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Gegenüber dem Volksbad beim Plärrer wird in der Nacht auf Samstag ein Mann mit schwersten Kopfverletzungen tot aufgefunden. Was zunächst wie ein Verkehrsunfall wirkt, entpuppt sich schnell als gezielter Angriff auf den Vater eines Sohnes, der sich nach einem Club-Spiel auf dem Heimweg befand. Wer kann ihm das angetan haben? Dass eine Handvoll Nürnberger Fans durch soziale Medien aufgestachelt die Sache selbst klären will, macht Hackenholt und seinem Team die Suche nach dem Täter nicht einfacher. Doch dann meldet sich der Zeuge eines früheren Kriminalfalls, und plötzlich führt die Spur in eine ganz andere Richtung ...
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Seitenzahl: 403
Plärrer Mord
– Hackenholts macht Urlaub –
von
Stefanie Mohr
EBOOK
Stefanie Mohr, geboren 1972, liebt ihre Heimatstadt Nürnberg, in der sie (fast) jeden Winkel kennt. Sie wohnt und arbeitet als freiberufliche Autorin und Fotodesignerin im Nürnberger Norden. Nähere Informationen: www.stefanie-mohr.com
In dieser Reihe bereits erschienen: »Die vergessenen Schwestern«, »Das letzte Lächeln«, »Die dunkle Seite des Sommers«, »Frauentormauer«, »Glasscherbenviertel«, »Reichskleinodien«, »Tödliche Kristalle«, »Bombenstimmung«, »Tief im Brunnen«, »Südstadtblüten«, »Schmerzhafte Wahrheit«, »Feuchtes Grab«,»Schwerer Seegang« und»Plärrer Mord«.
Gegenüber dem Volksbad beim Plärrer wird in der Nacht auf Samstag ein Mann mit schwersten Kopfverletzungen tot aufgefunden. Was zunächst wie ein Verkehrsunfall wirkt, entpuppt sich schnell als gezielter Angriff auf den Vater eines Sohnes, der sich nach einem Club-Spiel auf dem Heimweg befand. Wer kann ihm das angetan haben? Dass eine Handvoll Nürnberger Fans durch soziale Medien aufgestachelt die Sache selbst klären will, macht Hackenholt und seinem Team die Suche nach dem Täter nicht einfacher. Doch dann meldet sich der Zeuge eines früheren Kriminalfalls, und plötzlich führt die Spur in eine ganz andere Richtung ...
+++HINWEIS:+++
Die Übersetzung der fränkischen Passagen befinden sich im Anhang und sind im Text mit Fußnoten gekennzeichnet. Klickt man auf die Ziffer, gelangt man direkt zur Übersetzung, klickt man dort erneut auf die Ziffer, gelangt man zurück an die Textstelle.
ISBN: 978-3-946035-23-7 (EPUB)
Copyright © Stefanie Mohr, 2022.
All Rights Reserved - Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Stefanie Mohr
Verlag: Edition Gelbes Sofa, Inh.Stefanie Mohr, Nordring 125, 90409 Nürnberg
Originalausgabe
Sophie stand am Schlafzimmerfenster und starrte hinaus in die Dunkelheit, die ihren liebevoll angelegten Garten umhüllte. Ihr Leben hatte sich in den letzten Wochen verändert. Ihre inzwischen vierjährige Tochter ging seit September in den Kindergarten, die Vormittage gehörten wieder ihr und ihrer Arbeit. Doch die stets gleichen Formulierungen in den Reiseführern, die sie übersetzte, hatten für sie ihren Reiz verloren. Immer öfter ertappte sie sich dabei, dass sie, anstatt zu arbeiten, das Internet nach Rezepten durchstöberte oder stundenlang in der Küche stand und neue Kreationen erfand.
Als sie ihren Mann kennenlernte, hatte sie nebenbei als Privatköchin gearbeitet und zu besonderen Anlässen in den Wohnungen der Kundschaft gekocht. Alternativ mietete sie sich stundenweise in einer Gewerbeküche ein, wo sie für Jubiläen und Hochzeiten backte. Dieser Teil ihres Berufslebens war mit Ronja nach und nach eingeschlafen.
Vor einigen Wochen hatte sie völlig überraschend eine Anfrage erhalten, ob sie nicht wieder einmal im Monat ein Catering übernehmen wolle. Schweren Herzens hatte sie abgelehnt, weil sie sich wegen eines Inhaberwechsels nicht mehr in die gewohnte Profiküche einmieten konnte. Inzwischen reute sie die Absage sehr.
Und dann hatte sie vor drei Tagen im Schaufenster einer winzig kleinen, leer stehenden Eisdiele ganz in der Nähe ein Zu-vermieten-Schild entdeckt. Ihr Herz hatte sofort höhergeschlagen. So hoch, dass sie nicht nur die Verwalterin angerufen und einen Besichtigungstermin für diesen Samstagnachmittag vereinbart, sondern auch gleich Berechnungen angestellt hatte, wie viele Einnahmen sie generieren musste, damit sich zumindest die Miete trug.
Plötzlich begann das Handy ihres Ehemannes zu piepen. Sophie zuckte unwillkürlich zusammen. Sie fühlte sich ertappt. Schlaftrunken richtete sich Hackenholt im Bett auf, tastete nach dem Störenfried und meldete sich mit einem unwilligen Brummen. Jahrelange Erfahrung hatte Sophie gelehrt, dass er kein Wort herausbrachte, wenn er aus einer Tiefschlafphase gerissen wurde. Erst nach einigen Augenblicken nuschelte er etwas, das wie »Ich mach mich auf den Weg« klang. Dann legte er das Handy weg und rieb sich die Augen. Jetzt erst bemerkte er sie am Fenster.
»Was tust du da?«
»Ich dachte, da wäre jemand«, flunkerte Sophie.
»Was?« Mit einem Mal hellwach sprang Hackenholt aus dem Bett, riss das Fenster auf und spähte hinaus. »Was genau hast du gesehen?«, fragte er schließlich, als er nichts Ungewöhnliches entdeckte.
»Ich weiß nicht ...«, stammelte sie und verwünschte sich, weil sie nicht einfach gesagt hatte, dass sie nicht hatte schlafen können. Dabei hätte das gestimmt. Denn obwohl der Besichtigungstermin in weniger als zwölf Stunden stattfand, hatte sie Hackenholt noch nichts davon erzählt. Ständig war etwas dazwischengekommen. Und jetzt war definitiv auch kein geeigneter Moment. »Ich muss mich wohl getäuscht haben«, murmelte sie verlegen und drehte sich vom Fenster weg. »Wahrscheinlich war es nur ein Betrunkener, dem eine Bierflasche aus der Hand gerutscht ist.«
Es war fast vier Uhr morgens, als Hackenholt am Plärrer eintraf, sein Auto an der Einmündung der mit rot-weißem Flatterband abgesperrten Rothenburger Straße parkte und sich zu seinem Kollegen Martin Groß und Dr. Puellen gesellte. Offenbar befand sich der Tatort schräg gegenüber des nach wie vor im Dornröschenschlaf liegenden Volksbads. Zumindest war dort auf dem Parkstreifen ein Zelt aufgebaut worden.
»Was liegt an?«, erkundigte sich Hackenholt nach einer knappen Begrüßung.
»Ein Passant hat um null Uhr acht den Notruf gewählt«, las Groß von seinem Notizblock ab.
Hackenholt runzelte die Stirn. Mitternacht war vor vier Stunden gewesen. Warum war er nicht früher verständigt worden?
Bevor er nachfragen konnte, machte Martin Groß weiter: »Er hat einen Mann zwischen zwei parkenden Autos liegen sehen und den Rettungsdienst gerufen, weil er dachte, der Kerl wäre betrunken. Die Sanis haben dann festgestellt, dass der Patient bewusstlos war, und mit der Reanimation begonnen, während sie auf den Notarzt gewartet haben.«
»Der Tatort ist aus kriminaltechnischer Sicht der reinste Horror«, ließ sich eine Stimme aus dem Hintergrund vernehmen. Es war Christine Mur. Wie immer, wenn sie Spuren an einem Verbrechensschauplatz sicherte, war sie von oben bis unten in Schutzkleidung eingemummt.
