Tödliche Kristalle - Stefanie Mohr - E-Book

Tödliche Kristalle E-Book

Stefanie Mohr

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Beschreibung

Vom Grund der Pegnitz wird eine Wasserleiche geborgen. Niemand scheint den Toten zu vermissen. Als das Team um Kriminalhauptkommissar Frank Hackenholt schließlich den entscheidenden Hinweis zur Identität des Opfers erhält, stellen die Beamten überrascht fest, dass dessen Wohnung leergeräumt ist – doch im Keller finden sie Fotoalben, die von einem ungewöhnlichen Leben zeugen. Dann geht im Annapark ein Koffer in Flammen auf, und ein Mensch verbrennt bis zur Unkenntlichkeit. Der Wettlauf gegen die Zeit hat begonnen. Denn die Täter setzen alles daran, sämtliche Spuren hinter sich für immer auszulöschen.

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Seitenzahl: 422

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Tödliche Kristalle

Stefanie Mohr

Tödliche Kristalle

– Hackenholts siebter Fall –

von

Stefanie Mohr

KINDLE EDITION

Stefanie Mohr, geboren 1972, liebt ihre Heimatstadt Nürnberg, in der sie (fast) jeden Winkel kennt. Sie wohnt und arbeitet als freiberufliche Autorin und Fotografin im Nürnberger Norden. Nähere Informationen: www.stefanie-mohr.com

In dieser Reihe bereits erschienen: »Die vergessenen Schwestern«, »Das letzte Lächeln«, »Die dunkle Seite des Sommers«, »Frauentormauer«, »Glasscherbenviertel«, »Reichskleinodien« und »Tödliche Kristalle«.

Vom Grund der Pegnitz wird eine Wasserleiche geborgen. Niemand scheint den Toten zu vermissen. Als das Team um Kriminalhauptkommissar Frank Hackenholt schließlich den entscheidenden Hinweis zur Identität des Opfers erhält, stellen die Beamten überrascht fest, dass dessen Wohnung leergeräumt ist – doch im Keller finden sie Fotoalben, die von einem ungewöhnlichen Leben zeugen. Dann geht im Annapark ein Koffer in Flammen auf, und ein Mensch verbrennt bis zur Unkenntlichkeit. Der Wettlauf gegen die Zeit hat begonnen. Denn die Täter setzen alles daran, sämtliche Spuren hinter sich für immer auszulöschen ...

+++WICHTIG:+++

Die Übersetzung der fränkischen Passagen befinden sich im Anhang und sind im Text mit Fußnoten gekennzeichnet. Klickt man auf die Ziffer, gelangt man direkt zur Übersetzung, klickt man dort erneut auf die Ziffer, gelangt man zurück an die Textstelle.

Copyright © Stefanie Mohr, 2014. 

All Rights Reserved - Alle Rechte vorbehalten

Umschlagfoto und -gestaltung: Stefanie Mohr

Verlag: Edition Gelbes Sofa, Inh. Stefanie Mohr, Nordring 125, 90409 Nürnberg

ISBN: 978-3-9816768-6-0

Originalausgabe

Für

Susanne Wengrzik & Dr. Petra Kirsch

I have not broken your heart – you have broken it;

and in breaking it, you have broken mine.

Emily Brontë, »Wuthering Heights«

Montag

Lautes Krachen hallte durch den Flur. Eine Wand zitterte. Irgendetwas musste dagegengeknallt sein. Hackenholt zuckte zusammen und riss alarmiert den Kopf hoch. Wünnenberg, der ihm gegenübersaß, lauschte ebenfalls. Gedämpfte Rufe. Unverständliche Worte. Glas klirrte. Sekundenbruchteile später knallte eine Tür. Schnelle Schritte im Flur.

Plötzlich schrie jemand laut und deutlich: »Stehen bleiben!«

Die beiden Beamten sprangen von ihren Stühlen auf. Mit wenigen Schritten waren sie an der Tür und spähten vorsichtig hinaus. Einige Meter von ihnen entfernt stürmte ein großer, korpulenter Afrikaner den Gang entlang in Richtung des hinteren Treppenhauses. Er trug einen weißen Schutzanzug. So einen, wie ihn die Kollegen von der Spurensicherung benutzten. Die Füße steckten in blauen Plastiküberziehern.

Komisch, dass er damit rennen kann, ging es Hackenholt durch den Kopf. Wünnenberg sprang zur Tür hinaus, hastete dem Flüchtenden hinterher. Im selben Moment betraten zwei Personen am entgegengesetzten Ende den langen Flur. Saskia Baumann und ein neuer Kollege.

»Stehen bleiben!«, brüllte der Beamte, der schon einmal gerufen hatte.

»Festhalten!«, rief Wünnenberg in Baumanns Richtung.

