Südstadtblüten - Stefanie Mohr - E-Book

Südstadtblüten E-Book

Stefanie Mohr

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Beschreibung

Nürnberg, 35 Grad im Schatten. Eine hochsommerliche Hitzewelle hält die Region gefangen. Alle sehnen sich nach Freibad, Eiscreme und Urlaub. Nichts Böses ahnend, will Sophie Hackenholt ein Paket in der Postfiliale abholen, als eine Explosion schlagartig die Nürnberger Beschaulichkeit zerreißt. Nur einen Tag später wird ein Buchhalter in der Werderau erstochen aufgefunden. Bei den Recherchen zeichnet sich das Bild eines weltoffenen und aufgeschlossenen Mannes ab, der sich vorbildlich um seine alte Mutter gekümmert, in der Kirchengemeinde engagiert und regelmäßig an eine Dritte-Welt-Organisation gespendet hat. Doch Kommissariatsleiter Frank Hackenholt entdeckt eine dunkle Seite des Opfers. Oder warum sonst sollte es die Fehltritte seiner Mitmenschen so penibel dokumentiert haben?

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Seitenzahl: 454

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Südstadtblüten

Südstadtblüten

– Hackenholts zehnter Fall –

von

Stefanie Mohr

EBOOK

Stefanie Mohr, geboren 1972, liebt ihre Heimatstadt Nürnberg, in der sie (fast) jeden Winkel kennt. Sie wohnt und arbeitet als freiberufliche Autorin und Fotodesignerin im Nürnberger Norden. Nähere Informationen: www.stefanie-mohr.com

In dieser Reihe bereits erschienen: »Die vergessenen Schwestern«, »Das letzte Lächeln«, »Die dunkle Seite des Sommers«, »Frauentormauer«, »Glasscherbenviertel«, »Reichskleinodien«, »Tödliche Kristalle«, »Bombenstimmung«, »Tief im Brunnen« und»Südstadtblüten«.

Nürnberg, 35 Grad im Schatten. Eine hochsommerliche Hitzewelle hält die Region gefangen. Alle sehnen sich nach Freibad, Eiscreme und Urlaub. Nichts Böses ahnend, will Sophie Hackenholt ein Paket in der Postfiliale abholen, als eine Explosion schlagartig die Nürnberger Beschaulichkeit zerreißt. Nur einen Tag später wird ein Buchhalter in der Werderau erstochen aufgefunden. Bei den Recherchen zeichnet sich das Bild eines weltoffenen und aufgeschlossenen Mannes ab, der sich vorbildlich um seine alte Mutter gekümmert, in der Kirchengemeinde engagiert und regelmäßig an eine Dritte-Welt-Organisation gespendet hat. Doch Kommissariatsleiter Frank Hackenholt entdeckt eine dunkle Seite des Opfers. Oder warum sonst sollte es die Fehltritte seiner Mitmenschen so penibel dokumentiert haben?

+++HINWEIS:+++

Die Übersetzung der fränkischen Passagen befinden sich im Anhang und sind im Text mit Fußnoten gekennzeichnet. Klickt man auf die Ziffer, gelangt man direkt zur Übersetzung, klickt man dort erneut auf die Ziffer, gelangt man zurück an die Textstelle.

Copyright © Stefanie Mohr, 2017.

All Rights Reserved - Alle Rechte vorbehalten

Umschlagfoto und -gestaltung: Stefanie Mohr

Grafik Widmung: Dietmar Höpfl/shockfactor.de

Verlag: Edition Gelbes Sofa, Inh.Stefanie Mohr, Nordring 125, 90409 Nürnberg

Originalausgabe

It was not the thorn bending to the honeysuckles, but the honeysuckles embracing the thorn.

Montag

Sophie Hackenholt zog ihrer Tochter Ronja Sandalen an und stopfte die Hausschuhe in eine Tragetasche. Anschließend setzte sie ihren kleinen Wildfang trotz lautstarkem Protest in den Buggy und verließ in einem Pulk anderer Mütter und Kinder das Gemeindehaus.

Vor zwölf Tagen hatte Ronja ihren ersten Geburtstag gefeiert. Nun war sie im richtigen Alter, um einmal pro Woche in den Miniclub zu gehen und soziale Kontakte zu knüpfen. Fröhlich winkend verabschiedete sich Sophie von Ronjas neuen Spielgefährten und schlug den Weg zur Postfiliale in der Schillerstraße ein, um dort ein Paket abzuholen.

Es war Mitte Juli und der Sommer hielt endlich das, was er versprach: strahlenden Sonnenschein und Temperaturen über dreißig Grad. Nach wenigen Metern stand Sophie der Schweiß auf der Stirn. Ronja fand sich damit ab, nicht länger auf dem Boden herumkrabbeln zu dürfen. Sie jauchzte, wenn ihre Mutter dem Wagen einen schwungvollen Schubs gab, sodass er ein kurzes Stück in schnellem Tempo davonrollte, bevor er stehen blieb.

Als sie kurz darauf die düsteren und stickigen Räume der Post betraten, verflog Ronjas gute Laune augenblicklich. Auch Sophies Mundwinkel gaben beim Anblick der Warteschlange der Schwerkraft nach. Von vier Schaltern waren lediglich zwei besetzt. Und zu allem Überfluss musste sich eine der Angestellten um einen Kunden mit einem Postbank-Problem kümmern. Das konnte dauern.

Sophie erwog, das Paket ein andermal abzuholen. Doch morgen war Babyschwimmen angesagt; danach war Ronja meist so müde, dass sie bis zum Mittagsschlaf absolut unausstehlich war. Ihnen blieb also keine andere Wahl, als zu warten. Ronja hatte zwischenzeitlich die Regale mit Briefkuverts entdeckt. Sie reckte ihre Arme so weit sie konnte, schaffte es aber nicht, die bunten Verpackungen zu greifen. Damit war ihr Ehrgeiz geweckt. In der Hoffnung, der Buggy möge ein Stück weiterrollen, warf sie sich vor und zurück. Der Wagen rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Also wand sie sich und versuchte, aus dem Gefährt zu klettern. Aber auch damit hatte sie keinen Erfolg. Schließlich machte sie ihrem Unmut lautstark Luft.

Sophie wühlte in ihrer Tasche nach etwas, womit sie Ronja ablenken konnte. Warum hatte sie nicht daran gedacht, ein Bilderbuch einzustecken? Sie hatte eine frische Windel dabei, Babypflegetücher, einen Ersatzbody, Pflaster und eine Flasche mit Tee. Letztere fegte Ronja ungerührt beiseite. Ihren Schlüsselbund wollte Sophie ihr nicht geben, weil Ronja ihn in den Mund stecken würde – aus demselben Grund schied auch der Kugelschreiber aus. Blieb nur die Butterkekspackung. Eine halbe Minute lang ging es gut, dann hatte Ronja durchschaut, dass sie leer war. Sie warf die Pappschachtel ebenfalls auf den Boden und widmete sich quengelnd wieder dem Versuch, doch noch an die Kuverts der Auslage zu kommen.

Die Frau, die unmittelbar vor ihnen in der Schlange stand, drehte sich um. Sophie wappnete sich. Als Ronja ein Baby war, war es einfacher gewesen. Bei Säuglingen zeigten viele Menschen zumindest für kurze Zeit Verständnis, wenn sie schrien. Sobald sie sitzen konnten, sollten sie sich allerdings wie Erwachsene benehmen. Entgegen allen Erwartungen bedachte die Fremde jedoch weder Ronja mit einem genervten Blick noch Sophie mit einer dummen Bemerkung. Lächelnd öffnete sie ihre Umhängetasche, holte den Werbeflyer eines Pizza-Lieferanten heraus und zeigte ihn Ronja.

»Schau mal, was ich Tolles habe.«

Ronja wollte nach dem bunten Papier greifen, aber die Frau faltete flugs einen Hut daraus, den sie der Kleinen aufsetzte. Sophie war dankbar. Ronja hingegen riss sich den Hut vom Kopf und zerrte ihn auseinander.

»Magst du keinen Hut?«

Ronja hielt ihr den ramponierten Flyer entgegen und sagte etwas in unverständlicher Babysprache.

»Alles klar«, antwortete die Frau todernst. »Du willst das selbst probieren.« Lächelnd bastelte sie noch einmal einen Hut, während Ronja mit ihren kleinen Fingern auf das Papier patschte. »Ist der toll? Oder sollen wir einen Dampfer machen?«

Ronja lachte. Die Frau ebenfalls. Sophie musterte sie. Sie musste Anfang fünfzig sein. Die vielen winzigen Fältchen an den Augen verrieten ihr wahres Alter, denn eigentlich wirkte sie wesentlich jünger. Vielleicht lag das an der eleganten Kleidung. Oder an der gebräunten Haut und den blondierten Haaren.

»Halten Sie die Stellung? Dann organisiere ich uns mehr Bastelmaterial.« Die Frau ging zu einem Ständer und holte zwei Broschüren. Aus einer faltete sie einen neuen Hut, aus der anderen einen Dampfer.

