Sonntagmorgen aufwachte. Zum ersten Mal seit drei Wochen hatte er schlecht geschlafen. Lag es am nächtlichen Gewitter, oder war es doch eher eine Reaktion auf das gestrige Treffen mit seinen Kollegen? Wollte ihm sein Unterbewusstsein signalisieren, dass er noch nicht so weit war, wie er glaubte?
Wie er es für solche Fälle zu Beginn der Therapie gelernt hatte, stand er auf und zog seine Joggingsachen an. Eine Runde in der frischen Morgenluft würde ihn beruhigen und ihm beim Nachdenken helfen.
Wie immer im Wald konzentrierte er sich auf die Geräusche, die ihn umfingen. Das Rauschen der Baumwipfel, das Zirpen der Grillen, das Zwitschern der Vögel. Seine Augen wanderten über die Äste und Blätter der Bäume, die Gräser und Ranken im Unterholz, die Lichtreflexe, die die aufgehende Sonne mit Licht und Schatten zauberte. Gierig sog er den Geruch des regenfeuchten Waldbodens ein.
Obwohl Hackenholt seit jeher oft und gern joggen ging, erkannte er doch erst in den letzten Wochen den tieferen Nutzen für seine innere Ausgeglichenheit – fernab eines Runner’s High, dem Rausch der Euphorie, dem Glückskick, den Sportler während ihrer Höchstleistungen erreichten. Für ihn wurde es ein simples Mittel der Gegenwarts- und Problembewältigung.
Wie sollte er das nur handhaben, wenn er wieder in Nürnberg war und mitten in der Stadt wohnte? Natürlich lag der Stadtpark nicht weit entfernt, und er verfügte sogar über eine ausgeschilderte Joggingstrecke, aber dort waren immer so viele Menschen unterwegs. Außerdem lief Hackenholt lieber auf weichem Waldboden als auf einem geteerten Weg. Sollte er Sophie überreden, einen Kompromiss zwischen einem Haus in der Pampa und der Stadtmitte zu finden?
Plötzlich blickte er auf. Ohne es bewusst wahrzunehmen, hatte er wohl an einer der Abzweigungen einen anderen Weg eingeschlagen als sonst. Nun war er am Waldrand angelangt und musste sich erst einmal orientieren. Nach einem Augenblick entdeckte er in der Ferne einen Gebäudekomplex, den er von einem seiner Ausflüge mit Sophie kannte. Offenbar war er heute die ganze Zeit geradeaus gelaufen und nicht wie sonst nach rechts abgebogen. Einen Moment erwog er, kehrtzumachen und einfach zurückzugehen, um auf seine übliche Route zu kommen, doch dann beschloss er, die Strecke entlang der Äcker zu nehmen.
Er folgte dem Feldweg, der sich dicht an den Kiefern entlangschlängelte und voller Pfützen war. Ein paar Minuten später kam Hackenholt zu der Stelle, an der er gestern mit Sophie in den Forst abgebogen war. Er zögerte einen Augenblick, blieb dann jedoch auf dem Schotterweg. Warum sollte er nicht von hier ab die Strecke in umgekehrter Richtung rennen, die sie am Vortag spaziert waren? Sicher war es um diese Uhrzeit noch herrlich einsam im Kurpark.
Mit einem Mal bemerkte Hackenholt, dass von irgendwoher Musik an sein Ohr drang. Je weiter er lief, desto deutlicher hörte er sie. Er seufzte in sich hinein. Offenbar hatte er doch die falsche Entscheidung getroffen – so viel Lärm am frühen Morgen war ihm zuwider.
Er joggte um eine Biegung, und im nächsten Moment sah er die Lärmquelle: Der Transporter, an dem sie gestern schon vorbeigekommen waren, stand nach wie vor auf dem kleinen Parkplatz. Das Fahrerfenster war immer noch heruntergelassen, und das Dröhnen des Autoradios erschien in der morgendlichen Stille umso lauter. Hackenholt drosselte im Näherkommen sein Tempo, bis er schließlich einige Meter von dem Fahrzeug entfernt stehen blieb.
