Frauentormauer - Stefanie Mohr - E-Book

Frauentormauer E-Book

Stefanie Mohr

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Beschreibung

Eine Thailänderin wird erdrosselt in einem Laufhaus an der Frauentormauer aufgefunden. Eine Prostituierte führt die Beamten auf die Spur eines unbekannten, verdächtigen Freiers. Im Rahmen der Öffentlichkeitsfahndung wird Hauptkommissar Hackenholts Kollegin Baumann bei einem Schusswechsel schwer verletzt. Ein Verdächtiger stürzt bei der Flucht aus der U-Haft in den Tod. Die Ermittlungen führen die Beamten nach Ansbach, Erlangen, in den Landkreis Lauf und nach Fürth, wo der Serienmörder erneut zuschlägt. Die Ermittlungsgruppe um Hackenholt versucht, die Handschrift des Mörders zu enträtseln.

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Frauentormauer

Stefanie Mohr

Frauentormauer

– Hackenholt vierter Fall –

von

Stefanie Mohr

EBOOK

Stefanie Mohr, geboren 1972, liebt ihre Heimatstadt Nürnberg, in der sie (fast) jeden Winkel kennt. Sie wohnt und arbeitet als freiberufliche Autorin und Fotodesignerin im Nürnberger Norden. Nähere Informationen: www.stefanie-mohr.com

In dieser Reihe bereits erschienen: »Die vergessenen Schwestern«, »Das letzte Lächeln«, »Die dunkle Seite des Sommers«, »Frauentormauer«, »Glasscherbenviertel«, »Reichskleinodien«, »Tödliche Kristalle«, »Bombenstimmung«, »Tief im Brunnen«, »Südstadtblüten«, »Schmerzhafte Wahrheit«, »Feuchtes Grab«,»Schwerer Seegang« und»Plärrer Mord«.

Eine Thailänderin wird erdrosselt in einem Laufhaus an der Frauentormauer aufgefunden. Eine Prostituierte führt die Beamten auf die Spur eines unbekannten, verdächtigen Freiers. Im Rahmen der Öffentlichkeitsfahndung wird Hauptkommissar Hackenholts Kollegin Baumann bei einem Schusswechsel schwer verletzt. Ein Verdächtiger stürzt bei der Flucht aus der U-Haft in den Tod. Die Ermittlungen führen die Beamten nach Ansbach, Erlangen, in den Landkreis Lauf und nach Fürth, wo der Serienmörder erneut zuschlägt. Die Ermittlungsgruppe um Hackenholt versucht, die Handschrift des Mörders zu enträtseln ...

+++HINWEIS:+++

Die Übersetzung der fränkischen Passagen befinden sich im Anhang und sind im Text mit Fußnoten gekennzeichnet. Klickt man auf die Ziffer, gelangt man direkt zur Übersetzung, klickt man dort erneut auf die Ziffer, gelangt man zurück an die Textstelle.

ISBN: 978-3-946035-25-1 (EPUB)

Copyright © Stefanie Mohr, 2022.

All Rights Reserved - Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Stefanie Mohr

Verlag: Edition Gelbes Sofa, Inh.Stefanie Mohr, Nordring 125, 90409 Nürnberg

Für

Christine Graef

Last night,I was on the threshold of hell. Today,I am within sight of my heaven.

Emily Brontë, »Wuthering Heights«

Samstag

Gedankenverloren starrte Sophie in den allmählich dunkler werdenden Himmel über Bad Windsheim, der sich nun, zur Blauen Stunde, vom gleißenden Orange des Sonnenuntergangs in tiefes Blau färbte. Es war das schönste Licht des ganzen Tages: sanft und klar. Leider hielt das Schauspiel um diese herbstliche Jahreszeit Ende September gerade einmal dreißig Minuten an.

Sophie trieb schwerelos in dem Salzsee der Franken-Therme und paddelte nur leicht mit den Füßen. Ruckartige Bewegungen waren in dem Wasser mit exakt sechsundzwanzig Komma neun Prozent gesättigter Sole schlichtweg unmöglich. Der hohe Salzgehalt ließ den Körper nicht – wie in einem normalen Süßwassersee – geschmeidig über das Wasser gleiten, sondern behinderte ihn in seinem Fortkommen. Es fühlte sich an, als würde man von unsichtbaren Fesseln zurückgehalten. Der Aufenthalt in dem Salzsee war mit einem Badeerlebnis im Toten Meer vergleichbar – allerdings mit dem Vorteil, dass man Europas größten, ganzjährig beheizten See dieser Art von Nürnberg aus innerhalb einer knappen Stunde erreichen konnte. Und das ganz ohne Flugzeug!

Mit allen vieren von sich gestreckt war Sophie sich anfänglich wie ein gestrandeter Wal vorgekommen. Schon wenn man versuchte, die Trittleiter hinunterzugehen, die vom Steg ins Wasser führte, merkte man, dass hier etwas nicht stimmte: Die Beine wurden zurück nach oben gedrückt und weigerten sich, tiefer ins Wasser einzutauchen. Es kostete eine gewaltige Anstrengung, um überhaupt ins Becken zu steigen. Mehr als ihre Waden hatte Sophie nicht in den Solesee bekommen, bevor sie sich hinabgebeugt und reichlich ungeschickt auf den Rücken gelegt hatte. Doch mittlerweile war sie mit sich und ihrer Umgebung wieder im Reinen. Zumindest so lange, bis sie sich überlegen musste, wie sie diesen Schwebezustand wieder einigermaßen elegant verlassen konnte. Einen Moment, den sie geflissentlich aufzuschieben suchte.

Inzwischen war es um sie herum dunkel geworden, das herrliche Blau war verschwunden. Es musste auf zwanzig Uhr zugehen. Gerne wäre Sophie gemeinsam mit Hackenholt händchenhaltend im warmen Wasser getrieben und hätte den nun bald sichtbar werdenden Sternenhimmel bewundert. Vielleicht hätte sich eine Sternschnuppe genau diesen Augenblick ausgesucht, um über den Himmel zu ziehen. Doch Hackenholt war vor einer Dreiviertelstunde zur Massage gegangen und seither nicht wieder zurückgekehrt.

Sophie wandte den Kopf und blickte suchend den Steg entlang. Noch immer keine Spur von ihm. Was die Masseurin wohl während der »Beautyanwendung für den Mann« mit ihm anstellte? Eigentlich hatte die Behandlung nur rund fünfundzwanzig Minuten dauern sollen. Seit Sophie die offizielle Bezeichnung für die Massage bei ihrer Anreise am gestrigen Nachmittag zum ersten Mal gehört hatte, neckte sie Hackenholt damit. Insgeheim freute sie sich aber schon auf seinen nach Traubenkernöl duftenden Körper, dessen Haut sich von den nachmittäglichen Saunagängen gestern bereits zarter als gewöhnlich angefühlt hatte. Sophie sehnte ihre zweite Nacht in dem schönen Hotel mit Wasserbett herbei.

Doch vorher galt es erst einmal, Hackenholt zu finden. Wahrscheinlich war er nach der entspannenden Massage prompt im Ruheraum eingeschlafen. Das wäre dann das zweite Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Bereits gestern war er nach dem zweiten Saunagang in seiner sanft schaukelnden Hängematte eingenickt. Sophie grinste: Das Wohlfühlwochenende tat nicht nur ihr, sondern auch ihm gut. Es bildete den Abschluss ihres Sommerurlaubs. Die ersten vierzehn Tage hatten sie in Irland verbracht, die letzten zehn in Nürnberg – und zwar wieder einmal mit der halbherzigen Suche nach einem Haus.

Langsam hob Sophie ihren rechten Arm aus dem Wasser und tauchte ihn dann sanft wieder ein, um eine Hundertachtzig-Grad-Wendung zu vollführen. Anschließend paddelte sie ebenso langsam mit ihren Füßen in Richtung Steg zurück, wo sie sich mit den Armen am Treppengeländer emporhangelte. Als sie zur Hälfte an der frischen Luft war, schaffte sie es endlich auch, ihre Beine unter Wasser zu tauchen und sich mit den Füßen auf der Leiter abzustützen. Zum Glück gab es weit und breit niemanden, der sich über ihre tollpatschigen Bemühungen, dem Wasser zu entsteigen, amüsieren konnte. Schnell schlüpfte sie in ihren Bademantel, den sie zuvor auf die Holzplanken des verlassenen Stegs gelegt hatte. Die Nachtluft war herbstlich kühl.

