Feuchtes Grab - Stefanie Mohr - E-Book

Feuchtes Grab E-Book

Stefanie Mohr

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Beschreibung

Dr. Puellens gebrechliche Tante zieht in eine Seniorenresidenz. Während die Männer Möbel schleppen, erkunden Sophie und Ronja Hackenholt den nahe gelegenen Spielplatz in Pillenreuth. Als von dort ein Kind verschwindet, findet der Umzug ein jähes Ende. Sofort beginnen die Ermittler mit der Suche. Im Gebüsch liegt ein verlorener Kinderhandschuh, später wird auch die Jacke des kleinen Jungen entdeckt. Die schlimmen Befürchtungen scheinen sich zu bewahrheiten. Für EKHK Frank Hackenholt beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, der durch sensationslüsterne Medien noch zusätzlich verschärft wird. Keine Frage, dass Sophie die Planung der anstehenden Kreuzfahrt allein übernehmen muss.

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Feuchtes Grab

Stefanie Mohr

Feuchtes Grab

– Hackenholts zwölfter Fall –

von

Stefanie Mohr

EBOOK

Stefanie Mohr, geboren 1972, liebt ihre Heimatstadt Nürnberg, in der sie (fast) jeden Winkel kennt. Sie wohnt und arbeitet als freiberufliche Autorin und Fotodesignerin im Nürnberger Norden. Nähere Informationen: www.stefanie-mohr.com

In dieser Reihe bereits erschienen: »Die vergessenen Schwestern«, »Das letzte Lächeln«, »Die dunkle Seite des Sommers«, »Frauentormauer«, »Glasscherbenviertel«, »Reichskleinodien«, »Tödliche Kristalle«, »Bombenstimmung«, »Tief im Brunnen«, »Südstadtblüten«, »Schmerzhafte Wahrheit«und»Feuchtes Grab«.

Dr. Puellens gebrechliche Tante zieht in eine Seniorenresidenz. Während die Männer Möbel schleppen, erkunden Sophie und Ronja Hackenholt den nahe gelegenen Spielplatz in Pillenreuth. Als von dort ein Kind verschwindet, findet der Umzug ein jähes Ende. Sofort beginnen die Ermittler mit der Suche. Im Gebüsch liegt ein verlorener Kinderhandschuh, später wird auch die Jacke des kleinen Jungen entdeckt. Die schlimmen Befürchtungen scheinen sich zu bewahrheiten. Für EKHK Frank Hackenholt beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, der durch sensationslüsterne Medien noch zusätzlich verschärft wird. Keine Frage, dass Sophie die Planung der anstehenden Kreuzfahrt allein übernehmen muss.?

+++HINWEIS:+++

Die Übersetzung der fränkischen Passagen befinden sich im Anhang und sind im Text mit Fußnoten gekennzeichnet. Klickt man auf die Ziffer, gelangt man direkt zur Übersetzung, klickt man dort erneut auf die Ziffer, gelangt man zurück an die Textstelle.

Copyright © Stefanie Mohr, 2019.

All Rights Reserved - Alle Rechte vorbehalten

Umschlagfoto und -gestaltung: Stefanie Mohr

Verlag: Edition Gelbes Sofa, Inh.Stefanie Mohr, Nordring 125, 90409 Nürnberg

Originalausgabe

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Für

Ramona

If he loved with all the powers of his puny being, he couldn't love as much in eighty years as I could in a day.

Emily Brontë, »Wuthering Heights«

Samstag

»Höher, höher, höher!«, rief Christine Mur. »Nein, so klappt das nicht ... Frank, du musst die Kommode höher halten, sonst bleibst du am Treppengeländer hängen.«

»Das sagst du so leicht«, presste Hackenholt zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Das Ding ist saumäßig schwer.« Ein Schweißtropfen rann ihm ins Auge und brannte.

»Komm, die letzten Stufen schaffst du auch noch«, versuchte die Kollegin, ihn zu motivieren. »Ja, gut so. Stopp! Ein bisschen tiefer. Und jetzt rum ums Eck.«

Keuchend setzten Hackenholt und Martin Groß das Ungetüm einen Augenblick später im schmalen Flur des Reihenhauses ab.

»Falls Sophie jemals ihr Traumhaus findet, willige ich nur in den Kaufvertrag ein, wenn sie verspricht, eine Spedition zu engagieren.« Hackenholt wischte sich den Schweiß von der Stirn. Und Maurice Puellen würde er verbieten, in seiner Abwesenheit mit Sophie zu telefonieren. Ihre schier grenzenlose Hilfsbereitschaft hatte ihnen den ganzen Schlamassel eingebrockt.

»Ach Bub, ich bin dir ja so dankbar.«

Hackenholt drehte sich um und sah, wie Puellens gebrechliche Tante ihrem Neffen zärtlich über die Wange strich.

»Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun würde.«

»Ein Umzugsunternehmen und einen Entrümpelungsdienst beauftragen«, murmelte Martin Groß gerade so laut, dass es die Umstehenden hörten, aber nicht die alte Dame.

»Es ist doch selbstverständlich, Tante Anneliese, dass ich dir bei deinem Umzug in die Seniorenresidenz helfe.« Puellen tätschelte seinerseits die Hand der Greisin. Dann gewahrte er die Blicke, die ihm die Kriminalbeamten zuwarfen. Betreten räusperte er sich. »Entschuldige mich einen Moment. Ich fürchte, ich muss da mal mit anfassen.«

(1)»Zeid werds«, brummte Saskia Baumann, die zwei große Müllsäcke mit Kissen und Decken die Treppe hinunterzog.

Zu viert stemmten sie das Möbelstück mit der massiven Marmorplatte hoch und versuchten, es durch den Türrahmen in den Vorgarten zu bugsieren.

»Fraaank!« Sophies Ruf war laut und durchdringend. Unwillkürlich ließ Hackenholt los und fuhr herum. Seine Frau hielt die dick gegen die Februarkälte eingemummte Ronja im Arm und kam auf ihn zugerannt.

»Absetzen!«, japste Maurice Puellen, der dem Gewicht des Möbels nicht gewachsen war, und die Kommode krachte halb im Haus, halb im Freien zu Boden.

»Was ist los?« Hackenholt lief Sophie entgegen. »Hat sich Ronja verletzt?«

Sophie schüttelte den Kopf und schnappte nach Luft. »Ein Junge ist verschwunden.«

»Was?« Hackenholt sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Ein kleiner Bub wird vom Spielplatz vermisst«, wiederholte Sophie keuchend. Ihr Atem kondensierte in der Luft. »Wir müssen alle beim Suchen helfen.«

Bevor Hackenholt etwas erwidern konnte, hörte er die Rufe einer panischen Mutter. Einen Augenblick später eilte eine schmächtige Thailänderin aus einem Fußweg.

»Narong!« Gehetzt blickte sie die Straße hinauf und hinunter. Sophie winkte ihr. Sofort stürzte die Frau auf sie zu.

»Ihr Sohn hat mit ein paar anderen Kindern in der Nähe der Kletterwand gespielt. Und dann war er plötzlich weg.«

»Haben Sie Narong gesehen?«, fragte die Mutter in gebrochenem Englisch. Sie war eine sehr attraktive Frau Ende zwanzig mit einem schmalen Gesicht und walnussfarbenen Augen. Als Hackenholt den Kopf schüttelte, wandte sie sich schluchzend ab und rannte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Immer wieder rief sie verzweifelt den Namen ihres Sohnes. Die Stimme wurde zunehmend schriller. Hackenholt schnitt eine Grimasse, dann lief er ihr mit langen Schritten hinterher. Hinter ihm kletterte Baumann über die Kommode und wollte gemeinsam mit Maurice Puellen Hackenholt folgen.

»Stehenbleiben!«, brüllte Martin Groß mit überzeugender Autorität. Die Thailänderin fuhr herum. Auch Baumann und Puellen hielten inne. »Packt an!« Groß funkelte die zwei Freunde böse an.

»Wir werden Ihnen helfen, Ihren Sohn zu finden«, sagte Hackenholt auf Englisch. »Wir sind Polizeibeamte.«

»Polizei?«, wiederholte die Frau.