Wie aus dem Nichts überfiel ihn eine Eiseskälte. Bilder vom letzten Dezember schoben sich vor die morgendliche Szene: Ahnungslos war er die Uffenheimer Straße entlanggefahren, bis er neben der vermeintlichen Zivilstreife hielt. Noch während er die Zündung aus- und die Warnblinker einschaltete, kam eine gegen die nächtliche Kälte dick eingemummte Person auf ihn zu. Dann ging alles ganz schnell. Ein Mann riss die Beifahrertür auf. Kaum wandte er sich ihm erschrocken zu, schlug der andere ihm die Taschenlampe auf den Kopf. Als er wieder zu sich kam, lag er gefesselt und geknebelt im Laderaum eines Transporters ...
Trotz der morgendlichen Kühle stand Hackenholt der Schweiß auf der Stirn. Sein Atem ging stoßweise, und er zitterte am ganzen Körper. Immerhin musste er sich nicht mehr übergeben wie zu Beginn der Therapie, als sie diese Erinnerung aufzuarbeiten begannen. Er holte tief Luft und ging langsam auf das Fahrzeug zu. Irgendetwas stimmte hier nicht. Niemand stellte ein Auto mit heruntergelassener Scheibe und laufendem Radio an einem derart entlegenen Ort ab, wenn er sich nicht in unmittelbarer Nähe befand. Schon gar nicht über Nacht und bei Regen.
Bedächtig ging Hackenholt um den Mercedes herum. Der Sprinter hatte ein Hamburger Kennzeichen und war ein älteres Modell mit diversen Dellen sowie ein paar Rostflecken oberhalb der Radkästen. Ein typisches Handwerkerfahrzeug, sah man davon ab, dass keinerlei Firmenlogo auf der Seite oder an den Hecktüren angebracht war. Schließlich blieb Hackenholt neben der Beifahrertür stehen. Durch das Fenster sah er den Schlüssel im Zündschloss stecken. Ansonsten schien die Fahrerkabine leer zu sein. Keine Tasche lag im Fußraum, keine Zeitung hinter der Windschutzscheibe und auch keine Jacke und kein Pullover auf dem Beifahrersitz.
Noch einmal ging Hackenholt um das Fahrzeug herum und musterte es, aber er fand keine Anhaltspunkte, welcher Firma der Wagen gehörte. Zu guter Letzt blieb er vor der Hecktür stehen. Nach kurzem Zögern legte er die Hand auf den Griff. Er war nicht sonderlich verwundert, als er merkte, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Sobald er sie einen Spaltbreit geöffnet hatte, quoll ihm ein unangenehmer Geruch entgegen. Ein Teil in ihm wollte sie angeekelt sofort wieder zuschlagen, ein anderer zwang ihn, sie vollends zu öffnen.
Vor ihm offenbarte sich ein Durcheinander von Möbeln. Eine Matratze hing schief in den Raum, seitlich stand eine niedrige Kommode, Bretter lagen dazwischen und darunter, Kartons standen kreuz und quer im Inneren, manche waren geöffnet und die darin befindlichen Kleidungsstücke herausgerissen. Direkt vor ihm lag ein zerbrochener Bilderrahmen schräg auf einem Umzugskarton. Dahinter erblickte er einen Turnschuh, aus dem ein Strumpf und ein behaartes Bein ragten.
Mit einer Hand drückte Hackenholt die Matratze vorsichtig hoch, bis er den Toten sehen konnte. Dann ließ er sie wieder los, drehte sich wie ferngesteuert um und schaffte es gerade noch, zwei Schritte zur Seite zu gehen, bevor er sich erbrach.
