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Um mehr Zeit mit seiner kleinen Tochter verbringen zu können und gleichzeitig seinen Resturlaub abzubummeln, arbeitet Kriminalhauptkommissar Frank Hackenholt nur noch drei Tage pro Woche. Während sich die Kollegen um das Tagesgeschäft kümmern, widmet er sich zusammen mit Martin Groß einem Altfall: Vor mehreren Jahren wurde bei einer Treibjagd in der Nähe von Neunhof ein Skelett mit eingeschlagenem Schädel gefunden. Allerdings förderten die damaligen Ermittlungen nicht einmal die Identität des Toten zutage. Erst als Hackenholt in der Rechtsmedizin eine Gesichtsrekonstruktion veranlasst und damit an die Öffentlichkeit geht, erhält er Hinweise, wer der Unbekannte gewesen sein könnte. Doch kaum folgen die Ermittler den Spuren, die ins Baugewerbe führen, geschieht nach all den Jahren ein weiterer Mord: Einem Unternehmer, der den Mann seinerzeit auf einer Großbaustelle bemerkt haben will, wird der Schädel auf ganz ähnliche Weise eingeschlagen.
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Seitenzahl: 393
Bombenstimmung
– Hackenholts achter Fall –
von
Stefanie Mohr
KINDLE EDITION
Stefanie Mohr, geboren 1972, liebt ihre Heimatstadt Nürnberg, in der sie (fast) jeden Winkel kennt. Sie wohnt und arbeitet als freiberufliche Autorin und Fotodesignerin im Nürnberger Norden. Nähere Informationen: www.stefanie-mohr.com
In dieser Reihe bereits erschienen: »Die vergessenen Schwestern«, »Das letzte Lächeln«, »Die dunkle Seite des Sommers«, »Frauentormauer«, »Glasscherbenviertel«,»Reichskleinodien«,»Tödliche Kristalle«und»Bombenstimmung«.
Um mehr Zeit mit seiner kleinen Tochter verbringen zu können und gleichzeitig seinen Resturlaub abzubummeln, arbeitet Kriminalhauptkommissar Frank Hackenholt nur noch drei Tage pro Woche. Während sich die Kollegen um das Tagesgeschäft kümmern, widmet er sich zusammen mit Martin Groß einem Altfall: Vor mehreren Jahren wurde bei einer Treibjagd in der Nähe von Neunhof ein Skelett mit eingeschlagenem Schädel gefunden. Allerdings förderten die damaligen Ermittlungen nicht einmal die Identität des Toten zutage. Erst als Hackenholt in der Rechtsmedizin eine Gesichtsrekonstruktion veranlasst und damit an die Öffentlichkeit geht, erhält er Hinweise, wer der Unbekannte gewesen sein könnte. Doch kaum folgen die Ermittler den Spuren, die ins Baugewerbe führen, geschieht nach all den Jahren ein weiterer Mord: Einem Unternehmer, der den Mann seinerzeit auf einer Großbaustelle bemerkt haben will, wird der Schädel auf ganz ähnliche Weise eingeschlagen ...
+++WICHTIG:+++
Die Übersetzung der fränkischen Passagen befinden sich im Anhang und sind im Text mit Fußnoten gekennzeichnet. Klickt man auf die Ziffer, gelangt man direkt zur Übersetzung, klickt man dort erneut auf die Ziffer, gelangt man zurück an die Textstelle.
Copyright © Stefanie Mohr, 2015.
All Rights Reserved - Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto und -gestaltung: Stefanie Mohr
Verlag: Edition Gelbes Sofa, Inh.Stefanie Mohr, Nordring 125, 90409 Nürnberg
ISBN: 978-3-9816768-4-6
Originalausgabe
He’s more myself than I am. Whatever our souls are made of, his and mine are the same.
November 2008
Im bleichen Licht der aufgehenden Novembersonne löste sich eine Nebelschwade zögerlich von der mit Raureif bedeckten Wiese. Elegant rotierte sie um ihre eigene Achse, dehnte sich, zog sich dann noch einmal zusammen, bevor sie durchsichtig wurde und verschwand.
Aus dem nahe gelegenen Wald erschallten laute Rufe: »Hurraaa, Hurreee!« Dazu klopften Männer mit Holzstöcken gegen die Bäume. Die Jagd hatte begonnen.
Maximilian Freibergers Herz klopfte vor Aufregung: seine erste Treibjagd. Nach Monaten der Theorie durfte er nun endlich die Praxis erleben. Noch am Abend zuvor hatte er sich in einem Internetforum angemeldet und von erfahrenen Kollegen Ratschläge eingeholt, was er zu beachten hatte: keine zu warme Kleidung anziehen, frühzeitig am Sammelplatz sein, sich schon vor Beginn der Jagd beim Jagdherrn bedanken, jedem Teilnehmer die Hand reichen, sich nützlich machen, beobachten, was die anderen tun, im Guten wie im Schlechten von ihnen dazulernen ...
In einer losen Kette durchkämmten sie das Waldstück südlich der A3 zwischen Reutles und Neunhof. Der Pächter hatte ihm einen erfahrenen Obertreiber zur Seite gestellt und einen Posten außerhalb des Waldes zugewiesen. Wohl, weil er ihm zutraute, im Eifer des Gefechts versehentlich auf einen Treiber in seiner orangefarbenen Warnweste zu schießen.
Maximilian Freiberger sollte es recht sein. Er machte sich keine Illusionen, bei seiner ersten Jagd tatsächlich zum Schuss zu kommen. Auch wenn er als Schneider nach Hause ginge, also ohne ein Wild erlegt zu haben, hätte er zumindest einen ganzen Tag in der Natur verbracht.
Plötzlich erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Für einen Augenblick war etwas Helles aufgeblitzt. Er ließ seine Augen noch einmal über die Stelle wandern. Nichts war zu sehen. Er musste sich getäuscht haben. Offenbar nur ein Lichtreflex, als die Sonnenstrahlen auf einen Tautropfen trafen. Dennoch war Freibergers Neugierde geweckt. Er achtete nicht mehr auf den Waldrand und die Rufe der Männer, sondern konzentrierte sich auf die vor ihm liegende Wiese. Nach wenigen Schritten sah er es: In gut hundert Metern Abstand hockte ein Kaninchen. Die Nase in die Wiese geduckt mümmelte es an einem Grashalm. Dann hoppelte es wieder einen Schritt nach vorn und die weiße Unterseite seiner Blume hob sich deutlich vom braunen Fell ab.
So ruhig wie möglich entsicherte Freiberger seine Repetierbüchse, legte an, zielte, atmete noch einmal tief durch. Plötzlich hörte er den Obertreiber zu seiner Linken etwas rufen. Überrascht ließ er die Waffe sinken und blickte auf. Hatte er im Begriff gestanden, etwas falsch zu machen? Im nächsten Moment erkannte er jedoch den Grund: Von ihm unbemerkt war ein Wildschwein aus dem Wald gebrochen und rannte schräg vor ihnen über die Wiese in Richtung Gründlach.
Freiberger hob erneut das Gewehr und zielte auf das Schulterblatt. Die Entfernung betrug gute hundertfünfzig Meter. Aber die moderne Munition ließ einen Schuss auf diese Distanz zu, da der Gasdruck bei über dreitausend Bar lag. Freibergers Herzschlag pochte laut in seinen Ohren, seine Hände wollten nicht stillhalten. Dennoch drückte er ab.
Ein peitschender Knall. Das Schwein brach wie vom Blitz getroffen zusammen. Der Treiber hob warnend die Hand. So reagierte Wild häufig auf einen Krellschuss. Freiberger musste damit rechnen, dass er das Tier nur ganz oben an einem Dornfortsatz der Wirbelsäule getroffen hatte. Ein typischer Anfängerschuss. Er fluchte leise vor sich hin.