Im Inneren der hell erleuchteten Therme fand sie Hackenholt weder im Ruheraum der Wellnessoase noch in der Saunalandschaft. Auch in keiner der Thermal-Badehallen war er zu entdecken. Irritiert schlug Sophie wieder den Weg zurück in den Wellnessbereich ein, um an der dortigen Rezeption nachzufragen, ob jemand wusste, wo Hackenholt abgeblieben war. Als sie an einem Gang vorüberkam, der zu den Toiletten führte, hörte sie plötzlich die Stimme ihres Freundes. Er telefonierte beziehungsweise beendete gerade ein Gespräch. Sophie sah noch, wie er das Handy ausschaltete und wieder in der Tasche seines Bademantels versenkte, bevor er sich mit einer müden Geste über das Gesicht fuhr und einen Moment lang durch die Glasscheibe in die Gartenlandschaft starrte.

Die Reflektion von Sophies Bademantel ließ ihn sich schließlich umdrehen. Sophie musterte ihn prüfend und wartete auf den Satz, der ihr inzwischen so vertraut geworden war, der ihr Zusammenleben vom allerersten Moment an bestimmt hatte und der Hackenholts Gesichtsausdruck zufolge auch jetzt unweigerlich ausgesprochen werden würde.

»Es ist etwas passiert. Ich muss nach Nürnberg zurück.«

»Ist der Oberbürgermeister umgebracht worden, oder was gibt es sonst so Dringendes, dass dir deine Kollegen unseren vorletzten Urlaubstag nicht gönnen?«, frotzelte Sophie.

»Eine tote Prostituierte an der Frauentormauer.«

»Und was hat das mit dir zu tun? Können Manfred, Ralph oder Saskia das bis Montag nicht alleine übernehmen? Vom Kriminaldauerdienst mal ganz zu schweigen. Die letzten drei Wochen haben sie doch auch ohne dich überstanden, wenngleich du alle zwei, drei Tage heimlich angerufen hast. Und jetzt guck nicht so erstaunt, natürlich habe ich das mitbekommen.«

Hackenholt lächelte in sich hinein und legte seine Arme um Sophie. Offenbar war es gar nicht so einfach, Geheimnisse vor ihr zu haben. Er hätte schwören können, dass sie von den Telefonaten nichts bemerkt hatte.

»Prostitution fällt in Nürnberg in den Bereich des Fachdezernats, das für Organisierte Kriminalität zuständig ist«, sagte er leise. »Im Moment sind da alle ein bisschen nervös, insbesondere im Hinblick auf das, was gerade in Norddeutschland abgeht.«

Sophie sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Du meinst die Bandenkriege zwischen den Rockern?«

Hackenholt nickte.

Sophie verdrehte die Augen. »Frank, du bist nicht mehr in Münster! Du bist jetzt in Nürnberg. Hier gibt es keine solchen Banden. Hast du schon jemals einen Höllenengel auf seiner Harley durch die Innenstadt fahren gesehen? Ich jedenfalls nicht.«

»Nur weil man etwas nicht sieht, heißt das noch lange nicht, dass es nicht existiert. Außerdem übernehme ich ab Montag die Leitung vom Kommissariat, weil unser Chef in Urlaub geht.« Er machte eine kurze Pause. »Aber das viel Entscheidendere ist: Ich habe die Tote gekannt.«

Sophie sah ihn überrascht an. »Du hast Kontakt zu Prostituierten?«

Hackenholt schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Aber die Frau war bei mir, weil sie bedroht wurde und Anzeige erstatten wollte. Dass sie eine Prostituierte war, habe ich gerade eben erst erfahren.«

Sophie seufzte. Sie wusste, wann sie verloren hatte. Hackenholt bemerkte ihre plötzlich nach unten sackenden Schultern. Ihre Reaktion versetzte ihm einen Stich ins Herz, weil er wusste, dass er sie enttäuschte. Er zog sie noch enger an sich.

»Es tut mir leid.« Wie oft schon hatte er den Satz in einer ähnlichen Situation zu ihr gesagt? Aber er hatte nun mal keinen normalen Bürojob mit geregelten Arbeitszeiten, freien Wochenenden und Feiertagen.

»Ist schon gut«, antwortete sie ebenso leise. »Haben wir noch so viel Zeit, ins Hotel zu gehen und unsere Sachen zu packen, oder willst du von hier aus gleich losfahren? Dann nehme ich später den Zug.«

»Warum bleibst du nicht noch bis morgen? Es ist doch schon alles bezahlt, und du hast dich so auf das Wochenende hier gefreut. Ich versuche morgen Nachmittag wieder herzukommen und dich abzuholen.«

»Dafür wirst du ganz sicher keine Zeit haben.« Sie sah ihn unschlüssig an, nickte dann aber zögerlich. »Einverstanden, ich bleibe da. Vielleicht hat meine Schwester ja Lust, herzukommen und den Tag morgen mit mir in der Therme zu verbringen. Ansonsten fahre ich irgendwann am Nachmittag mit dem Zug heim. Du brauchst dich jedenfalls nicht nach mir zu richten.«

»Bist du sauer?«

Sophie schüttelte den Kopf, und weil sie merkte, dass Hackenholt ihr nicht glaubte, flüsterte sie ihm noch ins Ohr: »Ich werde dich heute Nacht vermissen.« Dann küsste sie ihn zum Abschied zärtlich auf den Mund.

Am Plärrer bog Hackenholt in die Ludwigstraße ab. Vorbei am Spittlertorturm fuhr er entlang der schönen alten sandsteinernen Prachtbauten auf die Jakobskirche und das links davon gelegene Polizeipräsidium zu. Unmittelbar vor dem Jakobsplatz bog er rechts in die Engelhardsgasse und an der Feuerwache 3 gleich wieder rechts in die Ottostraße ein, an deren Ende sein Ziel direkt an der Frauentormauer lag: das »Maison d’Amour – Himmelspforte«.

Obwohl er nur einmal ums Karree gefahren war und den Spittlertorturm nun von seiner östlichen Seite erreichte, fand sich Hackenholt in einer anderen Welt fern der sandsteinernen Prunkfassaden und Fachwerkgiebel wieder. Er parkte sein Auto in einer langen Schlange anderer Polizeifahrzeuge und drängte sich durch die Menschenmenge, die sich vor der Absperrung ballte. Das enorme Polizeiaufgebot hatte viele Schaulustige angezogen.

Samstagabend in Nürnbergs Vergnügungsviertel. Blinkende Neonreklamen erhellten das nächtliche Dunkel. Die Fenster mehrerer Häuser waren von roten Neonröhren eingefasst, Fassaden wurden von Wandlampen angestrahlt. Auch wenn gerade diese Ecke des Viertels durch das 2005 in der Engelhardsgasse eröffnete Holiday Inn eine enorme Aufwertung erfahren hatte, waren hier, direkt an der Mauer, die Renovierungsarbeiten des Quartiers noch nicht angekommen. Hackenholt konnte nachvollziehen, dass sich auch die Prostituierten eine Verschönerung ihrer Straße durch neue Lampen und andere Renovierungen wünschten.

Der Hauptkommissar zeigte dem jungen Uniformierten, den er nicht kannte, seinen Ausweis und wurde anstandslos durch die Absperrung gelassen. Er war froh, dass sie so weiträumig angelegt worden war. So konnte er in aller Ruhe von außen das Bordell mustern, ohne seinerseits von den Leuten begafft zu werden.

Im Erdgeschoss hingen unterhalb der Fenster die obligatorischen Banner an der Hauswand. Eines warb für den FKK-Tag, an dem die Damen splitterfasernackt arbeiteten, ein anderes verkündete die ständige Anwesenheit von fünfundzwanzig Topmädels. Die Fenster im Erdgeschoss waren mit alten orangefarbenen Plastikmarkisen versehen, dazwischen hatte man an der Fassade Lichterketten befestigt. Zwischen Erdgeschoss und erstem Stock leuchtete der Schriftzug auf: »Maison d’Amour-Himmelspforte«.