Es dauerte keine Viertelstunde, bis die erste Streife aus Bad Kissingen vor Ort war. Nachdem sich die beiden jungen Beamten von der Richtigkeit der Angaben überzeugt hatten, bestanden sie darauf, dass Hackenholt wartete, bis die nachalarmierten Kollegen des Kriminaldauerdiensts aus Schweinfurt den Transporter und die Leiche in Augenschein genommen hatten.
Als die Kriminalisten nach einer Stunde noch nicht eingetroffen waren, war Hackenholt mit seiner Geduld am Ende. Er machte gerade Anstalten, aus dem Streifenwagen zu steigen, in den man ihn gesetzt hatte, als endlich zwei weitere Fahrzeuge den Feldweg entlangholperten.
Mit einem Seufzer ließ sich der Hauptkommissar auf den Sitz zurücksinken und beobachtete die ebenfalls sehr jungen Kollegen, die sich nun mit den Schutzpolizisten unterhielten, während ein Mann, der offenbar zur Spurensicherung gehörte, in seine Schutzkleidung schlüpfte und sich dem Transporter näherte.
Durch die geöffnete Autotür konnte Hackenholt die Unterhaltung der Polizisten mitverfolgen. Was sie über ihn, den vermeintlichen Zeugen, sagten, war wenig schmeichelhaft. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er diesmal auf der anderen Seite stand: Er war für die Beamten ein normaler Bürger, denn er hatte sie seinen Beruf nicht wissen lassen.
Endlich kamen die beiden Kriminaler zum Streifenwagen herüber. Hackenholt stieg aus.
»Sie sind derjenige, der den Toten gefunden hat?«, eröffnete die junge Ermittlerin das Gespräch, ohne sich ihm vorzustellen.
Hackenholt nickte.
»Wenn ich die Kollegen richtig verstanden habe, ist Ihnen das Fahrzeug bereits gestern aufgefallen?«
Hackenholt nickte erneut.
»Warum haben Sie dann nicht gleich die Polizei gerufen?«
»Ich hatte keinen Grund zu der Annahme, dass etwas nicht stimmen könnte. Ich dachte, der Fahrer wäre nur mal kurz in die Büsche verschwunden.«
»Und heute Morgen sind Sie zurückgekommen, um nach dem Rechten zu sehen?«, hakte nun der männliche Beamte nach. Er hatte es genauso wenig für nötig gehalten, seinen Namen zu nennen.
»Nein, ich bin zufällig vorbeigekommen, weil ich mich im Wald verlaufen habe.«
»Aha. Aber nachdem um die frühe Uhrzeit weit und breit niemand da war, der Sie hätte beobachten können, dachten Sie sich, Sie schauen mal nach, was der Transporter geladen hat. Es könnte ja etwas dabei sein, das Sie brauchen können.« Die Beamtin musterte ihn mit einem durchdringenden Blick.
Hackenholt wurde rot und senkte den Kopf. Er wusste nicht, warum er das plötzliche Bedürfnis gespürt hatte, die Hecktür zu öffnen. Wahrscheinlich, weil er in einer Vision seiner eigenen Entführung gefangen gewesen war und überprüfen wollte, dass niemand im Stauraum lag. Aber das würde er der Dame mit Sicherheit nicht auf die Nase binden.
»Ich wollte nachsehen, was sich im Transporter befand«, sagte er schließlich, »weil ich ein schlechtes Gefühl hatte und nicht, um mich an fremdem Eigentum zu vergreifen.«
»Mit Ihrem unkorrekten Vorgehen haben Sie wahrscheinlich wichtige Spuren vernichtet. Es war äußerst dumm von Ihnen, die Autotür mit bloßen Händen anzufassen.« Die Beamtin klang nach wie vor schroff. »Sie hätten uns besser auf der Stelle verständigt.«
Der Gedanke war Hackenholt auch schon durch den Kopf gegangen. Ändern konnte er es nicht mehr, und Einweghandschuhe hätte er sowieso nicht bei sich gehabt.