Der Treiber hielt seine Hunde am kurzen Riemen, während sie sich gemeinsam der Beute näherten. Sie hatten noch keine fünfzig Meter hinter sich gebracht, da sprang das Wildschwein auf. Wegen seiner Unerfahrenheit war Freiberger auf einen Fangschuss nicht vorbereitet. Bevor er die Büchse wieder angelegt hatte, war das Tier in einem noch nicht abgeernteten Maisfeld verschwunden. Am Anschuss untersuchte der junge Jäger den Boden und entdeckte ein Haarbüschel mit einem Hautfetzen daran. Nun fluchte er lauthals.
»Wir müssen dem Tier hinterher und es von seinem Leiden befreien.« Der Treiber winkte zwei weitere Männer zu sich und ließ die Hunde Witterung aufnehmen. Gemeinsam machten sie sich auf zur Nachsuche.
Die Nasen tief am Boden zerrten die Hunde an den Leinen. Die Männer beschleunigten ihren Schritt, liefen über die Wiese, durch das Maisfeld und erreichten schließlich ein Gebüsch. Vorsichtig durchstreiften sie es. Ein Plätschern wurde lauter. Die Hunde hielten ratlos inne. Das Wildschwein musste durch die Gründlach gewatet sein. Freiberger nahm Anlauf und sprang über das Bächlein, die Hunde stürmten hinterher. Sofort nahmen sie wieder Witterung auf und zerrten stärker denn je an den Leinen. Erneut ging es über Felder. Schon von weitem konnten sie das Wildschwein erkennen. Die Hinterläufe begannen einzuknicken.
»Schieß!«, rief der Treiber.
Freiberger legte an, traute sich aufgrund der Distanz dann aber doch nicht abzudrücken. Unverrichteter Dinge nahm er die Büchse wieder herunter. Das Wildschwein hatte in der Zwischenzeit ein weiteres Dickicht erreicht.
Vorsichtig arbeiteten sich die Männer durch das Gestrüpp, bis die Hunde schließlich etwas verbellten. Unter einem Baum lag das Wildschwein. Verzweifelt versuchte sich der massige Körper aufzurichten, aber die Hinterläufe gehorchten ihm nicht mehr. Endlich konnte Freiberger es erlegen.
Danach schnitt er mit seinem Jagdmesser mehrere kleine Fichtenzweige ab. Er wollte sie mit ein wenig Blut des Krellschusses benetzen, sich einen Zweig an den Hut heften und den Hunden danken, indem er ihnen ebenfalls einen ans Halsband steckte. Der letzte hätte im Maul des Wildschweins enden sollen – doch so weit kam es nicht.
Hackenholt saß an seinem Schreibtisch und starrte nichts sehend auf den Bildschirm seines Computers. Seine Hände zitterten leicht, aber er bemerkte es nicht. Es war der 8. Dezember – der Tag, an dem vor genau einem Jahr sein früherer Münsteraner Kollege Peter Renner gestorben war. Getötet von Arnold Schweinsberger und Brian O’Connor. Den beiden Männern, die gemeinsam mit Arnolds Vater Anton Schweinsberger Hackenholt entführt, misshandelt und anschließend geknebelt und gefesselt bei Eiseskälte in einem Lieferwagen auf einem stillgelegten Autobahnparkplatz seinem Schicksal überlassen hatten.
Die digitale Ziffer der Uhrzeitanzeige an Hackenholts Bildschirm sprang um: acht Uhr dreißig. In diesen Minuten begann der Prozess gegen die Familie. Eine Mammutaufgabe. Fünf Angeklagte, acht Strafverteidiger, diverse Nebenkläger. Auch Hackenholt ließ sich durch einen Rechtsanwalt vertreten – zum Prozessauftakt hatte er allerdings nicht gehen wollen. Er musste nicht der Verlesung der Anklageschrift lauschen, um zu erfahren, was den einzelnen Familienmitgliedern vorgeworfen wurde; er kannte die Akten in- und auswendig.
War es Feigheit, der Eröffnung nicht beizuwohnen? Würde er sich jetzt besser fühlen, wenn er doch hingegangen wäre? Mit seinem Psychologen hatte er das Für und Wider erörtert. Hackenholt war zu dem Schluss gekommen, dass er sich den Medienrummel nicht antun wollte. Die vielen Kameras, die neugierigen Reporter, die ihm ihre Mikrofone entgegenhalten würden. Dr. Schönbach hatte in den Raum gestellt, er wolle nur den Moment so lang wie möglich hinauszögern, bis er seinen Peinigern wieder gegenübertreten musste.
Ein Räuspern ließ Hackenholt zusammenfahren. Reflexartig ballten sich seine Hände zu Fäusten. Manfred Stellfeldt stand in der Tür. Er hielt einen großen Karton in den Händen.
»Störe ich dich?«
»Nein, ich war nur ... in Gedanken.« Hackenholt hielt inne, räusperte sich.
»Sie werden die Höchststrafe bekommen«, sagte Stellfeldt mit fester Stimme. »Davon bin ich überzeugt.« Offenbar hatte er die Gedanken seines Kollegen erraten.
»Nicht die Frauen.«
»Von denen geht keine so große Gefahr aus. Es sind Vater und Sohn und der Freund der Tochter, die nie wieder auf die Allgemeinheit losgelassen werden dürfen – und das werden sie auch nicht. Schau dir ihre Aussagen an und die psychologischen Gutachten. Die drei sind tickende Zeitbomben, die jederzeit wieder hochgehen können. Ich bin mir sicher, dass das Urteil lebenslänglich lauten wird, dass die besondere Schwere der Schuld festgestellt und darüber hinaus Sicherungsverwahrung verhängt werden wird.«
Hackenholt seufzte. Damit wären die Männer wirklich bis an ihr Lebensende weggesperrt. Genau das, was er sich sehnlichst wünschte. Er wechselte das Thema und nickte zu dem Karton, den Stellfeldt auf dem Beistelltisch abgelegt hatte. »Was hast du da?«
»Den Kopf.«
Hackenholt runzelte die Stirn. Mit Abschluss der Ermittlungen rund um den Toten in der Pegnitz hatte er sein Vorhaben in die Tat umgesetzt und bummelte nun seinen gesamten Urlaub und Resturlaub von diesem und letztem Jahr ab, indem er nur noch Montag bis Mittwoch im Büro war. Die restliche Zeit kümmerte er sich um seine kleine Tochter; so konnte seine Frau Sophie wieder zwei Tage pro Woche für den Verlag übersetzen.
Damit sein regelmäßiges Fehlen bei der Dienstplangestaltung kein Chaos hervorrief, hatte Hans-Jürgen Dorschner, der Kommissariatsleiter, Hackenholt vorgeschlagen, in dieser Zeit keine regulären Fälle zu bearbeiten, sondern sich den Altlasten zu widmen, den sogenannten Cold Cases. Martin Groß sollte ihn dabei unterstützen; der Kollege war vor einigen Wochen vom SEK zum K11 gewechselt und wurde als Springer immer dort eingesetzt, wo man gerade jemanden brauchte.
»Mit Kopf meinst du die Gesichtsrekonstruktion von dem Skelett?«, fragte Hackenholt.
Stellfeldt nickte. »Das Paket wurde eben im Geschäftszimmer abgegeben.«
»Damit hätte ich nicht so schnell gerechnet. Die Rechtsmedizin hat sich ziemlich beeilt.« Hackenholt erhob sich und trat zu seinem Kollegen. »Lass mal sehen.«
Stellfeldt brauchte einen Augenblick, bis er herausfand, welche Lasche er zuerst lösen musste, um den Deckel öffnen zu können. Doch dann lag die Nachbildung vor ihnen. Es hätte eine Szene aus einem Horrorfilm sein können: ein absolut lebensecht wirkender Kopf, knapp unterhalb des Kehlkopfes vom Leib abgetrennt und auf einen Metallspieß mit Standfuß gesteckt. Hackenholt zuckte unwillkürlich zurück.
»Soll ich ...?«
Hackenholt nickte, und Stellfeldt hob den Kopf auf den Tisch.
1»Allmächd, wos hobbdnern ihr då?« Saskia Baumann stand plötzlich an der Tür.
»Keine Sorge, der ist nicht echt«, beruhigte der Hauptkommissar.