Laufhäuser, wie Bordelle dieser Art im Fachjargon genannt wurden, arbeiteten nach einem einfachen Prinzip: Die Sexworkerinnen warteten im Türrahmen ihres Zimmers stehend oder auf Barhockern sitzend auf Kundschaft. Der Freier ging von Zimmer zu Zimmer, besah sich die Frauen, wechselte bei Interesse ein paar Worte mit ihnen und verhandelte dann gegebenenfalls über Preis und Leistung. Einigte man sich, so wurde die Zimmertür geschlossen, bezahlt und sodann die vereinbarte Leistung erbracht. Eine geschlossene Zimmertür bedeutete also: Nicht stören – hier wird gearbeitet!

Zudem hatten die Frauen, die auf einer Etage arbeiteten, meistens ein Auge aufeinander. War die Zeit abgelaufen, wurde schon mal energisch an die Zimmertür der Kollegin geklopft, um das Ende des Schäferstündchens zu signalisieren.

So viel wusste Hackenholt aus Erzählungen anderer Kollegen. Er nickte einem weiteren uniformierten Beamten zu, der die Eingangstür bewachte, und zwängte sich an ihm vorbei ins Innere des Etablissements. Vor ihm erstreckte sich ein kleines Vestibül, in dem ein pultähnlicher Tisch stand. Der Barhocker daneben war jedoch leer. Die auf dem Pult brennende weiße Stumpenkerze versuchte vergeblich eine romantische Stimmung aufkommen zu lassen. Im Meer der bunt blinkenden Lichterketten ging sie vollkommen unter. Der beigebraun geflieste Fußboden trug ebenfalls nicht dazu bei, die Atmosphäre gemütlicher zu machen, und auch der von der Decke hängende Traumfänger mit seinen angestaubten Federn unterstrich eher die Tristesse, als dass er sie abmilderte.

Hackenholt verzichtete darauf, den Aufzug zu nehmen, auf den ein Schild hinwies, und wandte sich stattdessen der rechter Hand gelegenen Treppe zu. Auf jeder zweiten Stufe stand ein Glas mit einem brennenden Teelicht. Bedächtig stieg der Hauptkommissar Stockwerk für Stockwerk hinauf. Unterwegs begegnete er keiner Menschenseele, alle Zimmertüren waren geschlossen. Erst als er das dritte Obergeschoss erreichte, drangen zwei Stimmen aus dem vierten zu ihm herunter. Die eine gehörte ganz eindeutig Christine Mur, der Leiterin der Spurensicherung, die andere seinem Kollegen Ralph Wünnenberg. Die beiden diskutierten gerade darüber, wann er, Hackenholt, endlich auf der Bildfläche erscheinen würde.

»Ich bin ja schon da«, murmelte er, während er die letzten beiden Stufen mit einem großen Schritt nahm und um die Ecke bog.

»Na, endlich!« Der Ausruf stammte natürlich von Christine Mur. Sie war offenbar – wie so oft – in einer Laune, in der ihr nichts schnell genug ging. Auch Wünnenberg wandte sich zu dem Neuankömmling um und verdrehte flugs die Augen, während er mit dem Kinn dezent auf die agile Beamtin deutete.

»Schön zu wissen, dass ich dir die letzten Wochen gefehlt habe und du es anscheinend gar nicht mehr erwarten konntest, mich wiederzusehen, liebe Christine«, begrüßte Hackenholt seine Kollegin.

»Ich könnte mir auch eine nettere Samstagabendbeschäftigung vorstellen, als in einem Haus Spuren sichern zu müssen, in dem täglich Hunderte von Menschen ein und aus gehen.« Mur schnitt eine Grimasse, fuhr dann aber in gemäßigterem Ton fort. »Trotzdem schön, dass du es noch geschafft hast, dich aus der Wellnessoase loszueisen.« Für ihre Verhältnisse war der Empfang überaus herzlich.

Hackenholt quittierte ihn mit einem Lächeln, bevor er sich an Wünnenberg wandte. »Was ist passiert?«

»Die Prostituierte aus dem Nachbarzimmer«, der Ermittler deutete auf eine geschlossene Tür am Ende des Gangs, »hat gegen halb acht bei der Kollegin geklopft. Ihr war aufgefallen, dass deren Tür schon recht lange geschlossen war. Als auf ihr Klopfen hin keine Reaktion folgte, öffnete sie die Tür, schaute ins Zimmer und fand die Kollegin im Bett liegend auf. Sie vermutete, sie wäre bewusstlos, weil sie irgendetwas eingenommen hat, und rief einen Notarztwagen. Die Rettungsleitstelle hat gleich die PI Mitte informiert. Bei seinem Eintreffen konnte der Notarzt nur noch den Tod der Frau feststellen. Nicht natürliche Todesursache. Daraufhin haben die Jungs von der Streife den Dauerdienst verständigt, der wiederum bei mir anrief, weil ich dieses Wochenende Bereitschaft habe. Mir wurde gesagt, dass es sich bei der Toten um eine aus Thailand stammende dreiundzwanzigjährige Frau namens Sunee Schäfer handelte. Sie soll erst vor wenigen Wochen bei uns im Kommissariat gewesen sein, um Anzeige zu erstatten. Laut Vorgangsverwaltung hast du sie als Zeugin vernommen. Wahrscheinlich war das während meines Urlaubs, oder? Ich kann mich an die Sache oder die Frau nicht erinnern.«

Hackenholt nickte. »Was sagt der Gerichtsmediziner?«

»Er geht davon aus, dass die Tote erwürgt wurde, obwohl man so gut wie keine Würgemale am Hals sieht.«

»Wer war da?«

»Dr. Puellen.«

»Dann wird es sicher stimmen. Er hat sich noch nie zu einer leichtfertigen Vermutung hinreißen lassen. Worauf stützt er seine Annahme?«

»Hauptsächlich auf die punktförmigen Einblutungen ins Bindegewebe um die Augen sowie an der Innenseite der Augenlider. Außerdem auf die ausgeprägte Zyanose im Gesicht. Die Würgemale, meint Puellen, würden erst nach einiger Zeit deutlich hervortreten. Innere Verletzungen von Zungenbein und Kehlkopf konnte er nicht ertasten, aber genau wird das erst die Obduktion zeigen. Die ist übrigens für morgen früh um halb acht angesetzt. Ich habe gesagt, dass du hingehen wirst.«

Hackenholt nickte erneut. »In welchem Zimmer hat Frau Schäfer gearbeitet?«

»Nummer 43.« Wünnenberg deutete nach links.

Gemeinsam gingen sie den schmalen Gang entlang, bis sie vor einer Tür standen, auf der ein Aufkleber mit einer großen roten 43 prangte.

»Bist du hier drin fertig?«, fragte Hackenholt an Mur gewandt.

»Machst du Witze?« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn du unbedingt jetzt schon rein willst, dann nur mit Schutzanzug.«

Hackenholt verzichtete und blieb auf der Schwelle stehen. Vor ihm lag ein kleines rechteckiges Zimmer. Gleich neben der Tür stand ein einfacher Kleiderschrank, der das daneben an der Wand angebrachte Handwaschbecken nur notdürftig vor allzu neugierigen Blicken schützte. Darüber hing ein schmuckloser Spiegel. Auf der Ablage standen Toilettenartikel. In ungefähr einem Meter Raumtiefe war ein rot-orange gestreifter Vorhang angebracht, der das restliche Zimmer vom vorderen Teil abtrennte. Der dahinterliegende Raum wurde von einem ein Meter vierzig breiten Bett dominiert. Hackenholt gegenüber stand eine Kommode mit einem kleinen Fernsehgerät. Das dazwischenliegende Fenster wurde von dünnen roten Stores verhüllt, durch die man den zur Hälfte heruntergelassenen Rollladen sah. Das Zimmer war weiß gestrichen, Bilder oder Dekoartikel gab es keine bis auf eine riesengroße rote und herzförmige Wandlampe, die an der Wand über dem Bett hing. Sie war eingeschaltet wie auch der Deckenstrahler, der mit seinem grellen Licht das gesamte Zimmer ausleuchtete.