»Haben Sie im Inneren etwas angefasst?«
»Nur die Ecke der Matratze. Ich musste sie ein Stück anheben, um zu sehen, dass für den Mann jede Hilfe zu spät kam.«
»Das hat man ja wohl gerochen. Dazu hätten Sie nicht auch noch an den Sachen herumfingern müssen.«
»Es hätte Müll sein können, der so streng riecht«, verteidigte sich Hackenholt. »Wenn Sie Vergleichsspuren nehmen, können Sie meine problemlos eliminieren.«
»Hört, hört! Wenn wir Vergleichsspuren nehmen. Da hat einer offenbar ein bisschen zu viel ›CSI‹ im Fernsehen geschaut.«
Unbewusst ballte Hackenholt seine Hände. Er ärgerte sich maßlos, aber er schwieg.
Vielleicht war diese Erfahrung für ihn ganz gut – in Zukunft würde er sich besser in die Zeugen hineinversetzen können, mit denen er es zu tun hatte.
»Den Toten selbst haben Sie aber nicht auch noch berührt?«
»Nein, natürlich nicht«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus.
»Wir tun nur unsere Arbeit«, meinte plötzlich der andere Beamte. »Da brauchen Sie sich jetzt gar nicht so aufzuregen.« Offenbar war ihm Hackenholts Wut nicht entgangen. »Was machen Sie überhaupt in Bad Bocklet, wenn Sie eigentlich in Nürnberg wohnen?« Bedächtig drehte er Hackenholts Personalausweis, den ihm die Streifenbeamten übergeben haben mussten, zwischen den Fingern hin und her.
»Wie Sie zweifellos den Angaben entnehmen können, die ich Ihren Kollegen gegenüber gemacht habe, befinde ich mich hier auf Reha.«
»Und warum, wenn ich fragen darf?«
»Mir mussten nach einem Betriebsunfall drei Zehen amputiert werden.« Nichts im Leben hätte Hackenholt dazu gebracht, dem jungen Schnösel den wahren Grund seines Aufenthalts preiszugeben.
»Oh, das ist ja schrecklich. Was arbeiten Sie denn?«
Hätte der andere nicht einen derart geheuchelten Tonfall angeschlagen, hätte sich Hackenholt darauf beschränkt »Beamter« zu erwidern, so sagte er jedoch: »Ich bin Polizist, genau wie Sie, Herr Kollege. Und nachdem Ihnen nur Fragen einfallen, die bei der Todesermittlung nicht im Geringsten weiterhelfen, sehe ich unser Gespräch als beendet an. Meine Handynummer haben Sie. Ich gehe davon aus, dass sich der zuständige Sachbearbeiter im Lauf des Tages bei mir melden und einen Termin für eine ordnungsgemäße Vernehmung vereinbaren wird.« Damit drehte er sich um und ließ die beiden Kriminaler stehen.
»Und so einer will ein Kollege sein«, hörte er die Beamtin im Weggehen sagen. »Wahrscheinlich ist der irgendwo in der Verwaltung tätig und hat keine Ahnung vom wirklichen Leben. Allein schon, dass er hier alles vollgekotzt hat.«
»Erinnerst du dich noch an den Wagen, an dem wir gestern beim Spazierengehen vorbeigekommen sind?« Hackenholt setzte sich zu Sophie auf eine Bank in die Sonne. Sie hatte soeben ihr Frühstück in ihrer Pension beendet. »Der mit dem plärrenden Autoradio?«
»Dunkel. Warum fragst du?«
Einen Augenblick lang war er gewillt »Ach, nur so« zu antworten, doch dann riss er sich zusammen. In den vergangenen Wochen hatten sie im Rahmen der Therapie vereinbart, dass er in Zukunft nicht mehr versuchen würde, Sophie vor der Grausamkeit seiner Arbeit zu schützen, indem er immer alles herunterspielte und ihr nur ausgewählte Bruchstücke mitteilte. Sofern es sich nicht um Dienstgeheimnisse handelte, wollte er ihr fortan alles wahrheitsgetreu erzählen. Also holte er tief Luft und schilderte, was am Morgen passiert war.