Mit einem Mal ging es in der Schlange ganz schnell: Ein dritter Schalter wurde geöffnet, fast im selben Moment packte der Postbank-Kunde sein Sparbuch ein und verließ die Filiale. Die freundliche Dame eilte an den frei gewordenen Platz, und Sophie beugte sich zu Ronja, die ihr den Papierhut hinterherwerfen wollte. Kurz darauf waren auch sie an der Reihe.

Erst als sie wieder vor dem Gebäude standen, fiel Sophie ein, dass sie völlig vergessen hatte, sich über den Zusteller zu beschweren, weil er nicht geklingelt, sondern gleich den Abholschein in den Briefkasten geworfen hatte. Nun ja, das würde sie dann eben per E-Mail tun. Wahrscheinlich war das sowieso sinnvoller.

Einmal mehr setzte sie Ronja den Papierhut auf, gab dem Wagen einen Schubs, sodass er ein Stück von ihr wegrollte, und wandte sich in Richtung Fußgängerampel. In dem Moment ertönte hinter ihr ein ungeheurer Knall. Sophie zuckte zusammen und stieß erschrocken einen Schrei aus. Ihr Herz raste. Sie sah, dass Ronja den Mund aufriss, aber sie hörte vor allem ein Pfeifen in den Ohren. Alle anderen Geräusche waren wie durch Watte gedämpft. Einen Sekundenbruchteil später hob sie ihre Tochter aus dem Buggy und drückte sie an sich. Erst danach drehte sie sich um. Entsetzt weiteten sich ihre Augen. Die Heckklappe eines weißen BMW Kombis war weggerissen worden und lag nun auf dem Gehweg. Die Dame, die so freundlich mit Ronja gespielt hatte, wälzte sich brüllend auf dem Bürgersteig. Um sie herum bildete sich eine Blutlache. Neben ihr lagen ein zerfetzter Karton und eine zerbeulte Dose.

Erster Kriminalhauptkommissar Frank Hackenholt saß mit seinem Chef und drei anderen Kommissariatsleitern in einer Besprechung, als sein Handy piepte. Sophies Nummer erschien im Display. Einen Augenblick erwog er, den Anruf an die Mailbox weiterzuleiten, aber dann entschuldigte er sich. Im Allgemeinen rief ihn seine Frau nicht in der Arbeit an – und schon gar nicht auf dem Handy. Es musste also etwas Wichtiges sein.

»Hier ist gerade eine Bombe explodiert«, schrie Sophie in einer für sie untypischen Tonlage.

»Eine Bombe?«, echote Hackenholt. Sofort richteten sich die Blicke seiner Kollegen auf ihn.

»In einem Auto. Vor der Post in der Schillerstraße. Ronja muss zum Arzt.« Im Hintergrund war lautes Kinderweinen zu hören.

»Ist ihr etwas passiert?« Hackenholt fühlte Angst in sich aufsteigen.

»Ich weiß es nicht.« Sophie klang verzweifelt.

»Was soll das heißen?«

»Ich bin fast taub.«

»Ist. Ronja. Was. Passiert?« Er brüllte jedes einzelne Wort ins Telefon.

»Jetzt komm einfach her«, kreischte Sophie. »Die Frau stirbt.«

Dann war die Leitung tot, und Hackenholt rannte zur Tür hinaus.

Eine Autobombe. In Damaskus, Kabul oder Beirut trauriger Alltag, in Nürnberg undenkbar. Aber das weinende Kind im Hintergrund war seine Tochter gewesen. Damit war ihm egal, was geschehen war. Es zählte nur, dass es ihr nicht gut ging.

Er rief nach Martin Groß und Ralph Wünnenberg, während er ins Geschäftszimmer spurtete und sich den Schlüssel des erstbesten Dienstwagens schnappte.

»Das war aber eine kurze Besprechung«, stellte Wünnenberg überrascht fest.

»Mitkommen, alle beide!«, befahl Hackenholt und stürmte in Richtung Treppenhaus.

»Was ist los?«, erkundigte sich Groß.

»In der Schillerstraße ist möglicherweise ein Auto explodiert.«

»Was?« Groß klang schockiert.

»Aber dafür ist doch das K12 zuständig«, wunderte sich Wünnenberg.

»Sophie hat angerufen. Ronja wurde verletzt.«

Wortlos nahm Groß Hackenholt den Fahrzeugschlüssel aus der Hand, wofür der ihm dankbar war. Martin Groß war durch sein jahrelanges SEK-Training mit Abstand der geschulteste Fahrer im Team.

Als sie in der Schillerstraße ankamen, blockierte ein Streifenwagen die Einmündung zur Rollnerstraße. Der Verkehr staute sich, Schaulustige versperrten den Weg. Hackenholt sprang aus dem Auto und drängte sich durch die Menschen. Rasch schlüpfte er unter dem Absperrband hindurch. Es gab zwei Rettungswagen, neben einem stand Ronjas Buggy. Wünnenberg würde auch ohne Anweisungen beginnen, sich ein Bild von der Lage zu machen, daher rannte er zum Rettungswagen und riss die Tür auf. Seine Frau saß auf der Trage. Sie hielt Ronja an sich gedrückt. Trotz der Hitze legte ihr ein Sanitäter gerade eine Decke um die Schultern.

»Kriminalpolizei«, rief Hackenholt und stieg ein.

Seine Augen flogen über Ronjas kleinen Körper. Kein Blut. Sie erkannte ihn und reckte ihm die Arme entgegen. Dem Anschein nach konnte sie alles bewegen. Sophie schien es nicht so gut zu gehen. T-Shirt und Jeans waren blutverschmiert, sie selbst war kreidebleich und zitterte unkontrolliert. Er nahm ihr Ronja ab, weil er Angst hatte, sie könne sie fallen lassen.

»Ist gut, Schatz«, murmelte er beruhigend und drückte beide an sich. »Ich bin ja jetzt hier. Wie geht es euch?«

»Verdacht auf Knall- beziehungsweise Explosionstrauma«, sagte der Sanitäter. »Außerdem hat sie einen Schock.«

»Was ist mit dem Blut?«

»Die Frau ...« Sophie schluchzte. »Sie war so nett zu Ronja.«

»Sie wird gerade versorgt«, warf der Sani ein.

»Ich habe ihr den Arm abgebunden. Sie hat furchtbar geblutet und der Notarzt ist so lange nicht gekommen.«

»Das hast du prima gemacht.« Hackenholt strich Sophie über den Rücken.

»Ronja muss in die Kinderklinik. Mir dröhnen die Ohren. Das war so ein schrecklicher Knall. Den werde ich nie mehr vergessen.« Wieder traten ihr Tränen in die Augen.

Hackenholt konnte nichts weiter tun, als sie festzuhalten und Beruhigungen zu murmeln. Dann erschien Wünnenberg an der offenen Tür des Rettungswagens und warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Ich bin gleich zurück, Schatz.« Er behielt Ronja auf dem Arm und stieg aus.

»Es scheint wirklich eine Explosion gegeben zu haben«, erklärte der Beamte mit gesenkter Stimme. »Martin ist sich sicher, dass es eine Sprengfalle war. Er hat solche Dinger in Afghanistan gesehen. Womöglich war sie in einem Paket versteckt. Die Fahrerin des BMW hat mindestens zwei Finger verloren und Verbrennungen im Gesicht.«

»Ruf die Kollegen vom K12 an und gib ihnen die Lage durch. Das ist wohl eher was für sie als für uns. Sobald sie da sind und ihr nicht weiter gebraucht werdet, kannst du mit Martin ins Kommissariat zurückfahren. Ich begleite Sophie in die Klinik. Gib bitte Manfred Bescheid, dass ich heute nicht mehr in die Dienststelle komme und er übernehmen soll.«

In der Kinderklinik gab es nur Konsiliarärzte für den HNO-Bereich. Daher landeten Sophie und Ronja schlussendlich nicht im Krankenhaus, sondern bei einem Spezialisten am Plärrer. Er sah Ronja in die Ohren und testete ihr Gehör. Sie reagierte auf alle Geräusche. Offenbar hatte sie weniger Beschwerden als Sophie, denn die hörte im Hochfrequenzbereich tatsächlich sehr schlecht. Da die Haarzellen im Innenohr geschädigt worden waren, erhielt sie eine Infusion mit durchblutungsfördernden Medikamenten.

Als sie nach knapp drei Stunden die Arztpraxis verlassen konnten, ging es Sophie kaum besser. Noch immer stiegen ihr von Zeit zu Zeit Tränen in die Augen. Hackenholt verwarf den Gedanken, sie ins Präsidium zu bringen. Ihre Vernehmung musste warten. Im Moment war zwar die Erinnerung frisch, aber Sophie definitiv nicht im Stande, sich zu konzentrieren und brauchbare Angaben zu machen.

Entgegen Sophies Annahme, sie werde tagelang kein Auge zutun, schlief sie, wenige Minuten nachdem sie sich zum Ausruhen hingelegt hatte, ein. Hackenholt fütterte und wickelte Ronja und brachte sie für einen verspäteten Mittagsschlaf ebenfalls in ihr Bett. Danach räumte er Küche und Wohnzimmer auf und setzte sich schließlich in Sophies Arbeitszimmer an den Computer.