»Die Kollegen von der Streife sind zunächst davon ausgegangen, dass es sich um einen Verkehrsunfall mit Fahrerflucht handelt«, fuhr Martin Groß fort. »Dafür sprechen aber weder die Verletzungen des Opfers noch die Auffindesituation. Das ist jedoch erst dem Dienstgruppenleiter aufgefallen. Daher hat sich alles ungewöhnlich lang hinausgezögert.«
»Was dem Tatort noch weniger gutgetan hat«, knurrte Mur.
»Woran ist das Opfer gestorben?«, fragte Hackenholt. Fröstelnd schlug er den Kragen seines Jacketts hoch. Für Mitte Oktober war der böige Südwestwind deutlich zu frisch.
»An einer stumpfen Gewalteinwirkung gegen den Kopf«, erklärte Puellen.
»Im Klartext: Tritte gegen den Kopf«, konkretisierte Mur. »Das Gesicht des Opfers wurde übel zugerichtet. Im Rinnstein habe ich einen abgebrochenen Zahn entdeckt. Und blutige Schuhabdrücke führen in Richtung Bauerngasse.«
»Können die Schuhspuren vom Rettungspersonal stammen?«
Mur verneinte. Wortlos wandte sich Hackenholt ab, um zu einem von der Spurensicherung errichteten Zelt zu gehen. Puellen hielt ihn jedoch zurück.
»Die Leiche befindet sich bereits auf dem Weg in die Rechtsmedizin.«
»Das Opfer heißt Kurt Bencker und hat gleich hier gewohnt.« Christine Mur deutete auf den lang gestreckten Gebäudekomplex, vor dem sie standen. »Ich habe das hier in seinen Taschen gefunden.« Sie reichte Hackenholt mehrere Asservatenbeutel, in denen eine Geldbörse, eine Armbanduhr, ein Smartphone, ein Schlüsselbund und ein Personalausweis lagen.
»Einen Raub können wir damit wohl ausschließen.« Hackenholt musterte das Foto des Ausweisdokuments. Es zeigte einen Mann mit kurz geschnittenen, dunklen Haaren und tiefen Geheimratsecken. Rasch überschlug er, dass Kurt Bencker nur siebenunddreißig Jahre alt geworden war.
»Bisschen voreilig, nicht?« Mur sah ihn stirnrunzelnd an. »Kurz vor Mitternacht an einem Freitagabend ist das hier nicht gerade eine ruhige Ecke. Der Räuber könnte gestört worden sein und nur deshalb von seinem Opfer abgelassen haben.«
Hackenholt wiegte den Kopf hin und her und wechselte das Thema. »Hast du den Passanten befragt, der den Toten gefunden hat?«
»Der Mann hat sich unmittelbar nach Eintreffen des Rettungswagens getrollt«, erklärte Martin Groß. »Nicht einmal die Kollegen von der Streife konnten mit ihm sprechen.«
»Wir müssen seine Identität feststellen und ihn befragen«, entschied Hackenholt. »Er ist ein wichtiger Zeuge: Er könnte dem Täter begegnet sein.«
»Darum kümmert sich Saskia Baumann. Sie ist auf dem Weg in die Dienststelle. Ich habe sie außerdem gebeten, in der Einsatzzentrale Kopien der Überwachungsvideos vom Plärrer zu organisieren.«
Da es sich hierbei um einen Verbrechensschwerpunkt handelte, wurde der gesamte Platz polizeilicherseits rund um die Uhr videoüberwacht. Hackenholts Augen schweiften über den Gehweg zurück in die Richtung, in der er sein Auto abgestellt hatte. Auf Höhe des Planetariums machte die Straße einen Knick. Das Verbrechen konnte nicht aufgezeichnet worden sein. Aber möglicherweise waren Opfer und Täter von dort gekommen.
»Gibt es sonstige Zeugen, die etwas gesehen oder gehört haben?«, erkundigte er sich.
»Bislang hat sich niemand gemeldet. Aktuell klappern drei Teams vom Kriminaldauerdienst die umliegenden Häuser ab«, sagte Martin Groß.
»Wurden die Angehörigen verständigt?«
»Die Kollegen versuchen derzeit herauszufinden, ob es welche in Nürnberg gibt. Unter der hiesigen Adresse ist nur das Opfer gemeldet.«
»Dann lass uns einen Blick in die Wohnung werfen. Vielleicht finden wir dort Hinweise auf das Geschehen«, entschied Hackenholt.
»Die Obduktion habe ich für sieben Uhr angesetzt«, tönte Puellen den entschwindenden Rücken hinterher. »Seid bitte pünktlich.«
»Maurice, das schaffen wir nicht.« Hackenholt blieb stehen und wandte sich noch einmal um.
»Also gut, weil du es bist: Sagen wir halb neun. Später geht nicht, ich habe heute Nachmittag einen wichtigen Termin.«
Kurt Benckers Wohnung lag im zweiten Stock und ging nach hinten raus. Vom Straßenlärm bekam man hier nichts mit. Hackenholt schaltete in allen Zimmern Licht ein und unterzog eins nach dem anderen einer oberflächlichen Inspektion. Nichts wies darauf hin, dass Kurt Bencker Besuch gehabt und sich ein etwaiger Streit auf die Straße verlagert hatte. Außerdem entdeckte Hackenholt weder im Badezimmer noch in den anderen Räumen Dinge, die darauf hindeuteten, dass außer ihm eine weitere Person in der Wohnung lebte. Im Wohnzimmer nahm ein riesiges Bücherregal die gesamte Wand ein. Und im Arbeitszimmer gab es eine Vitrine, in der sich mehrere aus Bausteinen zusammengebastelte Monstertrucks befanden. War das ein Hobby des Opfers gewesen oder hatte er Kinder? Auf dem Schreibtisch lag ein Terminkalender. Für vergangenen Freitag war nur ein einziger Eintrag vermerkt: Nils. Als Uhrzeit war achtzehn Uhr dreißig eingekringelt.
Martin Groß betrachtete unterdessen einen Bogen Briefpapier, auf dem neben dem Logo der Name des Opfers stand. »Kurt scheint Grafikdesigner gewesen zu sein und eine eigene Firma gehabt zu haben.«
Hackenholt sah kurz auf und nickte, dann blätterte er weiter in dem Terminkalender. Es gab kaum Einträge. Plötzlich ertönte ein Klopfen an der Wohnungstür. Rasch ging er in den Flur und warf einen Blick durch den Türspion. Es waren zwei Kollegen vom Kriminaldauerdienst.
»Christine hat uns gesagt, dass wir euch hier finden«, erklärte eine hochgewachsene Beamtin. »Wir haben alle Nachbarn befragt. Die Einzige, die etwas gehört haben will, ist Antje Popp. Sie wohnt im dritten Stock und hat gegen dreiundzwanzig Uhr dreißig draußen einen Streit bemerkt. Jemand soll Lügner gerufen haben. Aber sie hat nicht aus dem Fenster geblickt, um nachzusehen, was los war. Angeblich grölen ständig irgendwelche Besoffenen auf der Straße herum, sodass das nichts Ungewöhnliches ist.«
»Und trotzdem kann sie sich daran erinnern und hat sogar auf die Uhr geschaut«, stellte Hackenholt fest.
Die Beamtin nickte. »Es gibt noch etwas, das mich stutzig gemacht hat: Die Frau hat von sich aus gefragt, ob es um Kurt Bencker geht.«
Hackenholt zog die Augenbrauen hoch.
»Ich wollte natürlich wissen, warum sie das denkt, aber sie ist der Frage ausgewichen.«
»Sie war allerdings schockiert, als wir ihr mitgeteilt haben, dass der Mann tot ist«, ergänzte ihr Kollege. »Ihr solltet noch mal etwas ausführlicher mit ihr reden. Uns gegenüber hat sie angegeben, dass sie ihn lediglich gut gekannt hat. Aber ich weiß nicht ... Mein Gefühl sagt mir, dass da mehr war.«
»Von ihr wissen wir auch, dass das Opfer einen dreizehnjährigen Sohn namens Nils hat, der bei der Mutter lebt. Ansonsten gibt es nur noch eine Schwester: Kerstin Schröder.«
Hackenholt zückte sein Notizbuch und notierte sich Stichpunkte. Im Stillen bezweifelte er, dass die Beobachtung von Bedeutung war. Die Uhrzeit passte nicht. Kurt Bencker war erst vierzig Minuten später gefunden worden. Er dankte den Kollegen und ging zurück ins Arbeitszimmer. Martin Groß hielt sein Handy ans Ohr gedrückt und gestikulierte, dass er etwas Hilfreiches gefunden hatte. Sofort erkannte Hackenholt das tiefblaue Familienbuch, das von der Stadt Nürnberg ausgegeben wurde.