»Du hast einen Toten gefunden?« Konsterniert betrachtete sie ihn, dann schüttelte sie den Kopf. »Das darf doch wohl nicht wahr sein! So etwas kann wirklich nur dir passieren. Kein anderer findet einfach so eine Leiche.« Plötzlich biss sie sich auf die Unterlippe. »Wie hast du dich dabei gefühlt? Ich meine ...« Ihre Stimme verlor sich.
»Ich hatte Schweißausbrüche, zitternde Knie und musste mich übergeben. Außerdem habe ich mich wie ein blutiger Anfänger benommen und Dinge angefasst, von denen ich besser meine Finger gelassen hätte. Aber am meisten habe ich mich über die Kollegen geärgert, die für die Anfangssachbearbeitung des Falls zuständig sind.«
Sophie strahlte: Da war er endlich wieder, der alte Hackenholt, der in seiner Arbeit aufging.
Plötzlich piepte sein Handy.
»Ich soll um vierzehn Uhr zu einer Vernehmung nach Schweinfurt in die Kriminalpolizeiinspektion kommen. Das war gerade der Kollege, der in dem Fall ermittelt«, informierte Hackenholt sie, nachdem er das Gespräch beendet hatte. »Begleitest du mich, oder willst du lieber hierbleiben?«
»Natürlich fahre ich mit! Glaubst du, ich lass dich allein zurück in die Zivilisation?«
Hackenholt sah sie mit hochgezogener Augenbraue an.
Grinsend legte sie den Kopf schief. »Nun ja, wir wollen nicht übertreiben, Schweinfurt ist sicher nicht der Nabel der Welt, aber immerhin ein willkommener Tapetenwechsel, bevor wir in ein paar Tagen wirklich wieder ins Großstadtleben eintauchen. Ich werde mich während deines Termins einfach in ein Café setzen. Wollen wir gleich los? Dann können wir uns Schweinfurt noch ein bisschen anschauen, im Stadtkern soll es ein paar schöne historische Gebäude geben.«
Der Mann, der Hackenholt von der Pforte abholte, stellte sich als Walter Zögner vor. Hackenholt schätzte, dass er in etwa so alt war wie Manfred Stellfeldt. Doch im Gegensatz zu seinem Kollegen trug der Beamte keine Glatze, sondern eine wahre Löwenmähne, die durch einen Vollbart ergänzt wurde. Er hinkte leicht, so als wäre ein Bein kürzer als das andere.
»Wir haben miteinander telefoniert. Ich bin der Depp, der dieses Wochenende Bereitschaft hat und dem die Sache aufs Auge gedrückt wurde.« Er hielt kurz inne, lachte und zuckte dann mit den Schultern. »So ist das eben in unserem Beruf. Wenn es recht ist, gehen wir in mein Büro.« Ohne eine Antwort abzuwarten drehte er sich um und schritt voran.
Während Hackenholt ihm folgte, überlegte er, wie er das Verhalten des Ermittlers einschätzen sollte. Ihm war aufgefallen, dass er es vermied, ihn direkt anzusprechen. Das war während ihres Telefonats anders gewesen, da hatte er ihn gesiezt. Eigentlich konnte das nur eins bedeuten: Der Beamte wusste inzwischen, dass er in Hackenholt einen Kollegen vor sich hatte.
Nachdem sie vom Treppenhaus in einen Flur abgebogen waren, blieb Zögner vor der ersten Tür stehen und steckte den Kopf in den Raum. »Hast du endlich Kaffee gekocht, Kerstin?« Die gemurmelte Antwort drang nicht bis an Hackenholts Ohr. Zögners empörtes »Muss ich hier eigentlich alles selbst machen?« gab jedoch Auskunft darüber, dass dies offenbar nicht geschehen war.