Hackenholt nickte. »Wie alt ist Ihr Kind?«

Als Antwort streckte sie vier Finger in die Luft.

»Und wie heißt er?«

»Narong.«

»Wohnen Sie hier im Viertel?«

»Ja.« Die Frau wollte wieder loslaufen. »Ich muss suchen!«

»Moment. Wie können wir Narong erkennen? Was hat er an?«

»Er trägt eine Winterjacke und eine Mütze mit ...« Sie deutete auf Ronjas Kopf, weil sie das Wort nicht kannte.

»Bommel?«, fragte Sophie auf Englisch.

Die Thailänderin nickte.

»Haben Sie ein Foto von ihm auf dem Handy?«

»Ja.« Sie holte ihr Mobiltelefon aus der Tasche. Das Bild zeigte einen hübschen Jungen mit mandelförmigen Augen und zu einem Lachen aufgerissenen Mund. Er war von Kopf bis Fuß in Rot gekleidet. Rote Winterstiefel, rote Jeanshose, rote Jacke mit auffälligem, weißem Kunstfellbesatz an der Kapuze, roter Schal, rote Handschuhe, rote Mütze mit Ohrenklappen. Hackenholt fotografierte das Foto ab. Im Hintergrund ertönte ein unangenehmes Quietschgeräusch, als die Füße der alten Kommode über den Fliesenboden schabten. Schließlich wurde das Möbelstück unsanft im Vorgarten abgestellt. Dann eilten die Kollegen zu ihnen. Alle prägten sich das Bild ein.

»Wir machen Folgendes: Martin, Maurice, Christine und Sophie, ihr sucht die nähere Umgebung ab. Saskia und ich begleiten die Frau nach Hause.« Er warf ihr einen Blick zu. »Wie heißen Sie?«

»Mein Name ist Sirima Paowana-Baumeister.« Es kostete sie einige Anstrengung, den Satz auf Deutsch zu sagen.

(2)»Sollerdnmer ned besser glei di Kolleeng vo der BI Süd verschdändichn?«

»Erst überprüfen wir, ob Narong allein heimgegangen ist, weil er seinerseits seine Mutter nicht mehr gesehen hat. Oder ob er womöglich noch in aller Ruhe mit anderen Kindern auf dem Spielplatz Verstecken spielt und gar nicht bemerkt hat, dass er vermisst wird«, entschied Hackenholt. »Wo wohnen Sie?«

»In der Königsweiherstraße.« Wieder fiel es der Thailänderin enorm schwer, das Wort auszusprechen.

»Das ist ja gleich ums Eck.«

»Narong könnte mit einem Freund mitgegangen sein«, mischte sich Martin Groß ins Gespräch. »Kleine Jungs sind oft impulsiv und denken nicht lange nach, bevor sie handeln. Ich bin auch mal zu einem Kumpel gegangen, ohne Bescheid zu geben. Das war in den Augen meiner Eltern nicht die beste Idee meines Lebens.«

Hackenholt nickte und wandte sich zum Gehen.

»Und was wird aus Tante Annelieses Umzug?«, rief Puellen.

(3)»Um däi Möbl kümmermer uns schbäder«, beschied Saskia Baumann. »Däi laafn ned wech.«

»Und wenn doch, wäre das eher von Vorteil«, murmelte Groß.

Hackenholt und Baumann folgten Sirima Paowana-Baumeister zu dem Reihenhaus in der Königsweiherstraße, in dem sie mit ihrem Mann lebte. Von Narong fehlte jede Spur. Während die zwei Frauen bei den Nachbarn klingelten und fragten, ob der Junge in der Zwischenzeit dort Unterschlupf gesucht hatte, lief Hackenholt einen anderen Weg ab, der zum Spielplatz führte. Auch hier gab es keinerlei Hinweise auf den Verbleib des Kindes. Bei Hackenholts Rückkehr genügte ein Blick auf die schluchzende Mutter, um zu begreifen, dass die Suche in der unmittelbaren Nachbarschaft ebenfalls erfolglos gewesen war.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Baumeister. Ich –«

»Bitte sagen Sie Sirima.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Sirima«, begann Hackenholt noch einmal. »Es gibt viele Möglichkeiten, wo Ihr Sohn sein könnte. Meine Frau sagte vorhin, es waren weitere Kinder auf dem Spielplatz. Sind das Freunde von Narong?« Er musste langsam sprechen und alles zweimal wiederholen, damit sie ihn verstand.

»Wir treffen sie manchmal, wenn wir draußen sind.«

»Wissen Sie, wo sie wohnen?«

»Nur von zwei.«

»Die besuchen wir jetzt. Vielleicht ist Ihr Sohn mitgegangen und hat Sie vergessen.« Hackenholt hielt inne. »Wo ist eigentlich Ihr Mann?«

»Udo ist beim Fußballtraining.«

»Kann Ihr Sohn zu ihm gelaufen sein?«

Die Thailänderin schüttelte den Kopf. Hackenholt wusste nicht, ob sie die Frage verneinte oder ob sie ihm signalisieren wollte, dass sie ihn nicht verstand.

»Bitte rufen Sie Ihren Mann an.«

»Narong würde nicht zu ihm gehen«, entgegnete die Frau sehr entschieden.

Hackenholt wurde sofort hellhörig. »Warum nicht?«

»Er ist manchmal sehr streng mit ihm.« Sirima Paowana-Baumeister machte ein unglückliches Gesicht. »Gehen wir suchen. Udo soll nicht wissen, dass Narong verschwunden ist.«

Hackenholts Handy erklang. Martin Groß hatte ihm ein Foto von einem roten Kinderhandschuh im Schnee geschickt. Hackenholt zeigte der Mutter das Bild. Der Handschuh gehörte Narong. Hackenholt rief seinen Kollegen an.

»Wo hast du ihn gefunden?«

»Im Gebüsch hinter dem Klettergerüst.«

»Wir treffen uns bei euch.«

»Der Kleine kann ihn beim Spielen verloren haben«, relativierte Martin Groß seinen Fund. »Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmt.«

»Wir kommen trotzdem.« Hackenholt legte auf. »Frau ... Sirima«, verbesserte er sich rasch, »das ist wichtig: Hat es heute Morgen Streit gegeben? Hat Ihr Mann Narong geschimpft oder ihn sogar geschlagen? Gibt es einen Grund, warum er weggelaufen sein könnte?«

Sie schüttelte den Kopf.

Auf dem Rückweg stoppten sie bei zwei Reihenhäusern, in denen Kinder wohnten, die auf dem Spielplatz gewesen waren. Doch der vermisste Bub war mit keinem von ihnen mitgegangen. Ein Junge gab an, Narong habe am Klettergerüst gespielt, als er nach Hause ging. Das andere Kind wusste nur, dass er auf dem Spielplatz gewesen war. Als Hackenholt dort ankam, warteten Christine Mur und Martin Groß im Gebüsch an der Stelle, an der der verlorene, rote Handschuh lag.

»Wo sind Sophie und Maurice?«, erkundigte sich Hackenholt.

»Sie durchkämmen die Gegend«, erklärte Mur. »In der Nähe gibt es einen Reitstall. Sophie dachte, der Kleine könnte dorthin gelaufen sein.«

Hackenholt nickte.

»Bislang haben wir nicht den geringsten Hinweis, wo der Junge steckt. Wir müssen die Kollegen von der PI Süd alarmieren, damit sie eine groß angelegte Suche in die Wege leiten«, forderte Martin Groß mit Nachdruck. »Wir brauchen mehr Leute – und Spürhunde. Es ist nach halb vier. In zwei Stunden geht die Sonne unter.«

»Gib mir eine Minute.« Hackenholt ging zu Frau Paowana-Baumeister zurück. »Fällt Ihnen ein Ort ein, an dem sich Narong aufhalten könnte? Ein Ort, an dem er sich wohlfühlt oder an den er sich zurückzieht, wenn er eine Auszeit braucht?«

»Nein.«

»Kann er zu den Großeltern gegangen sein oder zu anderen Verwandten?«

»Meine Familie lebt nicht in Deutschland. Und die Eltern meines Mannes sind schon lange tot.«

Ein Ast knackte im Gebüsch. Frau Paowana-Baumeister fuhr herum. Es waren Sophie und Ronja. Hackenholt sah seine Frau fragend an. Sie schüttelte stumm den Kopf. Im Reitstall war der Bub auch nicht.