Martin Groß gab Saskia Baumann die Namen sowie Geburts- und Sterbedaten von Kurt Benckers Eltern durch und bat sie, die Adresse von dessen zwei Jahre jüngerer Schwester ausfindig zu machen.
»Lass uns gehen«, sagte Hackenholt, nachdem Groß das Telefonat beendet hatte. »Für den Moment haben wir erledigt, weshalb wir hergekommen sind. Alles Weitere hat Zeit.«
Gemeinsam verließen sie die Wohnung und versiegelten die Tür. Auf der Straße sahen sie noch einmal bei Christine Mur vorbei, die mit ihrem Team Meter für Meter den durch Scheinwerfer taghell erleuchteten Gehweg penibel absuchte und alles, was herumlag, in detailliert beschriftete Asservatenbeutel verpackte.
»Auf dem Autodach«, sie deutete auf einen dunklen Citroën, »lag eine Pizzaschachtel mit einer angebissenen Pizza.«
»Danke, ich habe gerade keinen Hunger.« Martin Groß rümpfte gespielt die Nase. »Aber wenn du möchtest ... iss so viel du willst.«
Mur streckte ihm erbost die Zunge heraus, was man jedoch wegen des Mundschutzes nur ahnen konnte, und sah demonstrativ zu Hackenholt. »Ich werde versuchen, entlang der Bissspuren DNA-Proben zu nehmen. Außerdem könnte der Karton selbst ein brauchbarer Spurenträger sein.«
»Ich wette, dass es sich nur um Müll handelt«, tönte Groß.
Hackenholt war geneigt, ihm zuzustimmen. Er sah vor seinem inneren Auge nicht, wie der Täter oder das Opfer erst feinsäuberlich den Pizzakarton auf einem Autodach abgestellt hatte, bevor es zu dem Angriff gekommen war. Ein paar Jugendliche, die grölend durch die Straße zogen und es lustig fanden, die angegessene Pizza irgendwo Deplatziertes abzulegen, passte wesentlich besser ins Bild.
Im Kommissariat angekommen stellten die beiden Kriminalbeamten fest, dass Saskia Baumanns Büro hell erleuchtet war. Von der Kollegin selbst fehlte jedoch jede Spur. Gerade als Hackenholt sie anrufen und fragen wollte, wo sie steckte, piepte sein Handy.
(1)»Konnsd ersu schnell wäi’s ner gäid ins Bolizeibresidium kummer?«, rief sie aufgeregt.
»Ich bin in meinem Büro. Wo bist du?«
(2)»Ban Griminåldauerdiensd. Kumm bidschön glei nunder. Däi hammer Video gfundn.«
Hackenholt hakte nicht nach, worum es sich genau handelte. Baumanns Tonfall signalisierte ihm, dass es etwas Wichtiges war. Wahrscheinlich hatte eine der Überwachungskameras am Plärrer Kurt Bencker erfasst, sodass sich ein Stück des Wegs rekonstruieren ließ, den er unmittelbar vor seinem Tod genommen hatte. Vielleicht war er auch in Begleitung gewesen. Eilig schlüpfte Hackenholt wieder in sein Jackett und bedeutete Martin Groß, mitzukommen.
Sie hatten kaum das Kommissariat verlassen, als Hackenholts Handy erneut Laut gab. Diesmal war es der Pressesprecher, der Bereitschaftsdienst hatte. Die Presse stellte bereits erste Anfragen wegen des großen Polizeiaufgebots in der Rothenburger Straße.
»Stumpfe Gewalteinwirkung gegen den Kopf«, erklärte Hackenholt knapp. »Zur Identität des Mannes können wir noch keine Angaben machen, da wir erst die Angehörigen ermitteln und verständigen müssen. Die Obduktion findet am Vormittag statt. Mehr kann ich dir im Moment nicht sagen. Es wäre gut, wenn wir den Ball erst mal flach halten könnten.«
Im Büro des Dienstgruppenleiters hatten sich mehrere Beamte des Kriminaldauerdiensts versammelt. Alle starrten gebannt auf einen Computerbildschirm, als Hackenholt und Groß eintraten.
(3)»Då werdds ann ganz anderschd, wemmer des sichd.« Saskia Baumann schüttelte angewidert den Kopf.
Zwei der Umstehenden machten Platz, sodass die beiden Neuankömmlinge das Geschehen auf dem Monitor mitverfolgen konnten. Der Bildausschnitt des Überwachungsvideos wurde linker Hand von einem Gebäude und rechter Hand von der Rothenburger Straße begrenzt.
»Der Plärrer befindet sich in unserem Rücken«, ordnete der Dienstgruppenleiter die örtliche Lage ein. »Hier links ist die Einmündung des Fußwegs zur Elsnerstraße. Knapp zehn Meter hinter uns ist der Eingang zu dem Haus, in dem das Opfer gewohnt hat.«
In ungefähr fünfzig Metern Entfernung bog ein Mann aus dem Fußweg in die Rothenburger Straße ein und ging auf die Zuschauer zu.
(4)»Des is unser Obfer«, erläuterte Saskia Baumann.
In der Hand trug Kurt Bencker einen Pizzakarton. Ihm folgte mit etwas Abstand eine zweite Person. Nach ein paar Schritten blieb Kurt Bencker stehen und drehte sich zu dem Unbekannten um. Sie schienen miteinander zu reden. Dann ging Bencker weg. Der andere machte keine Anstalten, ihm weiter zu folgen. Doch plötzlich fuhr Kurt Bencker herum. Während er zurücklief, legte er den Pappkarton auf dem Dach eines geparkten Kleinwagens ab. Im selben Moment rannte der andere auf ihn zu, hob den Arm und streckte ihn mit einem Faustschlag nieder. Bencker sackte in sich zusammen und fiel rücklings zwischen zwei Autos auf den Parkstreifen, sodass man nur noch seine Füße und die Beine bis zu den Knien sah. Hackenholt konzentrierte sich, doch er konnte keine Bewegung wahrnehmen. War der Mann zu dem Zeitpunkt bereits tot? Oder nur bewusstlos? Sein Kontrahent setzte ihm jedenfalls sofort nach und stürzte sich regelrecht auf ihn. Man konnte nicht direkt sehen, wie er den reglosen Körper mit Tritten und Schlägen malträtierte. Man erkannte nur die ausholenden Arm- und Beinbewegungen. Eine Orgie der Gewalt. Nach einigen Sekunden, die Hackenholt wie Minuten vorkamen, ließ der Angreifer von seinem Opfer ab und rannte in Richtung Bauerngasse davon.
»Woher habt ihr das Video?«, erkundigte sich Martin Groß.
»Einer der Bewohner im Nachbarhaus hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass der Laden im Erdgeschoss eine Videoüberwachung hat, weil dort mehrfach eingebrochen wurde«, erklärte ein älterer Beamter. »Wir haben daraufhin postwendend den Inhaber angerufen und ihn gebeten, in sein Geschäft zu kommen.«
»Spiel die Aufnahme noch mal ab«, bat Hackenholt.
»Es geht eigentlich noch weiter«, warnte der Dienstgruppenleiter, kam seinem Wunsch aber dennoch nach.
Wieder beobachteten alle, wie Kurt Bencker um die Ecke bog, wie der andere ihm folgte. Es gab keinerlei Hinweise darauf, wer der Fremde sein mochte. Das Videomaterial war sehr schlecht. Die Haare des Unbekannten sahen komisch aus. Es schien, als habe er eine Glatze oder kurz rasierte Stoppeln. Hinsichtlich der Kleidung glaubte Hackenholt ausmachen zu können, dass er eine dunkle Jacke, womöglich eine Kapuzenjacke, und eine schwarze Hose trug.
Opfer und Täter unterhielten sich. Ein letztes Wort, dann lief Kurt Bencker weiter. Warum drehte er sich danach noch einmal um und ging zurück? Hatte der andere ihm etwas hinterhergerufen? Eine Beleidigung, die er nicht auf sich sitzen lassen konnte? Hackenholt schaute auf die Zeiteinblendung. Dreiundzwanzig Uhr einunddreißig. Das passte zu der Aussage der Zeugin aus dem dritten Stock, die einen Streit auf der Straße gehört hatte.