Sofort musste Hackenholt an die Szene damals auf dem Parkplatz denken, als bei einer Personenkontrolle auf die junge, schmale Beamtin geschossen worden war. Sie hatte auch jetzt keine Chance gegen den Koloss von einem Mann. Er würde sie überrennen und verletzen, wenn sie sich ihm in den Weg stellte. Doch Hackenholt kam nicht mehr dazu, sie zu warnen, denn einen Wimpernschlag später griff der neue Kollege, der frisch vom SEK zu ihnen gewechselt war, den Mann an.

Obwohl der Dunkelhäutige anderthalb Köpfe größer war, über dreißig Kilo mehr auf die Waage brachte und zwanzig Jahre weniger auf dem Buckel hatte, trat ihm der ehemalige Zugriffsbeamte mit einem gekonnten Taekwondo-Sprung hart gegen die Brust. Der Körper des Afrikaners hatte das ausgetretene Linoleum kaum berührt, da war der Beamte schon über ihm, drehte ihn auf den Bauch, drückte ihm ein Knie auf den Kopf und das andere zwischen die Schulterblätter.

Der große Mann stöhnte, aber er wagte es nicht, sich zu rühren. Baumann griff nach seinen Handgelenken und ließ die Handschellen einrasten. Alles hatte nur Sekundenbruchteile gedauert. Die beiden Polizisten wirkten wie ein eingespieltes Team, das solche Situationen regelmäßig bewältigte.

Erst jetzt lösten sich die anderen aus ihrer Starre.

»Was ist passiert?«, fragte Hackenholt seinen Kollegen von der zweiten Mordkommission, während sie zu viert den Afrikaner auf die Füße zerrten.

»In der Lagebesprechung heute Morgen habe ich doch von einem Mann berichtet, der in der Nacht in seiner Wohnung niedergestochen und lebensgefährlich verletzt wurde.«

Hackenholt nickte.

»Wie sich vorhin herausgestellt hat, haben Kollegen von der PI Mitte zur selben Zeit einen Besoffenen entdeckt, der nackt durch die Innenstadt torkelte. Das war der Afrikaner. Zum Glück haben sie ihn zum Ausnüchtern mit in die Zelle genommen. Unsere bisherigen Ermittlungen legen nahe, dass er der Täter ist.«

»Was habt ihr gegen ihn in der Hand?«

»Zeugenaussagen und Fingerabdrücke am Tatort. Außerdem gibt es Klamotten in der Wohnung, die von ihm stammen sollen.«

»Habt ihr die Tatwaffe gefunden?«

»Ein Zeuge will gesehen haben, wie er etwas in die Pegnitz warf. Wir haben die Taucher von der Bereitschaftspolizei angefordert. Sie suchen die Flusssohle ab.«

»Keine schöne Arbeit bei dem Wetter. Hatten wir schon jemals einen derart kalten und verregneten September?«

»Besser jetzt als im Januar.« Damit drehte sich der Kollege um und ging hinter dem Beschuldigten zurück in das Zimmer, aus dem dieser geflohen war.

1»Wåhnsinn, wäi der Maddin den umghaud hodd, gell?« Baumann stand neben Wünnenberg und wartete darauf, dass der Kaffee durchlief. »Vo den kenner mer nu ersu einiches lerner.«

»Na, wohl eher er von uns«, murmelte Wünnenberg. »Der hat in seinen zwanzig Jahren beim SEK doch alles verlernt, sofern er überhaupt einmal gewusst hat, wie man ordentliche Ermittlungen durchführt.«

Plötzlich stand der Leiter der zweiten Mordkommission in der Tür. »Frank?«

Hackenholt blickte auf.

»Meine Kollegin hat gerade angerufen: Die Taucher haben in der Pegnitz offenbar ein bisschen mehr zutage gefördert als erwartet.« Er verzog das Gesicht. »Ein Toter in einem Sack. Könnt ihr den übernehmen? Der hat mit Sicherheit nichts mit der Messerstecherei zu tun.«

»Wo genau sind die Taucher?«

»Beim Nägeleinsplatz.«

»Bitte, wo?«

»Wenn du durch den Eingang Schlotfegergasse aus dem Präsidium rausgehst, dann runter zum Unschlittplatz. Links hinter der Maxbrücke ist der Nägeleinsplatz.«

»Also gegenüber vom Weinstadel?«, fragte Hackenholt unsicher.

Der Kollege nickte.