Die Explosion hatte es in die überregionalen Nachrichten geschafft. Er überflog die Schlagzeilen und las zwei Artikel. Die Journalisten ergingen sich in wilden Spekulationen. Linksextremisten, Rechtsradikale, Islamisten – alle Ansichten wurden vertreten. Man schreckte auch nicht davor zurück, den Anschlag mit Machenschaften der organisierten Kriminalität zu verknüpfen. Da jedoch nirgendwo vom Staatsschutz die Rede war, schien es Hackenholt fraglich, ob es sich tatsächlich um eine politisch motivierte Tat handelte. Zudem wurde eine Pressesprecherin zitiert, die mantraartig wiederholte, man ermittle in alle Richtungen, alles sei offen.

Aus einem Impuls heraus wählte Hackenholt die Nummer von Simon Engel. Er leitete das K12, das unter anderem für Brände, Explosionen und Sprengstoffe zuständig war. Aber der Anruf wurde direkt ins Geschäftszimmer umgeleitet. In Anbetracht der Situation eine weise Maßnahme. Hackenholt bereute sofort, angerufen zu haben. Jetzt gab es Wichtigeres zu tun, als seine Neugier zu befriedigen. Daher bat er lediglich darum, dem Sachbearbeiter auszurichten, dass seine Frau frühestens am folgenden Tag befragt werden konnte.

Als Ronja durch leises Brabbeln signalisierte, dass sie ausgeschlafen hatte, schlüpfte er in kurze Hosen und ging mit ihr in den Garten. Anstatt im Planschbecken zu spielen, wollte sie lieber Türme aus Holzklötzen bauen, die sie anschließend einwerfen konnte. Nach einer Weile gesellte sich Sophie zu ihnen.

»Haben wir dich geweckt?« Hackenholt musterte sie. Sie war immer noch sehr blass und hielt sich am Türrahmen fest, als sei ihr schwindelig.

»Schon gut. Ich ...« Sie schluckte. »Hast du nachgefragt, wie es der Frau geht?«

»Ich habe zwar in der Dienststelle angerufen, aber die Kollegen haben im Augenblick alle Hände voll zu tun. Morgen werden wir sicher Genaueres erfahren.«

»Wer tut so etwas?«

Eine Frage, auf die Hackenholt keine Antwort wusste.

»Der Kerl muss ein absolut krankes Hirn haben«, murmelte Sophie. »Ich verstehe beim besten Willen nicht, wie du das jeden Tag aushältst. Wenn ich die Augen zumache, sehe ich ständig die Blutlache vor mir.«

»Es wird mit der Zeit besser, die Bilder verblassen.«

Sophie begann zu zittern.

Dienstag

»Frank?«

Hackenholt drehte sich um. Hinter ihm eilte Simon Engel ebenfalls zur Rolltreppe, die vom U-Bahn-Geschoss am Weißen Turm zur Fußgängerzone hinaufführte. Da Hackenholt die Dienststelle am Vortag so unerwartet verlassen hatte, war sein Fahrrad im Präsidium geblieben. Nun musste er an diesem Morgen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln vorliebnehmen.

»Wie geht es deiner Frau?«, erkundigte sich Engel.

»Besser. Sie bekommt heute und morgen weitere Infusionen, aber sie hat zum Glück nicht mehr den Druck auf den Ohren. Weißt du, wie es der Geschädigten geht?«

»Frau Jost hat zwei Finger verloren. Die Ärzte haben zwar versucht, sie wieder anzunähen, aber ...« Der Kollege winkte ab. »Die Verbrennungen sind dagegen nicht allzu schwer. Das hätte noch viel schlimmer ausgehen können.«

»Wer bearbeitet den Fall?«

»Matthias Heerweger.«

»Konnte er schon mit ihr sprechen?«

»Nur kurz. Sie sagt, sie hat das Paket aufgemacht, obwohl ihr der Name des Absenders nicht geläufig war. Typisch weibliche Neugier, wenn du mich fragst – oder sie lügt und kennt ihn doch. Innen befand sich eine Kaffeedose. Frau Jost ist sich nicht mehr sicher, ob sie die ebenfalls geöffnet hat. Aber wir gehen davon aus.«

»Gibt es Anhaltspunkte, weshalb jemand die Frau töten wollte?«

»Das ist der springende Punkt: Derzeit ist noch völlig unklar, ob das überhaupt das Ziel war.«

»Wie meinst du das?«

»In der Dose war nicht genug Sprengstoff. Die Frage ist: Warum? Dachte der Täter, es würde reichen? Oder wollte er Frau Jost vielleicht nur erschrecken?«

»Dafür war dann aber zu viel darin.«

Engel nickte.

»Wie sieht’s mit einem Motiv aus?«

»Sie ist Hausfrau, ihr Mann hat eine IT-Firma. Angeblich geordnete finanzielle und familiäre Verhältnisse, keine extremen religiösen oder politischen Ansichten, keine Streitigkeiten, keine Feinde.«

»In Anbetracht der Geschehnisse klingt das wenig glaubwürdig«, kommentierte Hackenholt. »Gibt es etwas, womit man sie mit organisierter Kriminalität in Verbindung bringen kann? Rauschgift? Menschenhandel? Geldwäsche?«

»Nichts«, seufzte Engel. »Was sagt deine Frau? Du hast doch bestimmt mit ihr über die Sache gesprochen.«

»Sie fand die Dame unheimlich nett, weil sie mit unserer Tochter gespielt hat, während sie in der Postfiliale Schlange standen.«

»Das hilft uns nicht wirklich weiter. Aber es war wohl auch nicht zu erwarten, dass sie etwas Sachdienliches bemerkt hat.«

Inzwischen waren sie im Polizeipräsidium angekommen. Der Kollege verabschiedete sich, er hatte einen Termin in der Verwaltung. Hackenholt stieg allein in den zweiten Stock hinauf.

Mitte Juli herrschte im Kommissariat nicht gerade Hochbetrieb. Ein Teil der Ermittler war im Sommerurlaub und andere bauten Überstunden ab, indem sie entweder tage- oder stundenweise weniger arbeiteten. Manfred Stellfeldt beispielsweise war in der letzten Woche täglich um die Mittagszeit nach Hause gegangen; immer kurz bevor die Hitze im Büro unerträglich wurde.

Hackenholt war das recht, denn die geleistete Mehrarbeit auszubezahlen, bedeutete für die Dienststelle Mehrkosten, während bei den Beamten nach Steuerabzug kaum etwas im Geldbeutel ankam. Außerdem war es wichtig, die ruhige Zeit zur Erholung zu nutzen, damit alle wieder mit voller Kraft dabei waren, wenn es stressig wurde.

»Ralph hat spontan zwei Tage Freizeitausgleich eingetragen«, begrüßte ihn Stellfeldt. »Deshalb übernimmt Martin seinen Bereitschaftsdienst heute Abend.«

»Okay. War gestern noch was Besonderes?«

»Überhaupt nichts.«

»Magst du dir dann heute wieder den Nachmittag frei nehmen und das schöne Wetter genießen?«

»Willst nicht lieber du früher Feierabend machen und Zeit mit Sophie verbringen? Sie wird die gestrigen Eindrücke bestimmt nicht über Nacht verarbeitet haben.«

»Sie trifft sich am Nachmittag mit Christine Mur, und ich muss sowieso noch einiges wegen der Budgetierung durchrechnen.«

Wie in der letzten Woche wühlte sich Hackenholt durch einige hohe Papierstapel. Die Stunden krochen dahin. Zwar wurde die Arbeit erledigt, Spaß machte sie ihm jedoch nicht. Genau genommen hasste er diesen Teil, der zu den Aufgaben eines Kommissariatsleiters gehörte.

Um kurz vor sechzehn Uhr kam Martin Groß zu ihm ins Büro und verkündete, er habe in der Einsatzzentrale Bescheid gegeben, dass der Bereitschaftsdienst ab sofort über Handy erreichbar sei.

»Schönen Feierabend«, wünschte Hackenholt.

»Ich gehe eine Runde in den Fitnessraum. Hast du Lust, mir Gesellschaft zu leisten? Dir muss doch der Kopf schwirren, wenn du den ganzen Tag über Zahlen und Statistiken sitzt.«

Hackenholt musterte den Beamten. War das die versteckte Bitte um ein Gespräch in einer ungezwungenen Umgebung oder die kollegiale Anmerkung, ihm würde etwas mehr Sport nicht schaden? Während er überlegte, klingelte Martin Groß’ Diensthandy. Er meldete sich, lauschte der Stimme am anderen Ende und versprach, sich auf den Weg zu machen.

»Was ist los?«, fragte Hackenholt neugierig.