Als der Gewaltexzess vorüber war, zoomte der Schichtleiter in das Bild hinein. Nun sah Hackenholt etwas Helles an den Fersen des Täters aufleuchten, als dieser wegrannte. Es mussten Reflektoren an den Schuhen sein. Das bedeutete: Der Mann trug Sneaker.
»Wer kann eine solche Wut auf Kurt Bencker gehabt haben?« Martin Groß blickte die Kollegen bestürzt an.
»Passt auf, gleich passiert noch etwas Eigenartiges«, warnte der Dienstgruppenleiter. Beunruhigt beugte sich Hackenholt wieder zum Bildschirm.
Ungefähr vier Minuten nach dem tödlichen Angriff schlenderte ein Mann höchstens einen halben Meter von Benckers Füßen entfernt direkt an ihm vorüber. Als er auf gleicher Höhe mit dem reglosen Körper war, begann er zu rennen. Weitere sechs Minuten später lief derselbe Kerl den Weg zurück, den er gekommen war. Erneut ging er an der Stelle vorbei, an der Kurt Bencker nach wie vor unentdeckt lag. Hackenholt fragte sich, wie jemand eine Person übersehen konnte, über deren Füße man fast stolperte.
»Ich glaube, das ist wirklich von Bedeutung«, murmelte er. »Hat der Mann den Angreifer gesehen? Ist er ihm außerhalb des Aufnahmebereichs der Kamera begegnet? Ist er möglicherweise selbst der Täter? Die Bildqualität ist so was von unterirdisch, dass wir das nicht ausschließen können.«
»Unterm Strich hat es annähernd vierzig Minuten gedauert, bis ein Passant vorbeigekommen ist, der den Rettungsdienst verständigt hat«, unterstrich der Dienstgruppenleiter.
(5)»Schwer vuurschdellbår«, kommentierte Saskia Baumann »Wäi machmern weider?«
»Ich habe eine Fahndung nach dem Täter herausgegeben«, warf der Dienstgruppenleiter ein. »Aber mehr als schlank, die ungefähre Größe und dunkle Kleidung wissen wir nicht. Das macht die Suche nicht gerade einfach. Man kann nicht einmal abschätzen, wie alt er ist.«
Hackenholt nickte zustimmend. Der Angreifer konnte alles von Anfang zwanzig bis Mitte fünfzig sein. Der Beamte beugte sich vor, zog den USB-Stick von seinem Computer ab und reichte ihn Hackenholt.
»Darauf ist das komplette Video von diesem Abend gespeichert bis zu dem Moment, als meine Leute es sichergestellt haben. Außerdem haben wir Kopien der Aufnahmen der Überwachungskameras vom Plärrer gezogen.«
»Bist du mit Benckers Schwester weitergekommen?«, erkundigte sich Hackenholt bei Saskia Baumann.
(6)»Ja, däi Fraa Schröder wohnd in Langwasser.«
»Kannst du jemanden aus deinem Team entbehren?«, fragte Hackenholt den Dienstgruppenleiter.
»Die Frühschicht kann dir mit Sicherheit mit dem einen oder anderen Kollegen aushelfen. Wir sind jetzt weg.« Der Beamte gähnte demonstrativ und streckte sich. »Es ist höchste Zeit für den Feierabend.«
Hackenholt warf einen Blick auf die Wanduhr. Es war kurz vor sieben, das Schichtende lang vorbei. »Saskia, schnapp dir einen Kollegen und überbringe der Schwester die Todesnachricht«, bat er. Schnell überschlug er im Kopf, wann er von der Obduktion zurück sein würde. »Falls sie sich dazu in der Lage sieht, bitte sie, gegen dreizehn Uhr in die Dienststelle zu kommen. Für die Ermittlungen wäre es sehr wichtig, wenn wir heute noch mit ihr sprechen könnten.«
Auf dem Rückweg ins Kommissariat zückte Hackenholt sein Handy und rief Christine Mur an.
»Du hattest recht: Der Pizzakarton hat mit unserem Fall zu tun. Er hat dem Opfer gehört. Der Täter hat ihn nicht berührt.«
»Woher weißt du das?« Die Beamtin klang verblüfft.
»Es ist eine Videoaufnahme von der Tat aufgetaucht. Kannst du mir Fotos von dem Karton senden? Ich hoffe, wir können herausfinden, woher die Pizza stammt, und so den Weg rekonstruieren, den Kurt Bencker genommen hat. Bislang wissen wir lediglich, dass er aus der Elsnerstraße kommend in die Rothenburger Straße gelaufen ist.«
»Wird gemacht!«
»Sehen Pizzakartons nicht alle gleich aus?«, fragte Martin Groß zweifelnd, nachdem Hackenholt das Handy weggesteckt hatte.
»Nicht unbedingt. Manche haben eine grüne Schrift, andere eine rote. Auf einigen gibt es anstelle der Aufschrift ein Bild von einem Pizzabäcker oder einer Pizza.«
»Aber es steht keine Adresse drauf. Kurt kann sie wer weiß wo gekauft haben.«
»Die meisten Menschen essen ihre Pizza gerne warm«, entgegnete Hackenholt. »Die Chancen stehen also gut, dass er sie nicht sonst wo geholt und stundenlang mit sich herumgetragen hat, um sie anschließend in der Mikrowelle aufzuwärmen. So etwas Perverses tun nur Kripobeamte.«
Martin Groß grinste. »Sie war angegessen«, gab er dann jedoch zu bedenken. »Für mich sieht das mehr so aus, als hätte Kurt den Rest nicht wegwerfen, sondern mit nach Hause nehmen wollen.«
Hackenholts Handy piepte. Wie versprochen hatte Mur ihm Fotos von dem Karton und der Pizza geschickt.
»Es fehlen nur zwei Stücke. Danach ist man nicht satt.« Hackenholt sah seinen Kollegen an und zuckte mit den Schultern. »Es gibt sicher viele Möglichkeiten. Aber egal wie, wir müssen herausbekommen, wo Kurt Bencker sie gekauft hat. Es ist wichtig, dass wir den gesamten Weg rekonstruieren, den er vor dem Angriff genommen hat.«
»Dann sollten wir seinen Geldbeutel durchsehen, bevor wir zur Obduktion fahren. Er könnte eine Quittung eingesteckt haben.«
»Das halte ich für unwahrscheinlich«, antwortete Hackenholt, der sich nicht erinnern konnte, für eine Mitnahmepizza jemals einen Kassenbon erhalten zu haben.
Martin Groß stieß die Tür zum Kommissariat auf. Sofort stieg ihnen der Duft frisch gekochten Kaffees in die Nase.
»Die Verstärkung ist eingetroffen«, kommentierte er grinsend und beschleunigte seinen Schritt. Man hätte denken können, er befände sich auf Koffeinentzug. Als Hackenholt das Büro erreichte, das sich Ralph Wünnenberg und Martin Groß teilten, hatte sich Letzterer schon eine Tasse geschnappt. »Magst du auch einen Kaffee?«
Hackenholt schüttelte den Kopf und reichte Wünnenberg den USB-Stick mit dem Überwachungsvideo.
Im Flur wurden Schritte laut. Es war Manfred Stellfeldt. Der dienstälteste Kollege des Teams stellte seinen Aktenkoffer auf seinem Schreibtisch ab, dann kam er herüber. Zu viert sahen sie sich das Video an. Bei jeder Wiederholung glaubte Hackenholt, etwas Neues zu entdecken. Eine Bewegung, ein Zögern, einen Schrei.