»Sirima, es lässt sich nicht länger aufschieben: Sie müssen Ihren Mann anrufen. Sobald klar ist, dass Narong nicht bei ihm ist, informieren wir die zuständige Polizeiinspektion. Wir müssen eine professionelle Suche mit Spürhunden und so weiter einleiten. Das bedeutet nicht, dass Narong etwas passiert ist«, fügte er beruhigend hinzu. »Betrachten Sie es als Chance, ihn schneller zu finden.«

Tränen liefen über Sirima Paowana-Baumeisters Gesicht, als sie ihr Handy aus der Tasche nahm, eine Nummer wählte und es Hackenholt entgegenstreckte. »Bitte sprechen Sie mit meinem Mann.«

»Möchten Sie das nicht selbst tun?«

Die Thailänderin lehnte mehrfach ab. Schließlich nahm Hackenholt das Telefon. Es klingelte, dann schaltete sich die Mailbox ein. Hackenholt legte auf und drückte die Wahlwiederholung. Doch auch diesmal ging Narongs Vater nicht ran. Hackenholt hinterließ eine knappe Nachricht und bat ihn eindringlich, ihn umgehend zu kontaktieren. Dann gab er der Mutter das Mobiltelefon zurück. »Wenn Ihr Mann anruft, geben Sie mir sofort Bescheid. Ich muss mit ihm reden.«

Frau Paowana-Baumeister nickte.

»Gut, dann werde ich jetzt die Kollegen informieren.« Hackenholt zögerte kurz. »Eine letzte Frage: Ist Ihnen auf dem Spielplatz eine fremde Person aufgefallen? Jemand, den Sie nicht kennen?«

»Nein.«

»Da war zum Beispiel meine Frau«, half er nach.

Die Thailänderin biss sich auf die Unterlippe. Es wirkte schuldbewusst. »Ich weiß nicht genau«, murmelte sie. »Ich habe mit meiner Familie telefoniert.«

Hackenholt ließ sich mit dem Dienstgruppenleiter der PI Süd verbinden. Er schilderte die Situation und löste eine Fahndung nach dem Jungen aus. Der Beamte versprach, schnellstmöglich persönlich mit einer Vielzahl von Einsatzkräften vor Ort zu kommen.

Nach dem Telefonat eilte Hackenholt zurück zu den Wartenden. Saskia Baumann hüpfte von einem Bein aufs andere, um sich in der Kälte warm zu halten. Ronja lief die Nase.

»Martin, du bleibst hier. Frag jeden, der vorbeikommt, ob er Narong gesehen hat. Christine, du kümmerst dich um die Spurensicherung. Wenn die Suchhunde eintreffen, schicke ich sie zu euch. Maurice, du gehst zu deiner Tante und sagst ihr, dass wir hier noch eine Weile gebraucht werden. Sophie, du fährst mit Ronja nach Hause. Saskia, du begleitest Sirima und mich in die Königsweiherstraße. Wir treffen uns dort mit den Kollegen und besprechen das weitere Vorgehen.«

Gerade als Hackenholt, Saskia Baumann und Frau Paowana-Baumeister in der Königsweiherstraße ankamen, bogen zwei Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht – jedoch ohne Martinshorn – um die Kurve. Hackenholt hob grüßend die Hand. Frau Paowana-Baumeister schluchzte auf. Baumann hakte sie daraufhin unter und führte sie zum Haus.

»Wie ernst ist die Lage?«, erkundigte sich der Dienstgruppenleiter, sobald die zwei Frauen außer Hörweite waren.

»Die Mutter war durch ein Telefonat abgelenkt, als der Kleine verschwunden ist. Sie behauptet, keine Fremden auf dem Spielplatz bemerkt zu haben. Zwei Freunde, die ebenfalls dort waren, haben wir besucht. Sie konnten uns nicht weiterhelfen. Verwandte, zu denen das Kind unterwegs sein könnte, gibt es keine. Der Vater spielt irgendwo Fußball, ich habe ihn nicht erreicht, aber Frau Paowana-Baumeister hält es für ausgeschlossen, dass ihr Sohn zu ihm gegangen ist. Einer meiner Leute hat im Gebüsch einen Handschuh entdeckt, der Narong gehört. Das dürfte ein guter Ausgangspunkt für die Spürhunde sein.«

»Trockene Kälte«, der Kollege runzelte die Stirn. »Nicht die besten Voraussetzungen. Da können die Hunde die Fährte schlecht aufnehmen.«

»Wirklich?« Hackenholt sah ihn besorgt an. Er wusste, dass die Tiere bei Regen die Spur verlieren konnten oder wenn ein Fluss durchquert wurde. Das kalte, sonnige Wetter hatte er für ideal gehalten.

»Meine Tochter ist Mitglied in der Rettungshundestaffel«, entgegnete der Dienstgruppenleiter. »Versuchen werden wir es trotzdem. Außerdem müssen wir die Gegend großräumig absuchen. Wenn ich dich richtig verstanden habe, habt ihr eure Suche auf die Umgebung des Spielplatzes beschränkt.«

Hackenholt nickte.

Der Beamte warf einen Blick auf die Uhr. »Das Club-Spiel ist bald vorbei. Ich setze mich gleich mit der Einsatzzentrale in Verbindung, damit sie die Einsatzhundertschaft nicht nach Hause gehen lässt. Gibt es ein Foto von dem Kind?«

Hackenholt schickte ihm das Bild via Messenger aufs Handy.

»Wie bist du eigentlich in die Sache verwickelt?«, erkundigte sich der Kollege.

»Meine Frau war auf dem Kinderspielplatz, als der Junge verschwand.«

»Seid ihr mit der Familie befreundet?«

»Nein, wir waren zufällig privat hier. Unser Rechtsmediziner hat uns für den Umzug seiner Tante eingespannt. Ich kenne mich in dieser Gegend nicht sonderlich aus. Ihr wisst besser, welche Gefahrenpunkte es –« Hackenholt hörte, wie in einiger Entfernung eine Autotür zugeschlagen wurde und brach abrupt ab, als ein kräftig gebauter Mann in den Fünfzigern mit hochrotem Kopf auf sie zustürzte.

»Was ist hier los?«, rief er außer sich. »Wo ist Narong?«

»Wer sind Sie bitte?«, antwortet Hackenholt mit einer Gegenfrage.

»Udo Baumeister, Narongs Vater.«

Hackenholt musterte den Mann einen Augenblick lang. Er musste gute zwanzig Jahre älter sein als die Thailänderin. »Mein Name ist Hackenholt. Ich habe Sie angerufen«, entgegnete er schließlich.

»Wo ist mein Sohn?«, wiederholte Baumeister, ohne die ihm entgegengestreckte Hand zu ergreifen. Sein Blick schweifte zur offen stehenden Haustür. Er entdeckte seine Frau und Saskia Baumann. Mit ausholenden Schritten eilte er zu ihnen. »Warum hast du nicht aufgepasst? Hast du wieder stundenlang mit deinen Leuten telefoniert, anstatt mit ihm zu spielen?« Für einen Sekundenbruchteil sah es aus, als werde Udo Baumeister sie schlagen. Doch im nächsten Moment drehte er sich um und lief zurück zur Straße.

»Wohin gehen Sie?« Der Dienstgruppenleiter trat ihm rasch in den Weg.

»Ich muss meinen Sohn suchen. Wenn die es schon nicht tut.«

»Wo wollen Sie das denn machen?«

Der Mann starrte Hackenholt an und zuckte mit den Schultern. »Überall.«

»Es ist wichtig, dass Ihre Frau mit den Kollegen hier auf Ihren Sohn wartet. Jemand muss zu Hause sein, wenn er heimkommt, falls er nur kurz einen Freund besucht hat.«

»Er hat doch keinen. Sirima bringt ihn so gut wie nie in den Kindergarten. Ich weiß gar nicht, warum ich die Gebühren dafür bezahle.« Wieder wollte der Mann zum Auto laufen.