Der Kriminaler wandte sich zu Hackenholt um und sagte: »Mein Zimmer ist das vorletzte links. Ich komm gleich nach, ich setz uns nur schnell noch einen Kaffee auf.«
Hackenholt grinste in sich hinein. Zögner und Wünnenberg gäben ein wunderbares Team ab. Langsam schlenderte er den Gang entlang, bis er vor besagtem Büro ankam. Auf dem Namensschild rechts neben der Tür stand: KHK Zögner, Stellv. Leiter.
Im Zimmer sah es nicht eben aufgeräumt aus. Neben zwei benutzten Kaffeetassen lagen auf dem Schreibtisch kreuz und quer mehrere Akten, lose Ausdrucke, eine aufgeschlagene Landkarte und ein Strafrechtskommentar. Ein Stuhl war mit einem großen Aktenkoffer belegt, ein zweiter mit weiteren Ermittlungsakten. An der Wand hing eine handgemalte Schützenscheibe: Walter Zögner war 1992 Schützenkönig gewesen. Am Fenster stand ein Kaktus. Daneben zwei gerahmte Familienfotos.
»Am Freitagnachmittag war noch alles aufgeräumt«, entschuldigte sich der Beamte. Mit einem Ruck zerrte er den offenbar schweren Aktenkoffer vom Stuhl, den er Hackenholt anbot, bevor er selbst Platz nahm. »Nun gut. Wie wollen wir es handhaben: Sollen wir beim Sie bleiben, oder wollen wir zum kollegialen Du übergehen?«
»Nachdem dir der Dauerdienst zwischenzeitlich gesteckt hat, dass wir beim selben Verein arbeiten, können wir genauso gut Du sagen.«
Zögner sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Sabrina hat nichts erwähnt. Ein Kollege aus Nürnberg hat es mir verraten. Er war richtiggehend bestürzt, als ich ihm erzählt habe, wer den Toten gefunden hat.«
Nun war es Hackenholt, dem seine Überraschung ins Gesicht geschrieben stand. »Was hat Nürnberg damit zu tun?«
»Ah. Das kannst du natürlich nicht wissen: Bei dem Toten handelt es sich um einen Vermisstenfall, den die dortige Mordkommission am Freitag bearbeitet hat.«
»Der verschwundene Volontär, der zu einer Grabungsstätte nach Südamerika wollte?«, fragte Hackenholt ungläubig.
Verwundert nickte Zögner. »Lassen dich deine Kollegen nicht einmal während deiner Kur in Ruhe?«
»Sie waren gestern zu Besuch, und das ist auch schon alles, was ich erfahren habe.«
»Felix Kurz war ein junger Archäologe. Er hat ein Volontariat im Nürnberger Staatsmuseum gemacht, wo er am Freitag, dem 14. Juni, also vor gut einer Woche, seinen letzten Tag hatte. Am Wochenende gab er eine Abschiedsparty, und ab Montag fing er an, seine Wohnung auszuräumen. Sachen, die er nicht mehr brauchte, hat er verschenkt oder weggeworfen, alles andere sollte bei seiner Tante in Wunstorf untergestellt werden, bevor er für ein Jahr in Südamerika arbeiten wollte.«
»Was ist mit seinen Eltern?«
»Die sind beide schon verstorben. Die Tante ist seine einzige nahe Verwandte.« Zögner räusperte sich, bevor er fortfuhr. »Am Mittwoch strich er mit Unterstützung eines Hilfsarbeiters die Wohnung. Am Donnerstagvormittag hat er sich einen Mietwagen geholt, ihn mit seinem restlichen Hab und Gut beladen, am Spätnachmittag seine Wohnung dem Vermieter übergeben und sich anschließend auf den Weg Richtung Norden gemacht.