»Habt ihr die Staatsanwaltschaft informiert?«

»Nein. Die Bergung läuft noch – das scheint nicht ganz so einfach zu sein.«

Während Wünnenberg den Dienstwagen langsam über das holperige Kopfsteinpflaster des Unschlittplatzes steuerte, sah Hackenholt, dass die Maxbrücke für Verkehr und Schaulustige gesperrt worden war. Ein Streifenwagen blockierte die Fahrbahn, ließ sie jedoch passieren. Zügig überquerte Wünnenberg die Brücke entgegen der Einbahnregelung. Auf dem schmalen Grünstreifen, der sich entlang der Pegnitz von der Brücke bis zum Wehr erstreckte, hatten die Einsatzkräfte eine kleine Wagenburg gebaut, um ihre Arbeit vor neugierigen Blicken zu schützen.

Nachdem die Kriminaler ausgestiegen und an den Sichtbarrieren vorübergegangen waren, sahen sie als Erstes mehrere Biertische, auf denen Kisten mit diversen Ausrüstungsgegenständen lagen. Sie nickten einem Taucher zu, der gerade mit einer Pressluftflasche hantierte, und gingen weiter in Richtung Pegnitz. Kurz vor dem Nägeleinswehr trafen sie auf Christine Mur von der Spurensicherung, die sich mit einer Kollegin unterhielt.

»Gut, dass ihr da seid«, begrüßte Mur die Neuankömmlinge. Sie hatte den Jackenkragen hochgestellt, doch der bot wenig Schutz gegen den feinen Sprühregen. »Im Augenblick warten wir auf die Feuerwehr. Ohne schweres Gerät können wir die Leiche an dieser Stelle nicht bergen.«

»Ich habe die Staatsanwaltschaft informiert. Wie schaut es mit einem Arzt aus? Habt ihr jemanden von der Rechtsmedizin angefordert?«, fragte Hackenholt.

»Dr. Puellen ist schon unterwegs«, erklärte die Beamtin von der anderen Mordkommission. »Wenn ihr die Sache ab jetzt übernehmt, kümmere ich mich wieder um die Suche nach dem Messer.«

»Tu das.« Dann wandte er sich an Mur. »Was haben die Taucher gesagt?«

»Eine Leiche in einem Sack. Ein Jutesack. Wahrscheinlich beschwert, denn er liegt auf dem Grund im Schlamm. Wird ein ziemlich ekliger Anblick.«

»Können die Taucher das alles trotz ihren dicken Handschuhen ertasten?«

»Sie können unter Wasser rund einen halben Meter weit sehen. Kaum zu glauben bei der trüben Brühe, was? Offenbar hat sich die Wasserqualität verbessert.«

»Nein. Die Wasserqualität war nie so schlecht, wie Sie glauben«, sagte plötzlich eine freundliche Stimme hinter ihnen. »Außerdem kommt es auf den Untergrund und die Wassertiefe an.«

Überrascht drehten sich die drei Beamten um.

»Mein Name ist Vieweger, ich komme vom Wasserwirtschaftsamt. Eine Frau Mur hat bei uns angerufen.«

»Na, das ging ja flott. Danke, dass Sie so kurzfristig Zeit für uns haben.«

Schlussendlich sollte es noch gut zwei Stunden dauern, bis der Leichnam mithilfe einer Seilwinde geborgen werden konnte. Als schließlich die Plane, mit der die Bahre abgedeckt worden war, zurückgeschlagen wurde, sah man im ersten Moment nicht viel von dem Toten. Kopf und Rumpf steckten in einem Sack. Darauf saßen mehrere veritable Käfer, deren Rücken olivfarben schimmerten. Hackenholt verzog angewidert das Gesicht.

Vieweger streckte enthusiastisch den Zeigefinger aus. »Was Sie hier sehen, ist eine große Seltenheit. So viele Gelbrandkäfer habe ich noch nie an einer Stelle angetroffen. Der Rekord lag bislang bei sechs Stück – auf einem toten Reh. Sie heißen so, weil Halsschild und Flügeldecken gelb umrandet sind. Die Käfer ernähren sich von Kaulquappen, kleinen Fischen oder Aas.«

Hackenholt war sich nicht sicher, ob er die Begeisterung des Spezialisten teilen wollte.

»Der Körper muss schon eine Weile im Wasser gelegen haben.«

»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Hackenholt.

»Wie Sie sehen können, haftet der Hose an manchen Stellen ein grünlicher Schimmer an. Algen. Wasserpflanzen gibt es in dieser Tiefe jedoch kaum noch, und durch die schrägstehende Sonne im Herbst nimmt das Algenwachstum rapide ab. Da dauert es eine Weile, bis eine Hose so aussehen kann.«

»Wie lange?«

»Keine Ahnung.« Der Mitarbeiter des Wasserwirtschaftsamts zuckte mit den Schultern. »Das müsste ich anhand diverser Daten überprüfen.«

Nachdem ein Beamter Fotos gefertigt hatte, begannen Dr. Puellen und Christine Mur vorsichtig, den Sack zu öffnen.