2»Nåcherdla is ja goud.«
»Das ist jetzt aber nicht das Gesicht von unserem Mister Unbekannt, oder?«, wollte Martin Groß wissen. Er lehnte neben der Kollegin im Türrahmen.
»Doch, das ist er.«
»Den habe ich mir ganz anders vorgestellt.«
3»Kenndmer ermål anner vo eich derzilln, wos des soll? Iech hobb vo derer Wår bis edzer gårnix miedgräichd.«
»Die menschlichen Überreste des Mannes wurden Mitte November 2008 bei einer Treibjagd in der Nähe von Neunhof gefunden. Bis heute konnte der Mann nicht identifiziert werden. Am Fundort wurden eine dunkelblaue Veloursjacke von H&M sowie Halbschuhe der Marke Boss sichergestellt. Anhand des ermittelten Verkaufszeitraums haben die Kollegen den Todeszeitraum auf Ende 2001 bis etwa 2003 eingegrenzt.«
»Und das ist alles?« Auch Wünnenberg war ins Zimmer gekommen und befüllte seine Kaffeemaschine mit frischem Wasser.
»Es wurden nicht einmal alle zum Skelett gehörenden Knochen entdeckt. Dennoch hat der Rechtsmediziner herausgefunden, dass der Mann wohl neunundzwanzig bis fünfunddreißig Jahre alt, zwischen einhundertsechsundsechzig und einhundertzweiundsiebzig Zentimeter groß und sehr schlank war. Eine eher unscheinbare Erscheinung also. Am auffälligsten waren wohl seine Dreadlocks.«
Alle starrten die auffällige Haarpracht des Kopfes an.
»Eine Isotopenanalyse ergab Hinweise, wonach der Verstorbene auf dem südlichen Balkan aufgewachsen und etwa zwei Jahre vor seinem Tod nach Deutschland gekommen sein dürfte. Das DNA-Muster ist weder im nationalen noch im europäischen Fahndungsbestand gespeichert.«
»Fingerabdrücke gibt es natürlich keine«, ergänzte Groß. »Und eine Vermisstenmeldung leider genauso wenig.«
»Ich kann mich noch ganz dunkel an den Fall erinnern. Er hatte einen eingeschlagenen Schädel, nicht wahr?«, fragte Stellfeldt.
Hackenholt nickte. »Die Rechtsmedizin konnte Spuren eines Hammers nachweisen. Er ist ein Mordopfer und nicht nur ein namenloser Toter.«
»Gibt es irgendwelche neuen Ermittlungsansätze?«
»Nur die Weichteilrekonstruktion. Ich will mit Fotos an die Öffentlichkeit gehen: auf unserer Homepage, in der Zeitung und mit Flugblättern in dem Gebiet, in dem das Skelett aufgefunden wurde.«
»Bin ich froh, dass ich nicht diese ollen Kamellen bearbeiten muss. Da ist mir unser Messerstecher lieber.« Stellfeldt wandte sich zur Tür. »Kommst du, Saskia? Wir haben in einer Viertelstunde einen Termin in der U-Haft und sollten uns langsam auf den Weg machen.«
»Und du, Ralph?«, fragte Hackenholt. »Was hast du zu tun?«
»Das kommt darauf an: Wenn du dir eine neue Kaffeerösterei anschauen willst, habe ich natürlich Zeit – ansonsten fürchte ich, dass ich einen Schreibtisch voller dringend zu bearbeitender Akten habe.«
»Ich wollte dich bitten, beim Erkennungsdienst nachzufragen, ob sie den Kopf kurzfristig einschieben können. Ich brauche Fotografien aus verschiedenen Blickwinkeln.«
»Du weißt doch, dass die schon bei dringenden Sachen meckern, wenn wir ohne Termin reinplatzen. Wenn ich mit einem zehn Jahre alten Fall daherkomme, rollen die nur mit den Augen und fragen, ob ich noch ganz sauber bin.«
»Ich kann schnell runterlaufen«, bot Martin Groß hilfsbereit an.
Hackenholt schüttelte den Kopf. »Wir beide fahren nach Neunhof und sehen uns den Fundort des Skeletts an. Sicher fällt es uns dann leichter, neue Ermittlungsansätze zu formulieren – und Ralph soll ruhig auch mal etwas anderes tun, als immer nur Kaffee kochen.«
Die brachliegenden Felder entlang der Erlanger Straße boten einen trostlosen Anblick, insbesondere, da es ein Tag war, an dem die tief hängenden Regenwolken dafür sorgten, dass es auch mittags nicht hell genug wurde, um das Licht auszuschalten. Allein die Temperatur gab keinen Anlass zum Meckern: fünfzehn Grad plus. Von Winter keine Spur.
Der Scheibenwischer quietschte leise, während er alle fünfzehn Sekunden den feinen Sprühregen mehr auf der Windschutzscheibe verteilte, als sie zu säubern. Groß lenkte den Dienstwagen in seinem konzentrierten, ruhigen Fahrstil an der Firma Staedtler vorbei, dann wechselte er auf die rechte Fahrspur und bog schließlich gegenüber der Würzburger Straße ab ins Niemandsland. Hinter ihnen hupte ein Pkw-Fahrer, der sich offenbar darüber ärgerte, noch einmal abbremsen zu müssen, bevor er nach der Kreuzung endlich auf die erlaubten hundert Stundenkilometer beschleunigen konnte.
Groß folgte dem einspurigen Landwirtschaftsweg zurück in Richtung Nürnberg. Nach hundertfünfzig Metern bog er nach Osten ab und dann wieder nach Norden – immer tiefer hinein in das Labyrinth der Felder. Schließlich hielt er vor einem schmalen Baumgürtel.
Hackenholt studierte die topografische Karte, die er der Akte entnommen hatte, dann deutete er nach Westen. »Dort drüben ist es.«
Sie mussten sich durch dichtes Unterholz schlängeln, um an die richtige Stelle zu kommen. Groß zog sich seine ledernen Diensthandschuhe über, nachdem er in die Dornen einer Brombeerranke gegriffen hatte. Drei Schritte später gab es ein lautes, schmatzendes Geräusch.
»Warum zum Teufel haben eigentlich immer nur Fernsehkommissare Gummistiefel im Kofferraum?«, fluchte er, während er auf einem Bein balancierte und mit der anderen Hand seinen Turnschuh aus dem Matsch rettete.
Hackenholt lachte. »Weil wir einen Fahrzeugpool haben und das Auto nehmen müssen, das gerade da ist.«
»Vielleicht sollte ich mal eine Eingabe machen.«
»Der Herr Innenminister wird sich sicher darüber freuen!« Dann wurde Hackenholt wieder ernst. »Ich glaube, wir haben die Stelle erreicht.« Er schlug die Akte auf und besah sich die Fotos, die am Fundort gemacht worden waren. »Da, unter diesem Baum lagen die Skelettteile.«
»Kein Wunder, dass der arme Kerl jahrelang nicht entdeckt wurde«, brummte Groß, der inzwischen wieder beide Schuhe an den Füßen hatte.
»Lass uns bei unseren Überlegungen zunächst so tun, als wäre der Tote gestern gefunden worden und wir sind die Erstsachbearbeiter. Was kommt dir spontan in den Sinn?«
»Eine ziemlich abgelegene Stelle. Es ist unwahrscheinlich, dass sich Opfer und Täter hier zufällig begegnet sind. Entweder haben sie sich gezielt verabredet – oder der Mann wurde an einem anderen Ort getötet und sein Leichnam danach in dieser Wildnis abgelegt.«
»Mach weiter«, ermunterte Hackenholt seinen Kollegen. »Welche Gründe könnte es geben, sich hier zu treffen?«
»Spontan kommt mir ›Romeo und Julia‹ in den Sinn.«
Hackenholt lachte. »Du meinst wegen der ländlichen Gegend?«
Groß zuckte mit den Schultern. »Selbst wenn ich jemandem etwas übergeben will – Diebesgut, Drogen, weiß der Teufel was –, würde ich mich ganz sicher nicht nachts hier mit ihm treffen. Da sieht man doch die eigene Hand vor Augen nicht.«
»Das Treffen könnte tagsüber stattgefunden haben«, gab Hackenholt zu bedenken.