»Männliche Leiche in einem Wohnhaus in der Werderau.«

»Ich komme mit.«

»Soll ich nicht lieber Manfred anrufen? Er hat ebenfalls Bereitschaft. Es handelt sich um ein Tötungsdelikt mit Fremdeinwirkung.«

»Umso besser.« Hackenholt grinste. »Wie du gerade festgestellt hast: Ich muss auch mal was anderes machen, als mich ständig nur mit Zahlen und Statistiken herumzuärgern.«

»Der Tote heißt Paul Rubinek«, informierte ein Streifenbeamter der PI Süd Hackenholt und Groß bei ihrem Eintreffen im Wacholderweg. »Er ist siebenundfünfzig Jahre alt, geschieden und hat als Buchhalter bei der Druckerei Holzschuh gearbeitet. Sein Chef, Tobias Oertel, hat sich Sorgen gemacht, weil er heute einen wichtigen Termin mit dem Steuerberater verpasst hat und auch nicht ans Telefon ging. Da er als äußerst zuverlässig galt und außerdem allein gelebt hat und Asthmatiker war, wollte Herr Oertel nach dem Rechten sehen. Als er das Auto vor dem Haus entdeckt hat, ihm aber trotz lautem Klopfen und Rufen niemand öffnete, hat er uns verständigt.«

»Ist er noch hier?«

»Wir haben ihn nach Hause geschickt. Er war ziemlich schockiert, als er erfahren hat, dass sein Angestellter tot ist. Ihr könnt allerdings jederzeit bei ihm vorbeischauen. Er wohnt nicht weit weg in Eibach.«

Hackenholt dankte dem Kollegen mit einem kurzen Nicken. Dann ging er zum Haus. Häuschen wäre wohl die passendere Bezeichnung gewesen. An der Längsseite war es höchstens fünf Meter breit und stand Mauer an Mauer zwischen zwei wesentlich ausladenderen Einfamilienhäusern eingekeilt. Vor allem in der Sebalder Altstadt waren Hackenholt solch schmale Gebäude schon mehrfach aufgefallen. Zumeist erhoben sie sich über vier, fünf oder gar sechs Stockwerke. Das Haus im Wacholderweg bestand dagegen gerade mal aus Erd- und Dachgeschoss, wobei Letzteres aufgrund der Dachschräge kaum Wohnraum bieten konnte.

Hackenholt schlüpfte in einen Schutzanzug und folgte Martin Groß ins Innere. Das Haus war wesentlich tiefer als von außen ersichtlich, und im Garten gab es sogar einen Swimmingpool. Hackenholt traute seinen Augen nicht. Derlei hätte er hier am allerwenigsten vermutet. Das Wohnzimmer ging Richtung Süden und war über und über mit afrikanischen Masken und Statuen dekoriert. Bei ihrem Anblick hätte er fast die Leiche übersehen, die zwischen Schrank und Sessel auf dem Boden lag.

»Der Mann wurde erstochen«, sagte eine ihm wohlbekannte Frauenstimme. »So viel kann ich dir auch ohne Rechtsmediziner schon sagen.«

Hackenholt drehte sich um und entdeckte Christine Mur hinter einem Tresen, der den Wohnraum von der Küche abtrennte.

»Was tust du hier? Ich dachte, du triffst dich heute Nachmittag mit Sophie?«

»Schon mal was von Bereitschaftsdienst gehört?«, frotzelte die Kollegin von der Spurensicherung. »Wir waren gerade Eis essen, als ich angerufen wurde. Jetzt muss Ronja meine Portion aufessen.« Auf einmal grinste sie. »Ganz schön hungrig, dein kleiner Sonnenschein. Sie hat den Mund aufgerissen, dass ein halber Wal reingepasst hätte, als ich sie meinen Löffel abschlecken ließ. Das war bestimmt der kulinarische Höhepunkt ihres bisherigen Lebens.«

Hackenholt überlegte, aber er erinnerte sich nicht, ob Ronja zuvor schon einmal Eiscreme gegessen hatte. Er ärgerte sich, nicht selbst auf die Idee gekommen zu sein, mit seiner Familie in eine Eisdiele zu gehen.

»Eigentlich ist Ronja noch viel zu jung für so was«, brummte er missmutig.

»Wollen wir uns mal dem Fall widmen?«, mischte sich Martin Groß ins Gespräch. »Paul Rubinek wurde also erstochen. Hast du ein Messer gefunden, Christine?«

»Bislang nicht. Ich habe zwar noch nicht alle in der Schublade überprüft, aber es würde von einer ziemlichen Kaltblütigkeit zeugen, falls der Täter es danach seelenruhig abgespült und zu den anderen gelegt haben sollte. Wahrscheinlicher ist, dass er es ebenfalls mitgenommen hat.«

»Ebenfalls?«, hakte Hackenholt sofort nach.

»Im Waschbecken gibt es Blutanhaftungen. Er muss sich gewaschen haben. Ein Handtuch habe ich jedoch vergeblich gesucht.« Sie deutete auf einen leeren Haken an der Wand.

»Gibt es Hinweise, wie der Täter hereingekommen ist?«

»Die Haustür war bei unserem Eintreffen geschlossen, aber nicht abgesperrt«, erklärte der Streifenbeamte. »Terrassentür und sämtliche Fenster waren zu.«

»Dann hat er seinen Mörder also selbst hereingelassen«, sinnierte Groß.

»Opfer und Täter könnten sich gekannt haben. Dafür spricht auch, dass kein Kampf stattgefunden hat«, unterstrich Mur. »Ein Einbruch scheidet jedenfalls aus.«

»Hat schon jemand mit den Nachbarn gesprochen?«

Der Uniformierte verneinte.

»Dann übernehmen wir das«, entschied Hackenholt. »Vielleicht haben sie etwas gehört. Einen Streit oder Hilferufe.« Er bedeutete Martin Groß mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen.

Sie wandten sich zunächst dem auf der rechten Seite angrenzenden Haus zu. Doch bevor sie klingeln konnten, rief eine laute Stimme aus der entgegengesetzten Richtung: »Da ist keiner. Die sind im Urlaub.«

Hackenholt fuhr herum und entdeckte eine ältere Dame, die an der Brüstung eines kleinen Vorbaus am anderen Nachbarhaus lehnte und das Geschehen aufmerksam zu beobachten schien.

»Wie lange sind die denn schon verreist?«

»Wie bitte?« Lieselotte Volkert drehte leicht den Kopf. So, wie es Menschen tun, die schlecht hören.

Hackenholt wiederholte seine Frage mit erhobener Stimme.

»Seit zwei Wochen. Müssten am Donnerstag zurückkommen.«

»Na, Sie kennen sich aus«, stellte Martin Groß vielsagend fest. »Vielleicht können Sie uns ja weiterhelfen. Haben Sie einen Augenblick Zeit?«

»Aber natürlich. Kommen Sie.« Das Gesicht der Dame leuchtete auf. Während sie die beiden Männer in ihr Wohnzimmer führte, fragte sie voller Neugier: »Was ist denn beim Rubinek passiert?«

»Das wollten wir eigentlich von Ihnen erfahren. Ich dachte, Sie wüssten Bescheid, was im Viertel vor sich geht.«

»Alles bekomme ich leider nicht mit«, antwortete Frau Volkert erneut einige Dezibel lauter als notwendig.

»Wann sind Sie Ihrem Nachbarn zuletzt begegnet?«

»Das ist schon ein bisschen her.« Sie überlegte. »Sonnabend, als ich vor dem Haus gekehrt habe. Heutzutage macht das außer mir kein Mensch mehr, aber in meiner Jugend war es noch Pflicht.«

»Und seither haben Sie ihn nicht mehr gesehen oder gehört?«

»Doch. Gestern ist er, wie üblich, gegen siebzehn Uhr von der Arbeit nach Hause gekommen. Er stellt sein Auto immer genau vor meinem Küchenfenster ab, obwohl ich ihn so oft gebeten habe, vor seinem eigenen Haus zu parken.«

»Und wann ist er heute Morgen weggefahren?«

»Gar nicht. Sagen Sie, ist er wirklich mit dem ganzen Geld abgehauen?«, erkundigte sie sich auf einmal mit vermeintlich verschwörerisch gesenkter Stimme.

»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Martin Groß perplex.

»Er ist doch Buchhalter. Und dass mit dem was nicht stimmt, das war mir schon immer klar.«

»Soso.« Groß setzte eine gewichtige Miene auf. »Zu laufenden Ermittlungen können wir leider keine Auskünfte geben. Aber erzählen Sie uns doch, was Sie sonst noch alles bemerkt haben.«

»Von Zeit zu Zeit waren ein paar Männer bei ihm. Und dann wurde es laut, das kann ich Ihnen sagen.«

»Hatte Herr Rubinek gestern ebenfalls Besuch?«, mischte sich Hackenholt wieder ins Gespräch. »Gab es vielleicht sogar Streit?«

»Nein, ich habe nichts gehört. Im Fernsehen kam ein Krimi. Die sehe ich mir besonders gerne an.«

Hackenholt entschied, es dabei bewenden zu lassen.

»Organisierst du die Tür-zu-Tür-Befragung?«, bat er Martin Groß, während sie zum Tatort zurückgingen. »Ich höre mir inzwischen an, was Dr. Puellen zu dem Toten sagen kann.«

»Ist er schon hier?«

Hackenholt deutete zu einem silberfarbenen Mercedes, auf dessen Kennzeichen die Initialen MP prangten, und schlüpfte eilig wieder in seinen Schutzanzug.