Die Leiche war stark aufgedunsen, und die Oberhaut hatte sich an einzelnen Stellen schon zu lösen begonnen. Aber immerhin waren die sonst üblichen Treibverletzungen an Kopf und Händen ausgeblieben; man konnte erkennen, dass es sich bei dem Toten um einen Mann handelte.

Er war knapp einen Meter neunzig groß und sehr schlank. Die etwas zu langen Haare waren blond, der Vollbart eine Nuance dunkler. Das Alter ließ sich nur schwer schätzen: zwischen vierzig und sechzig.

»Zumindest haben ihn die Aale und Ratten in Ruhe gelassen«, murmelte Vieweger.

Behutsam löste Mur den Gurt des Rucksacks, der immer noch über der Brust der Leiche festgezurrt war, dann kappte sie mit einem Messer die beiden Trageriemen und zog den Rucksack unter dem Körper hervor. Neugierig ging Hackenholt neben ihr in die Hocke und öffnete den Reißverschluss. Das Innere war randvoll mit nassem Sand. Murs Waage zeigte achtzehn Komma drei Kilo.

»Dann wissen wir jetzt auch, warum die Leiche auf der Flusssohle lag und keine Verletzungen aufweist: Die Fäulnis hat noch nicht so viele Gase freigesetzt, dass sie das Gewicht des Sands ausgeglichen hätte. Aber das wäre schon noch gekommen«, erklärte Puellen. »Wenn sie weit genug fortgeschritten ist, dann hält in einem so verhältnismäßig flachen Gewässer kein Gewicht den Körper für immer am Grund.«

»Bei Ihren Berechnungen müssen Sie bedenken, dass die Wassertemperatur im Augenblick nur ungefähr zehn Grad beträgt«, merkte Vieweger an.

»Wie tief ist die Pegnitz an der Stelle?«, wollte Hackenholt wissen.

»Direkt am Nägeleinswehr sind es knappe zwei Meter. Hier, ein Stück oberhalb, dürften es etwas mehr sein.«

»Die Obduktion muss noch heute stattfinden – schaffen wir das?«, wandte sich der Hauptkommissar an Puellen.

»Selbstverständlich. Wenn wir dem Gerichtsmediziner gleich Bescheid sagen, können wir in zwei Stunden loslegen. Je früher desto besser. Wasserleichen beginnen extrem schnell zu faulen und sich zu verändern, sobald man sie an die Luft geholt hat.«

»Denkst du, du kannst von ihm noch brauchbare Fingerabdrücke nehmen?« Hackenholt sah Mur fragend an.

»Das werde ich sofort versuchen.« Sie zog einen ungefähr vierzehn Zentimeter langen, mattierten Edelstahlhalter aus einem ihrer Koffer, der einem Miniaturschuhlöffel glich, und an dessen Ende man den Teststreifen für die Fingerabdrücke einlegte. Er ersetzte die Abrollbewegung, die lebende Personen bei der Sicherung ihres Fingerabdrucks von Nagelkante zu Nagelkante machen mussten.

»Sollte sich schon zu viel Oberhaut von der Lederhaut gelöst haben, können wir die Finger nachher separieren und in eine Formaldehyd-Alkohol-Lösung einlegen. Nach achtundvierzig Stunden kann man dann die gereinigten Fingerkuppen mit Silikonkautschuk abformen«, hob Dr. Puellen hilfreich hervor.

»Bevor wir ihm die Finger abschneiden, versuchen wir es erst noch mit Klebestreifen«, blaffte Mur ihn an.

Plötzlich hatte Hackenholt eine Vision, wie sich die privaten Gespräche der beiden anhören mochten, wenn kein Kollege in der Nähe war. Grinsend wandte er sich ab. Er dankte dem Mitarbeiter vom Wasserwirtschaftsamt und notierte sich dessen Telefonnummer für weitere Rückfragen.

Knapp zwei Stunden später trafen sich die Ermittler im Obduktionssaal am Westfriedhof wieder.

»Die Fotos, die ihr zum Herumzeigen braucht, habt ihr alle im Kasten?«, fragte Dr. Puellen in die Runde.

»Natürlich«, knurrte Mur. »Jetzt wären wir ein bisschen zu spät dran, meinst du nicht?« Sie nickte zu dem Leichnam, der sich in der kurzen Zeit bereits stark verfärbt hatte.

»Gibt es schon etwas Neues hinsichtlich der Fingerabdrücke?«, ging Hackenholt schnell dazwischen. Obduktionen waren per se anstrengend genug – auch ohne dass sich zwei der Teilnehmer gegenseitig die Augen auskratzten.