»Das glaube ich nicht. Wegen den vielen Felder ist das Risiko ziemlich groß, dass ein Bauer vorbeikommt. Ihm würde ein fremdes Fahrzeug sofort auffallen – und hergelaufen sind Täter und Opfer garantiert nicht, dazu liegt der Platz zu weit ab vom Schuss. Daneben wissen wir aufgrund des Verletzungsbilds, dass dem Mann der Schädel nicht mit einem Ast, sondern mit einem Hammer eingeschlagen wurde. Warum sollte jemand mitten in der Pampa solch ein Werkzeug bei sich tragen?«
»Es ist wahrscheinlicher, dass das Opfer erst nach seiner Ermordung hergebracht wurde«, stimmte Hackenholt zu. »Das passt auch zum Ergebnis der Bodenanalyse, die die Kollegen damals veranlasst haben.«
»Der Tote sollte nicht gefunden werden, und das ist dem Täter hervorragend gelungen.«
»Allerdings muss man diesen Ort erst einmal kennen. Wenn ich eine Leiche verstecken müsste, würde ich ...« Hackenholt hob die Hände. »Keine Ahnung, wo ich sie hinbringen würde, aber sicher nicht hierher.«
»Das heißt: Der Täter muss eine Verbindung zum Knoblauchsland haben.« Groß dachte einen Augenblick nach, bevor er fortfuhr. »Könnte er ein Erntehelfer gewesen sein?«
»Wer? Opfer oder Täter?«
»Sowohl als auch.«
»Das Opfer trug Schuhe der Marke Boss – das wäre für Erntehelfer eher atypisch. Soweit ich weiß, sind das üblicherweise arme Schlucker aus Osteuropa. Und laut Isotopenanalyse stammt unser Mann vermutlich vom Balkan.«
»Die Jugoslawienkriege waren zwischen 1991 und 1995.« Groß rieb sich über das bartstoppelige Kinn. »Und der Kosovokrieg war 1999. Da das Opfer zwischen Ende 2001 und 2003 getötet wurde, könnte es ein Flüchtling gewesen sein, der nach dem Krieg in Deutschland geblieben ist.«
»Gemäß Isotopenanalyse war er nur circa zwei Jahre lang vor seinem Tod in unserer Region«, gab Hackenholt zu bedenken.
»Das würde passen, wenn er aus dem Kosovo stammt«, unterstrich Groß.
Hackenholt schürzte die Lippen. »Ich habe mich letzte Woche schlaugemacht: Die damaligen Kriegsflüchtlinge kamen entweder mit einem Visum im Rahmen des Familienzusammenzugs nach Deutschland oder aufgrund eines Aufnahmekontingents, wobei sich die in sehr überschaubaren Größenordnungen hielten.«
»Gab es damals auch schon so viele illegale Einwanderer wie heute? Das Schengen-Abkommen trat doch erst später in Kraft.« Groß trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, wobei der Matsch, in dem sie standen, jedes Mal ein schmatzendes Geräusch von sich gab.
»Natürlich. In der Regel waren das Asylsuchende, die über die sogenannte grüne Grenze zu Österreich beziehungsweise Tschechien kamen, mit Fußschleusern, versteckt in Fahrzeugen oder mit falschen oder missbräuchlich benutzten Ausweisen.« Hackenholt hielt kurz inne und überlegte, was ihm der Kollege vom Fachkommissariat noch erzählt hatte. »Asylanträge konnten, wie auch heute, grundsätzlich immer gestellt werden. Asylgründe in Form von politischer Verfolgung lagen allerdings nicht vor, sodass die Anerkennungsquote marginal war. Allerdings durfte der Aufenthalt auch bei einer Ablehnung wegen den Verhältnissen in der Heimat nicht zwangsweise beendet werden. 1993 wurde sodann in der Neuregelung des Asylrechts eine Bürgerkriegsregelung eingeführt, um zu verhindern, dass den Menschen aufgrund eines jahrelangen geduldeten Aufenthalts als Bürgerkriegsflüchtlinge ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entsteht.«
»Wie wurden die Flüchtlinge seinerzeit erfasst?«
»Im Ausländerzentralregister, wobei der Datenumfang sowie die Aktualität nicht den heutigen Standards entsprachen. Dennoch bin ich mir sicher, dass die Erstermittler in unserem Mordfall den Toten in irgendeiner Datenbank gefunden hätten, wenn er als Flüchtling in Deutschland aufgenommen worden wäre oder sogar einen Asylantrag gestellt hätte.«
»Nicht notwendigerweise: Gespeicherte Fingerabdrücke hätten die Kollegen nicht weitergebracht, weil an dem Skelett keine Vergleichsabdrücke gesichert werden konnten. Und seine Gesichtszüge kannten sie ebenfalls nicht.«
Hackenholt schürzte die Lippen. »Damit haben wir einen ersten Ansatz: Wir müssen das Foto der Weichteilrekonstruktion mit dem Bildmaterial im Ausländerzentralregister abgleichen. Sich mit der Ausländerbehörde in Verbindung zu setzen und nachzuhaken, ob es zwischen 2001 und 2003 Flüchtlinge oder Asylsuchende aus dem Balkangebiet gab, die plötzlich verschwunden sind, wird dagegen wenig sinnvoll sein. Jetzt lass uns aber auf deine andere Feststellung zurückkommen: Woher kannte der Täter diesen Ort?« Er drehte sich einmal um die eigene Achse. Um sie herum lagen Felder so weit das Auge reichte.
»Er könnte ein Bauer gewesen sein. Oder ein Erntehelfer, ein Mitarbeiter von Staedtler, jemand, der in Reutles oder Neunhof wohnt, der regelmäßig die Erlanger Straße befährt, der immer die Autobahnauffahrt nutzt.« Plötzlich ließ Groß die Schultern sinken. »Bringen uns diese Spekulationen wirklich weiter? Es könnte schier jeder gewesen sein.«
»Menschen mit einer Leiche im Kofferraum fahren im Allgemeinen nicht ziellos kreuz und quer durch die Gegend.« Er seufzte. »Lass uns zum Auto zurückgehen, hier kommen wir nicht weiter.«
»Gute Idee, ich habe klatschnasse Füße.«
Als Hackenholt sich gerade abwenden wollte, wurde in ihrem Rücken das Tuckern eines Traktors lauter. Durch eine Lücke im Gebüsch sah er einen Bauern auf seinem dreckverkrusteten Vehikel den schmalen Weg auf ihren Dienstwagen zukommen. Sobald er ihn erreicht hatte, hielt er an und schaltete den Motor aus.
»Was tun Sie da?« Der Mann blieb auf dem Traktor sitzen und musterte sie misstrauisch. »Sie befinden sich auf landwirtschaftlichem Gebiet. Das ist Privatbesitz. Hier können Sie nicht einfach so herumlaufen, wie Sie wollen.«
»Wir sind von der Kriminalpolizei.« Hackenholt stellte sich vor und zeigte seinen Dienstausweis. »Und wer sind Sie?«
»Moritz Simmeth.«
Aus den Akten wusste der Hauptkommissar, dass einer der Landwirte, dessen Felder an den Baumgürtel grenzten, Lutz Simmeth hieß. Er musterte den Mann. Vielleicht war er der Sohn.
»Was tun Sie hier?«, wiederholte der Bauer seine Frage.
»Wir haben uns die Stelle angesehen, an der vor sechs Jahren eine Leiche entdeckt wurde.«
Der Fremde nickte wie zur Bestätigung, dass er davon gehört hatte. »Gibt es etwas Neues?«
»Sind Sie Lutz Simmeths Sohn?«
»Der Neffe. Ich habe den Hof nach seinem Tod übernommen.«
Hackenholt verzog das Gesicht. Das war das größte aller Probleme, mit denen Ermittler konfrontiert wurden, die an Altfällen arbeiteten: Wichtige Zeugen waren in der Zwischenzeit verstorben und hatten möglicherweise hilfreiche Informationen mit ins Grab genommen.