»Daran bist du schuld, Schnurzelchen«, meckerte Maurice Puellen gerade, als Hackenholt das Haus betrat. »Ich wäre eine halbe Stunde früher da gewesen, wenn du etwas rücksichtsvoller wärst und ich nicht extra nach Hause hätte fahren müssen. Es ist sicher nicht zu viel verlangt, wenn Lilli –«

»Nichts da!«, fauchte Christine Mur. »Lilli hier, Lilli da. Ich kann es nicht mehr hören. Was du mit ihr anstellst, ist allein deine Sache. Lass mich damit gefälligst in Ruhe!«

Hackenholt räusperte sich. Die zwei Streithähne drehten sich mit einem Ruck um. Für einen Sekundenbruchteil fürchtete er, sie würden nun gemeinsam auf ihn losgehen, aber Puellens Gesicht entspannte sich.

»Ist dir der Schreibtisch auf den Kopf gefallen oder hast du kein Personal mehr? So spektakulär scheint mir dieser Mord nämlich nicht zu sein, als dass der Chef persönlich ranmüsste.«

»Es ist wohl ein bisschen von beidem«, lächelte Hackenholt vermitzt. »Was hast du festgestellt?«

»Insgesamt waren es vier Stiche. Einer traf den Hals, drei gingen in den Rücken. Keine Abwehrverletzungen an den Händen. Er muss von dem Angriff überrascht worden sein.«

»Erzähl uns was Neues. So viel haben wir schon allein herausgefunden«, grummelte Mur.

Puellen warf ihr einen irritierten Blick zu. »Gestorben ist er in der vergangenen Nacht. Genauer sagen kann ich es dir erst, wenn ich Raum- und Körpertemperatur zueinander ins Verhältnis gesetzt habe. Eine komplizierte Berechnung bei den derzeitigen Temperaturen. Der Körper kühlt langsamer aus, und das hat Auswirkungen auf die physikalischen Abläufe. Aber ich würde sagen, der Tod ist deutlich vor Mitternacht eingetreten.«

»Damit lässt sich arbeiten. Die Nachbarin hat ihn gegen siebzehn Uhr nach Hause kommen sehen.«

»Hat er Angehörige?«, fragte Puellen.

»Er soll geschieden sein – außerdem ist nur er hier gemeldet.«

»Am besten sprechen wir als Nächstes mit dem Mann, der uns alarmiert hat«, schlug Groß vor. »Die Kollegen vom Dauerdienst klappern unterdessen die Anwohnerschaft ab.«

Das Haus, in dem Rubineks Chef Tobias Oertel wohnte, lag versteckt in der Rügenwalder Straße. Den Ermittlern öffnete eine Frau Mitte dreißig. Sie hielt ein Kleinkind auf dem Arm und war schockiert, als sie begriff, dass zwei Kriminalbeamte ihren Mann sprechen wollten.

»Tobias ist noch in der Arbeit. Was ist denn passiert?«

»Hat er Sie nicht informiert?«

»Nein.«

»Der Buchhalter seiner Firma wurde tot aufgefunden. Wir haben in dem Zusammenhang noch Fragen.«

»Herr Rubinek ist gestorben?« Frau Oertel erbleichte. Rasch wandte sie sich ab, ging zu einer Ablage beim Flurspiegel und holte eine Visitenkarte. »Das ist die Adresse unserer Druckerei. Sie können Tobias dort erreichen. Er hat mich vor einer halben Stunde angerufen, weil es heute später wird.«

»Ich hätte gute Lust, den Mann mit ins Präsidium zu nehmen«, grollte Martin Groß, als sie außer Hörweite waren. »Den Kollegen erzählt er, er möchte nach Hause, weil es ihm nicht gut geht, tatsächlich fährt er aber in die Firma. Wenn das nicht nach einem Braten riecht.«

»Ja, das ist merkwürdig«, stimmte Hackenholt zu. »Aber vielleicht gibt es einen guten Grund, warum er das getan hat.«

Der lang gestreckte Industriebau mit Flachdach, der die Druckerei Holzschuh beheimatete, befand sich nur wenige Autominuten entfernt in der Turnerheimstraße in Nürnberg-Schweinau.

Wie es bei solchen Anwesen häufig vorkommt, wirkte das Grundstück außenherum verwahrlost. Die Büsche auf dem schmalen Grünstreifen entlang der Straße schienen seit mehreren Jahren nicht mehr geschnitten worden zu sein. Das Gras war von der Sommerhitze ausgedorrt. Davor stapelten sich kaputte Paletten. Martin Groß parkte neben einem weißen Passat, auf dem das Logo der Druckerei prangte.

Sie stiegen aus und gingen zu einer blauen Metalltür. Abgesperrt. Von einer Klingel war weit und breit nichts zu sehen. Als sie jedoch an der Längsseite des Gebäudes entlangliefen, kamen sie zu einer roten Tür mit Glaseinsatz. Daneben war ein Firmenschild angebracht, und ein Klingelknopf.

Der Mann, der ihnen öffnete, war mittelgroß, mittelschwer und hatte kurze, dunkelblonde Haare. Alles in allem niemand, an den man sich erinnerte, wenn er einem auf der Straße begegnete. Dazu passten auch die abgenutzten Jeans und das karierte, kurzärmelige Hemd.

»Herr Oertel?«, fragte Hackenholt.

»Ja?«

»Kriminalpolizei. Wir haben eigentlich erwartet, Sie zu Hause anzutreffen.«

»Ja ... ähm ... ich habe unterwegs einen Anruf erhalten, dass es ein Problem gibt. Also bin ich hierhergefahren.«

»Können wir kurz mit Ihnen sprechen?«

»Sicher, kommen Sie herein.« Er führte sie in sein Büro. »Eine furchtbare Sache. Ich kann es gar nicht glauben. Paul hat seit über dreißig Jahren für unsere Druckerei gearbeitet. Zuerst für meinen Schwiegervater und seit ich die Firma vor acht Jahren übernommen habe für mich. Er ist mit uns durch dick und dünn gegangen. Ich weiß gar nicht, wie wir ohne ihn auskommen sollen.«

»Können Sie uns Herrn Rubineks nächste Angehörige nennen?« Martin Groß holte sein Notizbuch hervor.

»Ja, natürlich. Ich habe schon alles für Sie vorbereitet.« Tobias Oertel reichte ihm ein Blatt Papier. »Paul war geschieden. Aber das liegt so lange zurück, dass ich es nur aus seiner Personalakte weiß. Sein Vater ist vor fünf Jahren gestorben. Kurz darauf kam seine Mutter ins Heim, und er zog in das Haus im Wacholderweg. Dort sind er und seine Schwester Carmen aufgewachsen. Es gab erbitterten Streit, weil sie nach der Trennung von ihrem Mann ebenfalls dort einziehen wollte. Aber Carmen konnte Paul nicht ausbezahlen, er sie hingegen schon. Seither waren sich die beiden spinnefeind.«

»Wenn Herr Rubinek seit vielen Jahren geschieden war, gab es dann eine neue Frau in seinem Leben?«

»Nein. Paul war sich selbst Gesellschaft genug. Früher ist er gerne verreist. Das werden Sie sicher bemerkt haben. Die Masken und Skulpturen sind alle Mitbringsel aus Afrika. Seit er allerdings mit Asthmaanfällen zu kämpfen hatte, traute er sich wegen der mangelnden medizinischen Versorgung nicht mehr in Dritte-Welt-Länder. Die Krankheit hat ihn enorm eingeschränkt. Deshalb hatte ich ja Angst, es könnte etwas passiert sein.«

»Wären Sie so freundlich, uns Herrn Rubineks Arbeitsplatz zu zeigen?«, bat Hackenholt.

»Selbstverständlich.« Tobias Oertel erhob sich und führte die Beamten in ein Büro schräg gegenüber.

Martin Groß setzte sich an den Schreibtisch, öffnete die oberste Schublade und durchstöberte ihren Inhalt. Hackenholt griff unterdessen nach einem Terminkalender. Dabei stieß er versehentlich gegen die Computermaus, und sofort erschien eine Excel-Tabelle auf dem Bildschirm. Überrascht starrte er auf die Zahlenkolonnen. Dann wanderte sein Blick zu seinem Kollegen. Auch er runzelte die Stirn.

»Waren Sie an Herrn Rubineks Computer?«, fragte Hackenholt.

»Ähm ...« Herr Oertel räusperte sich. »Das ist so: Ich habe heute Mittag Unterlagen für den Steuerberater gebraucht, deshalb habe ich in Pauls Computer ...« Seine Stimme verlor sich, als Martin Groß mit der Maus rasch einige Klicks ausführte.

»Heute Mittag, ja?« Er stieß ein empörtes Schnauben aus, bevor er laut vorlas: »Zuletzt vom Benutzer geändert um achtzehn Uhr fünf.«

»Es ist nicht so, wie Sie denken«, sagte Oertel schnell.

»Jetzt bin ich aber gespannt.« Groß lehnte sich im Bürostuhl zurück und sah ihn herausfordernd an.

»Ich wollte nur ...« Wieder hielt Oertel inne.

»... diverse Dokumente löschen«, vollendete Groß den Satz.

»Herr Oertel, wenn es etwas gibt, das wir wissen sollten, wäre jetzt der ideale Zeitpunkt, es uns zu sagen«, riet ihm Hackenholt ernst.

»Ich will nicht, dass ein Unbefugter unsere Firmendaten sieht.«

»Warum diese Geheimniskrämerei?«

»Wir stehen im Moment nicht sonderlich gut da«, rang sich Oertel schließlich ab.