»Eine Kollegin gleicht sie gerade mit der Datenbank vom LKA ab. Bis ich losgefahren bin, gab es keinen Treffer.«

»Dann müssen wir wohl eins der Fotos mittels Bildbearbeitung so präsentabel machen, dass man es an die Öffentlichkeit herausgeben kann.«

»Heißt das, du bist die Vermisstenmeldungen schon alle durchgegangen?«

»Nur die lokalen. Ralph kümmert sich um die Liste beim BKA. Aber nachdem –« Das Kreischen einer Säge übertönte sekundenlang alle Worte und zwang Hackenholt zum Schweigen. »Aber nachdem der Tote schon länger in der Pegnitz gelegen und ihn offenbar niemand vermisst hat, wird es wohl auf eine Öffentlichkeitsfahndung hinauslaufen. Du musst den Medienrummel bedenken, der über uns hereingebrochen ist: Heute Morgen waren mindestens vier Fotografen da, die die Taucher bei der Suche nach dem Messer ablichten wollten. Von dem Team vom Franken Fernsehen mal ganz zu schweigen. Wir müssen spätestens morgen Vormittag eine Pressekonferenz abhalten. Es wäre sehr hilfreich, wenn wir bis dahin ein Foto präsentieren könnten. Möglichst eins, auf dem der Tote nicht allzu tot aussieht. Du weißt doch, wie die Leute –« Ein metallenes Klirren ließ Hackenholt innehalten und sich zu dem Rechtsmediziner umdrehen.

»War das ein Projektil?«

Dr. Puellen nickte und deutete auf eine kleine Metallschale, in der bereits zwei stark verformte Bleiklumpen lagen. »Das kommt davon, wenn man lieber mit seiner Kollegin schwatzt, anstatt sich die Röntgenbilder anzusehen, Herr Hauptkommissar.«

Hackenholt ignorierte die milde Zurechtweisung. »Er ist also erschossen worden?«

»Er hatte keinen Schaumpilz in der Luftröhre, keine Paltauf-Flecken unter dem Brustfell, kein Emphysema aquosum, kein septales Ödem, keine Zerreißungshöhlen, keine hydropische Zellschwellung, kei–«

»Was genau erzählst du mir da eigentlich?«, unterbrach Hackenholt, der kein Wort des medizinischen Kauderwelschs verstanden hatte.

»Die Gründe, weshalb ich zu dem Schluss komme, dass der Mann bereits tot war, als er ins Wasser geworfen wurde. Einen Ertrinkungstod schließe ich aus.«

»Und die Projektile? Wo waren die?«

»Eins in der Schulter und eins im Oberschenkel«, sagte Puellen.

»Und eins in der Leber«, ergänzte der Gerichtsmediziner, der an einem separaten Tisch das entnommene Organ bearbeitete. »Das hier war die Todesursache.«

Hackenholt ging zu ihm hinüber und besah sich das Präparat.

»Kannst du etwas darüber sagen, seit wann er tot ist, Maurice?«, fragte Mur. »Oder gibt es Anzeichen dafür, dass er vorher irgendwo gelegen hat, bevor er in der Pegnitz versenkt wurde?«

»Du meinst, ob zum Beispiel Schmeißfliegen Eier auf dem Körper abgelegt haben?«

»Ja.«

»Wenn das der Fall gewesen wäre, wurden sie weggespült, bevor die Maden geschlüpft sind. Ich habe keine entsprechenden Fraßspuren gefunden. Und nachdem die erste Besiedlungswelle an einem Leichnam bereits wenige Minuten bis Stunden nach Todeseintritt erfolgt, kann er nicht signifikant lange irgendwo gelegen haben.«

»Wie lang war er im Wasser?«

»Das einzugrenzen wird ziemlich schwer werden. In einem Körper, der sich vollständig unter Wasser befindet, läuft der Fäulnisprozess wesentlich langsamer ab als an der Luft. Es kommt maßgeblich auf die Wassertemperatur an. Im Winter zum Beispiel passiert monatelang nichts.«

»Was hat der Mann vom Wasserwirtschaftsamt gesagt?«, wandte sich Hackenholt an Mur.

»Ich habe die Temperatur selbst gemessen!« Sie musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen, die deutlich sagten, dass sie etwas derart Wichtiges nie vergessen würde. »Sie betrug elf Grad am Grund.«