»Wir haben bereits erste Fahndungsmaßnahmen in die Wege geleitet, Herr Baumeister. Sobald wir Genaueres wissen, werden wir die Suche systematisch ausweiten«, hielt ihn der Dienstgruppenleiter auf. »Lassen Sie uns hineingehen und gemeinsam überlegen, wo Ihr Sohn stecken könnte.«

Hinter ihnen ertönte ein Ruf. Der Beamte fuhr herum. Ein rothaariger Mann kam auf sie zugelaufen. Ohne Vorwarnung drückte er mehrfach auf den Auslöser seiner Kamera und feuerte eine Salve von Fragen ab. Er wollte wissen, ob es stimmte, dass ein Kind entführt worden war, ob es Hinweise auf den Täter gab, was man unternehmen würde, um das Opfer zu finden, ob es Überlebenschancen hatte. Überrumpelt riss der Polizeibeamte den Arm hoch, hielt die Hand vor das Objektiv und drängte den Reporter zurück.

»Bitte wenden Sie sich an die Pressestelle.«

»Die ist am Wochenende nicht besetzt und die Einsatzzentrale hat mich abgewimmelt.«

»Aus ermittlungstaktischen Gründen können wir derzeit leider keine Auskünfte erteilen.« Der Dienstgruppenleiter warf Hackenholt einen raschen Blick zu, den dieser mit einem knappen Nicken erwiderte. Hackenholt und Baumann würden das Gespräch mit der Familie fortsetzen, während der Kollege die erforderlichen Erstmaßnahmen in die Wege leitete, Suchmannschaften koordinierte und Absperrungen errichtete.

»Was sagt der Kerl da?« Udo Baumeister wollte dem Journalisten hinterher. Hackenholt schob sich geschickt dazwischen.

»Lassen Sie uns zu Ihrer Frau gehen und gemeinsam überlegen –«

»Warum verschweigen Sie mir, dass Narong gekidnappt wurde?«, schrie er Hackenholt an. »War es jemand aus der Asylunterkunft? Den Kerl bring ich um!«

»Stopp jetzt!« Auch Hackenholt hatte die Stimme erhoben. Als er sich Herrn Baumeisters Aufmerksamkeit sicher sein konnte, fuhr er in gemäßigter Lautstärke fort: »Es gibt bislang nicht den geringsten Grund zu der Annahme, dass Ihr Sohn entführt wurde oder ihm etwas zugestoßen ist. Er ist vom Kinderspielplatz verschwunden – mehr wissen wir derzeit nicht. Er kann mit einem Freund mitgegangen sein. Er kann einer Katze oder sonst einem Tier hinterhergelaufen sein. Kinder neigen dazu, ihre Ideen spontan umzusetzen, ohne an etwaige Konsequenzen zu denken. In den allermeisten Fällen tauchen sie innerhalb kürzester Zeit unversehrt wieder auf. Wir gehen jetzt rein und sprechen alle Möglichkeiten durch.«

Widerwillig folgte ihm der Vater ins Haus.

Mit Engelsgeduld befragten Hackenholt und Saskia Baumann die Eheleute zu Narongs Alltag, was und wo er gerne spielte, mit wem er Kontakt hatte, wen er mochte. Das Bild, das sich abzeichnete, war ungewöhnlich eintönig.

Auch den Aufenthalt auf dem Spielplatz an diesem Nachmittag gingen sie noch einmal minutiös durch. Sie versuchten herauszufinden, wie die Kinder hießen, mit denen Narong zusammen gewesen war und wo sie wohnten. Frau Paowana-Baumeister blieb einsilbig. Angeblich kannte sie sie nicht. Hätte Hackenholt die Mutter zuvor nicht ganz anders erlebt, hätte er angenommen, dass die Sprachbarriere sie daran hinderte, an der Unterhaltung teilzunehmen. So schien es an der Anwesenheit ihres Mannes zu liegen. Dennoch nahm sich Hackenholt vor, für zukünftige Gespräche vorsorglich einen Dolmetscher hinzuzuziehen.

Als Saskia Baumann die persönlichen Daten abfragte, stellte sich zu allem Überfluss heraus, dass Frau Paowana-Baumeister nicht im Besitz eines gültigen Reisepasses war. Sie konnte den Ermittlern nur eine Kopie des Dokuments und ihres Aufenthaltstitels vorlegen, da sie das Original vor sechs Wochen zur Verlängerung an das Generalkonsulat nach München geschickt und noch nicht zurückerhalten hatte. Soweit Hackenholt sehen konnte, war jedoch alles in Ordnung. Trotzdem machte er sich einen mentalen Vermerk, dies nachzuprüfen. Daneben bemerkte er, dass er mit seiner Vermutung richtiggelegen hatte: Sirima Paowana-Baumeister war neunundzwanzig Jahre alt. Ihr Mann dreiundfünfzig.

Auf einmal klingelte es an der Tür. Eine Beamtin trat ein. Als Beauftragte der mittelfränkischen Polizei war sie für Kriminalitätsopfer zuständig und psychologisch besonders geschult. Sofort war Hackenholt alarmiert. Aber sie schüttelte rasch den Kopf.

»Die Einsatzleitung möchte dich sprechen. Ich soll hier übernehmen. Ihr werdet anderweitig dringender gebraucht.«

»Ruf bitte einen Dolmetscher«, bat er im Weggehen. »Die Mutter spricht kaum Deutsch und auch nur sehr schlecht Englisch.«

Vor dem Haus sah er auf die Uhr: Es war halb sechs. Die Sonne war untergegangen. Ein scharfer Windstoß zerrte an seinem Mantel. Zu beiden Seiten der Königsweiherstraße parkten Polizeifahrzeuge. Er eilte zu einem erleuchteten Transporter, in dem zwei Männer über eine Landkarte gebeugt saßen. Bei seinem Eintreten blickten sie auf. Es waren der Dienstgruppenleiter und Hartmut Niederberger, der Leiter der PI Süd.

»Wir müssen deine Frau befragen«, begrüßte ihn Letzterer.

Hackenholt nickte. Sophie war eine wichtige Zeugin. Er holte sein Handy aus der Tasche und rief sie an.

»Wir sind bei Tante Anneliese. Wenn Maurice auf Ronja aufpasst, kann ich sofort rüberkommen.«

Hackenholt beendete das Gespräch. Gerade als er sich bei den Kollegen nach dem Sachstand erkundigen wollte, drang von draußen eine blecherne Lautsprecherstimme an sein Ohr. Ein Streifenwagen fuhr durch das Viertel und machte Lautsprecherdurchsagen.

»In Anbetracht des bevorstehenden Einbruchs der Dunkelheit haben wir uns dafür entschieden«, erklärte Niederberger. »So geht es schneller, als wenn wir jedes Haus einzeln abklappern. Das heben wir uns für morgen auf, falls der Junge bis dahin nicht gefunden wurde.«

»Hast du die Eltern nach den Gewohnheiten des Kindes gefragt? Gibt es Lieblingsorte? Anlaufstellen? Freunde? Verwandte?«, erkundigte sich der Dienstgruppenleiter.

»Die Hauptbezugsperson ist die Mutter. Der Kleine verbringt die meiste Zeit mit ihr. Sie bringt ihn in den Kindergarten und holt ihn von dort wieder ab. Allerdings geht er nicht regelmäßig hin. Er hat zwar Freunde, sie sehen sich jedoch nur auf dem Spielplatz. Besuche zu Hause werden nicht gemacht. Frau Paowana-Baumeisters Familie lebt in Thailand, der Vater hat keine Angehörigen. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass das Verhältnis zu ihm nicht sonderlich innig ist.«

»Ist die Frau berufstätig?«

Hackenholt schüttelte den Kopf.

»Es gibt also niemanden, zu dem Narong gegangen sein könnte?«, hakte Niederberger noch einmal explizit nach.

»Nein. Frau Paowana-Baumeister führt ein isoliertes Leben. Sie telefoniert und chattet viel mit ihren Verwandten.«

»Aber sie muss irgendwelche Freundinnen haben«, beharrte Niederberger.