Die Tote lag entkleidet auf dem Bett. Sie hatte eine schmale, knabenhafte Figur. Ihre Hände steckten bereits in Tüten, die dazu dienten, etwaige unter den Fingernägeln vorhandene Fremdspuren nicht zu kontaminieren oder gar zu verlieren. Hackenholt erinnerte sich an die Fröhlichkeit der Frau. An den Singsang ihrer Stimme. Trotz des Ernstes der Anzeige, wegen der sie zu ihm gekommen war, hatte sie immer wieder gelacht. Er wandte sich zu Wünnenberg um.

»Ist sie so gefunden worden? Ohne Kleider?«

Sein Kollege nickte. »Sie war nackt. Der Notarzt hat ausgesagt, dass sie bei seinem Eintreffen auf dem Bauch lag. Der Kopf war zur Wand gedreht, die Augen hatte sie geschlossen, der rechte Arm lag angewinkelt unter ihrem Gesicht. Außerdem war sie bis zum Hals mit einer Decke zugedeckt. Es muss so ausgesehen haben, als ob sie schlafen würde.«

Hackenholt sah Wünnenberg aufmerksam an. »Der Täter hat sie also absichtlich so hingelegt?«

Wünnenberg zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wollte er einfach nur einen Zeitvorsprung herausschinden, um in Ruhe abzuhauen, bevor jemand Alarm schlägt. Oder er hat gehofft, der Notarzt würde einen natürlichen Tod diagnostizieren.«

»Das macht eine Affekttat eher unwahrscheinlich. Wie sieht es mit dem Zeitpunkt des Todes aus? Konntet ihr das Zeitfenster eingrenzen?«

Wünnenberg schüttelte den Kopf. »Nur sehr grob. Ihre Körperkerntemperatur war zwar kaum gesunken, als Dr. Puellen und die Kollegen vom Dauerdienst sie gemessen haben, aber danach können wir nur bedingt gehen, da die Tote gut zugedeckt war. Wir werden uns wohl eher an den Totenflecken und der Leichenstarre als Anhaltspunkte orientieren müssen. Frau Schäfer hat auf jeden Fall eine Weile unbeachtet in ihrem Zimmer gelegen.«

»Sie kann noch nicht lange tot gewesen sein«, widersprach Hackenholt. »Nicht in einem Laufhaus. In einer Terminwohnung, wo es keine Kolleginnen gibt, wäre das vielleicht möglich, aber nicht hier, in einem Haus voller Menschen, in dem die Frauen aufeinander achten.« Er schüttelte den Kopf. »Wann wurde Frau Schäfer zuletzt gesehen? Und von wem? Wie sieht es mit den Aufzeichnungen der Überwachungskameras aus? Hat sich die schon jemand angeschaut?«

»Frank? Wir haben nichts verlernt, nur weil du im Urlaub warst!«, tönte Mur aus dem Inneren des Zimmers. Offenbar hatte sie das Gespräch zwischen den beiden Männern genau verfolgt.

»Schön, wieder zurück zu sein, oder? Sie hat dich schmerzlich vermisst, sich jeden Tag für eine Tasse Kaffee an deinen Schreibtisch gesetzt und sämtliche deiner Kugelschreiber zerlegt«, flüsterte Wünnenberg mit einem Zwinkern, wurde dann aber wieder ernst. »Hier im Haus gibt es auf jedem Stockwerk eine Überwachungskamera, außerdem noch eine am Eingang. Alle laufen unten im Büro des Wirtschafters auf Bildschirmen, allerdings gibt es keine Aufzeichnungen, sondern nur einen Live-View. Wir können also auf kein Bildmaterial zurückgreifen.«

»Das darf doch wohl nicht wahr sein!« Hackenholt schnitt eine Grimasse. »Und was ist mit diesem Wirtschafter? Zumindest der muss doch auf den Monitoren etwas gesehen haben! Und wie steht es mit den anderen Frauen auf der Etage? Die haben ihre Augen und Ohren doch auch überall.«

»In jedem Stockwerk gibt es fünf Zimmer, in denen die Frauen arbeiten und zum größten Teil auch wohnen. Eine Waschgelegenheit ist in jedem der Räume vorhanden, Bad und Toilette müssen sie sich teilen. Allerdings sind hier im vierten Obergeschoss nur zwei Zimmer vermietet, die anderen drei stehen leer.«

Hackenholt dachte einen Moment lang nach. »Was habt ihr sonst noch in Erfahrung gebracht?«

»Bislang nicht sonderlich viel. Manfred und Saskia sind auch erst vor Kurzem eingetroffen. Sie haben mit der Befragung der Prostituierten in den anderen Stockwerken begonnen. Ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen, da wir noch keinen einzigen Dolmetscher hier haben und über die Hälfte der Frauen Deutsch nur als Zeichensprache beherrscht. Ich dachte, wir beide könnten als Erstes die Prostituierte vernehmen, die die Tote gefunden hat. Sie ist Deutsche.«

»Ist sie die andere Frau, die auf dieser Etage gearbeitet hat?«

Wünnenberg bejahte und wies auf die gegenüberliegende geschlossene Tür. »Marlies Steinbrunn, einundzwanzig Jahre, in Thüringen geboren. Sie wartet mit einer Kollegin vom Dauerdienst in ihrem Zimmer.«

Hackenholt klopfte an die Tür mit der Nummer 45 und trat ein, ohne eine entsprechende Aufforderung abzuwarten. Der Raum war ein Klon des Zimmers der Toten, nur die Bettwäsche war eine andere. An dem kleinen Tischchen neben dem Bett saß eine junge Frau und starrte betont desinteressiert ins Leere. Die neben ihr sitzende Beamtin erhob sich und bot Hackenholt ihren Stuhl an.

»Die soll gehen, sonst sag ich gar nix!«, stieß die Prostituierte hervor und deutete auf die Polizistin. Hackenholt war von der Vehemenz ihres Ausbruchs überrascht. Er blickte die Kollegin an und nickte ihr mit einem bedauernden Achselzucken zu, woraufhin sie wortlos das Zimmer verließ.

»So besser?«, fragte er, nachdem Wünnenberg die Tür geschlossen hatte.

Die junge Frau antwortete nicht. Sie trug ihre Arbeitskleidung – also so gut wie nichts.

»Wollen Sie sich nicht erst etwas anderes anziehen oder zumindest in Ihren Bademantel schlüpfen?«

»Warum? Mach ich dich etwa nervös?« Sie warf Hackenholt einen Blick zu, der kokett hätte sein sollen, jedoch nur tiefe Unsicherheit verriet.

»Nein.« Der Hauptkommissar schüttelte den Kopf. »Ich stehe nicht auf zwanzig Jahre jüngere Frauen. Ich dachte nur, dass es für Sie angenehmer wäre.« Er konzentrierte sich darauf, ihr mit gelangweilter Miene direkt in die Augen zu sehen. Wünnenberg lehnte sich außerhalb ihres Blickfelds gegen den Fenstersims und übernahm es, das Gespräch zu protokollieren.

»Erzählen Sie uns, was passiert ist, Frau Steinbrunn«, bat Hackenholt.

»Das habe ich doch schon tausend Mal gemacht!«

»Na, ganz so oft dürfte es noch nicht gewesen sein, aber Sie werden sich wohl oder übel mit dem Gedanken anfreunden müssen, die Geschichte noch ein paar weitere Male erzählen zu müssen.«

»Ich hatte heute Nachmittag meinen Freund zu Besuch. Nachdem er gegangen war, habe ich wieder zu arbeiten angefangen und wollte Sunee fragen, wie lange sie heute Abend macht. Ich bin in ihr Zimmer und hab sie da halt gefunden.« Marlies Steinbrunn verschränkte die Arme vor dem Körper.