»Daneben kommt es auch auf den Bakteriengehalt des Gewässers an«, dozierte Dr. Puellen ungerührt weiter. »Zur genauen Bestimmung müssen wir einen Fachmann hinzuziehen. Er muss Wasseranalysen erstellen, um seine Berechnungen vornehmen zu können. Was ich allerdings jetzt schon grob sagen möchte, ist: Aufgrund der Ausbildung der Waschhaut und des Fäulnisgrads muss die Leiche länger als drei Tage im Wasser gelegen haben. Gleichzeitig ist es aber noch zu keiner Fettwachsbildung gekommen, die setzt üblicherweise nach einigen Wochen ein. Ein weiteres Indiz: Nach drei bis sechs Wochen kann man an Händen und Füßen die Oberhaut mit Nägeln handschuh- beziehungsweise sockenartig von der Lederhaut abziehen. Das ist hier ebenfalls noch nicht der Fall. Und die Kopfhaare lassen sich auch nicht sehr leicht ausreißen. Andererseits beginnt beim Aufenthalt im Wasser nach einigen Tagen ein Algenbewuchs. Den haben wir sehr wohl festgestellt. Alles in allem, würde ich sagen, er lag zwischen einer und drei Wochen in der Pegnitz.«

»Vor drei Wochen hatten wir Hochsommerwetter. Sicher war das Wasser in der Zeit wesentlich wärmer«, widersprach Mur.

»Wir müssen uns vom Wasserwirtschaftsamt die Temperaturen geben lassen.« Puellen schürzte die Lippen. »Vielleicht waren es nur ein bis zwei Wochen.«

Als Hackenholt um kurz vor sechs ins Kommissariat zurückkehrte, saß Wünnenberg nach wie vor an seinem Computer.

»Hast du eine Vermisstenmeldung gefunden, die auf unseren Toten passt?«

»Nein. Ich bin sämtliche Einträge der letzten acht Wochen durchgegangen.«

»Dann hör auf. Selbst wenn der Mann nicht sofort nach seinem Verschwinden getötet wurde, ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass er zuvor zwei Monate lang durchs Land gereist ist, ohne vermisst zu werden.«

»Was kam bei der Obduktion heraus?«

In möglichst knappen Worten fasste Hackenholt die Fakten zusammen. »Nachdem die Leiche nicht abgetrieben wurde, müssen wir morgen die Anwohnerschaft abklappern und fragen, ob sie im Zeitraum zwischen Mitte August und Anfang September etwas Auffälliges bemerkt haben.«

»Na, da werden wir sicher ganz großes Glück haben!«, meinte Wünnenberg sarkastisch. »Mitten in der Urlaubszeit – und von den Studenten, die im Weinstadel wohnen, war mit Sicherheit auch keiner da, weil alle in den Semesterferien sind.«

»Die Innenstadt ist ein belebter Ort, irgendjemand muss etwas gesehen haben.«

»Hast du mal überlegt, warum der Täter solch ein enormes Risiko eingegangen ist?«

»Er hat wahrscheinlich eine Waffe mit Schalldämpfer verwendet.«

»Aber das passt doch alles hinten und vorne nicht zusammen! Jemand, der einen Schalldämpfer verwendet, verpackt sein Opfer anschließend nicht in einen Sack, und er wirft es auch nicht in die Pegnitz.«

»Apropos Tatwerkzeug: Was ist mit dem Messer, das die Taucher ursprünglich suchen sollten?«

»Keine Ahnung, darum habe ich mich nicht gekümmert.« Wünnenberg zuckte mit den Schultern. »Was wissen wir über die Kleidung unseres Toten?«

»Jeans und Hemd waren von Wrangler, Unterziehshirt und Unterhose von Schiesser, Socken unbekannt, Schuhe von Timberland und der Rucksack von Jack Wolfskin.«

»Also Massenware, die uns nicht weiterhilft.«

Hackenholt nickte. »Mehr hatte er nicht bei sich: Keine Uhr, keinen Ring, keine Halskette, keinen Geldbeutel, kein Handy. Nichts.«

»Wenn du das so sagst, klingt es fast nach einem Raubüberfall.«

»Ein Räuber mit einer schallgedämpften Waffe?«

»Siehst du, genau das sage ich doch: Nichts passt zusammen!«

»Ich glaube, da wollte jemand, dass man das Opfer in erster Linie nicht so schnell findet und es anschließend nicht identifizieren kann. Deswegen gehen wir gleich morgen an die Presse und geben ein Bild von ihm heraus. Das Wichtigste ist erst einmal herauszubekommen, wer der Mann war. Alles Weitere sehen wir danach.«

Hackenholt war hundemüde, als er am Abend nach Hause kam. Am liebsten hätte er die Schuhe ausgezogen und sich auf direktem Weg zu seinem Sofa begeben, um ein kleines Nickerchen zu halten. Doch Sophie erwartete ihn schon ungeduldig. Sie drückte ihm Ronja in die Arme und verschwand anschließend hastig in Richtung Küche, um sich den Vorbereitungen für das Abendessen zu widmen.