»Ihr Mann will nicht, dass sie außerhalb der Siedlung allein unterwegs ist. Sie geht zum Kindergarten und zum Spielplatz. Und das war’s. Er fährt sie zum Einkaufen und zum Arzt. Ich glaube, der Bub ist noch kein einziges Mal mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren.«

Der Dienststellenleiter quittierte die Angaben mit einem Kopfschütteln. Dann wurden sie unterbrochen. Ein uniformierter Kollege öffnete die Tür. Hinter ihm stand Sophie. Der Dienstgruppenleiter stellte sich und seinen Chef vor und ließ sich von ihr schildern, was auf dem Spielplatz geschehen war.

»Ich habe mit Ronja an der Rutsche gespielt. Auf einmal ist die Frau aufgeregt hin und her gelaufen und hat nach ihrem Sohn gerufen. Ich habe sie gefragt, was los ist, und sie hat geantwortet, dass ihr Kind verschwunden ist. Daraufhin habe ich Ronja genommen und bin zu Frank gerannt, damit alle beim Suchen helfen.«

»Gehen wir einen Schritt zurück. Wann sind Sie zum Spielplatz gegangen?«

Sophie sah Hackenholt fragend an.

»Wir haben uns um zwei Uhr bei Maurice’ Tante getroffen. Ronja ist ungefähr eine halbe Stunde später langweilig geworden«, antwortete er.

»Wer war alles auf dem Spielplatz, als Sie angekommen sind?«

»Acht oder neun Kinder. Sie sind herumgetobt. Ein paar haben Fußball gespielt. Außerdem war eine Frau mit einem Kinderwagen da. Die Thailänderin kam erst später. Sie saß plötzlich auf einer Bank und hat telefoniert.«

»Haben Sie Narong gesehen? Können Sie beschreiben, was er anhatte?«

»Ich habe den Kleinen nicht bewusst wahrgenommen«, sagte Sophie zögerlich.

»Wie ging es dann weiter?«

»Ich bin mit Ronja zur Schaukel und habe sie angeschubst.«

»Was haben die anderen Personen gemacht?«

»Das Baby im Kinderwagen begann zu weinen und die Frau ist weggegangen.« Sophie dachte nach. »Dann kam ein Mann mit einem Hund. Fast alle Kinder haben ihn gestreichelt. Ich bin mit Ronja zur Rutsche. Zu dem Zeitpunkt sind zwei Jungs an der Kletterwand herumgeturnt. Irgendwann hat ein Mädchen gerufen, dass es heimgehen muss. Andere haben Verstecken gespielt.« Wieder überlegte Sophie. »Der Bub mit dem Fußball war da bereits weg.«

»Und dann?«

»Hat die Thailänderin nach ihrem Sohn gerufen.«

»War Narong, während Sie auf dem Spielplatz waren, mal bei seiner Mutter?«

»Nein, sonst hätte ich ihn ja gesehen.«

»Was hat sie die ganze Zeit gemacht?«

»Telefoniert.«

»Ununterbrochen?«

»Ich denke schon. Sie war unauffällig, hat nicht laut oder gestenreich gesprochen, sodass man sich über sie geärgert hätte.«

»Und andere Erwachsene waren nicht in der Nähe?«

Sophie schüttelte den Kopf. »Es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann.«

Der Beamte hob abwehrend die Hände. »Wie war das mit dem Verkehr? Haben Sie Autos gehört?«

»Darauf habe ich nicht geachtet.« Sophie sah ihn perplex an.

»Keine quietschenden Reifen? Keine schlagende Tür? Kein Ruf?«

»Nein, nichts.«

»Gibt es derzeit irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass der Junge Opfer einer Straftat geworden sein könnte?«, wandte sich Hackenholt an den Dienststellenleiter, nachdem Sophie gegangen war. Beide Männer wussten, warum er so explizit nachhakte: Wenn Hinweise auf ein Verbrechen vorlagen, war die Kriminalpolizei zuständig und nicht mehr die Schutzpolizei.

»Die Spürhunde konnten der Fährte des Kindes nur eine kurze Strecke folgen und haben sie just an der Stelle verloren, an der der Weg hinter dem Spielplatz auf die Straße trifft«, räumte der Dienstgruppenleiter ein. »Das muss aber nichts heißen. Die Hunde können sie auch aufgrund der Witterung verloren haben.«

»Die ersten drei Stunden sind entscheidend, wenn das Kind nicht aus eigenen Stücken weggelaufen ist. Wir müssen öffentlich nach Narong fahnden«, warnte Hackenholt.

»Wir fahren das Viertel bereits mit zwei Funkwagen ab und machen Lautsprecherdurchsagen. Falls jemand den Kleinen gesehen oder etwas Verdächtiges bemerkt hat, wird er sich hoffentlich melden.«

»Das ist sehr gut, aber das genügt nicht. Wenn Narong in einem Auto verschleppt wurde, kann er inzwischen wer weiß wo sein. Die Bevölkerung im gesamten Großraum muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass möglicherweise irgendwo ein Kind in einem Fahrzeug sitzt, in dem es nicht sitzen sollte oder in ein Haus gebracht wurde, in das es nicht gehört.«

Hartmut Niederberger schürzte die Lippen. »Ich verstehe deinen Standpunkt. Aber ich möchte abwarten, was die Suche ergibt. Es ist niemandem gedient, wenn wir mit einem Foto des Jungen an die Öffentlichkeit gehen und sich fünf Minuten später herausstellt, dass er doch bei einem anderen Kind ist und spielt. Erst wenn wir das ausschließen können und alle Krankenhäuser abtelefoniert haben, werde ich weitere Maßnahmen ergreifen.«

Hackenholt seufzte in sich hinein. Es konnte sein, dass Narong weggelaufen war, weil etwas vorgefallen war, das die Eltern den Ermittlern bislang verschwiegen hatten. Er zog es auch in Betracht, dass der Bub spontan irgendwohin gelaufen war und nun nicht mehr nach Hause fand. Dass er jedoch seit über zwei Stunden bei einem Gleichaltrigen in aller Seelenruhe spielen sollte, hielt er für die unwahrscheinlichste Möglichkeit. Insbesondere, da der Kleine offenbar keine Freunde hatte.

»Wie schaut es mit einem Hubschrauber aus?«, wechselte Hackenholt das Thema.

»Wurde angefordert und müsste jeden Augenblick hier sein.«

»Dann lasst es uns doch folgendermaßen machen: Ihr koordiniert die Suche und ich kümmere mich mit meinem Team um die Arbeiten im Hintergrund. Wir befragen die Anwohner, ob ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist. Außerdem will ich noch einmal mit den Kindern sprechen, die wir vorhin kurz besucht haben. Sie können uns die Namen von anderen nennen, die ebenfalls dort waren. Irgendjemand muss beobachtet haben, was Narong gemacht hat. Es wäre auch hilfreich, wenn wir den Mann mit dem Hund finden würden. Vielleicht ist er ihm hinterhergelaufen. Denn im Moment wissen wir nicht einmal genau, wann er verschwunden ist.«

Hackenholt verließ den Transporter. Im Gehen holte er sein Handy aus der Tasche. Als Erstes wählte er die Nummer von Martin Groß. Der Kollege durchstreifte gerade mit Saskia Baumann die Straßen rund um den Spielplatz.

»Wisst ihr, wo der Diensthund die Fährte verloren hat?«, hakte Hackenholt nach.

»Natürlich.«

»Nehmt euch die Anwohner in einem Umkreis von hundert bis zweihundert Metern vor. Hört euch um, ob jemand Narong am Nachmittag gesehen hat. Falls nicht, erkundigt ihr euch nach etwaigen Auffälligkeiten und wenn es keine gibt, fragt ihr allgemein nach dem Verkehr. Welche Autos sind gekommen, welche weggefahren?«

»In Ordnung.« Martin Groß’ Stimme war anzuhören, dass ihm klar war, worauf die Anweisungen hinausliefen.