Nachdem die Beamten Rubineks Firmencomputer und die im Schreibtisch aufbewahrten Datenträger im Dienstwagen verstaut hatten, kehrten sie in den Wacholderweg zurück. Die Leiche war zwischenzeitlich abtransportiert worden, doch die Kriminaltechniker waren nach wie vor fleißig bei der Arbeit.

»Mir ist etwas aufgefallen«, sagte Mur.

Hackenholt sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Ich weiß, es klingt wie in einem schlechten Krimi: Oben im Schlafzimmer steckt ein Laptopkabel in der Steckdose – aber von dem Gerät fehlt jede Spur.«

»Du meinst, der Täter hat ihn mitgenommen?«

»Richtig.«

»Ich werde nie verstehen, warum jemand einen Computer stiehlt, das Kabel jedoch zurücklässt«, stöhnte Groß. »Wie schaut’s mit seinem Handy aus? Ist das ebenfalls weg?«

»Nein, das lag im Auto.« Mur hielt ihm einen Asservatenbeutel entgegen. Auf Hackenholts fragenden Blick erklärte sie: »Ich habe den Laptop gesucht. Er hätte im Auto liegen können.«

»Was ist mit Fingerabdrücken auf dem Handy?«

»Stammen alle vom Toten.«

Groß drückte auf dem iPhone herum. »Mist, er hat es mit einem PIN-Code gesichert. Wir brauchen jemanden von der Technik, um es zu knacken.«

»Falls wir es überhaupt entsperren können«, warnte Mur. »Die neuen Smartphones sind viel heikler als die alten Dinger.«

»Hoffen wir das Beste«, brummte Hackenholt. Ein Blick auf die Uhr. »Wir müssen leider weiter. Lagebesprechung morgen früh um halb acht in der Dienststelle?«

»Und was ist mit der Obduktion? Maurice erwartet dich pünktlich um sieben.«

Hackenholt verzog das Gesicht. Als er sich zum Gehen wandte, fiel ihm noch etwas ein. »Die Kollegen vom Dauerdienst wollten doch die Nachbarn abklappern. Weißt du, was dabei herausgekommen ist?«

»Den schriftlichen Bericht bekommst du morgen. Aber ich soll dir schon mal ausrichten, dass im fraglichen Zeitraum niemandem etwas aufgefallen ist. Kein fremdes Fahrzeug, keine unbekannten Personen, keine lauten Stimmen.«

Die Tagesschau hatte gerade begonnen, als es an Carmen Lichts Tür klingelte. Sie ging zur Gegensprechanlage und fragte, wer dort sei.

»Kriminalpolizei. Frau Licht, wir müssen mit Ihnen reden.«

»Zweiter Stock.«

Erst nachdem sie den Türöffner betätigt hatte, wurde ihr bewusst, wie unwahrscheinlich es war, dass Polizeibeamte sie um diese Uhrzeit aufsuchten. Rasch eilte sie ins Treppenhaus und läutete bei ihrem Nachbarn. Er musste zu Hause sein. Sie hatte ihn vor einer Weile auf dem Balkon stehen und eine Zigarette rauchen sehen. Warum machte er nicht auf? Sie klingelte Sturm. Das Knarren der Stufen wurde lauter. Sie stand kurz davor, sich in ihre Wohnung zurückzuziehen, als er endlich öffnete.

»Hast du einen Moment Zeit?«, rief sie atemlos. »Angeblich will mich jemand von der Polizei sprechen. Aber jetzt habe ich Zweifel.«

»Kein Problem.« Er stellte sich breitbeinig in den Flur und musterte die Männer, die die Treppe heraufkamen.

Hackenholt blickte verwundert zwischen der Frau und dem jungen Mann hin und her. Dann zog er seinen Dienstausweis aus der Tasche und stellte sich und Martin Groß vor.

»Worum geht es denn?« Carmen Licht inspizierte misstrauisch den Ausweis.

»Um Ihren Bruder.«

Sofort wurde ihr Gesichtsausdruck hart. »Was will er?«

»Können wir hineingehen? Das ist keine Angelegenheit, die man im Treppenhaus besprechen sollte.«

»Ich wüsste nicht, warum.«

»Frau Licht, wir haben leider sehr schlechte Nachrichten für Sie. Ihr Bruder wurde heute Nachmittag tot in seinem Haus aufgefunden.«

Nun trat die Frau doch zur Seite und ließ die beiden Ermittler herein. Sie bedankte sich bei ihrem Nachbarn, dann schloss sie die Tür. »Kommen Sie ins Wohnzimmer.« Sie wirkte eher überrascht als traurig. »Was ist passiert?«

»Im Augenblick können wir Ihnen nicht viel sagen. Wir haben unsere Ermittlungen gerade erst aufgenommen. Vorbehaltlich des Ergebnisses der Obduktion gehen wir derzeit davon aus, dass er durch äußere Gewalteinwirkung zu Tode kam.« Hackenholt hielt kurz inne. »Wahrscheinlich wurde er erstochen.«

»Paul wurde ermordet?« Sie klang, als könne sie es nicht glauben.

»Sein Arbeitgeber hat uns mitgeteilt, dass Sie seine nächste Angehörige sind. Ist das richtig?«

Carmen Licht nickte.

»Er hatte keine Kinder?«

»Nein. Aber unsere Mutter lebt noch. Ich werde es ihr sagen.« Geistesabwesend sah sie auf die Uhr. »Ich weiß nur nicht, ob sie im Altersheim so spät Besuch empfangen darf.«

»Gönnen Sie ihr eine letzte ruhige Nacht und informieren Sie sie erst morgen früh«, riet Hackenholt.

»Ja, Sie haben recht.« Frau Licht unternahm einen sichtbaren Versuch, sich zu sammeln. »Gibt es etwas, das ich sofort tun muss?«

»Nein«, antwortete Hackenholt. »Das geht erst einmal alles seinen Gang. Wir haben allerdings Fragen an Sie.«

»Was wollen Sie denn wissen?«

»Wann hatten Sie zuletzt Kontakt mit Ihrem Bruder?«

»Vor fünf Jahren.« Sie machte eine kurze Pause. »Als unser Vater starb, mussten wir unsere Mutter ins Heim geben. Sie konnte nicht allein zu Hause bleiben. Das Haus stand leer. Und bevor ich wusste, wie mir geschah, riss Paul es sich unter den Nagel. Tja, was soll ich sagen ...? Die Sache landete vor Gericht, es kam zum Zerwürfnis. Das war das Ende des Kontakts.«

»Sie sind Ihrem Bruder seither nicht einmal bei Ihrer Mutter begegnet?«

»Nein. Wir hatten unterschiedliche Zeiten und gingen uns so auch dort aus dem Weg.«

»Sie hat kein einziges Mal gefragt, wer ihren Bruder getötet hat«, meinte Martin Groß nachdenklich, als Hackenholt und er zum Dienstwagen zurückgingen.

»Stimmt.«

»Ist das nicht das Erste, was man wissen möchte?«

»Sollte man meinen, nicht wahr? Aber es gibt Menschen, die von Todesnachrichten zunächst so schockiert sind, dass sie nicht logisch handeln. Da sie über Jahre zerstritten waren, interessiert es sie unter Umständen auch einfach gar nicht. Sie scheint ihn vor langer Zeit aus ihrem Leben gestrichen zu haben.« Hackenholt reichte Groß den Autoschlüssel. »Lass uns ins Kommissariat fahren. Mehr können wir heute Abend nicht tun. Übernimmst du morgen früh die Abfragen bei der Bank und den Telefonanbietern, während ich der Obduktion beiwohne?«

»Natürlich.«

Ein Schlüssel wurde ins Türschloss gesteckt. Sophie sah auf die Uhr. Es war kurz vor zweiundzwanzig Uhr. Derart spät war Hackenholt schon lange nicht mehr aus der Arbeit nach Hause gekommen.

»Was ist passiert?«, bestürmte sie ihn daher, sobald er ins Wohnzimmer trat.

»In der Werderau gab es einen Toten. Hat dir Christine nichts gesagt, als ihr Eis essen wart?«

»Doch. Aber es klang nicht so, als ob sich der Kommissariatsleiter höchstpersönlich den Abend am Tatort um die Ohren schlagen müsste. Wohnt dort Nürnbergs fünfter Bürgermeister oder sonst jemand vermeintlich Wichtiges?«

»Nein, das Opfer war ein ganz normaler Bürger dieser Stadt.«

»Und warum kümmert sich nicht wer auch immer Bereitschaft hat darum?«

»Unsere Personaldecke ist gerade recht dünn. Außerdem: Gönn mir die kleine Abwechslung. Wenn ich gar nicht mehr aus dem Büro komme, werde ich zu einem Bürokraten erster Güte.« Dann lenkte er eilig auf ein anderes Thema über. »Wie war dein Tag?«

»Ich war bei Herrn Heerweger«, murmelte sie.