Hackenholt nahm seine kleine Tochter mit ins Wohnzimmer, setzte sich aufs Sofa und legte sie auf seine ausgestreckten Beine. Dann hielt er ihren Stoffhasen mit dem Knickohr über sie und begann, ihr von seinem Tag in der Arbeit zu erzählen. Augenblicklich streckte sie ihre kurzen Arme nach dem Stofftier aus und versuchte, es mit ihren winzigen Fingerchen zu greifen. Hackenholt war immer wieder verwundert, wie rund ihre Bewegungen schon waren – verglichen mit den ruckartigen Arm- und Beinbewegungen eines Neugeborenen.

Nach einer Weile hob er Ronja hoch. Sie guckte ihn direkt an. Plötzlich verzog sie das Gesicht. Aber nicht wie sie es sonst tat, bevor sie zu schreien anfing, stattdessen verformten sich ihre Mundwinkel zu einem unglaublich breiten, zahnlosen Grinsen.

Sie erkennt mich!, dachte er. Und alles andere war ihm in dem Augenblick egal. Er merkte nicht, wie ein langer Speichelfaden von ihrem Mundwinkel auf sein Kinn tropfte und sich ihre kleinen, aber deshalb nicht minder scharfkantigen Fingernägel in seine Nase krallten. Solange sie ihn anlachte, stand die Zeit still. Unendliche Freude durchströmte Hackenholt. Schließlich stand er auf und ging in die Küche.

»Stell dir vor, sie hat mich gerade eben richtig angelacht!«

Sophie drehte sich zu ihm um. Aus ihren Augen blitzte der Schalk. »Freu dich, so lange sie es tut – in ein paar Jahren wird sie uns auslachen.«

»Bis dahin gibt es aber noch jede Menge zu entdecken«, murmelte Hackenholt, während Ronja ihm über die Schulter schaute und fasziniert die bunten Tassen auf dem Regal bestaunte. »Ich habe heute übrigens auch etwas Neues entdeckt: den Nägeleinsplatz.«

»Was hast du denn dort gemacht?«

»Kurz vor dem Wehr haben Taucher einen Toten in der Pegnitz gefunden.«

»Heißt das, du bist in nächster Zeit wieder rund um die Uhr im Dienst?«

»Ich versuche, es nicht zu überteiben, okay?«

Anstatt darauf hinzuweisen, dass ihm das bislang noch nie gelungen sei, sagte Sophie: »Ein historisch hochinteressanter Ort. Ich habe neulich erst einen Artikel dazu übersetzt. Weißt du, warum der Platz so heißt?«

»Nein.«

»Die Nägeleinsmühle wurde im 15. Jahrhundert vom Rat der Stadt Nürnberg ungefähr hundertfünfzig Meter westlich der Trödelmarktinsel am Nordufer der Pegnitz gebaut, um die Versorgung der Bevölkerung mit Mehl zu gewährleisten. Genau gegenüber lag die Dürrenmühle. Nägelein war früher übrigens ein anderes Wort für Gewürznelken – wegen ihrer nagelähnlichen Form.« Sophie strich sich nachdenklich die Haare aus dem Gesicht. »Warte mal schnell, ich hab den Artikel noch nicht abgeheftet.« Sie verschwand in Richtung Arbeitszimmer. Wenige Augenblicke später kehrte sie mit einem Blatt Papier zurück, überflog den Text und fasste für Hackenholt die wichtigsten Fakten zusammen: »Die Nägeleinsmühle betrieb zwölf Mühlräder: acht Getreideräder, ein Schleifrad für die Ahlenschmiede, ein Polierrad und ein Walkrad für die Weißgerber. Im 17. Jahrhundert wurde dann noch die Sägemühle angefügt. Und Ende des 18. Jahrhunderts kam für die Münze noch ein Streckwerk für Silber hinzu.«

»Was ist mit den Mühlen passiert?«

»Sie wurden immer wieder durch Brände zerstört. Auch die Nägeleinsmühle ist mehrfach abgebrannt. Am schlimmsten war das Feuer vom 17. Juni 1851: Dem ist nämlich nicht nur die Mühle selbst zum Opfer gefallen, sondern auch der Wasserturm des im Haus Nägeleinsplatz 5 betriebenen Wasserwerks und acht weitere Häuser der Gasse. 1852 hat man dann einen steinernen Wasserturm gebaut – und der hat den nächsten Brand vierundzwanzig Jahre später fast unbeschadet überlebt.« Sophie machte eine kurze Pause. »Schlussendlich wurde die Mühle dann 1943 bei einem Luftangriff zerstört.« Damit drückte sie ihm den Artikel in die Hand und wandte sich wieder dem Herd zu.

Dienstag

Sowohl die Nürnberger Nachrichten als auch die Nürnberger Zeitung hatten im Regionalteil ein Foto der Leichenbergung abgedruckt. Auf dem einen sah man die Taucher und die Einsatzkräfte der Feuerwehr in einem Schlauchboot, während sie mit vereinten Kräften die abgedeckte Bahre an den Seilen des Bergungskrans befestigten. Das andere Foto zeigte die Bahre, als sie auf halber Höhe zwischen Fluss und Brücke schwebte.