»Gut, das war die Kurzfassung. Jetzt bitte die ausführliche.«

Mit einem Satz sprang die Frau auf. »Was wollt ihr eigentlich alle von mir? Ich weiß nichts. Ich hab nichts mitgekriegt, und ich bin garantiert auch nicht schuld daran, dass das passiert ist!«, schrie sie Hackenholt an.

»Niemand gibt Ihnen die Schuld an Frau Schäfers Tod, Frau Steinbrunn. Aber –«

»Doch!«, brüllte sie. »Alle geben mir die Schuld. Alle!«

Hackenholt schüttelte den Kopf. »Bitte beruhigen Sie sich und setzen Sie sich wieder hin«, sagte er ruhig und bestimmt. »Wir brauchen Ihre Hilfe, um herauszufinden, was genau passiert ist.«

»Aber davon wird sie doch auch nicht wieder lebendig«, schluchzte die junge Prostituierte auf. Plötzlich liefen ihr Tränen über die Wangen, und sie wirkte noch jünger, als sie ohnehin schon war.

»Nein, das wird sie natürlich nicht. Aber wir müssen die Umstände trotzdem klären, die zu ihrem Tod geführt haben«, formulierte er es bewusst vage. »Setzen Sie sich wieder hin, und dann gehen wir die Geschehnisse noch einmal Schritt für Schritt durch.«

Wünnenberg griff nach der neben ihm auf dem Fenstersims stehenden Kleenex-Schachtel und hielt sie Marlies Steinbrunn hin. Sie zog ein paar Tücher heraus und schnäuzte sich geräuschvoll. Dann warf sie die zusammengeknüllten Tücher in den Abfall und schlüpfte endlich in den an einem Haken an der Tür hängenden Morgenmantel, bevor sie sich wieder zu Hackenholt an den Tisch setzte.

»Wann ist Ihr Freund heute Nachmittag zu Besuch gekommen?«

»So um halb vier.«

»Und wann ist er wieder gegangen?«

»Gegen halb sieben.«

»Ist es denn niemandem aufgefallen, dass Sie drei Stunden mit ein und demselben Mann in Ihrem Zimmer waren?«

»Ich bin doch keine Angestellte!« Empört schüttelte sie den Kopf. »Ich schaffe, wann ich will. Und wenn ich keine Lust habe, dann arbeite ich eben nicht. Das entscheide ich ganz nach Lust und Laune. Ich arbeite in diesem Zimmer nicht nur, sondern wohne auch darin, solange ich in Nürnberg bin. Heute Nachmittag habe ich mir eben ein paar Stunden Pause gegönnt. War eh kaum was los. Aber gerade, als ich um drei Schluss machen wollte, kam noch eine Touristengruppe Japaner rein. Deswegen habe ich doch noch einen Kunden angenommen. Der Typ hat sich ziemlich viel Zeit gelassen. Als er endlich fertig war, hat mein Freund schon auf dem Barhocker vor meiner Zimmertür gewartet.«

Hackenholt nickte ihr stumm zu.

»Ich bin dann mit Leon duschen gegangen. Als wir zu mir ins Zimmer zurück sind, ist bei Sunee ein Kunde rausgekommen. Es war keiner von den Japanern. Mehr habe ich nicht mitbekommen.« Marlies Steinbrunn schnitt eine Grimasse. »Um halb sieben habe ich meinen Freund dann nach unten begleitet.« Sie machte eine Pause. »Dort hat mich ein Kunde angesprochen, mit dem ich dann wieder raufgegangen bin. Als wir fertig waren, wollte ich Sunee fragen, wie lange sie heute Abend macht, aber ihre Tür war zu. Ich habe gedacht, sie hätte noch einen Kunden, und habe gewartet. Aus ihrem Zimmer kam diese Musik, die sie manchmal laufen lässt, wenn sie einen Kunden massiert. Aber als nach einer halben Stunde ihre Tür immer noch zu war, fand ich das dann schon komisch. Also habe ich angeklopft und gerufen, dass die Zeit rum ist. So machen wir es immer, wenn einer kein Ende findet.«

Sie warf Hackenholt einen fragenden Blick zu. Er nickte. Die Gepflogenheit war ihm vom Erzählen bekannt.

»Als sich nach fünf Minuten noch immer nichts rührte, habe ich noch mal geklopft und bin dann rein. Der Vorhang war vor die Tür gezogen. Manche von uns machen das, wenn sie einen Kunden haben. Falls sich doch mal einer nicht an die Regeln hält und die Tür öffnet, dann steht er wenigstens nicht gleich mitten im Zimmer und sieht, was gerade läuft. Aber ich habe rein gar nichts gehört. Also habe ich den Vorhang ein Stück zur Seite geschoben und geschaut. Sunee ist im Bett gelegen. So, als ob sie schlafen würde. Aber irgendwas war komisch, deshalb habe ich sie gefragt, ob es ihr nicht gut geht. Sie hat nicht reagiert. Daraufhin bin ich zu ihr und habe sie gerüttelt. Und da …«, sie schluckte, »da hat sie sich auch nicht gerührt.« Die junge Prostituierte begann wieder zu schluchzen. »Ich habe gedacht, sie hätte irgendwas genommen. Kokain oder YABA oder so ein Zeug. Ich habe geschrien, dass wir einen Arzt brauchen. Die Mädels aus dem Dritten sind sofort hochgekommen, und irgendjemand hat dann den Notarzt gerufen.«

»Lassen Sie uns noch mal ein Stück in Ihrer Erzählung zurückgehen. Sie haben gesagt, als Sie mit dem Japaner fertig waren, hat schon Ihr Freund auf Sie gewartet.«

Die Frau nickte.

»Wann war das?«

»Kurz vor halb vier.«

»Sie sind dann duschen gegangen und auf dem Rückweg zu Ihrem Zimmer einem Freier begegnet, der aus Frau Schäfers Zimmer kam.«

Wieder nickte sie.

»Hat sie da noch gelebt? Haben Sie sie gesehen?«

Marlies Steinbrunn dachte kurz nach. »Er kam raus und hat die Tür hinter sich zugemacht«, sagte sie zögerlich, bevor sie einen Moment lang innehielt und dann langsam den Kopf schüttelte. »Nein, ich habe Sunee nicht gesehen. Das war eigentlich komisch, weil sie die Kunden sonst immer an die Tür gebracht hat.« Plötzlich riss sie die Augen weit auf. »Meinen Sie, der Typ hat Sunee umgebracht?«

»Wir müssen jetzt erst einmal versuchen herauszubekommen, wann Frau Schäfer zuletzt lebend gesehen wurde.« Hackenholt machte eine Pause. »Können Sie trotzdem den Mann beschreiben, der aus ihrem Zimmer kam? Er ist ein wichtiger Zeuge.«

Die junge Prostituierte kaute an ihrer Unterlippe. »Der hat ausgesehen wie ein Itaker. Einer von den Typen, die sogar auf der Schulter Haare haben. Schwarze Haare, starker Bartwuchs, klein, breit gebaut, aber nicht dick. Goldkettchen.«

Hackenholt bezweifelte, dass die junge Frau wusste, woher der Begriff »Itaker« ursprünglich stammte. Er war die Abkürzung für »italienischer Kamerad«. So wie sie es aussprach, klang es eher wie ein Schimpfwort.

»Wir brauchen dann bitte noch eine Telefonnummer, unter der wir Ihren Freund erreichen können, um ihn zur Vernehmung ins Präsidium zu bestellen.«

»Ich habe ihn vorhin schon angerufen, bevor Ihre Kollegen da waren. Er hat versprochen, so schnell wie möglich wieder hierherzukommen.«

Hackenholt erhob sich mit einem Seufzen. Die Verwertbarkeit einer Aussage nahm rapide ab, wenn die Zeugen vor einer Befragung Gelegenheit hatten, sich zu besprechen und Erinnerungen zu vergleichen. Doch er konnte es nicht mehr ändern, dass Frau Steinbrunn im Zeitalter des allgegenwärtigen Mobiltelefons offenbar unmittelbar nach der Entdeckung der Toten ihren Freund angerufen hatte.