»Auch nach all den Dienstjahren kann ich nicht verstehen, was manche Menschen dazu bewegt, wie Tiere übereinander herzufallen«, kommentierte Stellfeldt und massierte nachdenklich seine Glatze. »Wenn ich das sehe, stellt sich mir sofort die Frage nach dem Motiv: Warum wurde Kurt Bencker an diesem Abend auf offener Straße mit derartiger Brutalität angegriffen?«
»Es gibt eigentlich nur drei Gründe«, bestätigte Hackenholt. »Erstens: Er ist Teil einer Fehde. Zweitens: Er hatte in der Vergangenheit mit jemandem Streit, den er nun wiedergetroffen hat. Die dritte – und für uns schlimmste – Möglichkeit wäre, dass es sich bei dem Täter um einen Fremden handelt, der die Stadt nur besucht hat.«
Bei dem Stichwort machte Stellfeldt auf den Hacken kehrt und lief in sein Büro. Als er zurückkam, hielt er einen kleinen Kalender in der Hand. »Messen finden derzeit keine statt. Größere meldepflichtige Veranstaltungen gibt es genauso wenig. Aber der Club hatte gestern ein Heimspiel. Spielbeginn war um achtzehn Uhr dreißig. Zu Ende dürfte es gegen zwanzig Uhr fünfzehn plus etwaige Nachspielzeit gewesen sein.«
»Und wie gewöhnlich haben unsere Helden verloren«, tönte Wünnenberg. »Gegen Dynamo Dresden.«
»Heißt das, es hat sich um ein Risikospiel gehandelt?«, fragte Hackenholt.
»Beim Club sind alle Spiele Hochrisikospiele – bloß nicht für den Gegner.«
Hackenholt warf Wünnenberg einen bohrenden Blick zu.
»Laut Lagebericht wurden einige Personen aus dem Problemfanmilieu erwartet. Zudem sind die Fangruppen seit Langem verfeindet.« Wie immer war es Manfred Stellfeldt, der eine vernünftige Antwort gab.
»Nach Fantrikot sieht weder die Kleidung des Täters noch die von Kurt Bencker aus«, bremste Martin Groß. »Davon abgesehen wage ich zu bezweifeln, dass sich Fans in diese Ecke verirren. Die fahren zum Hauptbahnhof und ziehen allenfalls ein bisschen durch die Innenstadt, um zu feiern.« Er sah auf die Uhr. »Wir sollten uns auf den Weg nach Erlangen machen. Ich habe von Rechtsmedizinern gehört, die es nicht sonderlich zu schätzen wissen, wenn man sie warten lässt.«
»Vor allem nicht, wenn sie am Nachmittag einen wichtigen Termin haben.« Hackenholt konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und fragte sich im Stillen, was Puellen wohl für eine unaufschiebbare Verabredung haben mochte, dass dafür sogar seine geliebte Arbeit hintanstehen musste.
»Och nö!«, stöhnte Martin Groß auf einmal auf, während Hackenholt den Dienstwagen rückwärts in eine Lücke auf dem kleinen Privatparkplatz des Instituts bugsierte. »Als ob wir mit diesem Wochenenddienst nicht genug gebüßt hätten.«
Hackenholt ahnte, wen der Kollege entdeckt hatte. An der Obduktion eines Verbrechensopfers nahmen üblicherweise Vertreter mehrerer Dienststellen teil. Und auch die Staatsanwaltschaft konnte einen Vertreter entsenden. Oder eine Vertreterin. In diesem Fall war es Frau Müller-Kolokowski.
»Wo?«, fragte Hackenholt knapp, benötigte jedoch keine Antwort, denn aus dem Augenwinkel bemerkte er einen dunklen BMW.
Begleitet von Martin Groß’ glucksendem Lachen mühte sich die Staatsanwältin mit einer Parklücke ab, die doppelt so groß war wie ihr Fahrzeug. Nach drei Minuten gab sie es auf und ließ das Auto halb in der Parkbucht, halb auf der Fahrbahn stehen.
»Weißt du, was ich jetzt wahnsinnig gerne tun würde?«, murmelte Martin Groß.
»Ihr ein Knöllchen schreiben?«, riet Hackenholt und schüttelte den Kopf über die kindlichen Allüren des Kollegen. »Wir sollten aufpassen, dass sie uns nicht sieht. Sonst weiß sie, dass wir ihr zugesehen haben, und dann werden wir in Steine verwandelt.«
»Dann warten wir besser, bis sie im Institut ist.«
Gemeinsam beobachteten sie, wie Frau Müller-Kolokowski die Straße überquerte, die Stufen zum Portal erklomm und hinter der schweren Eingangstür verschwand. Groß zählte laut bis hundert, erst danach stiegen sie aus und folgten ihr.
Ein paar Minuten später war das Parkdebakel jedoch vergessen. Hackenholt konzentrierte sich auf die Röntgenbilder, die Puellen vorab von der Leiche gefertigt hatte. Sogar sein laienhafter Blick erkannte multiple Frakturen an Kiefer-, Gesichts- und Schädelknochen. In Anbetracht des Gewaltexzesses, den er auf dem Video gesehen hatte, verwunderte ihn das nicht. Für Kurt Bencker wünschte er sich, dass er nach dem ersten Schlag bewusstlos gewesen und ihm damit viel Leid erspart geblieben war.
Wie immer begann Puellen mit der äußeren Leichenschau, diktierte seine Befunde in das Mikrofon und wies mit den Fingern auf die Stellen, die für die Akte fotografiert werden mussten. Frau Müller-Kolokowski hielt sich im Hintergrund und wich noch weiter zurück, als Puellen ausführlich die Anzeichen für die ausgedehnte, mehrfache stumpfe Gewalt gegen Kopf und Hals beschrieb, deren Folge ausgeprägte Weichteilverletzungen, Einblutungen in die Kopfschwarte und eine linksseitige Wundhöhle sowie eine Hirnschwellung waren.
»Der erste Schlag hat ihn das Bewusstsein verlieren lassen. Es gibt keinerlei Abwehrverletzungen an Armen und Händen. Selbst in angetrunkenem Zustand hätte das Opfer instinktiv versucht, sich gegen die Gewalteinwirkungen zu schützen, indem es die Arme um den Kopf gelegt oder sich zumindest weggedreht hätte«, fasste Puellen zusammen. »Das anschließende Stampfen und Treten gegen den Kopf und vor allem den Gesichtsbereich hat diverse Frakturen und damit einhergehende massive Blutungen hervorgerufen. Die Flüssigkeit hat die Atemwege verlegt, sodass es zu einem Herzstillstand gekommen ist. Aber auch die Hirnschwellung hätte zum Tod geführt.«
»Das passt zu unseren bisherigen Erkenntnissen«, bestätigte Hackenholt, ohne von dem Video zu berichten, da Puellen seinen Befund unvoreingenommen erheben sollte.
»Kannst du uns etwas zum Mageninhalt sagen?«, fragte Martin Groß.
»Du meinst den abgebrochenen Zahn, den er verschluckt hat? Das muss gleich beim ersten Schlag passiert sein. Ansonsten habe ich die üblichen Asservate genommen. Falls du wissen möchtest, ob das Opfer alkoholisiert war, sind die Blut- und Urinproben aussagekräftiger.«
»Wenn der Tote betrunken gewesen wäre, würden wir es ja wohl riechen«, ließ sich Frau Müller-Kolokowski vernehmen.
»Mir scheint, da hat jemand zu viel Tatort geguckt«, grinste Puellen verschmitzt, bevor er zu dozieren begann. »Alkoholgeruch ist ein äußerst inkonstanter Obduktionsbefund, selbst wenn das Opfer unter erheblichem Alkoholeinfluss stand. Dessen Wahrnehmung hängt nämlich nicht nur von der Temperatur des Körpers ab, sondern hauptsächlich von der ebenfalls vorhandenen Art und Intensität des Eigengeruchs der Leiche. Und davon, welche Sorte Alkohol genossen wurde.«
»Uns geht es darum, ob der Tote auf dem Heimweg Pizza gegessen hat«, sagte Martin Groß.
»Bin ich Hellseher?« Puellen sah ihn irritiert an. »Wenn dir langweilig ist, dann mach einen Selbstversuch: Iss deine Lieblingspizza und erbrich dich nach einer, drei und fünf Stunden. Anschließend schau, was du erkennen kannst.«
»Ich habe unmittelbar vor seinem Tod gemeint.«
»Dann hätte ich die Sektion gleich heute Nacht auf der Straße vornehmen müssen«, konterte Puellen. »In einem Körper finden auch nach dem Tod noch Prozesse statt. Die Magensäure hört nicht plötzlich auf zu arbeiten. Es kommt zwar keine neue mehr hinzu, aber die vorhandene genügt, um den Mageninhalt weiter zu zersetzen.«
»Wieder was gelernt«, murmelte Martin Groß.