Als Nächstes ging Hackenholt zurück zu dem Haus, in dem der Junge lebte, dem Narong am Klettergerüst aufgefallen war, als er nach Hause lief. Filippo Carli war fünf Jahre alt und besuchte denselben Kindergarten wie Narong. Hackenholt fand schnell heraus, dass Filippo mit seinen Freunden oft allein zum Spielplatz gehen durfte. Die Eltern hatten sich abgesprochen und sahen abwechselnd nach dem Rechten, ließen den Kindern jedoch großen Freiraum, um ihre Selbstständigkeit und ihr Selbstbewusstsein zu fördern. Filippo konnte Hackenholt die Namen von vier weiteren Kindern nennen, die am Nachmittag ebenfalls dort gewesen waren, und wusste auch, welche Mutter heute ein Auge auf sie gehabt hatte. Außerdem kannte er den Mann mit dem kleinen Hund.

Als Hackenholt aus dem Haus trat, vernahm er das Dröhnen der Rotoren eines Hubschraubers. Er schlug den Weg in Richtung Propsteistraße ein. Sina Müller lebte nur wenige Meter von Puellens Tante entfernt. Hackenholt stellte sich vor und wies sich aus.

»Stimmt es, dass Sie heute Nachmittag von Zeit zu Zeit auf dem Spielplatz vorbeigeschaut haben?«, erkundigte er sich.

Die Frau nickte.

»Haben Sie diesen Jungen gesehen?« Er zeigte ihr das Foto von Narong.

»Ihn nicht, aber seine Mutter war da.«

»Sie kennen die Familie?«

»Vom Sehen. Ich habe ein, zwei Mal versucht, mit Frau Baumeister ins Gespräch zu kommen, sie spricht jedoch so gut wie kein Deutsch.«

»Der Bub ist verschwunden«, sagte Hackenholt mit Nachdruck. »Ist Ihnen heute etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Sina Müller zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Nein, unsere Mädels sind um kurz nach drei Uhr zum Kaffeetrinken nach Hause gekommen. Wir hatten Besuch.«

»Ich würde gerne mit ihnen sprechen.«

Die Mutter runzelte besorgt die Stirn. »Ich weiß nicht, ob ich das möchte. Sie sollen nicht verunsichert werden.«

»Keine Sorge, ich werde nur allgemeine Fragen stellen.«

Wenig begeistert rief Frau Müller ihre zwei Kinder. Das ältere Mädchen war sieben Jahre alt, das jüngere fünf. Hackenholt erkundigte sich, was sie am Nachmittag auf dem Spielplatz unternommen hatten und tastete sich behutsam an das eigentliche Thema heran.

»Kennt ihr Narong Baumeister?«

Beide nickten.

»Habt ihr heute mit ihm gespielt?«

»Nein«, entgegnete die Ältere. »Der ist doof.«

»Wieso?«

»Der hört einem nie zu, wenn man ihm was sagt.«

»Habt ihr gesehen, wann er nach Hause gegangen ist?«

»Nö.« Wieder war es die Ältere, die antwortete.

»Und als ihr den Spielplatz verlassen habt, war er da noch dort?«

Das Mädchen zuckte mit den Schultern.

»Und du?«, wandte sich Hackenholt an die Jüngere, doch die drückte sich an ihre Mutter und versteckte verschämt das Gesicht.

Anschließend besuchte Hackenholt Hubert Beck, den Mann mit dem kleinen Hund. Der Rentner berichtete ihm hilfsbereit, dass er jeden Tag mehrere Runden mit seinem Joschi drehte. Die Kinder liebten den Dackel, und der liebte die Kinder. Wann immer sie ihn sahen, kamen sie und streichelten ihn.

»Auch dieser Junge?« Hackenholt zeigte Herrn Beck das Foto von Narong.

»Manchmal.«

»Haben Sie ihn heute auf dem Spielplatz gesehen?«

»Nein.«

Hackenholt runzelte die Stirn. Filippo Carli erinnerte sich an Hubert Beck und seinen Hund. Und als er später gegangen war, hatte Narong am Klettergerüst gespielt. Der alte Herr wollte ihn dagegen nicht gesehen haben. Wie passte das zusammen? Hatte Herr Beck Narong übersehen? Oder irrte sich Filippo Carli?

»Waren außer den Kindern Erwachsene anwesend?«

»Da war eine Frau mit einem kleinen Mädchen. Beiden bin ich hier noch nie begegnet.«

Bevor Hackenholt seine nächste Frage stellen konnte, begann sein Handy zu piepen. Es war der Dienststellenleiter der PI Süd.

»Stimmt die Beschreibung des Jungen?« Niederbergers Stimme klang rau. »Er trägt eine rote Winterjacke mit Kunstfellbesatz an der Kapuze?«

»Ja, warum?«

»Es gibt eine Sichtung. Wo bist du gerade?«

»Bei einem Zeugen in der Burkhardtstraße.«

»Ich schicke dir einen Wagen.«

Rasch verabschiedete sich Hackenholt von Herrn Beck und eilte Richtung Propsteistraße. Als er an der Kreuzung ankam, fuhr eine Streife vor.

»Wo müssen wir hin?«

»Zu einer Pferdekoppel hinter der Reitanlage«, antwortete der Fahrer. »Der Hubschrauber hat eine Jacke entdeckt. Sie könnte von dem Kind stammen.«

Hackenholt erschrak. Eine Jacke war gefunden worden, nicht der Junge. Sein Herz klopfte. Sofort mahnte ihn seine innere Stimme zur Ruhe. Die Jacke konnte seit Wochen auf dem Feld liegen. Sie musste nicht Narong gehören. Falls es überhaupt eine war. Eine alte Pferdedecke sah aus der Luft sicher ganz ähnlich aus.

Der Streifenwagen fuhr durch einen alten, sandsteinernen Torbogen. Hackenholt sah Martin Groß und Saskia Baumann. Ihm wurde klar, dass sie sich an der nördlichen Seite des Spielplatzes befanden. Hier in der Nähe hatte der Spürhund die Fährte verloren. Die Straße beschrieb einen Bogen. Der Geruch nach Pferdemist drang ihm in die Nase. Einen Augenblick später gelangten sie zu einem zweiten Sandsteintor. Der Weg wurde von einem Absperrpfosten versperrt. Dahinter erstreckte sich ein Meer von Pferdekoppeln.

Hackenholt stieg aus. Die Szene vor seinen Augen wirkte gespenstisch: Mehrere Streifen leuchteten eine Wiese aus. Im Näherkommen entdeckte er Christine Mur in einen weißen Einweganzug gehüllt am Rande der Koppel. Um den Fundort nicht zu kontaminieren, trug sie Handschuhe, Schuhüberzieher und eine Maske. Hackenholt blieb bei den anderen Polizeibeamten stehen und beobachtete einen Diensthund, der im Gras schnüffelnd hierhin und dahin lief. Er schien sich nicht entscheiden zu können. Ein weiterer Diensthundeführer ging mit seinem Tier die Straße ab. Ein dritter kam den Weg von den Häusern her. Endlich erblickte Christine Mur Hackenholt. Sie hob eine braune Papiertüte auf und kam zu ihm herüber.

»Die Hubschrauberbesatzung hat einen Fund gemeldet. Ich bin gleich hergekommen. Es ist eine rote Jacke mit Kunstfell an der Kapuze. Kleidergröße 104. Sie sieht genauso aus wie auf dem Foto, das uns Frau Paowana-Baumeister gegeben hat.«

Hackenholt musste schlucken. Ronja trug Größe 92.

»Einer der Spürhunde hat angeschlagen«, fuhr Christine Mur fort. »Es ist davon auszugehen, dass sie von dem Jungen stammt. Die Hunde suchen die Gegend ab. Bislang leider ohne Erfolg. Entweder wurde die Jacke aus einem fahrenden Auto geworfen oder die Witterung lässt es nicht zu, dass die Tiere die Fährte verfolgen.«

»Hast du sonst irgendwelche Spuren in dem Feld entdeckt?«

Mur schüttelte den Kopf. »Auch am Stoff gibt es nichts Auffälliges. Weder Risse noch Blutflecken. Sobald sie von den Eltern identifiziert wurde, müssen wir sie auf DNA-Spuren untersuchen.«

»Wie schaut’s aus?«, fragte eine Stimme hinter ihnen. Die beiden Ermittler fuhren herum. Der Dienststellenleiter der PI Süd gesellte sich zu ihnen, um sich ein Bild der Lage zu machen.