»Wissen Sie, was Ihr Onkel in den Jahren 2001 bis 2003 auf diesem Feld angebaut hat?« Hackenholt konnte sich nicht erinnern, einen entsprechenden Hinweis in den Akten gelesen zu haben.
»Nein, ich war damals noch bei der Bundeswehr. Mein Studium an der Hochschule in Weihenstephan habe ich erst ein Jahr später begonnen.«
»Können Sie mir etwas zu den Erntehelfern sagen, die in der Landwirtschaft beschäftigt werden? Ich kenne mich da nicht sonderlich gut aus«, mischte sich Groß ins Gespräch ein.
»Das sind Saisonarbeiter, wie es sie auch in vielen anderen Branchen gibt. Je nachdem, was angebaut wird, heuern wir sie im Frühjahr an und geben ihnen auf sechs Monate befristete Arbeitsverträge – oder kürzere, wenn sie beispielsweise nur zum Spargelstechen hier sind.«
»Werden die irgendwo angemeldet?«
»Selbstverständlich! Wir wären blöd, wenn wir es nicht täten, bei den ständigen Kontrollen.«
»Wie war das früher? Vor zehn Jahren?«, hakte Groß nach.
Simmeth zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, da habe ich das noch nicht gemacht. Am besten fragen Sie beim Bauernverband nach. Oder bei der Zentrale Auslands- und Fachvermittlung, das ist eine Dienststelle bei der Bundesagentur für Arbeit.«
Groß machte sich Notizen, dann verabschiedeten sich die Beamten und stiegen in ihr Auto.
»Sprechen wir morgen mit den anderen Landwirten, deren Felder rund um den Fundort liegen?«, fragte Groß, während er den Wagen zurück Richtung Nürnberger Innenstadt lenkte. »Wir haben die Weichteilrekonstruktion des Gesichts und damit Fotos, die wir herumzeigen können. Außerdem hat sich vielleicht das Machtgefüge innerhalb der Gruppe verschoben, wenn zwischenzeitlich einer der Bauern gestorben ist.«
»Natürlich müssen wir noch einmal mit allen sprechen, aber versteife dich nicht zu sehr darauf, dass unser Täter ein Erntehelfer gewesen sein könnte«, warnte Hackenholt. »Wie du vorhin festgestellt hast, gibt es sehr viele andere Personen, die hier in der Nähe vorbeikommen. Und wie wäre es mit Reitern, Mountainbikern, Joggern? Sie alle können die Stelle kennen.«
»Du hast recht«, räumte Groß ein. »Was ist eigentlich mit dem Jäger, der das Skelett gefunden hat? Ist er über jeden Verdacht erhaben?«
»Die Kollegen sahen damals keinen Grund, an seiner Aussage zu zweifeln. Warum sollte er mehrere Jahre nach dem Mord die Polizei zu einem Toten führen, der anderweitig unentdeckt geblieben wäre?«
»Weil das schlechte Gewissen an ihm genagt hat?«
Hackenholt dachte einen Augenblick nach, dann schüttelte er den Kopf. »Ich hoffe, Ralph hat inzwischen Fotos von dem Kopf machen lassen. Wir müssen an die Öffentlichkeit gehen. Das steht jetzt im Vordergrund.«
»Heißt das, ich werde die kommenden Tage wieder pausenlos am Telefon sitzen?« Groß klang nicht sonderlich begeistert.
»Ich denke, der Kriminaldauerdienst kann das für uns übernehmen. Es ist unwahrscheinlich, dass wir eine solche Flut an Hinweisen bekommen, wie es bei einem aktuellen Mord der Fall wäre, bei dem die Menschen im Umfeld des Opfers intensiv Anteil nehmen.«
Als Hackenholt am späten Nachmittag nach Hause kam, saß Sophie auf dem Fußboden und spielte mit Ronja. Sobald die Kleine die Wohnzimmertür aufgehen hörte, strampelte sie so wild mit den Beinen, dass sie es schließlich schaffte, sich auf den Bauch zu wälzen. Dann stemmte sie sich mit ihren Ärmchen vom Boden ab und reckte den Kopf so hoch sie nur konnte. Lachend hob Hackenholt seinen kleinen Sonnenschein hoch und drückte ihn an sich. Ronja brachte ihre Freude darüber zum Ausdruck, indem sie ihn kräftig in die Nase zwickte und den Mund zu einem zahnlosen Lachen aufriss.
»Ich glaube, wir sollten nach Weihnachten umräumen und unser Wohnzimmer babysicher machen. Bestimmt fängt sie bald an zu krabbeln.« Aus Hackenholt sprach der stolze Vater, der es kaum erwarten konnte, mit seinem Kind mehr zu unternehmen, als es nur im Kinderwagen durch die Gegend zu schieben.
»Lass ihr noch ein bisschen Zeit. Sie ist gerade erst fünf Monate alt geworden.« Sophie stand auf und gab ihm einen Kuss. »Wie war dein Tag?«
»Ziemlich ereignislos. Und was habt ihr zwei gemacht?«
»Ich ...« Sophie hielt inne und wandte sich ab, um die Spielsachen vom Boden aufzuheben. »Ronja hat heute Vormittag ihre Tante besucht«, sagte sie schließlich zögerlich.
»Kein Babyschwimmen? War sie zu nörgelig?«
»Im Gegenteil, sie war so brav, dass ich sie eine Weile mit meiner Schwester allein lassen konnte.«
Hackenholt stutzte. Sophie redete ziemlich um den heißen Brei herum. Endlich drehte sie sich um und sah ihn an.
»Ich war heute Morgen im Gericht.«
Reflexartig drückte Hackenholt Ronja fester an sich. »Warum?«
»Ich wollte die Menschen sehen, die uns das angetan haben. Wollte wissen, wie sie sich verhalten, wie sie mit ihrer Schuld umgehen. Ich weiß, dass sie als unschuldig gelten müssen, bis sie verurteilt sind, aber ... für mich sind sie das bereits.«
»Und? Was ist bei deinem Menschenstudium herausgekommen?«
Sophie biss sich auf die Unterlippe.
»Sie sehen nicht wie Monster aus, nicht wahr? Würde man ihnen auf der Straße begegnen, hielte man sie für absolute Durchschnittsbürger. Zudem sind sie meistens sehr sorgfältig gekleidet, wenn sie vor Gericht erscheinen und wirken dadurch sogar noch seriöser.«
»Der Vater wurde in einem Rollstuhl in den Gerichtssaal geschoben. Er sah aus wie ein Neunzigjähriger.« Sophies Stimme stockte. »Kaum hatte der Richter die Verhandlung eröffnet, hat sein Anwalt beantragt, das Verfahren gegen ihn einzustellen, weil er nicht verhandlungsfähig ist. Er soll umgehend aus dem Gefängnis freigelassen werden.«
Hackenholts Puls beschleunigte sich. »Warum? Was gibt er vor zu haben?«, er fühlte, wie er zu schwitzen begann.
»Er hat Parkinson.«
»Sei dir da nicht so sicher, er ist ein verdammt guter Schauspieler. Denk daran, dass er damals in Münster zusammen mit seiner Familie sogar seinen eigenen Tod inszeniert hat. Danach ist er jahrelang abgetaucht und hat zuletzt ein Doppelleben geführt.«
»Er hat Sprachstörungen und bringt keinen einzigen kompletten Satz heraus.«
»Das kann man alles simulieren. Was hat der Vorsitzende Richter gesagt?«
»Laut Gutachten soll Anton Schweinsberger verhandlungsfähig sein, wenn die Verhandlungsdauer nicht mehr als vier Stunden pro Tag beträgt und immer wieder Pausen gemacht werden.«
Hackenholt nahm Sophie in den Arm und drückte sie an sich und Ronja. »Du hättest nicht allein ins Gericht gehen sollen, du kennst dich mit Strafprozessen nicht aus. Die Anwälte stellen am Anfang immer die absurdesten Anträge. Dafür werden sie bezahlt. Es ist so etwas wie ein Kräftemessen mit dem Richter. Jeder will sein Revier markieren und zeigen, was er draufhat«, versuchte er, seine Frau zu beruhigen. Insgeheim beunruhigte ihn ihre Schilderung jedoch zutiefst.