Als die beiden Beamten aus dem Zimmer traten, stießen sie auf ihre Kollegen Manfred Stellfeldt und Saskia Baumann. Neben ihnen stand Dr. Holm, der an diesem Wochenende diensthabende Jour-Staatsanwalt.

(1)»Des is furchdbår dou herinner. Bis edz hommer ieberhabbs kanne sachdienlichn Hinweis gräichd. Kanner sachd wos. Däi masdn schbrechn går ka Deitsch. Däi Kameras denner nix aafzeichner. Mir wissn nu ned ermål, wenn däi Dailänderi ungfähr umbrachd worn is. Ban Middoochessn hods aaf alle Fäll no glebbd. Un des wår heid Middoch geecher aans«, fasste Saskia Baumann ihre bisherigen Erkenntnisse nach einer kurzen Begrüßung zusammen.

»Na, ein bisschen mehr wissen wir schon«, korrigierte Hackenholt seine Kollegin. Er präsentierte kurz die Kernstücke der Aussage der soeben befragten Sexworkerin, dann kam er auf den Grund zu sprechen, warum er trotz Urlaubs überhaupt vor Ort war. »Am Tag vor meinem Urlaubsanfang, am 31. August, hat der Dienstgruppenleiter von der PI Mitte bei mir angerufen, weil Frau Schäfer bei ihm Anzeige gegen ihren Ehemann erstatten wollte. Es ging um schwere Freiheitsberaubung und gefährliche Körperverletzung. Anfänglich stand sogar noch ein versuchtes Tötungsdelikt im Raum. Bei der Vernehmung hat Frau Schäfer einen gemeinsamen Wohnsitz mit ihrem Mann in Nordhessen angegeben.«

»Stimmt. Sie ist in 35066 Frankenberg, Eder gemeldet«, warf Wünnenberg ein.

Hackenholt nickte. »Ihr Mann ist Deutscher, fast zwanzig Jahre älter und bezieht, übrigens genauso wie sie, Hartz IV. Nach eigenen Angaben ist sie Hausfrau. Vor vier Jahren hat sie Herrn Schäfer in Thailand kennengelernt, als der dort Urlaub gemacht hat. Über die genaueren Umstände hat sie sich nicht ausgelassen. Jedenfalls hat er sich Hals über Kopf in sie verliebt und wollte sie auf der Stelle heiraten. Das hat dann hier in Deutschland auch problemlos geklappt, doch bereits in der Anfangsphase der Ehe gab es immer wieder Konflikte. Dazu wollte Frau Schäfer jedoch keine näheren Angaben machen, außer, dass er sie nach Kneipenbesuchen in alkoholisiertem Zustand immer wieder mal geschlagen haben soll. Die Frage nach sexuellen Übergriffen hat sie jedoch verneint. Über die Jahre ist es immer schlimmer geworden, bis die Situation in einem Streit eskaliert ist. Das war eine Woche, bevor sie zu mir kam. Sie hat ihrem Mann gesagt, dass sie sich scheiden lassen will. Daraufhin hat er mit der Nachttischlampe auf sie eingeschlagen und gebrüllt, dass er sie umbringen wird. Nachdem er sich ausgetobt hatte, hat er sie im Schlafzimmer eingesperrt. Am nächsten Morgen hat er sie rausgelassen, damit sie auf die Toilette gehen konnte. In einem unbeobachteten Moment ist sie dann aus der Wohnung geflüchtet.« Hackenholt machte eine Pause.

(2)»Un wäi is nåcherdla nåch Nämberch kummer?«

»Sie sagte, eine ihrer Freundinnen wäre vor ein paar Monaten von Hannover nach Nürnberg gezogen. Die hat sie angerufen, weil sie nicht wusste, was sie tun sollte. Die Freundin hat ihr dann nicht nur eine Mitfahrgelegenheit organisiert, sondern sie auch hier bei sich aufgenommen und schließlich dazu überredet, zur Polizei zu gehen, um Anzeige zu erstatten.«

»Wurden die von dem Übergriff resultierenden Verletzungen dokumentiert?«, fragte Dr. Holm.

Hackenholt nickte. »Sie hat ein ärztliches Attest vorgelegt, und eine Kollegin von der PI Mitte hat entsprechende Fotos gemacht. Allerdings waren die Verletzungen zum Teil bereits stark verblasst und am Abheilen, weil der Vorfall schon eine gute Woche zurücklag.«

Dr. Holm nickte verstehend.

Hackenholt nahm den Faden wieder auf. »Ich habe wie üblich einen Ermittlungsbericht geschrieben und ihn nach telefonischer Rücksprache an die für den Tatort zuständige Kriminalinspektion der Polizeidirektion Waldeck-Frankenberg geschickt. Von unserer Seite war es das dann.«

»Es war dir also nicht bekannt, dass sie als Prostituierte gearbeitet hat?« Stellfeldt massierte geistesabwesend seine Glatze. »Das ist ein interessanter Aspekt, aber jetzt müssen wir erst einmal mit den Kollegen in Nordhessen reden und hören, was sie auf deinen Bericht hin unternommen haben. Das könntest du doch übernehmen, Saskia. Fahr zurück ins Präsidium, suche dir den Ermittlungsbericht samt Zeugenbefragung aus der Ablage heraus, lies dich kurz ein und häng dich dann ans Telefon.«

Dr. Holm nickte erneut. »Und fragen Sie nicht nur, was die Kollegen bisher unternommen haben, sondern faxen Sie denen gleich anschließend ein erneutes Ermittlungsersuchen. Sie sollen den Ehemann sofort ausfindig machen und sein Alibi für heute Nachmittag überprüfen. Vielleicht ist er noch auf dem Rückweg, und die Kollegen erwischen ihn, wenn er gerade nach Hause kommt.«

»Es wäre prima, wenn du das jetzt gleich übernehmen würdest«, stellte Hackenholt an Saskia Baumann gewandt noch einmal heraus. Er glaubte, Stellfeldt insofern verstanden zu haben, als dass er es für besser erachtete, wenn die junge, hübsche Beamtin aus dem Bordell verschwand. Die Prostituierten schätzten solche Frauen in ihrer Umgebung nicht sonderlich, auch dann nicht, wenn sie dienstlich vor Ort waren. Allerdings war sich Hackenholt nicht sicher, ob die Kollegen in Nordhessen, wo fast perfektes Hochdeutsch gesprochen wurde, Baumanns Fränkisch verstehen würden. Aber in diesem Fall konnte sie zur Not ja eine Mail schreiben oder ein Fax schicken.

Baumann sah nicht gerade glücklich aus bei der Aussicht, den Rest des Abends im Büro zu verbringen, fügte sich aber in ihr Schicksal.

»Wir kommen dann so bald wie möglich nach«, versprach Hackenholt.

Nachdem die junge Beamtin das Bordell verlassen hatte, verabschiedete sich auch der Jour-Staatsanwalt.

»Und jetzt?«, fragte Stellfeldt. »Machen wir erst mal weiter wie gehabt? Ich befrage mit einem Kollegen vom Dauerdienst die Prostituierten und ihr den Wirtschafter?«

Hackenholt nickte.

»Der Wirtschafter wartet in seinem Büro im Keller«, informierte ein uniformierter Kollege die beiden Ermittler, als sie ins Erdgeschoss kamen. »Übrigens sind dort auch die Gesellschaftsräume untergebracht. Ein Aufenthaltsraum für die Frauen, Küche, Waschküche und Haushaltsräume.«

Das winzige Büro des Wirtschafters verdiente seinen Namen nicht: Abstellraum wäre treffender gewesen. Das fensterlose Zimmerchen war an drei Seiten mit Regalen zugestellt, die unter dem Gewicht ihrer Beladung zusammenzubrechen drohten. Nur in der Zimmermitte war Platz für einen Schreibtisch, der mit vier Monitoren ebenso unter zu viel Gewicht ächzte. Der Mann dahinter trug eine Jeans und ein Muskelshirt, das ebendas zur Geltung brachte: die Muskeln seines Trägers. Er outete sich damit unschwer als Wirtschafter: Mädchen für alles und muskelbepackter Hausmeister, wobei es in der Jobbeschreibung wahrscheinlich vor allem auf Letzteres angekommen war.