»Das einzig Interessante am Mageninhalt ist der abgebrochene Zahn, den das Opfer verschluckt hat«, machte Puellen ungerührt weiter. »Ich bezweifle allerdings, dass der euch weiterbringt. Denn selbst wenn sich daran einmal Fremd-DNA vom Täter befunden haben sollte, dürfte sie inzwischen nicht mehr nachweisbar sein.«
Nachdem die Obduktion beendet war, verwickelte Hackenholt Puellen in ein Gespräch, um nicht beobachten zu müssen, wie Frau Müller-Kolokowski den Wagen wieder aus der Parklücke herausbugsierte. In Ermangelung eines Themas erkundigte er sich, ob Puellen genug Zeit bis zu seinem Termin blieb.
»Das Treffen fällt aus.« Der Rechtsmediziner seufzte theatralisch. »Saskia hat angerufen und gesagt, dass sie heute nicht kann.«
»Saskia Baumann?« Hackenholt war überrascht.
»Sie muss arbeiten.« Puellen hielt inne. »Ich nehme an, du kannst ihr nicht ausnahmsweise den Nachmittag freigeben?«
»Tut mir leid«, bedauerte Hackenholt, »das ist absolut unmöglich. Ich brauche jeden meiner Leute. Was hattet ihr denn Schönes vor?«
»Ach, nichts weiter.« Puellen winkte ab und wurde im selben Moment rot. Bevor Hackenholt nachhaken konnte, murmelte er, er müsse sich um das Protokoll kümmern, und verschwand.
»Habe ich das richtig verstanden?«, fragte Martin Groß perplex. »Maurice hat ein Date mit Saskia?«
»Ich weiß auch nicht, was das zu bedeuten hat«, erwiderte Hackenholt stirnrunzelnd. Natürlich musste er an die Kreuzfahrt denken und wie nonchalant Christine Mur Puellens geplanten Heiratsantrag abserviert hatte. Und ja, wenn er es recht bedachte, hatte er seither an beiden Veränderungen festgestellt. Aber dass Puellen nun auf Freiersfüßen wandeln sollte, irritierte ihn.
Sophie sah auf die Uhr. Ihr Timing war perfekt! Sie hatte weniger als drei Minuten von ihrer Wohnung bis zur Ladentür der ehemaligen Eisdiele gebraucht. Und das, obwohl Ronja lieber hatte laufen wollen, als mit ihrem Tretroller zu fahren. Mit einem strahlenden Lächeln begrüßte sie die Dame von der Hausverwaltung, die für die Vermietung zuständig war.
»Kennen wir uns nicht?« Die Verwalterin musterte sie, wie man es tut, wenn man jemanden nicht einordnen kann. Sophie stutzte einen Moment.
»Natürlich!«, antwortete sie dann überrascht. »Sie betreuen die Objekte meiner Nachbarin, Patricia Teck. Wir sind uns bei ihr ein paarmal begegnet.«
»Stimmt! Von Ihnen stammen die leckeren Kuchen, nicht wahr?«
Sophie nickte. »Und das ist auch der Grund, warum ich mich für die ehemalige Eisdiele interessiere.«
»Dann lassen Sie uns schauen, ob alles Ihren Vorstellungen entspricht.« Der freudige Tonfall, mit dem die Frau das sagte, verriet Sophie, dass ihre Köstlichkeiten ihr eine Verbündete beschert hatten. Insgeheim nahm sie sich jedoch vor, ihre Nachbarin zu bitten, bei der Verwalterin ein gutes Wort für sie einzulegen, sofern ihr die Räumlichkeiten gefielen.
Gemeinsam traten sie ein. Der lichtdurchflutete Verkaufsraum war quadratisch geschnitten. Der Fußboden musste erneuert worden sein, denn man konnte keinerlei Spuren des Verkaufstresens erkennen. Über die gesamte Stirnseite erstreckten sich das Schaufenster und die Eingangstür. Gegenüber gab es einen Durchgang, der an einer Toilette und einem kleinen Büroraum vorbei in die Küche führte. Diese war von oben bis unten mit Edelstahl verkleidet und nicht nur äußerst funktional, sondern wirkte wie neu. Sophie riss überrascht die Augen auf.
»Ihrer Reaktion entnehme ich, dass Ihnen die Einrichtung zusagt?« Die Frau lächelte erfreut. »Für die Eisdiele war sie ein wenig überdimensioniert.«
»Für meine Zwecke ist sie perfekt!«
»Heißt das, Sie haben Interesse?«
»Absolut.« Sophie war hin und weg.
Die Verwalterin rasselte noch einmal die Konditionen herunter, die sie bereits am Telefon genannt hatte. »Der Vermieter ist ein netter Herr in den Fünfzigern. Völlig unkompliziert. Ich verwalte alle seine Objekte. Sie werden mit ihm nichts zu tun haben.«
»Großartig!« In Sophies Ohren klang der Eigentümer wie das männliche Pendant zu ihrer wohlhabenden Nachbarin. Der war es auch am liebsten, wenn sie sich um nichts kümmern musste, was mit ihren Immobilien zu tun hatte.
»Ich kann Ihnen bis morgen Abend Bedenkzeit einräumen. Kommende Woche müsste ich weitere Besichtigungstermine vereinbaren.«
»Das ist nicht nötig«, sagte Sophie freudig. »Wann kann ich den Mietvertrag unterschreiben?«
»Wollen wir uns am Montag um neun Uhr hier treffen?«
»Gerne.« Sophie hatte zwar insgeheim gehofft, die Dame würde sofort einen Vertrag aus ihrer Aktenmappe ziehen, aber sie war dennoch sehr zufrieden mit der flotten Abwicklung.
»Saskia und die Hospitantin vom BKA vernehmen den Mann, der Kurt Bencker gefunden und den Notruf gewählt hat«, informierte Manfred Stellfeldt Hackenholt nach dessen Rückkehr aus Erlangen. »Und Ralph klappert mit einem Kollegen die Restaurants in einem Kilometer Umkreis um Kurt Benckers Wohnung mit Fotos des Pizzakartons ab.« Er reichte ihm einige Ausdrucke. »Wir haben zunächst mithilfe einer Suchmaschine eine Liste sämtlicher Lokale erstellt. Eigentlich wollte Ralph sie abtelefonieren. Aber nachdem er kaum jemanden erreicht hat, weil er außerhalb der Öffnungszeiten angerufen hat, haben wir entschieden, dass die Chancen besser stehen, wenn er persönlich vorbeischaut. Wenn man beharrlich genug an die Tür klopft, macht das Küchenpersonal für gewöhnlich irgendwann auf.«
Hackenholt nickte. So war es ihm selbst schon ergangen. »Hat Saskia die Schwester des Opfers zu Hause angetroffen?«
»Ja. Kerstin Schröder arbeitet als Krankenschwester in der Unfallambulanz und kam gerade vom Nachtdienst nach Hause. Sie war total geschockt. Saskia hat mit ihr ausgemacht, dass sie sich ein bisschen hinlegt und dann zu uns kommt. Ich bezweifle allerdings, dass sie ein Auge zumachen wird.«
Hackenholt rieb sich über das Gesicht. Er fühlte sich müde und abgeschlagen nach den wenigen Stunden, die er in dieser Nacht geschlafen hatte.
»Der Pressesprecher hat schon zweimal nach dir gefragt. Du sollst ihn dringend zurückrufen«, machte Stellfeldt weiter.
Hackenholt brummte eine unverständliche Antwort. Er hatte dem Kollegen alles gesagt, was einstweilen an Informationen herausgegeben werden durfte.
Stellfeldt erhob sich und griff zu seiner Jacke. »Wenn du jetzt wieder im Büro bist, laufe ich schnell zum Plärrer. Vielleicht bekomme ich heraus, wer der Kerl ist, der kurz nach der Tat an Kurt vorbeigegangen ist, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.«
»Wie willst du das anstellen?«
»Der Unbekannte ist sechs Minuten, nachdem er zum ersten Mal an Kurt vorbeigelaufen ist, zurückgekommen.«
Hackenholt nickte. Das hatte er gesehen.