Von unterwegs aus rief er seine Tante noch einmal an, während er in einem Fast-Food-Restaurant etwas aß. Danach verliert sich seine Spur. Nachdem er nicht wie ausgemacht in Wunstorf ankam und die Angehörige ihn telefonisch auch nicht mehr erreichen konnte, hat sie am Freitagmorgen die Polizei informiert. Die Beamten haben allerdings erst einmal nichts weiter unternommen, weil sie davon ausgegangen sind, dass sich der Junge irgendwo aufs Ohr gelegt hat.
Daraufhin hat die Tante herumtelefoniert, aber niemand konnte ihr etwas sagen. Als sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste, rief sie den Leiter des Staatsmuseums an und schilderte ihm die Situation. Er hat dann seine Verbindungen spielen lassen und deine Kollegen eingeschaltet. Sie sind zu Felix Kurz’ Wohnung gefahren, um nachzusehen, ob sie irgendetwas Verdächtiges ausmachen konnten. Dem war aber nicht so. Deshalb haben sie eine Handypeilung veranlasst. Ab jetzt wird es merkwürdig: Der junge Mann war schon kurz vor Bad Brückenau, als er sein Handy ausgeschaltet hat. Das nächste Signal kam dann sechs Stunden später – und zwar wieder aus Nürnberg.«
»Mit wem hast du gesprochen?«
Zögner griff nach einem Blatt Papier. »Manfred Stellfeldt. Er war wirklich erschüttert und wäre am liebsten sofort hergekommen. Ich glaube, er hat mir gefühlte dreihundertmal gesagt, ich soll dich behutsam befragen.«
Hackenholt lächelte. »Dann lass uns anfangen.«
Der Schweinfurter Hauptkommissar rief eine Eingabemaske in seinem Computer auf, erfasste zunächst Hackenholts Personalien im Zeugenvernehmungsbogen, dann die Schilderung, was der Nürnberger Kollege am Morgen wie, wo, wann und warum getan hatte.
Erst als Hackenholt berichtete, wie er den malträtierten Körper des gefesselten Mannes fand, geriet er ins Stocken. Er wusste, er konnte Zögner nichts vormachen. Die ganze Zeit war seine Stimme ruhig und sachlich geblieben, doch nun begann sie zu zittern. Für Sekundenbruchteile sah er aus dem Fenster auf das sonnenbeschienene Nachbargebäude, dann räusperte er sich und beendete seine Schilderung damit, dass er sich weggedreht und übergeben habe.
»Manchmal verlangt uns unser Beruf ganz schön viel ab, nicht wahr? Mehr als wir uns oftmals eingestehen wollen.« Auch wenn es als Frage formuliert war, legte Zögners Tonfall nahe, dass es eine Feststellung war, auf die er keine Antwort erwartete.
»Bislang hatte ich damit eigentlich keine Probleme. Es sind die Umstände, wie der junge Mann zu Tode kam.« Hackenholt holte tief Luft. »Ich habe selbst unlängst schlechte Erfahrungen mit einem Transporter gemacht.«
»Bist du der Kollege, der im Dezember entführt wurde?«
Hackenholt nickte.
»Da hat es das Schicksal aber auch nicht sonderlich nett mit dir gemeint.« Zögner deutete auf eines der gerahmten Bilder, die auf dem Fenstersims standen. Es zeigte einen jungen, lächelnden Mann. »Mein Sohn ist vor sieben Jahren in New York getötet worden. Er war Arzt und zu einem Kongress nach Washington eingeladen. Danach hat er noch ein paar Tage Urlaub drangehängt – es sollte eine Shoppingtour mit seiner Frau werden. Sie ist extra dafür rübergeflogen. Als sie am zweiten Abend in ihr Hotel zurückgingen, haben sich rivalisierende Jugendbanden eine Schießerei geliefert. Er wollte einem Verletzten, der mitten auf der Straße lag, Erste Hilfe leisten. Dabei wurde er von einem Polizisten erschossen. Er war sofort tot.« Zögner schnitt eine Grimasse. »Da fragt man sich doch, was man in dem Job eigentlich macht.«
Erschrocken starrte Hackenholt ihn an. Einen solchen Schicksalsschlag musste man erst einmal wegstecken.