»Andreas Lewandowski«, stellte er sich vor. »Ich sorge hier in der ›Himmelspforte‹ für den reibungslosen Ablauf. Herr Gödecke, der Betreiber, ist drüben im ›Paradies der Lüste‹. Soll ich ihn zu unserem Gespräch dazuholen?«

Hackenholt schüttelte den Kopf und nahm auf einem der Bürostühle Platz. Wünnenberg lehnte sich gegen ein Regal.

»Worin genau bestehen denn Ihre Aufgaben?«

»Ich kümmere mich um alles, was hier im Haus so anfällt. Nehme Zimmerbuchungen entgegen, lasse mir die Ausweise und Arbeitspapiere von den neuen Mädchen vorlegen, kassiere die Mieten, passe auf, dass sich die Freier benehmen, und spiele auch mal den Schlichter, wenn sich die Mädchen untereinander streiten.«

»Das machen Sie alles allein? Rund um die Uhr?«, fragte Hackenholt mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Nein, natürlich nicht. Ich habe Kollegen. Zusammen mit den anderen zwei Häusern beschäftigen wir auch noch eine Putzfrau, die hin und wieder durchsaugt. Außerdem gibt es drüben im ›Paradies der Lüste‹ eine Kantine. Für fünf Euro am Tag bieten wir Vollpension an, ganz traditionsbewusst, wie das in einem guten Familienbetrieb so üblich ist.«

»Und wie verhält es sich mit zusätzlichen männlichen Mitarbeitern?«, formulierte Hackenholt die Frage nach anderweitigem Sicherheitspersonal um.

»Wie gesagt: Ich habe Kollegen. Und ein paar Aushilfen sehen nachts am Wochenende oder bei größeren Events zusätzlich nach dem Rechten. Bei Fußballspielen oder dergleichen.« Der Mann erhob sich. »Kann ich Ihnen etwas zum Trinken anbieten? Ein Mineralwasser vielleicht?«

Hackenholt schüttelte den Kopf, und auch Wünnenberg verzichtete, nachdem er weit und breit keine Kaffeemaschine entdeckt hatte.

»Herr Lewandowski, wann haben Sie Frau Schäfer heute zum letzten Mal gesehen?«

»Da muss ich überlegen.« Er setzte sich wieder hin und kratzte sich mit der rechten Hand den Nacken. Das Verhalten wirkte einstudiert, zumal sich Hackenholt sicher war, dass er ihm nicht als Erster diese Frage stellte. »Sunee war beim Mittagessen drüben. Danach ist sie auf ihr Zimmer gegangen und hat gearbeitet.«

»Und das heißt?«

»Das heißt, dass ich sie danach nicht mehr gesehen habe.«

»Was ist mit den Überwachungskameras? Wenn Frau Schäfer nicht gearbeitet hat, wird sie doch vor ihrer Türe gesessen haben.«

Lewandowski schüttelte den Kopf. »Sunee mochte es nicht, wenn man ihr beim Warten zuschaute. Sie hat sich so in ihr Zimmer gesetzt, dass allenfalls ihre Schuhspitze zu sehen war. Außerdem ist heute Nachmittag Herr Gödecke, der Betreiber, herübergekommen. Wir hatten einiges zu besprechen, also konnte ich nur sporadisch immer mal wieder einen Blick auf die Kameras werfen.«

»Frau Schäfer ist im Laufe des Nachmittags nicht noch einmal heruntergekommen? Etwa drüben in den Aufenthaltsraum, um sich etwas zu trinken zu holen oder eine Pause zu machen?«

Der Wirtschafter schüttelte den Kopf.

»Und Ihnen ist auch nicht aufgefallen, dass ihre Türe über längere Zeit geschlossen war? Vielleicht sogar über Stunden hinweg?«

»Sunee hat sich manchmal am Nachmittag hingelegt, wenn nicht viel los war, um dann nachts fit zu sein. Die Mädchen können tun und lassen, was sie wollen. Außerdem war ich, wie gesagt, anderweitig beschäftigt.«

»Wie war das mit der japanischen Reisegruppe? Wann ist die gekommen?«

Lewandowski zog die Mundwinkel abschätzig nach unten. »So gegen drei, halb vier. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen.«

»Wie viele Männer waren es ungefähr?«

»Zehn? Zwölf?«

»Hat Frau Schäfer einen abbekommen?«

»Keine Ahnung.« Lewandowski zuckte mit den Schultern. »Hätte mich aber gewundert. Japaner wollen normalerweise große, vollbusige Blondinen.«

»Wie viele Besucher hatte Frau Schäfer im Laufe des Nachmittags?«, versuchte Hackenholt mit einer anderen Strategie voranzukommen.

»Woher soll ich das denn wissen? Wir führen hier keine Strichlisten.«

»Aber Sie sehen die Männer doch ins Haus kommen und durch die Flure laufen!«

»Trotzdem habe ich nicht die Zeit, jeden einzelnen zu beobachten, in welches Zimmer er geht!«

»Hatte Frau Schäfer heute irgendwelche Termine?«

»Wie meinen Sie das?«

»Hatte sich ein Freier telefonisch angekündigt, oder hat sie Bescheid gegeben, dass sie einen Bekannten oder ihren Ehemann erwartete?«

Der Wirtschafter schüttelte den Kopf. »Wir arbeiten nicht mit Terminvereinbarungen. Bei uns können die Kunden kommen und gehen, wann und wie sie wollen. Wenn das gewünschte Mädchen nicht frei ist, suchen sie sich entweder ein anderes oder schauen später noch mal vorbei.«

»Hatte Frau Schäfer in der Zeit, die sie hier war, Ärger mit einem Mann?«

Lewandowski verschränkte die Arme. »Alle Mädchen haben immer wieder mal Ärger mit dem einen oder anderen Mann. Vor allem die jungen Frauen, die sich noch nicht so gut im Geschäft auskennen. Da versucht schon mal ein Freier ihr hinterher einen Teil des Lohns wieder abzunehmen, weil er angeblich mit der Leistung nicht zufrieden war. Aber Sunee hat sich in den Wochen hier nicht beklagt.«

»Wenn eine Frau Schwierigkeiten hat, was tut sie dann?«

»Das kommt darauf an, wo sie sich befindet. Auf dem Flur sehe ich es mit Hilfe der Überwachungskameras, außerdem sind die anderen nicht weit und schreiten ein. Passiert etwas in den Zimmern, drücken die Mädchen den Panikknopf. Dann komme ich hoch und kümmere mich um die Angelegenheit.«

»Aber Frau Schäfer hat den Panikknopf heute nicht gedrückt?«

Er schüttelte den Kopf.

»Als die japanische Reisegruppe am Nachmittag hier war, hatte Frau Schäfer einen südländisch aussehenden Kunden. Können Sie sich an einen solchen Mann erinnern?«, wechselte Hackenholt erneut das Thema.

Wieder schüttelte Lewandowski den Kopf.

»War Frau Schäfer freiwillig hier?«

»Wie meinen Sie das?« Der Wirtschafter kniff die Augen zusammen.

»Hat ihr Ehemann sie zur Prostitution gezwungen?«

»Keine der Frauen wird bei uns zu irgendetwas gezwungen!«, protestierte Lewandowski.

Hackenholt ging nicht darauf ein. »Hat Frau Schäfer nur hier gearbeitet oder auch hier gewohnt?«

»Sie hat in dem Zimmer auch geschlafen.«

»Wie lange war sie schon hier?«

»Seit fünf Wochen.« Der Wirtschafter warf einen Blick auf den Wandkalender. »Um genau zu sein: Sie war seit dem 25. August bei uns.«

Hackenholt rechnete im Kopf nach: Das war ungefähr eine Woche, bevor Sunee Schäfer zu ihm aufs Präsidium gekommen war. »Und vorher? Wann ist sie vorher zum letzten Mal hier gewesen?« Er erkundigte sich bewusst, wann und nicht ob Sunee Schäfer bereits zuvor in dem Haus gewohnt hatte.