»In der kurzen Zeit kann er nicht weit gekommen sein. Deshalb habe ich mir die Aufnahme unserer Überwachungskamera von der Einmündung zur Rothenburger Straße für diese Uhrzeit angesehen und das hier gefunden.« Er öffnete seinen Aktenkoffer, entnahm ihm einen Stapel Ausdrucke und reichte ihn Hackenholt. Darauf war ein Mann zu sehen, der sich an einem Automaten am Plärrer eine Packung Zigaretten zog. »Früher wäre ich mit den Bildern in die Bäckerei Gabsteiger in der Kernstraße gegangen. Die Inhaberin hat praktisch jeden in Gostenhof gekannt. Das hat mich auf die Idee gebracht, es in dem Lotto-Laden neben dem Planetarium zu versuchen. Außerdem steht am Treppenabgang zum U-Bahn-Verteilergeschoss häufig ein Mann, der eine Obdachlosenzeitung verkauft. Unter Umständen erkennt er den Kerl und weiß, wo er wohnt.«
Nachdem der Kollege das Kommissariat verlassen hatte, ging Hackenholt ins Nachbarbüro hinüber. Martin Groß holte die Asservatenbeutel, die Christine Mur ihnen am Tatort gegeben hatte, aus dem Schrank, in den er sie eingesperrt hatte, als sie zur Obduktion nach Erlangen aufgebrochen waren.
»Darum hätten wir uns schon viel früher kümmern müssen«, murmelte Hackenholt und schnappte sich das Handy des Toten.
»Das ist gesperrt«, winkte Groß ab. »Habe ich vorhin bereits ausprobiert. Aber ich wollte abwarten, ob die Schwester den Code kennt, bevor wir es in die Technik bringen. Dort ist heute ohnehin niemand da. Wir verlieren also keine Zeit, wenn wir es noch ein bisschen bei uns behalten.« Nachdem er in Einweghandschuhe geschlüpft war, öffnete er den Beutel, in dem die Brieftasche lag, und leerte ihren Inhalt auf den Tisch. Zum Vorschein kamen dreiundsiebzig Euro und siebenunddreißig Cent, ein Führerschein, eine Kredit- und eine Bankkarte und mehrere Punktekarten für diverse Geschäfte. Eine Quittung über eine Pizza war nicht vorhanden. In einem weiteren Fach entdeckte Martin Groß jedoch eine Dauerkarte des 1. FCN. Missmutig hielt er sie hoch, sodass Hackenholt sie sehen konnte.
»Manfred hatte mal wieder den richtigen Riecher. Auch wenn Kurt keine Fankleidung trug.«
»Das heißt, wir müssen uns mit den Kollegen von der PI Süd wegen den Vorkommnissen rund um das Club-Spiel kurzschließen«, stellte Hackenholt fest.
Im Flur wurde plötzlich eine Tür geöffnet, und Stimmen waren zu vernehmen. Eine gehörte Saskia Baumann. Sie verabschiedete sich und bat die Hospitantin, mit der sie die Befragung durchgeführt hatte, den Zeugen zur Pforte hinunterzubegleiten. Im selben Moment begann Stellfeldts Telefon zu klingeln. Hackenholt ging in dessen Büro und nahm das Gespräch entgegen. Es war Ralph Wünnenberg.
»Ich wollte Manfred einen Zwischenbericht durchgeben. Wir haben acht Lokale abgeklappert. Das Einzige, wo man bislang eine Pizza bekommen hätte, war in einem Imbiss in der Gostenhofer Hauptstraße. Aber dort will niemand Kurt Bencker gesehen haben. Eine Videoüberwachung gibt es nicht.«
»Das hätte ich auch nicht erwartet, wir sind hier schließlich in Deutschland.«
»Ich fürchte, wir werden noch zwei Stunden unterwegs sein«, beschied Wünnenberg.
Hackenholt beendete das Telefonat und wandte sich Saskia Baumann zu. »Gibt es bei dir etwas Interessantes?«
(7)»Doud mer leid.« Die Beamtin sah aus, als würde sie es so meinen. »Der Moo hodd absolud nix Sachdienlichs sång kenner. Iech maan allerweil, dassersi insgeheim gscheid ärcherd, dasser heid Nachd ausgrechned denn Weech gnommer hodd.«
»Er ist keinen anderen Personen begegnet?«
(8)»Ieberhabbs kamm.«
Wieder klingelte Manfred Stellfeldts Telefon. Diesmal ging Saskia Baumann ran. Kurz darauf gab sie Hackenholt Bescheid, dass Kurt Benckers Schwester an der Pforte der PI Mitte wartete.
Kerstin Schröder war eine zierliche Frau mit langen, blonden Haaren. Trotz der verquollenen und stark geröteten Augen fiel Hackenholt auf, dass sie die gleiche, schlanke Gesichtsform hatte wie ihr Bruder. Er stellte sich ihr vor und bat sie, ihm in ein Vernehmungszimmer zu folgen.
»Musste Kurt sehr leiden?« Kerstin Schröder war anzusehen, dass die Frage sie umtrieb.
Hackenholt schüttelte den Kopf. »Ihr Bruder wurde mit einem einzigen Faustschlag niedergestreckt. Dabei hat er schwere Gehirnverletzungen erlitten und war sofort bewusstlos.«
Kerstin Schröder presste sich ein zusammengeknülltes Taschentuch an die Nase. Hackenholt sah ihr an, dass sie um ihre Fassung rang.
»Möchten Sie ein Glas Wasser?«
»Nein, danke. Es geht schon.« Sie unternahm eine sichtbare Anstrengung, tief durchzuatmen. »Kurt war siebenunddreißig Jahre alt, aber er benahm sich immer noch wie ein Kind. Ich habe ihn Peter Pan genannt, der Junge, der nie erwachsen wird. Er war ein liebenswerter Frechdachs, der allenfalls eine blöde Antwort gegeben hat, wenn ihn jemand dumm angeredet hat.« Sie sah Hackenholt an. In ihren Augen konnte er die abgrundtiefe Verzweiflung sehen, die viele Angehörige von Mordopfern verspürten. »Wer hat ihm das angetan?«
»Das ist eine meiner Fragen an Sie«, entgegnete er. »Wer hatte eine solche Wut auf Ihren Bruder?«
»Ich weiß es nicht. Ich kenne niemanden, mit dem Kurt Streit hatte oder der ihm Böses wollte.«
»Wissen Sie, was er gestern Abend vorhatte?«
»Er war mit Nils, seinem Sohn, beim Club-Spiel.« Sie öffnete ihre Handtasche, holte ihr Handy heraus und zeigte Hackenholt ein Foto. Darauf waren Kurt Bencker und ein Bub mit einem Club-Schal zu sehen. »Das Bild hat er mir kurz vor Anpfiff geschickt.«
Hackenholt bemerkte, dass ihre Hände zitterten. »Der Junge lebt nicht bei ihm?«
»Nein. Die Verbindung mit Claudia hat wie alle von Kurts Beziehungen nicht lange gehalten. Aber Nils hat jedes zweite Wochenende bei ihm verbracht.« Sie hielt inne. »Kurt hatte mit Frauen kein glückliches Händchen. Die meisten sahen gut aus, waren aber nicht übermäßig intelligent.«
»Das Verhältnis zu seinem Sohn war aber gut?«
»Kurt hat sich immer sehr darauf gefreut, etwas mit Nils zu unternehmen.«
»Gab es Probleme mit der Mutter wegen des Umgangsrechts?«
»Das haben sie schon vor Jahren einvernehmlich geregelt. Kurt und Nils sind zum Beispiel auch zusammen zum Fußball gegangen, wenn nicht Kurts Wochenende war. Ich habe Claudia angerufen und sie über seinen Tod informiert. Eigentlich hätte ich es auch Nils gerne gesagt, aber das ist nichts, was er am Telefon erfahren sollte.«
Hackenholt nickte und bat um die Kontaktdaten der Mutter. Dann nahm er den Faden wieder auf: »Gab es im Leben Ihres Bruders aktuell eine Frau?«
»Er hatte bis vor Kurzem eine Beziehung mit Antje. Sie wohnt im selben Haus, ein Stockwerk höher.«
Hackenholt horchte auf. »Antje Popp?«
»Ja. Es war aber wie immer nichts Ernstes. Er hat vor ein paar Wochen Schluss gemacht, weil es nicht gepasst hat.«
»Gab es in dem Zusammenhang Ärger?«, hakte Hackenholt nach.