»Die Einsatzhundertschaft muss das Gelände absuchen«, forderte Hackenholt. »Ich spreche unterdessen mit der Mutter und kläre ab, ob das zweifelsfrei Narongs Jacke ist.«

»Eine Jacke und kein Hinweis auf das Kind.« Der Beamte schnitt eine Grimasse. »Das klingt nicht gut.« Er sah sich um und erblickte Koppeln, Felder und Gebüsch. In einiger Entfernung war der Waldrand zu erkennen. »Wir brauchen einen zweiten Hubschrauber zum Ausleuchten, der andere soll sich den Wald mit der Wärmebildkamera vornehmen«, murmelte er zu sich selbst.

»Wir sollten den Eichenwaldgraben überprüfen. Außerdem gibt es entlang der Barlachstraße drei Weiher«, erklärte Christine Mur.

»Schauen wir, wie weit die Einsatzhundertschaft heute Abend kommt.«

»Ich fürchte, jetzt haben wir keine andere Wahl mehr, als eine Pressekonferenz einzuberufen«, betonte Hackenholt. »Wir sind bei der Suche auf die Mithilfe der Öffentlichkeit angewiesen.«

»Ich habe bereits mit der Jourstaatsanwältin gesprochen und den Bereitschaftsdienst der Pressestelle alarmiert«, murmelte Niederberger. »Sie müssten bald eintreffen.«

Hackenholt fuhr zurück in die Königsweiherstraße. Vor dem Haus der Familie Baumeister atmete er noch einmal tief durch. Dann gab er sich einen Ruck und klingelte. Die Kollegin von der Opferbetreuung öffnete. Bevor er ihr zuflüstern konnte, warum er gekommen war, erschien Frau Paowana-Baumeister.

»Haben Sie Narong gefunden?«, fragte sie in ihrer Muttersprache. Ein fremder Mann übersetzte. Die Beamtin stellte ihn als Dolmetscher für die thailändische Sprache vor.

»Ich brauche Ihre Hilfe«, entgegnete Hackenholt ernst. »Welche Kleidergröße trägt Ihr Sohn?«

Die Frau wurde blass und schluchzte. Im Keller wurde eine Tür aufgerissen. Mit polternden Schritten eilte Herr Baumeister die Stufen herauf.

»Was ist los? Was ist passiert?«

»Welche Größe haben die Kleider Ihres Sohnes?«

»Das wirst du doch wohl wissen, oder?«, herrschte er Sirima ungehalten an.

»Ich bin mir sicher, dass Ihre Frau –«, begann die Kollegin, wurde jedoch von Udo Baumeister rüde unterbrochen.

»Hör auf zu flennen und sag was!«, kanzelte er seine Frau ab.

Unter Tränen stammelte sie schließlich etwas, das der Dolmetscher mit »hundertvier« übersetzte.

Hackenholt hoffte, man merkte ihm nicht an, wie sehr er wider aller Vernunft auf eine andere Antwort gehofft hatte. Er warf der Beamtin einen Blick zu. Sie hatte die große, braune Papiertüte bemerkt, die er bislang möglichst abgeschirmt von den Eltern an seinen Mantel gepresst gehalten hatte.

»Wollen wir in die Küche gehen und uns setzen?«, schlug sie eilig vor. Hackenholt bedeutete mit einer Handbewegung, dass er ihr den Vortritt ließ. Nachdem alle Platz genommen hatten, legte er die Tüte auf den Tisch.

»Im Verlauf der Suche nach Ihrem Sohn haben wir eine Jacke entdeckt.« Er sah Frau Paowana-Baumeister fest an. »Ich möchte sie Ihnen gerne zeigen. Wir müssen wissen, ob es sich um ein Kleidungsstück Ihres Sohnes handelt.« Rasch schlüpfte er in Einweghandschuhe, dann öffnete er die Tüte, nahm das Fundstück vorsichtig heraus und hielt es hoch. »Gehört diese Jacke Narong?«

Der Dolmetscher übersetzte, und Frau Paowana-Baumeister nickte weinend.

»Wo haben Sie sie gefunden?«, rief Herr Baumeister.

»Sie lag nicht weit vom Spielplatz entfernt in einem Feld.« Hackenholt packte sie zurück in die Papiertüte.

»Warum stehen Sie dann tatenlos hier herum?« Der Mann war aufgesprungen. »Suchen Sie gefälligst meinen Sohn! Wir haben Februar. Ohne Jacke erfriert er da draußen.«

»Herr Baumeister, erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen vorhin erklärt habe?«, wandte sich die psychologisch geschulte Kollegin an ihn. »Es wird alles Menschenmögliche getan, um Ihren Sohn zu finden. Aber Sie müssen uns helfen. Und das können Sie nur, indem Sie ruhig bleiben und hier nicht herumschreien. Bitte setzen Sie sich wieder hin.«

Hackenholt wartete, bis der Vater der Aufforderung nachgekommen war, dann sagte er: »Wir fahnden per Hubschrauber, wir haben Suchhunde im Einsatz und eine Hundertschaft durchkämmt das Gebiet. Parallel zu diesen Maßnahmen werden wir uns an die breite Öffentlichkeit wenden, um etwaige Hinweise auf den Aufenthaltsort Ihres Sohnes zu erhalten. Es kann daher sein, dass Sie von jetzt an Presseanfragen bekommen. Meine Kollegin wird mit Ihnen besprechen, wie Sie am besten mit der Situation umgehen.«

Frau Paowana-Baumeister schniefte zu den Worten des Dolmetschers. Ihr Mann saß mit vor dem Körper verschränkten Armen neben ihr und stierte in die Luft.

»Ich muss mich an der Stelle auch nach Ihren finanziellen Verhältnissen erkundigen. Wären Sie in der Lage, Lösegeld zu bezahlen?«

Herr Baumeister schüttelte den Kopf.

»Was machen Sie beruflich?«

»Ich bin Sanitärinstallateur.«

»Könnte jemand fälschlicherweise annehmen, dass Sie wohlhabend sind? Haben Sie geerbt? Oder besitzen Sie Luxusgüter, die zu der Vermutung verleiten?«

»Außer dem Haus gehört mir nichts. Mein Auto ist acht Jahre alt und der letzte größere Urlaub war die Reise, auf der ich Sirima kennengelernt habe.«

Hackenholt fühlte sich in seinem Vorurteil bestätigt, dass der Mann höchstwahrscheinlich nach Thailand gefahren war, um sich eine Frau auszusuchen. »Und Sie?«, wandte er sich an Frau Paowana-Baumeister.

»Sie besitzt keinen Heller«, antwortete ihr Mann gereizt. »Im Gegenteil: Sie vertelefoniert ein halbes Vermögen nach Thailand.«

»Wir werden trotzdem vorsichtshalber Ihre Telefonanschlüsse überwachen. Falls Narong entführt wurde, wird sich der Täter bei Ihnen melden. Meine Kollegin wird mit Ihnen besprechen, wie Sie sich während eines Anrufs verhalten sollten.«

»Siehst du, was du angerichtet hast?«, fuhr Herr Baumeister erneut seine Frau an. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo ich das Geld hernehmen soll, um den Kleinen freizukaufen.«

Sofort wurde Frau Paowana-Baumeisters Schluchzen lauter.

»Das heißt nicht, dass Narong tatsächlich gekidnappt wurde und eine Lösegeldforderung erfolgen wird. Es ist nur eine Möglichkeit, auf die wir dennoch vorbereitet sein müssen«, versuchte Hackenholt, dem Vater den Wind aus den Segeln zu nehmen. »Im Allgemeinen werden sie jedoch zeitnah nach der Tat gestellt. Das hat auch etwas Positives: Wir wissen dann, was passiert ist und können mit dem Entführer verhandeln und ihm seine Optionen aufzeigen.«

Auf dem kurzen Weg zurück zum mobilen Einsatzzentrum rief Hackenholt zunächst in der Einsatzzentrale an, um alle erforderlichen technischen Maßnahmen in die Wege leiten zu lassen. Danach hinterließ er Martin Groß eine Nachricht auf der Mailbox, da der nicht antwortete. Als er den Transporter betrat, glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen. Neben dem Dienststellenleiter befanden sich zwei Damen im Fahrzeug. Die erste war eine tüchtige Pressesprecherin, mit der er gerne zusammenarbeitete. Die andere war Frau Müller-Kolokowski.