»Im Mai.«

»Blieb sie immer so lange?«

Lewandowski schüttelte den Kopf. »Bis jetzt ist sie immer genau zwei Wochen hier gewesen. Alle zwei Monate.«

»Und warum hat sie diesmal dann so viel länger gearbeitet?«

»Vielleicht hat es ihr diesmal besonders gut in Nürnberg gefallen?« Der Wirtschafter zuckte mit den Schultern. »Sie hat immer pünktlich ihre Miete bezahlt, mehr interessiert mich nicht.«

»Wie lange wollte sie noch bleiben?«

»Bezahlt hat sie bis kommenden Montag.«

»Wo wollte sie anschließend hin?«

Wieder zuckte Lewandowski mit den Schultern. »Ich fürchte, ich bin Ihnen keine große Hilfe.«

Hackenholt nickte, wobei offenblieb, ob er damit Lewandowskis Erkenntnis zustimmen oder das Ende des Gesprächs signalisieren wollte.

Gemeinsam gingen die beiden Beamten wieder ins Erdgeschoss zurück.

»Hast du auch das Gefühl, dass er uns irgendetwas verheimlicht?«, fragte Wünnenberg.

»Hast du etwas anderes erwartet?« Hackenholt klang müde.

»Eigentlich schon«, brummte Wünnenberg. »Immerhin ist eine der Mieterinnen umgebracht worden. Wenn alle Damen wirklich so freiwillig hier arbeiten, wie er uns glauben machen will, dann müsste es doch in seinem Interesse sein, die Tat schnellstmöglich aufzuklären. Sonst könnten sich die Frauen ein anderes Haus zum Arbeiten suchen.«

»Er wird auch alles daransetzen, die Tat aufzuklären – allerdings ohne unsere Hilfe.«

»Frank? Kommst du mal bitte?«, rief Christine Mur quer durchs Treppenhaus.

Hackenholt erklomm einmal mehr die Stufen in den vierten Stock. »Seid ihr mit dem Zimmer jetzt fertig?«

»Natürlich nicht!« Sie sah ihn böse an. »Es ist von oben bis unten voller Spuren, und alle müssen gesichert werden. Schließlich müssen wir in der Lage sein, auf jede der Einlassungen vom Täter zu reagieren und sie gegebenenfalls zu widerlegen. Auch wenn du ihn erst in einem halben Jahr oder noch später ermittelst. Aber bislang sind mir zwei Dinge aufgefallen: Wir haben in Frau Schäfers Zimmer keinen einzigen Cent und im Müll kein einziges benutztes Kondom gefunden.«

»Hm. Du meinst, sie hatte heute noch gar keinen Kunden?«

Mur schüttelte den Kopf. »Ich habe an zwei andere Szenarien gedacht: Entweder hat sie es verbotswidrig ohne gemacht, oder der Täter hat die benutzten Kondome mitgenommen, weil er seine Spuren entsorgen wollte.«

»Vielleicht hatte sie nur Kunden, denen sie … ähm … also, ich meine nur Oralverkehr.«

Murs Blick verdüsterte sich. »Schon mal was von Paragraf 6 der Bayerischen Hygiene-Verordnung gehört?«

Hackenholt sah sie unsicher an.

»In Bayern ist jegliche Form von ungeschütztem käuflichem Sex unter Androhung eines Zwangsgeldes verboten. Das gilt auch für Oralsex. Also kein ›Französisch‹ ohne Gummi! Außerdem würde das nicht erklären, warum die Thailänderin kein Geld im Zimmer hatte. Du solltest beim Wirtschafter mal nachfragen, ob die Frauen ihm ihre Einnahmen zur Aufbewahrung übergeben oder ob es sonstige Besonderheiten gibt, über die wir informiert sein sollten.«

Hackenholt nickte.

»Darüber hinaus«, fuhr Christine Mur fort, »erachte ich es als absolut sinnvoll, bei sämtlichen heute Abend anwesenden Personen nicht nur Fingerabdrücke für die daktyloskopische Untersuchung zu nehmen, sondern auch gleich eine DNA-Probe für die molekulargenetische zu erheben. Wer weiß, wie viele der Prostituierten, die heute Nacht hier gearbeitet haben, sich morgen noch in Nürnberg aufhalten.«

Hackenholt nickte noch einmal, bevor er sich auf den Weg zurück in den Keller begab. Der Wirtschafter hatte es sich zwischenzeitlich in seinem Büro gemütlich gemacht: Mit den Füßen auf dem Schreibtisch und einer Bierflasche in der Hand beobachtete er auf den Monitoren die Interaktionen der Beamten im Hausflur.

»Wie handhaben Sie es mit den Einnahmen der Frauen? Kassieren Sie die in regelmäßigen Abständen ein?«

Lewandowski warf Hackenholt einen abschätzigen Blick zu. »Ihnen will einfach nicht in den Kopf, dass wir hier nur die Zimmer und den Service stellen, die Mieterinnen aber alle auf eigene Rechnung arbeiten, oder? Ich bin kein Zuhälter, und die Mädchen sind keine Angestellten. Wir liefern die Räumlichkeiten, sie zahlen Miete. Alles andere interessiert mich nicht. Mit den Honoraren habe ich nichts zu tun.«

»Ist das nicht recht gefährlich für die Frauen? Ich meine, im Laufe einer Nacht kommt bei der einen oder anderen doch sicherlich ein ganz ordentliches Sümmchen zusammen. Hat da noch kein Freier einer Frau das Geld zu klauen versucht?«

»Damit das nicht passiert, bin ich da.«

»Frau Schäfer hat Ihnen also nicht Ihre Einnahmen übergeben? Zur Aufbewahrung, meine ich?«, wollte Hackenholt nach einer Pause nochmals wissen.

Der Wirtschafter schüttelte angewidert den Kopf.

»Und wie handhaben Sie das mit den Kondomen?«

»Es gibt keine, die es ohne Gummi macht!«, brauste Lewandowski auf. »Sie haben doch selbst oben am Eingang das Schild gesehen, das auf die Hygiene-Verordnung hinweist. Wir halten uns daran. Ich erkläre jeder Frau, dass sie sich strafbar macht, wenn sie keinen Gummi verwendet, weil wir hier in Bayern sind. Oder glauben Sie, ich bezahle fünfzehnhundert Euro Strafe? ›Tabulos‹ ist hier schon lange Vergangenheit.«

»Müssen die Frauen die Kondome auf eigene Kosten beschaffen, oder sind die in der Zimmermiete enthalten?«

»Die bringen sie selbst mit. Genauso wie ihre Bettwäsche und die Handtücher.«

»Wie häufig wird eigentlich der Müll in den Zimmern geleert?«

Der Wirtschafter sah den Hauptkommissar aus schmalen Augen an. »Was soll die Frage? Jeden Tag natürlich. Wir wollen schließlich keine Ratten im Haus haben!«

Wünnenberg betrat den Raum und machte Hackenholt ein Zeichen. Als sie vor der Tür des kleinen Büros standen, sagte er leise: »Leon Rudolph, der Freund von Marlies Steinbrunn, ist da. Wo wollen wir mit ihm reden?«

»Bring ihn hier in den Aufenthaltsraum.«

Der Mann, der mit Wünnenberg die Treppe herunterkam, war groß, blond und wirkte mit seiner an Unterernährung grenzenden Statur eher wie siebzehn als wie die dreiundzwanzig Jahre, die er laut des in seinem Ausweis vermerkten Geburtsdatums war. Außerdem war er auffallend nervös.

»Sie haben Ihre Freundin heute Nachmittag hier besucht?«, fragte Hackenholt freundlich.

Der junge Mann wirkte fahrig. »Ich weiß schon, was Sie denken. Wie kann man nur mit einer Prostituierten zusammen sein und so.«

Hackenholt schüttelte leicht den Kopf. »Wir denken gar nichts. Das ist allein Ihre Sache. Warum sollte außerdem nicht auch eine Sexworkerin eine intakte Beziehung haben? Alles andere sind Klischees von gestern. Uns interessiert etwas ganz anderes: Es geht um Ihren Besuch heute Nachmittag. Wann sind Sie hergekommen?«