»Ich habe gestern noch mit der Nürnberger Geschäftsstelle des Bayerischen Bauernverbands telefoniert«, informierte Martin Groß Hackenholt, kaum dass der die Dienststelle um kurz vor halb neun betreten hatte.
Auch in dem Punkt hatte sich in den letzten Wochen ein gewisser Schlendrian eingenistet: Seit Hackenholt den Altfall bearbeitete und es daher nicht mehr zwingend erforderlich war, bei den Dienstbesprechungen anwesend zu sein, nahm er es sich heraus, morgens zwei Stunden mit seiner kleinen Tochter zu verbringen. Während Sophie noch friedlich in ihrem Bett schlummerte, fütterte und wickelte er Ronja und machte mit ihr einen Spaziergang.
»Und was hast du herausgefunden?« In aller Ruhe hängte er seine Jacke auf, dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und fuhr den Computer hoch.
Groß musste niesen, holte ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich geräuschvoll. »Ich glaube, ich habe mir gestern dort draußen eine Erkältung eingefangen. Am Abend habe ich mitten im Training schlapp gemacht.«
»Solltest du dann nicht besser heimgehen und dich auskurieren?« Hackenholt musterte den Kollegen. Er sah tatsächlich ziemlich blass aus. »Ich wollte jetzt dann mit der Pressestelle unseren Fahndungsaufruf klarmachen. Sollten wider Erwarten doch ein paar erfolgversprechende Hinweise hereinkommen, müsstest du sie am Donnerstag und Freitag überprüfen.«
»Das passt schon. Ich gehe heute Abend früh ins Bett, morgen bin ich wieder fit. Jetzt zum Bauernverband: Ich habe erfahren, dass Saisonarbeiter damals maßgeblich aus Polen kamen. Um die Lohnnebenkosten so gering wie möglich zu halten, wurden üblicherweise sozialversicherungsfrei zu beschäftigende Personengruppen ausgewählt, die dann hier maximal zwei Monate beziehungsweise fünfzig Arbeitstage pro Kalenderjahr beschäftigt werden durften. Studenten, Hausfrauen und -männer oder Rentner sowie Arbeitnehmer im unbezahlten Urlaub.«
»Damit kann unser Toter kein Erntehelfer gewesen sein. Er hat zwei Jahre lang in unserer Region gelebt, nicht nur zwei Monate.« Hackenholt sah von seinem Bildschirm auf. »Trotzdem besuchen wir nachher die Bauern, deren Felder sich rund um den Fundort befinden. Such bitte schon mal die Adressen aus den Akten heraus. Ich werde in der Zwischenzeit in die Pressestelle gehen.«
Der erste Landwirt, den die beiden Beamten in einem Schuppen neben dem Haupthaus antrafen, war ein Mann in den Sechzigern. Er trug ein rot-weiß kariertes Hemd zu einer grünen Latzhose und Gummistiefeln. Im Mund hielt er eine Pfeife, deren Tabak einen intensiven Geruch verströmte. Neben ihm lag ein Golden Retriever geduldig wartend auf dem kalten Boden. Hackenholt stellte sich und seinen Kollegen vor und erklärte Peter Wittmann den Grund ihres Besuches.
»Ich dachte, die Polizei hätte den Fall längst zu den Akten gelegt.«
»Wir vergessen nie, Herr Wittmann. Zwar lässt sich ein Verbrechen im echten Leben nicht so schnell aufklären wie im Tatort am Sonntagabend, aber bis auf wenige Ausnahmen können wir den Täter früher oder später ermitteln.«
»Gut zu wissen. Kommen Sie ins Haus, hier ist es nicht sonderlich gemütlich.« Wittmann schritt ihnen voran zu einem Sandsteingebäude, wo er an der Tür nachlässig seine Gummistiefel abstreifte. Sie gelangten in eine geräumige Diele, in der ein antiker bemalter Bauernschrank stand. Die weiß getünchte Holzdecke war niedrig, die beiden Ermittler zogen automatisch die Köpfe ein, als sie dem Mann rechter Hand durch eine Tür in die Wohnstube folgten.
»Wir gehen davon aus, dass der Tote vor über einem Jahrzehnt dort draußen abgelegt wurde. Hat sich an der Stelle seit damals viel verändert?« Hackenholt wollte das Thema bewusst sanft anschneiden und sich mit dem Bauern zur Einstimmung auf eine Zeitreise begeben.
»Überhaupt nichts.«
»Wie war das Leben damals? In zehn Jahren passiert einiges.«
»Bei uns hat sich nichts geändert – und bei den anderen auch nicht. Wir leben von der Landwirtschaft, da geht alles seinen geregelten Gang.«
»Gab es damals schon so viele Hilfsarbeiter wie heute?«
»Natürlich. Alleine ließe sich das alles gar nicht bewältigen. Mein Großvater hatte neun Geschwister – ich habe zwei und beide wollen mit dem Hof nichts zu tun haben.«
»Ist seinerzeit in der Gegend etwas Besonderes vorgefallen?«
Wittmann rieb sich nachdenklich über das Kinn. »Einmal ist ein Flugzeug auf der Erlanger Straße notgelandet. Das war ein Ereignis. Aber sonst?«
»Wir dachten eher an Streitereien. Gab es eine Wirtshausschlägerei oder ist eine Kärwa aus den Fugen geraten?«, präzisierte Groß.
Wittmann schüttelte den Kopf.
»Ich weiß, es ist lange her, aber vielleicht gab es eine Häufung von Einbrüchen und Diebstählen, denen die Polizei nicht auf die Spur gekommen ist?«
»Nein, ich erinnere mich an nichts dergleichen.«
»Es wurden auch keine Scheunen oder Schuppen in Brand gesteckt?«
Wieder schüttelte Wittmann den Kopf.
»Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?« Endlich legte Hackenholt Kopien der Fotos von dem rekonstruierten Gesicht auf den Tisch.
Wittmann betrachtete die Bilder lang. »Nein, der ist mir nie begegnet.«
»Wissen Sie noch, was Sie in den Jahren 2001 bis 2003 auf dem Feld angebaut haben?«
»Nicht auswendig, aber ich führe ein Felderwirtschaftsbuch – ich könnte also nachsehen.«
»Ein Felderwirtschaftsbuch?«, echote Hackenholt.
»Darin wird die zeitliche Abfolge der auf einer landwirtschaftlichen Fläche angebauten Nutzpflanzenarten im Ablauf der Vegetationsperiode notiert. Die Fruchtfolge soll die Bodenfruchtbarkeit nachhaltig erneuern und erhalten. Das ist ein wichtiger Bestandteil des modernen Agrarmanagements und des ökologischen Landbaus.«
Hackenholt zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
»Bei der Fruchtfolge unterscheiden wir zwischen Blattfrucht, Halmfrucht und Zwischenfrüchten. Halmfrüchte werden häufig als Humuszehrer und Blattfrüchte als Humusmehrer bezeichnet. Trotzdem haben alle Früchte unterschiedliche Eigenschaften, wodurch sie dem Boden Nährstoffe entziehen oder zuführen sowie dessen Eigenschaften verbessern oder verschlechtern. Auch eine fruchtspezifische Düngung kann für die Nachfruchtgestaltung eine wichtige Rolle spielen. Zwischenfrüchte werden daher, ohne geerntet zu werden, in den Boden eingearbeitet, um beispielsweise die Schadverdichtungen aufzubrechen, Nährstoffe für die Nachfrucht zu halten oder zurückzuführen, das Bodengefüge zu stabilisieren, aber auch um Schaderreger abzutöten.«
»Das ist sicher alles sehr interessant, aber ... könnten wir vielleicht einfach nachsehen, was Sie in den betreffenden Jahren auf dem Feld angebaut haben?«, unterbrach Martin Groß den Exkurs in die Fruchtfolgesystematik.