»Ah, da bist du ja.« Hartmut Niederberger klang erleichtert. »Die Frau Staatsanwältin hat eine Menge Fragen an dich.«

»Aber –«, wollte Hackenholt protestieren, doch der Kollege ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Ich habe ihr erklärt, dass selbstverständlich du die Leitung übernommen hast und ich dir zuarbeite. Schließlich scheint es sich um ein Verbrechen und nicht um einen Vermisstenfall zu handeln. Wir tun alles, um die früheren Fehler anderer Dienststellen nicht zu wiederholen und die Ermittlungen keinesfalls zu verschleppen. Deshalb hattest du von Anfang an das Kommando, und ich koordiniere lediglich die Suchaktion mit meinen Leuten, um wertvolle Hinweise wie das Kleidungsstück zu finden.«

Die Staatsanwältin warf Hackenholt einen finsteren Blick zu. Ganz so, als würde sie sich fragen, wieso er nicht mit Grippe im Bett lag. »Warum haben Sie mich nicht umgehend nach dem Verschwinden des Kindes unterrichtet? Wir hätten vor Stunden die Presse einbeziehen müssen.«

Hackenholts Augen suchten die des Polizeidirektors, doch der wich seinem Blick geflissentlich aus.

»Haben die Eltern die Jacke identifiziert?«, erkundigte sich die Mitarbeiterin der Pressestelle sachlich.

Hackenholt brachte nicht mehr als ein knappes Nicken zustande.

»Worauf warten Sie dann noch?«, fuhr Frau Müller-Kolokowski die Beamtin an.

»Wir müssen vorab ein paar Dinge klären«, entgegnete diese freundlich. »Was genau wollen wir der Öffentlichkeit preisgeben?«

»Wir lassen höchste Transparenz walten. Man wird mir nicht vorwerfen können, ich hätte die Lage falsch eingeschätzt und nichts unternommen. Schauen Sie sich die Horrormeldungen an, die nach den letzten Vermisstenfällen durch die Zeitungen gegeistert sind, nachdem die Opfer tot aufgefunden wurden. Das wird mir nicht passieren.«

Hackenholt konnte ein Schnauben nicht unterdrücken. Für eine Millisekunde hatte er tatsächlich geglaubt, die Staatsanwältin fürchte um das Leben des Kindes und habe Mitgefühl für die Situation der Eltern. Doch es ging ihr nur darum, selbst gut dazustehen.

»Sie gehen also davon aus, dass der Junge tot ist?«, fragte die Pressesprecherin entsetzt.

»Wo soll er denn stecken?« Frau Müller-Kolokowski warf ihr einen pikierten Blick zu. »Der Herr Dienststellenleiter hat doch in weiser Voraussicht alle Straßen des Viertels abfahren und Lautsprecherdurchsagen machen lassen. Das hätten eigentlich Sie veranlassen müssen.« Sie starrte Hackenholt böse an.

»Mein Sohn hat bei einem Kindergartenausflug auch mal eine Jacke verloren«, versuchte die Beamtin, eine andere Möglichkeit aufzuzeigen. »Könnte Narong seine nicht ausgezogen haben, weil er geschwitzt hat? Er rennt einer Katze oder einem Hund hinterher, ihm wird warm, er zieht sie aus, bindet sie sich um den Bauch und verliert sie.«

Der Polizeidirektor nickte. »Ein solches Szenario kann ich mir gut vorstellen. Obwohl die Frau Staatsanwältin mit ihrer Argumentation natürlich völlig recht hat«, fügte er rasch hinzu. »Aber um auf der sicheren Seite zu sein, dürfen wir zum jetzigen Zeitpunkt nichts ausschließen.«

Hackenholts Handy piepte. Es war Martin Groß. Hackenholt entschuldigte sich und verließ den Wagen.

»Es gibt Neuigkeiten! Narongs Jacke wurde ungefähr hundert Meter Luftlinie von dem Ort entfernt, an dem der Suchhund die Fährte verloren hat, auf einem Feld gefunden«, informierte er den Kollegen mit gesenkter Stimme. »Was haben eure Befragungen bislang ergeben?«

»Nichts«, antwortete Martin Groß missmutig. »Keiner hat den Jungen gesehen. Niemandem ist ein Auto aufgefallen, das hier nicht hingehört. Niemand hat etwas bemerkt, das auch nur im Entferntesten auffällig war. Die meisten Anwohner waren zu Hause. Lediglich im Reitstall wissen wir nicht, wer vor ein paar Stunden da war.«

»Ich werde das als eigenen Punkt in die Presseerklärung aufnehmen und gezielt nach Besuchern fragen.«

»Hast du Niederberger endlich von deiner Sichtweise überzeugt?«

»Frau Müller-Kolokowski besteht darauf, dass wir in großem Stil an die Öffentlichkeit gehen. Sie will sich keine Versäumnisse nachsagen lassen. Aber es ist meiner Meinung nach wirklich die einzige Möglichkeit, schnell viele Hinweise auf Narongs Verbleib zu erhalten. Irgendjemand muss etwas gesehen haben.«

»Soll ich Manfred und Ralph bitten, in die Dienststelle zu kommen?«

»Unbedingt. Ab jetzt sind wir für alles verantwortlich. Die zwei müssen im Büro die Stellung halten und die eingehenden Hinweise entgegennehmen. Außerdem müssen die üblichen Hintergrundabfragen gemacht und der Chef informiert werden. Er soll die Bildung einer Soko anordnen.«

»Wenn du willst, können Saskia und ich –«

»Nein. Wenn ihr mit den Anwohnern fertig seid, habe ich eine andere Aufgabe für euch. Ich habe noch nicht mit allen Kindern gesprochen, die heute im Lauf des Nachmittags auf dem Spielplatz waren. Ich möchte, dass ihr das übernehmt.«

»Ist es dafür nicht ein bisschen spät?«, gab Martin Groß zu bedenken. »So kurz vor dem Einschlafen ist es keine gute Idee, sie nach dem Verschwinden eines Freundes zu fragen.«

»Wenn wir den Freund damit retten können, ist es die beste Idee, die es gibt.«

»Gut, dann legen wir sofort los.«

Hackenholt holte sein Notizbuch aus der Tasche und diktierte ihm die Namen und Adressen. Danach kehrte er in den Transporter zurück.

»Also, wo stehen wir?« Frau Müller-Kolokowski sah ihn herausfordernd an.

Am liebsten hätte Hackenholt geantwortet, dass sie nicht stand, sondern saß, und zwar in einem Fahrzeug, das das mobile Einsatzzentrum der Polizei darstellte. Mit der Antwort hätte er jedoch nur ihren Zorn beflügelt. Daher gab er eine Zusammenfassung der Geschehnisse in chronologischer Reihenfolge ab dem Augenblick, als Sophie ihm mitgeteilt hatte, dass ein Kind vom Spielplatz verschwunden war. Seinen Bericht schloss er mit den Maßnahmen, die er getroffen hatte.

»Wie handhaben wir die Kommunikation mit den Medien? Soll ich eine Presseerklärung schreiben oder wollen wir direkt mit den Journalisten an der Absperrung sprechen?«, erkundigte sich die Pressestellenmitarbeiterin.

»Ich trete selbstverständlich persönlich vor die Fernsehkameras«, erwiderte Frau Müller-Kolokowski. »Die Leute sollen sehen, dass ich für diesen Fall meinen Samstagabend opfere.«

Hackenholt, der wusste, wie gerne die Staatsanwältin in ein pseudoelitäres Behördenkauderwelsch verfiel, dem niemand folgen konnte, hielt das für keine gute Idee. Doch Frau Müller-Kolokowski ließ sich nicht umstimmen.

Eine halbe Stunde später stellte sie sich der Presse. Es hatten sich nur wenige Reporter eingefunden. Überregionale Medien waren nicht anwesend. Frau Müller-Kolokowski wirkte sichtlich enttäuscht. Hackenholt war erleichtert, da sie sich auf das Nötigste beschränkte und darauf verwies, dass Fragen von den Polizeibeamten beantwortet werden würden.