»Nicht, dass ich wüsste.« Sie hielt inne. »Kurt war ein friedliebender Mensch. Man konnte eigentlich gar nicht mit ihm streiten.«
»War er berufstätig? Wir haben in der Wohnung Briefpapier mit seinem Namen darauf gefunden«, wechselte Hackenholt das Thema.
»Er war Grafikdesigner und hat sich vor fünf Jahren als Coverdesigner selbstständig gemacht und für mehrere Verlage Buchumschläge entworfen.«
»Kann man davon leben?«
»Wir haben nach dem Tod unserer Eltern zwei Mietwohnungen geerbt, die wir verkauft haben. Er konnte es sich leisten, nicht viel zu verdienen.«
»Gab es wegen des Verkaufs Probleme mit den Mietern?«
»Nein, sie haben die Wohnungen selbst erworben.«
Hackenholt vermerkte, dass er prüfen musste, wie wohlhabend Kurt Bencker gewesen war. »Sie haben vorhin erwähnt, dass Ihr Bruder mit seinem Sohn regelmäßig Bundesligaspiele besucht hat. Was für eine Art Fan war er?«
»Er ist mit Nils zu den Spielen, weil sich der Junge eine Dauerkarte gewünscht hatte. Kurt hat Fußball nicht sonderlich interessiert.«
»Er hatte also nichts mit den Ultras oder sonstigen Fangruppierungen am Hut?«
»Um Gottes willen, nein!«
»Und es gibt wirklich niemanden, mit dem er Streit hatte?«
Kerstin Schröder schüttelte nachdrücklich den Kopf.
»Eine letzte Frage habe ich noch: Kennen Sie den Entsperrcode für sein Handy?«
»Reden Sie mit Nils. Er weiß ihn bestimmt.«
Nach der Vernehmung ging Hackenholt wieder in Stellfeldts Büro, doch es war verwaist. Der Kollege saß zusammen mit Martin Groß vor dessen Computer.
»Das müsste er sein.« Stellfeldt beugte sich vor und zeigte mit dem Finger auf den Bildschirm. »Kannst du das größer machen?«
Martin Groß klickte ein paarmal mit der Computermaus auf ein Lupensymbol und zoomte ins Bild hinein.
»Du hast recht. Das ist er«, bestätigte er einen Moment später.
»Und er hat keine Pizzaschachtel bei sich«, unterstrich Stellfeldt.
»Es scheint, als hätte Frank mit seiner Annahme richtig gelegen, dass er die Pizza in seinem unmittelbaren Wohnumfeld gekauft hat«, stimmte Groß zu. Er sah kurz auf, als er Hackenholt bemerkte. »Wir haben uns aufs Geratewohl die Videoaufnahmen vom Plärrer angesehen. Ich an Kurts Stelle wäre nach dem verlorenen Fußballspiel in der Innenstadt ein paar Bier trinken gegangen. Anders hält man das nicht aus, was der Club zusammenspielt. Und tatsächlich hat Manfred ihn gerade entdeckt. Er kommt vom Ludwigstor, überquert den Plärrer und verschwindet in der Gostenhofer Hauptstraße.«
»War er allein?«, fragte Hackenholt gespannt.
»Er war definitiv ohne Begleitung unterwegs. Ob eine der anderen Personen, die die Straße ebenfalls überquert haben, ihm gefolgt ist, lässt sich auf Basis dieser Aufnahme nicht sagen«, antwortete Stellfeldt.
»Wann war das?« Hackenholt beugte sich zum Monitor.
»Um dreiundzwanzig Uhr zwölf.«
»Und neunzehn Minuten später erfolgte der tödliche Angriff«, sinnierte Hackenholt.
»Der zeitliche Ablauf passt: Kurt geht irgendwo in der Nähe in ein Restaurant und bestellt das Essen. Dann macht er sich auf den Heimweg und isst im Gehen heißhungrig ein Stück von seiner Pizza«, mutmaßte Groß.
»Hast du herausgefunden, wer der Unbekannte ist, der an Kurt Bencker vorbeigelaufen ist, ohne Alarm zu schlagen?«, erkundigte sich Hackenholt bei Manfred Stellfeldt.
»Im Lotto-Laden konnte man mir nicht weiterhelfen. Der hat erst vor Kurzem unter neuer Leitung wiedereröffnet. Aber der Verkäufer der Obdachlosenzeitung kennt den Mann vom Sehen. Er meinte, er muss in dem Viertel wohnen, denn er geht regelmäßig zur U-Bahn.«
»Das haben wir schon vermutet. Er würde sich sonst nachts eher nicht seine Kippen am dortigen Automaten holen«, stellte Hackenholt fest.
»Und genau aus dem Grund bin ich in die beiden Spielhallen am Plärrer gegangen. Zigarettenautomaten funktionieren nicht immer, wie sie sollen. Vor allem seit man einen Ausweis für die Altersüberprüfung braucht«, erklärte Manfred Stellfeldt. »In der zweiten Spielhalle hatte ich Glück. Eine Mitarbeiterin hat ihn erkannt: Er kommt ab und zu vorbei und zockt eine Runde. Wenn er das nächste Mal da ist, informiert sie den Kriminaldauerdienst.«
»Dann lass uns hoffen, dass er bald Lust auf ein Spielchen hat.« Hackenholts Magen knurrte vernehmlich. Er hatte seit dem Vorabend nichts mehr gegessen.
»Du hast dich immer noch nicht bei dem Kollegen von der Pressestelle gemeldet«, tadelte Manfred Stellfeldt. »Er hat vor einer Viertelstunde wieder angerufen. Irgendwas müssen wir ihm an die Hand geben. Du weißt, wie gierig sich die Presse auf Mordfälle stürzt.«
Hackenholt seufzte. »Was ist mit Christine Mur? Hat sie von sich hören lassen?«
Stellfeldt schüttelte den Kopf.
Sophie und Ronja füllten mit dem Eisportionierer Kuchenteig in Muffinförmchen. Sophie schaffte es, ohne zu kleckern. Ronja musste noch ein bisschen üben, um die Perfektion ihrer Mutter zu erreichen.
»Die sind alle für Papa«, sagte die Kleine zum gefühlt zehnten Mal.
»Für Papa und seine Kollegen«, berichtigte Sophie geduldig. »Die müssen dieses Wochenende wieder ganz viel arbeiten.«
»Deshalb kommt Papa erst nach Hause, wenn ich schon im Bett bin«, erklärte Ronja ernst.
Sophie nickte. »Und weil Papa und sein Team nur wenig Zeit zum Essen haben, backen wir ihnen kleine Kuchen, die sie nebenbei futtern können.«
»Aber einer ist für mich.« Sorgenvoll sah Ronja auf die Anrichte, wo bereits zwei Dutzend Muffins zum Abkühlen standen.
»Natürlich«, beruhigte Sophie. »Ein paar behalten wir für uns.«
»Und ich darf alle verzieren«, rief Ronja.
»Sobald die Muffins ausgekühlt sind, pinsele ich Schokoladenglasur darauf und du streust die Zuckerstreusel darüber«, bestätigte Sophie. Die restlichen Sorten wollte sie fertigstellen, wenn Ronja schlief.
»Ich mache jetzt eine Pause«, verkündete die Kleine, rutschte vom Stuhl und flitzte hinaus.
Sophie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Die Ausdauer ihrer Tochter bewegte sich nach wie vor in einem sehr überschaubaren Zeitrahmen. Als sie sicher war, dass sie nicht zurückkam, nahm sie ihr Handy vom Regal herunter und sah nach, wer ihr geschrieben hatte. Sie vermied es tunlichst, ständig vor Ronja aufs Telefon zu schauen, um ihr ein gutes Vorbild zu sein. Es genügte, wenn ihr Vater bei jedem Piep, den das Gerät von sich gab, gucken musste, ob es etwas Wichtiges war.
Die Mutter eines anderen Kindergartenkindes, mit der sich Sophie angefreundet hatte, hatte ihr geantwortet. Die junge Frau wollte handgefertigte Pralinen herstellen, was bislang daran scheiterte, dass sie ebenfalls keinen Zugang zu einer Gewerbeküche hatte. Sophie hatte ihr gleich nach dem Besichtigungstermin geschrieben, dass sie eine Lösung für ihr Problem gefunden hatte. Die Bekannte war Feuer und Flamme.