»Natürlich, ich wollte Sie nicht langweilen. Ich hole rasch das Buch.«
Während Wittmann die Stube verließ, sah Groß Hackenholt fragend an. »Warum ist es dir so wichtig zu erfahren, was auf den Feldern rund um den Fundort angebaut wurde?« Er zog ein Taschentuch aus seiner Jacke, die er trotz des gut geheizten Zimmers nicht ausgezogen hatte, und schnäuzte sich.
»Keine Ahnung.« Hackenholt zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, weil es mir leichter fällt zu glauben, dass niemandem eine Veränderung an der Stelle aufgefallen ist, wenn rundherum hohe Maisfelder gestanden haben. Es muss zumindest Grabspuren gegeben haben, weil der Tote nicht einfach nur abgelegt, sondern mit Erde bedeckt wurde – wenngleich nicht sonderlich gründlich.«
Der Bauer kehrte zurück. Er legte ein aufgeschlagenes Buch vor Hackenholt auf den Tisch, in dem handschriftliche Eintragungen hinter den jeweiligen Jahreszahlen vermerkt waren. Wie der Hauptkommissar erkennen musste, waren im fraglichen Zeitraum auf dem Feld Kartoffeln, Salat und Gerste, dazwischen jedoch auch Sonnenblumen und Senf angebaut worden. Da die Ermittler nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür hatten, wann das Opfer unter den Bäumen verscharrt worden war, halfen ihnen diese Informationen nicht weiter.
»Ist hier in der Gegend vor zehn Jahren jemand plötzlich verschwunden?«, unternahm Hackenholt einen letzten Versuch, doch noch etwas Hilfreiches aus dem Landwirt herauszubringen. »Ich meine damit nicht unbedingt den Mann.« Er wies auf das Bild. »Irgendjemand.«
»Das haben Ihre Kollegen vor ein paar Jahren auch alles gefragt. Ich kann Ihnen beim besten Willen nicht weiterhelfen.« Wittmann breitete bedauernd die Arme aus.
Bei den anderen drei Landwirten, die die beiden Beamten im Anschluss aufsuchten, erging es ihnen nicht anders. Niemand konnte sich an etwas erinnern, was den Kriminalern bei ihren Ermittlungen weitergeholfen hätte, und niemand kannte die Person auf dem Foto.
Zurück im Kommissariat bemerkte Hackenholt, dass sein Büro leer war; von Wünnenberg gab es weit und breit keine Spur, nur eine volle Kanne Kaffee hatte er stehen lassen. Rasch schenkte Hackenholt zwei Tassen ein und reichte eine seinem Kollegen. Während Groß zwei Stück Würfelzucker in Wünnenbergs Gebräu rührte und damit den in dessen Augen größtmöglichen Frevel beging, sagte er nachdenklich: »Ich konnte heute Nacht nicht einschlafen und habe daher eine Weile intensiv über unseren Fall nachgedacht.«
Hackenholt musterte ihn. Er hatte dunkle Schatten unter den Augen und eine fahle Hautfarbe. »Ich hoffe, du willst mir damit nicht sagen, dass dich unser Toter wach gehalten hat. Martin, es ist nie gut, seine Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Natürlich tun wir das alle bis zu einem gewissen Maß – aber es darf dich nicht um deinen Schlaf bringen, denn dann frisst dich der Job früher oder später auf. Und das ist der Anfang vom Ende – auch für deine Familie.«
»Ich habe keine Partnerin. Meine Frau hat sich vor drei Jahren von mir scheiden lassen. In meinem Leben gibt es jetzt nur noch meine Mutter und meine Tochter. Aber die sind beide Kummer gewohnt; spätestens seit ich nach Afghanistan gegangen bin.«
»Oh, ich wusste nicht, dass du einen Auslandseinsatz gemacht hast. Wann warst du denn dort?«
»Ist schon eine Weile her. Vor drei Jahren – unmittelbar nach der Scheidung«, druckste Groß herum. »Details erzähle ich dir ein anderes Mal, okay?«
Hackenholt nickte. Es war ihm unangenehm, mit seiner Bemerkung offenbar eine alte Wunde aufgerissen zu haben. »Wenn ich dich richtig verstanden habe, wolltest du mir sagen, worüber du heute Nacht nachgedacht hast«, wechselte er bereitwillig das Thema.
»Genau. Ich habe mir überlegt, ob wir uns dem Opfer über den Täter nähern können.«
»Wir haben so gut wie keine Anhaltspunkte. Natürlich gibt es DNA-Spuren an der Kleidung des Toten, aber die sind weder in einer unserer Datenbanken gespeichert noch steht fest, ob sie überhaupt tatrelevant sind.«
»Das weiß ich vom Aktenstudium. Ich meinte eher: Sollten wir nicht besser einen Kollegen von der Operativen Fallanalyse anfordern, um –« Er wurde von einem Niesanfall unterbrochen.
»Um die Kollegen vom K16 in München einzuschalten und ein Täterprofil erstellen zu lassen, haben wir leider zu wenige Anhaltspunkte«, erklärte Hackenholt, nachdem Groß sich die Nase geputzt hatte. »Was aber nicht heißt, dass wir uns nicht selbst entsprechende Gedanken machen können.«
»Geht das denn?«
»Im Kleinen natürlich«, lächelte Hackenholt. »Setz dich.« Einen Augenblick wühlte er in einer Schreibtischschublade, dann zog er ein Buch hervor: die Polizeiliche Kriminalstatistik für die Bundesrepublik Deutschland, herausgegeben vom BKA. »Statistiken sind nicht jedermanns Sache, aber manchmal helfen sie, ein gewisses Grundverständnis für unsere Arbeit zu vermitteln.«
Er blätterte in dem Buch und legte es dann aufgeschlagen vor Groß auf den Tisch. »Hier wurde beispielsweise die Beziehung Opfer – Täter nach Geschlechtern aufgeschlüsselt. Bei weiblichen Opfern waren die mutmaßlichen Täter in fast sechsundachtzig Prozent der Fälle Partner, Verwandte, Freunde oder wenigstens flüchtige Bekannte. Männliche Opfer wurden immerhin in zwei Dritteln der Fälle von Verwandten oder Bekannten getötet.« Hackenholt lehnte sich zurück, bevor er fortfuhr: »Daneben musst du dir vor Augen halten, dass es im Grunde genommen drei klassische Hauptmotive bei Tötungsdelikten gibt: Kränkungen und Verletzungen des Selbstwertgefühls sind wohl der häufigste Tötungsgrund. Habgier und materielle Bereicherung stehen an zweiter Stelle, gefolgt von Rache. Daneben begegnen wir häufig noch sexuellen Motiven, Eifersucht, Hass und Liebe.«
»Liebe?«
»Zum Beispiel der Dreiundachtzigjährige, der seine schwer kranke, bettlägerige Frau tötet, um sie von ihrem Leiden zu erlösen.«
»Unser Opfer war ein Mann Anfang dreißig, der vom Balkan stammte. Als er starb, trug er eine billige Veloursjacke von H&M, außerdem hatte er Dreadlocks. Damit war er nicht gerade der Typ, an dem man sich materiell bereichern kann.«
»Genau. In den meisten Fällen können wir davon ausgehen, einen Täter in einem sehr eingeschränkten Kreis von Verdächtigen aufzuspüren«, nahm Hackenholt seinen ursprünglichen Faden wieder auf. »Wichtig sind natürlich auch Informationen zur Waffe. Da ein Großteil der Tötungsdelikte Beziehungstaten sind, die nicht langfristig geplant wurden, werden sie überwiegend mit Gegenständen verübt, die leicht verfügbar sind. Das häufigste Tatwerkzeug ist das Küchenmesser. An zweiter und dritter Stelle stehen Eisenstange und Hammer. Eine Schusswaffe ist dagegen etwas Besonderes.«
»Unser Opfer wurde mit einem Hammer erschlagen. Heißt das, es handelt sich nach deinem Dafürhalten um eine spontane Tat?«
»Nicht unbedingt. Außerdem sagt auch die Art und Weise, wie das Opfer getötet wurde, viel über den Täter aus.«
»Den Täter? Es ist also ein Mann?«
»Nicht notwendigerweise. Das Opfer soll für einen Mann eher klein gewesen sein – wenn es stimmt, was die Rechtsmediziner errechnet haben. Dennoch halte ich es für wahrscheinlich, dass wir es mit einem männlichen Täter zu tun haben. Manche Tötungsarten setzen einfach bestimmte Fähigkeiten voraus – sowohl körperlicher als auch charakterlicher Art. Jemandem in die Augen zu schauen, während man ihm einen Hammer auf den Kopf knallt und das Blut spritzen sieht, das erfordert ein erhebliches Maß an mentaler Kraft. Unser Opfer wurde zudem nicht nur ein-, sondern viermal mit dem Hammer geschlagen. Das ist ein Hinweis auf eine wahnsinnige Wut. Diese Art von Zorn empfindet man kaum gegenüber einer fremden Person.« Hackenholt sprach eindringlich. Er wollte, dass Groß ein Gefühl für die Täter entwickelte, mit denen er es zukünftig in seinem neuen Kommissariat zu tun bekommen würde.