»Ich habe damals meine Wut in Alkohol ertränkt«, fuhr Zögner mit leiser Stimme fort. »Eines Abends kam ich sternhagelvoll aus der Kneipe, setzte mich in mein Auto und fuhr nach Hause. Auf der Landstraße bin ich in einem Waldstück von der Fahrbahn abgekommen, gegen einen Baum geknallt und die Böschung runtergeschleudert. Dabei wurde ich in meinem Wagen eingeklemmt. Die Feuerwehr musste mich rausschneiden. Mein linkes Bein hatte einen Trümmerbruch.« Er machte eine kurze Pause. »Es dauerte allerdings vier Stunden, bis mich jemand in dem Wrack fand. In dem Moment war das eine verdammt lange Zeit. Ich habe geschrien, getobt, geflucht und die ganze Welt zum Teufel gewünscht. Irgendwann verlor ich die Hoffnung und habe geglaubt, ich würde dort unten elendig verrecken. Als es hell wurde und plötzlich ein Kollege von der Streife neben meinem Fenster aufgetaucht ist, wurde mir klar, dass das eine Warnung von ganz oben war.« Zögner deutete mit dem Daumen in Richtung Himmel.
Hackenholt schluckte hart. »Chapeau, da kann ich nur den Hut ziehen.«
»Felix Kurz hatte nicht so viel Glück wie wir. Deswegen werde ich alles daransetzen, die Typen zu kriegen, die das getan haben.«
»Gibt es schon irgendwelche Anhaltspunkte?«
»Nein, allenfalls eine Vermutung: So brutal, wie die Täter mit dem Jungen umgesprungen sind, könnte es sich um Osteuropäer handeln. Du kennst doch die marodierenden Gruppen, die für einen Beutezug über die Grenze kommen und danach schnell wieder verschwinden. Bislang wissen wir allerdings nicht, was konkret aus dem Fahrzeug fehlt, dazu müssen wir mit Felix Kurz’ Tante sprechen – vielleicht sogar mit seinen Freunden, die ihm beim Einladen geholfen haben. Derzeit ist lediglich klar, dass seine Brieftasche und sein Handy verschwunden sind. Hoffentlich musste er nicht sterben, weil er ihnen die Geheimzahl für seine Bankkarte nicht verraten wollte.«
»Was haben wir an Fakten?«
Zögner sah ihn überrascht an. Ihm war das Wir in Hackenholts Frage nicht entgangen, und er war sich sicher, dass damit nicht die Polizei allgemein gemeint war.
»Was ist mit dem Handy?«, konkretisierte Hackenholt. »Die Ortung hat doch ergeben, dass Kurz irgendwo in der Nähe von Bad Brückenau war, als das Signal abbrach, das dann ein paar Stunden später in Nürnberg geortet wurde. Weißt du dazu etwas Näheres?«
»Das letzte Signal kam vom Nürnberger Hauptbahnhof, und das kann alles bedeuten.«
»Spricht das nicht gegen deine Theorie von einer osteuropäischen Diebesbande?«
»Wieso?«
»Aus welchem Grund sollten die Täter nach dem Überfall nach Nürnberg und nicht auf direktem Weg zurück zur Grenze fahren?«
»Wir kennen die Umstände nicht, unter denen sie auf Felix Kurz getroffen sind. Ich nehme an, sie haben ihn irgendwo unterwegs angesprochen, als er eine Pause gemacht hat.«