»Wieso hast du mich nicht angerufen und mir gesagt, dass du ins Präsidium kommst?«

»Ich wollte es so schnell wie möglich hinter mich bringen.«

»Aber danach hättest du doch bei mir vorbeischauen können.«

»Da wollte ich einfach nur nach Hause. Ich verstehe wirklich nicht, wie du es Tag für Tag in dieser tristen Siebziger-Jahre-Abrissbirnen-Charme-Atmosphäre aushältst.«

»Das lass mal den Chef nicht hören.« Hackenholt musste lachen. »Matthias Heerweger ist aber ganz in Ordnung, oder?«

»Na jaa«, antwortete Sophie gedehnt. »Du weißt doch, ich steh nicht so auf Polizeibeamte im Dienst.«

»Darüber sollte ich vermutlich froh sein.« Er gab ihr einen Kuss und griff nach der Zeitung.

»Denkst du, ich kann Frau Jost im Krankenhaus besuchen?«, fragte Sophie unvermittelt.

»Wen?«

»Die Frau, die die Paketbombe erhalten hat. Sie heißt Bianca Jost.«

»Stimmt. Simon Engel hat den Namen heute Morgen erwähnt. Warum möchtest du das tun? Du kennst sie doch gar nicht.«

»Sie hat so nett mit Ronja gespielt, während wir in der Post warten mussten.«

»Schatz, die Frau ist schwer verletzt, die hat jetzt ganz andere Probleme.«

»Eben«, flüsterte Sophie. Mit einem Mal hatte sie wieder Tränen in den Augen. »Sie tut mir unendlich leid. Stell dir mal vor: Du öffnest ein Paket und im nächsten Moment fliegt es dir um die Ohren, weil irgendein Irrer eine Bombe reingepackt hat.«

»Ja, das ist entsetzlich. Allerdings ist bislang nicht klar, wer das getan hat – und weshalb.«

Sophie schwieg eine Weile, dann fragte sie bedächtig: »Was genau willst du damit sagen?«

»Ich kenne den aktuellen Stand der Ermittlungen nicht. Aber ich glaube nicht so recht daran, dass dort draußen jemand herumläuft, der unbescholtenen Bürgerinnen einfach so Paketbomben schickt. Normalerweise verbindet man damit eine Botschaft. Entweder will man eine Ideologie oder eine Religion unterstützen und versucht, den Gegner an einem neuralgischen Punkt zu treffen. Das tut man aber in der Öffentlichkeit kund und verschweigt es nicht. Ein Bekennerschreiben haben wir jedoch nicht erhalten. Das legt den Schluss nahe, dass jemand der Frau gezielt einen Schrecken einjagen oder sie vielleicht sogar töten wollte.«

»Denkst du, sie könnte noch eine Bombe geschickt bekommen?«

Mittwoch

Hackenholt, Dr. Puellens Assistent und der Landgerichtsarzt standen im gekachelten Vorraum und sahen sich ratlos an. Es war sieben Uhr dreißig, die Obduktion hätte vor einer halben Stunde beginnen sollen – aber von Maurice Puellen fehlte jede Spur.

»Das ist in all den Jahren, in denen ich hier arbeite, noch nie vorgekommen.« Der Assistent wirkte verstört. »Hoffentlich ist nichts passiert.«

»Er wird eben langsam älter und kommt nicht mehr so gut aus dem Bett.« Der Landgerichtsarzt war deutlich gelassener als die anderen beiden Männer. »Das geht mir manchmal genauso.«

Darauf wusste niemand eine Antwort. Drückendes Schweigen legte sich über den Raum. Schließlich hielt es Hackenholt nicht mehr aus. Er zückte sein Handy und rief Christine Mur an. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er direkt zu ihrer Mailbox weitergeleitet wurde. War die Kollegin schon jemals nicht mobil erreichbar gewesen?

Hochgradig beunruhigt wählte er ihre Durchwahl im Präsidium. Es klingelte und klingelte. Er wollte gerade wieder auflegen, als sie sich endlich meldete. Seine Erleichterung schlug augenblicklich in Irritation um.

»Christine, was ist los?«, herrschte er sie an.

»Was soll denn sein?« Mur klang ehrlich erstaunt.

»Wo ist Maurice? Wir warten seit einer halben Stunde auf ihn. Und warum ist dein Handy ausgeschaltet? Ich dachte, euch ist etwas zugestoßen.«

»Weshalb sollte uns etwas passiert sein?«

»Maurice hat noch nie verschlafen. Da liegt der Gedanke doch nahe, dass etwas nicht stimmt.«

»Für sein Kommen und Gehen ist Monsieur ganz allein verantwortlich.« Murs spitzer Tonfall ließ Hackenholt aufhorchen.

»Was ist los? Habt ihr schon wieder gestritten?«

»Ich sage nur: Lilli«, kam die kryptische Antwort.

»Wer ist das?«

»Die neue Liebe seines Lebens.«

»Was?« Hackenholt fühlte sich, als hätte es ihm die Luft aus der Lunge gepresst. »Heißt das, ihr habt euch getrennt?«

Mur nuschelte etwas Unverständliches. Hackenholts Puls beschleunigte sich. Die Kollegin stand anscheinend kurz davor loszuheulen. Sofort machte er sich Vorwürfe, weil er nicht mitbekommen hatte, dass zwei seiner engsten Freunde in einer Beziehungskrise steckten. Außer dem knappen Wortgefecht gestern hatte er nichts bemerkt. Gar nichts. Wie hatte es bloß so weit kommen können? Puellen schien doch so glücklich zu sein, wenn er ihn zusammen mit Mur erlebte. Natürlich lieferten sich die beiden den einen oder anderen verbalen Schlagabtausch, aber so war Christine Mur nun mal. Hatte bei Puellen eine verspätete Midlife-Crisis zugeschlagen?

»Ich bin immer für dich da. Lass es mich wissen, wenn du jemanden zum Reden brauchst«, murmelte Hackenholt mitfühlend ins Telefon.

»Ist schon gut. Ich habe ja meine sieben Sinne beisammen. Falls einer Hilfe benötigt, dann Monsieur! Das ist das zweite Mal in einer Woche, dass er seine Arbeit wegen Lilli vernachlässigt.«

In dem Moment wurde die Tür zum Vorraum aufgestoßen.

»Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie ich mich fühle. Zehn Jahre jünger. Ach, was sage ich: zwanzig Jahre.« Maurice Puellen kam hereingepoltert – ganz augenscheinlich war er bester Laune.

»Wir reden nachher weiter«, entschuldigte sich Hackenholt und hoffte, Mur möge Puellens Worte nicht gehört haben. Aber am anderen Ende der Leitung herrschte Stille. Die Beamtin hatte sang- und klanglos aufgelegt.

Fünf Minuten später trat Dr. Puellen aus der Umkleide, bereit, sein Tagewerk zu beginnen.

»Dann wollen wir mal.« Er strahlte in die Runde.

Hackenholt musste den Kopf senken, damit niemand sah, wie konsterniert er war. Warum hatte Mur ihm nichts von ihren Beziehungsproblemen erzählt? Oder Puellen. Er war schließlich mit beiden befreundet.

Immer wieder wanderte sein Blick zu dem kleinen, stämmigen Mann. Täuschte er sich oder hatte der heute weniger graue Haare? Hackenholt trat unauffällig näher und tat, als interessiere er sich für ein Präparat, musterte den Freund dabei jedoch gründlich. Er hatte sich tatsächlich die Haare gefärbt. Und noch etwas fiel Hackenholt auf: Er benutzte ein anderes Aftershave. Ein ziemlich wohlriechendes, wie er zugeben musste. Plötzlich sah Puellen auf.

»Alles gut bei Sophie und Ronja?«

Hackenholt zuckte zusammen und fühlte sich ertappt. »Ja, natürlich«, antwortete er rasch und drehte sich weg.

»Christine hat erzählt, deine zwei Lieben waren in der Postfiliale, als die Paketbombe hochging?«

Hackenholt nickte kurz angebunden. Immerhin schienen Puellen und Mur noch miteinander zu reden. Andererseits konnte sie ihm das gestern gesagt haben, als sie in Rubineks Haus aufeinandergetroffen waren.

Fieberhaft überlegte Hackenholt, wie er das Gespräch auf seine Kollegin lenken konnte. Aber ihm fiel nichts ein, was die anderen nicht hätte hellhörig werden lassen. Daher blieb ihm nichts übrig, als auf das Ende der Obduktion zu warten. Dann heftete er sich an Puellens Fersen und folgte ihm in den Waschraum. Gerade als er einen Vorstoß wagen und ihn darüber aushorchen wollte, wo er Lilli kennengelernt hatte, kam jedoch der Landgerichtsarzt herein.

»Ist noch was, Herr Hackenholt?«, erkundigte er sich überrascht, während er begann, sich ausgiebig Hände und Arme zu waschen.

»Ich ähm ... ja, ich wollte Maurice noch etwas fragen.«

»Fire away, wie der Amerikaner so schön sagt.« Puellen lächelte Hackenholt im Spiegel aufmunternd zu.

»Es ist etwas Privates«, murmelte der Ermittler und fühlte zu seinem Entsetzen, wie ihm heiße Röte den Hals hinaufstieg, weil ihm auf die Schnelle keine passende Ausrede einfiel.

»Ich werde Schweigen wie ein Grab«, versicherte der Landgerichtsarzt. »Und wenn es sich um eine medizinische Angelegenheit handelt, kann ich vielleicht sogar helfen. Klappt’s womöglich nicht mehr so recht mit Ihrer Frau?«

»Nein. Wie kommen Sie denn darauf?«, empörte sich Hackenholt.