»Wir suchen also nach einem männlichen Täter, der das Opfer gekannt hat und auf den Mann aus irgendeinem Grund wütend war.«
»Das ist in meinen Augen die naheliegendste Option«, bestätigte Hackenholt.
»Wenn wir unterstellen, dass er ein Flüchtling war, könnte er beispielsweise bei einem Streit in einer Gemeinschaftsunterkunft getötet worden sein.« Groß war begierig, die vagen Angaben in etwas Handfestes umzusetzen.
»Das ist eher unwahrscheinlich, denn wie sollte der Täter, der ja dann wohl ein anderer Flüchtling sein müsste, ihn an den Fundort gebracht haben? Für konkrete Vermutungen ist es noch viel zu früh. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten.«
»Na, wirklich weitergebracht hat uns das jetzt aber nicht, oder?« Groß klang enttäuscht.
»Das stand zu befürchten.« Hackenholt sah, dass dem Kollegen ein dünner Schweißfilm auf der Stirn stand. »Eine Methode, bei deren Anwendung am Schluss ein Foto des Täters oder ein Name samt Anschrift herauskommt, gibt es leider nicht. Aber es hat unseren Blick geschärft. Als Nächstes sollten wir uns fragen: Wo würde ein junger Mann vom Balkan in Nürnberg Unterschlupf finden? Warum ist er überhaupt hierhergekommen?«
»Erstens: Er könnte ein Flüchtling gewesen sein. Zweitens: Er könnte jemanden im Großraum besucht haben. Drittens: Er könnte hier gearbeitet haben.«
»Wenn er ein Flüchtling war, wurde er amtlich registriert – inklusive Fingerabdrücke und Foto. Wie wir festgestellt haben, nutzen uns Erstere nichts, weil an der Leiche keine mehr genommen werden konnten. Aber, wie du gestern vorgeschlagen hast, müssen wir mithilfe der Vergleichssoftware das Bild der Weichteilrekonstruktion auf Übereinstimmungen mit Fotos aus dem Ausländerzentralregister prüfen. Unter Umständen bringt uns das schon weiter. Wenn er jemanden besucht oder hier gearbeitet hat, werden sich hoffentlich Kontaktpersonen melden, sobald sie unseren Fahndungsaufruf in der Zeitung sehen.«
»Nicht, wenn er illegal beschäftigt wurde. Das ist in meinen Augen das wahrscheinlichste Szenario, denn sonst hätte sich derjenige bereits damals bei den ermittelnden Kollegen gemeldet, als das Skelett gefunden wurde. Außerdem wäre er im Falle einer legalen Beschäftigung noch in irgendeiner anderen Datenbank vertreten.«
»Sei nicht so negativ – bei Altfällen kommt öfter mal etwas ans Tageslicht, womit man zunächst nicht rechnet.« Hackenholt erhob sich. »Ich mache für heute Schluss. Du solltest auch besser heimgehen und dich ins Bett legen. Du siehst aus, als ob du Fieber hättest.«
Als Hackenholt am Abend vor dem Fernseher saß und sich die Nachrichten anschaute, musste er plötzlich dreimal hintereinander niesen.
»Martin hat sich gestern erkältet, als wir den Ort in Augenschein genommen haben, an dem das Skelett gefunden wurde«, erklärte er auf Sophies kritischen Blick hin. »Hoffentlich habe ich mich heute nicht bei ihm angesteckt.«
»Dann kommst du ab sofort in Quarantäne und hast Ronja-Verbot, bis wir das ausschließen können«, sagte Sophie entschieden.
»Was?« Hackenholt sah sie entgeistert an.
»Ja, glaubst du, ich will, dass unser Baby sein erstes Weihnachtsfest mit Fieber schreiend im Bett verbringt? Mir hat die Mittelohrentzündung vor drei Wochen völlig genügt.«
»Und ich? Was ist, wenn ich Weihnachten im Bett verbringen muss?«
»Das würde zwar meinen Plan durcheinanderbringen, wäre aber kein Weltuntergang, denn es ist ja nicht dein erstes Weihnachten.«
Hackenholt reckte den Hals nach links und rechts, bis die Wirbel knackten. »Bislang fühle ich mich eigentlich ganz fit: keine Hals- und Gliederschmerzen, keine verstopfte Nase, kein Fieber.«
»Dann sieh zu, dass es so bleibt! Ronja-Verbot hast du trotzdem.«
Am Morgen nahm Hackenholt zum ersten Mal in dieser Woche an der täglichen Lagebesprechung teil, da Sophie mit ihrer Drohung tatsächlich Ernst gemacht hatte und er sich nicht um sein Töchterchen kümmern durfte. Überrascht stellte er nun fest, dass seine Kollegen, obwohl es nicht so gewirkt hatte, viel beschäftigt gewesen waren. Über die Diskothekenbesucherin, der am Wochenende von einer anderen Frau im Toilettenraum mit einem Messer in den Bauch gestochen worden war, hatte er in den Lagemeldungen gelesen. Dass annähernd zeitgleich jedoch Unbekannte in einer weiteren Disko einen jungen Mann so schwer gegen den Kopf getreten hatten, dass er sich immer noch auf der Intensivstation befand, war ihm offenbar entgangen.
Einen Augenblick lang verspürte er ein Ziehen in der Brust: Er fühlte sich überflüssig – das Team kam wunderbar ohne ihn zurecht. Eilig rief er sich zur Ordnung. Es war sein Wunsch gewesen, für eine Weile kürzerzutreten und nur drei Tage pro Woche zu arbeiten, um Sophie zu entlasten und mehr Zeit mit seiner Tochter verbringen zu können.
»Martin hat sich krankgemeldet«, wandte sich Stellfeldt schließlich an ihn. Der ältere Kollege hatte, wie immer während Hackenholts Abwesenheit, die Führung des Teams übernommen. »Er hat kaum ein Wort rausgebracht.«
»Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn ich ihn gestern am Morgen gleich wieder nach Hause geschickt hätte. Er sah da schon nicht sonderlich gut aus.«
»Brauchst du einen von uns, der heute mit dir rausfährt?«
»Es wäre gut, wenn du Ralph entbehren könntest – weniger wegen dem, was im Augenblick anliegt, sondern vielmehr im Hinblick auf die kommenden Tage. Heute steht der Fahndungsaufruf mit einem Bild der Weichteilrekonstruktion in der Zeitung. Wenn Martin nicht da ist und ich frei habe, muss sich einer von euch in unserem Fall auskennen.«
»Du erwartest jetzt aber nicht von mir, dass ich mich zu dir in das kleine Kabuff setze, in das du dich mit Martin zum Aktenstudium zurückgezogen hast, während unser schönes Büro leer steht«, protestierte Wünnenberg umgehend.