»Sie erwecken in letzter Zeit den Eindruck, als sei Ihnen ein wenig der Schwung abhandengekommen. Findest du nicht auch, Maurice?«

Puellen machte ein betroffenes Gesicht. »Aber Frank, du hättest mir doch sagen können, wenn du in dem Punkt Sorgen hast. Du weißt, mit mir kannst du ganz offen sprechen. Mir ist nichts Menschliches fremd. Außerdem habe ich dir ein paar Jährchen voraus und kenne mich daher bestens mit den Veränderungen des männlichen Körpers aus. Deshalb: keine falsche Scheu! Oder liegt es an Sophie? Ist sie quasi das Problem? Das passiert manchmal, wenn Frauen zu sehr in ihrer Mutterrolle aufgehen und dabei völlig vergessen, dass der Partner ebenfalls gewisse Bedürfnisse hat, die befriedigt werden wollen.«

»Nein!«, rief Hackenholt entsetzt. »Zwischen Sophie und mir läuft alles wunderbar.«

»Ich habe schon verstanden: Sie möchten ungestört sein. Ich bin dann mal weg. Ist ja auch wirklich ein heikles Thema.« Der Landgerichtsarzt warf Puellen einen bedeutungsvollen Blick zu.

»Aber ...« Hackenholt fehlten die Worte.

»Also, Frank, wo drückt der Schuh?«, wandte sich Puellen in äußerst verständnisvollem Ton an ihn, sobald die Tür hinter dem Landgerichtsarzt zugefallen war.

»Maurice, du hast mich –« Weiter kam er nicht, da in dem Moment der Assistent den Raum betrat.

»Chef, wo bleibst du denn? Die Studenten warten.«

Hackenholt seufzte, und Puellen schnitt eine bedauernde Grimasse.

»Lass uns mal ein Glas Wein trinken gehen«, schlug er rasch vor. »Dann können wir in aller Ruhe über dein Problem reden.« Mit einem aufmunternden Schulterklopfen rauschte er aus dem Waschraum.

Um kurz nach zehn Uhr trafen sich die Beamten schließlich zur Lagebesprechung. In dem Raum war es unerträglich heiß. Hackenholt wischte sich den Schweiß von der Stirn, bevor er mit knappen Worten das Obduktionsergebnis zusammenfasste: Das Opfer war an dem Stich in den Hals verstorben. Die drei anderen Stiche in den Rücken hatten die Lunge verletzt und hätten jeder für sich ebenfalls zum Tod geführt – allerdings langsamer und qualvoller. Anhand der Stichkanäle ließ sich sagen, dass Paul Rubinek stand, als ihm die Halswunde beigebracht wurde, und am Boden lag, während weiter auf ihn eingestochen wurde. Schlussendlich war er innerhalb weniger Minuten verblutet.

»Der Zeitpunkt des Todes liegt zwischen zwanzig Uhr und Mitternacht«, beendete Hackenholt seinen Bericht.

»Was wissen wir über die Tatwaffe?«, erkundigte sich Stellfeldt, der ebenfalls Schweiß auf der Stirn hatte.

»Höchstwahrscheinlich ein Messer mit einer zweischneidigen, rund vierzehn Zentimeter langen Klinge. Ich nehme an, ihr habt nichts dergleichen gefunden?«

Mur schüttelte den Kopf. Hackenholt lächelte sie freundlich an, aber sie wich seinem Blick aus. Danach stellte Martin Groß das Ergebnis der gestrigen Ermittlungen vor.

»Ihr meint also, es war weder ein Einbruch noch eine Beziehungstat im engeren Sinn?«, hakte Stellfeldt nach.

»Eigenen Angaben zufolge hatte die Schwester des Opfers seit Jahren keinen Kontakt mehr zu Rubinek«, unterstrich Hackenholt noch einmal. »Geschieden ist er seit fast zwei Jahrzehnten. Eine neue Frau gibt es angeblich nicht.«

»Andererseits muss es jemand gewesen sein, den er gekannt hat, denn er hat den Täter arglos ins Haus gelassen«, warf Groß ein.

»Außerdem wurde bloß der Laptop mitgenommen«, pflichtete Mur ihm bei. »Bargeld, Uhren, Wertgegenstände: Alles noch da.«

»Was könnte er auf dem Computer gespeichert haben, das einen Mord rechtfertigt?«, wunderte sich Stellfeldt.

»Ich fürchte, darin liegt der Schlüssel zu dem Fall«, antwortete Hackenholt und wischte sich erneut den Schweiß ab. In dem Zimmer wurde es von Minute zu Minute heißer. Aber es hätte auch nichts genutzt, ein Fenster zu öffnen. Die Außentemperaturen waren noch höher.

»Vielleicht finden wir es heraus, wenn wir seine Freunde und Kollegen vernehmen«, meinte Groß.

»Kollegen ist ein gutes Stichwort«, meldete sich Mur erneut zu Wort. »In seiner Aktentasche habe ich Fotos entdeckt. Vom Fotografen.«

Alle Blicke richteten sich auf Hackenholt, als sie ihm ein DIN A6 großes, graues Papieretui reichte.

»Passbilder«, stellte Groß fest und sah Mur ratlos an. »Hat er einen neuen Ausweis gebraucht?«

»Schau dir die Aufnahmen noch mal genau an.«

Groß beugte sich erneut zu Hackenholt.

»Für einen Reisepass oder Personalausweis müssten es biometrische Fotos sein«, half der ihm auf die Sprünge.

»Das sind Bewerbungsfotos«, stellte Mur klar. »Ihr wart doch gestern bei seinem Chef. Hat der angedeutet, dass sich Paul Rubinek beruflich verändern wollte?«

»Mit keiner Silbe«, empörte sich Groß. »Er hat vielmehr betont, wie lange Herr Rubinek schon im Unternehmen tätig war. Angeblich weiß er gar nicht, wie er ohne ihn zurechtkommen soll. Allerdings hat der Kerl was zu verbergen: Anstatt sich – wie angekündigt – nach Hause zu begeben, ist er schnurstracks in die Druckerei gefahren und hat Dateien von Rubineks Computer gelöscht.«

»Meinst du wirklich, ein Geschäftsführer bringt seinen Angestellten um, weil er ihn daran hindern will, bei einem anderen Betrieb anzuheuern? Der Punkt ist doch: Wenn er woanders hingeht, ist er weg. Und wenn er tot ist, kann er auch nicht mehr für die Firma arbeiten. Das wäre also ziemlich kontraproduktiv, falls man weiterhin auf seine Dienste zurückgreifen möchte«, erklärte Mur spitzzüngig.

»Buchhalter sind im Bereich Finanzen absolut im Bilde, wie es um die Firma steht, und können deshalb leicht zu unliebsamen Mitwissern werden«, unterstrich Stellfeldt.

»Wir brauchen jemanden, der sich schnellstmöglich die Unterlagen der Druckerei anschaut«, beschied Hackenholt.

»Ich besorge uns einen Experten aus dem Fachkommissariat«, versprach Stellfeldt. »Wie machen wir weiter?«

»Hast du die Bankdaten und Verbindungsnachweise für die Telefonanschlüsse angefordert?« Hackenholt sah Groß fragend an.

»Ja, aber sie wurden noch nicht gemailt.«

»Dann überprüfe einstweilen den Nummernspeicher des Festnetztelefons. Wir müssen in Erfahrung bringen, mit wem Paul Rubinek befreundet war. Mich interessieren vor allem die Männer, die ihn immer wieder abends besucht haben und von denen uns die Nachbarin erzählt hat. Manfred, du nimmst dir eine Handvoll Leute und klapperst in einem größeren Radius die Anwohner in den umliegenden Straßen ab. Die Kollegen vom Dauerdienst haben gestern nur in der unmittelbaren Nachbarschaft herumgefragt, ob jemandem am Tatabend etwas Verdächtiges aufgefallen ist. Mir geht es aber auch darum, wie oft Herr Rubinek Besuch bekam und von wem. Wir benötigen ein umfassendes Bild von seinen Gewohnheiten.« Hackenholt hielt kurz inne. »Ich fahre zu dem Fotografen. Vielleicht hat er während des Shootings gefragt, wofür Herr Rubinek die Aufnahmen gebraucht hat. Falls er in seinem Alter und trotz der langen Firmenzugehörigkeit tatsächlich wechseln wollte, muss ein triftiger Grund vorgelegen haben. Daraus könnte sich ein Motiv ergeben.«

Leo Schieleins Fotostudio war in der Schweinauer Hauptstraße. Hackenholt ergatterte einen Parkplatz in einer Seitenstraße und bemerkte, dass er sich ganz in der Nähe der Druckerei Holzschuh befand. Hatte Paul Rubinek den Fotografen deshalb ausgewählt?

Eine Türglocke schlug an. Linker Hand gab es eine Sitzecke mit einem Tisch, auf dem eine aufgeschlagene Mustermappe lag. Der rechte Teil des Raumes wurde von einem dicken Samtvorhang abgetrennt. Dahinter rief jemand: »Einen Moment bitte.«