Hackenholt fragte sich, wo der Fotograf gestanden haben könnte, um derartige Bilder zu schießen. Die Beamten hatten das Gelände doch weiträumig abgesperrt. Immerhin hielten sich die Journalisten mit Spekulationen zurück. Es wurde lediglich berichtet, wie es zu dem Leichenfund gekommen war und dass man den Leser auf dem Laufenden halten werde. Anschließend folgte die Geschichte über das gesuchte – und gefundene – Messer.

Gerade als Hackenholt die Zeitung zur Seite legte, kam Christine Mur in sein Büro. In der Hand hielt sie zwei Ausdrucke. Das erste Foto zeigte den unbekannten Toten, wie er tatsächlich ausgesehen hatte. Auf dem zweiten hingegen waren seine Haare frisiert, die Hautverletzungen retuschiert und das vom Wasser aufgedunsene Gesicht war schmaler gemacht worden.

»Ein Hoch auf die Technik. Danke schön, Christine. Jetzt müssen wir nur noch hoffen, dass ihn jemand erkennt.«

»Ich wollte heute noch einmal zum Nägeleinsplatz fahren. Neben dem kleinen Häuschen am Wehr habe ich gestern einen Sandhaufen gesehen. Von dem will ich eine Probe nehmen. Und wer weiß, vielleicht gibt es in der Nähe noch eine weitere Sandquelle.«

»Das ist eine gut Idee, wenn du dich dort ein bisschen umschaust.« Hackenholt erinnerte sich an sein gestriges Gespräch mit Wünnenberg. »Hast du mal darüber nachgedacht, wie der Tathergang abgelaufen sein könnte?«

»Ich habe nichts anderes getan. Aber ich komme immer wieder an ein totes Ende.«

»Inwiefern?«

»Niemand geht irgendwohin, ohne etwas bei sich zu haben. Man steckt immer zumindest einen Schlüssel oder einen Geldbeutel ein. Die Taschen unseres Toten waren leer. Natürlich könnten die Sachen beim Sturz ins Wasser herausgefallen sein. Das halte ich allerdings für ziemlich unwahrscheinlich. Es spricht also vieles für einen Raub. Dem steht entgegen, dass der Mann erschossen wurde. Das ist atypisch. Warum sollte ein Räuber sein Opfer töten? Weil es ihn erkannt hat? Oder war es ein kaltblütiger Mord? Aber dafür würde man einen weniger öffentlichen Ort wählen.« Gedankenverloren nagte sie an ihrer Unterlippe. »Und wie passt der Rucksack ins Bild? Der Täter wollte die Leiche loswerden und zwar so, dass man sie nicht so schnell findet. Deshalb hat er sie mit dem Rucksack beschwert. Aber woher stammte der? Hatte ihn der Täter bereits fertig präpariert bei sich? Warum hat er dann Sand und keine Steine genommen? Oder trug ihn das Opfer? Wo ist dann der ursprüngliche Inhalt?«

»Denkst du, der Täter hatte wirklich die Nerven, sein Opfer niederzuschießen, ihm den Rucksack abzunehmen, auszuleeren und anschließend nach geeignetem Füllmaterial zu suchen?«

»Das passt alles nicht zusammen – und das macht mir Sorgen. Das andere ist: Wo hat er die Leiche in die Pegnitz geworfen? Wenn die Strömung die Lage nicht verändert hat, müsste er es von der Maxbrücke aus getan haben. Vom Ufer könnte niemand einen Körper so weit werfen. Er lag ja fast in der Flussmitte. Ich habe das die halbe Nacht mit Maurice diskutiert.«

»So romantisch geht es bei euch im Schlafzimmer zu, Schnurzelchen?« Wünnenberg kam ins Zimmer und grinste Mur breit an. Die Beamtin wurde tief rot, hielt sich aber entgegen ihrer sonstigen Gepflogenheiten mit einer bösen Antwort zurück.

»Ich bin dann mal beim Sand buddeln«, murmelte sie stattdessen und wandte sich eilig zum Gehen.

»Für den Stadtstrand bist du ein bisschen spät dran. Der wurde schon Mitte Juli abgebaut – und außerdem ist der auf der Insel Schütt«, rief Wünnenberg ihr hinterher.

Hackenholt warf ihm einen warnenden Blick zu. »Übertreib es nicht.«

»Ach, das muss sie aushalten, wenn sie langfristig mit unserem Leichenfledderer zusammenbleiben will«, feixte Wünnenberg und griff nach der Kaffeekanne, um frisches Wasser zu holen.

2»Morng«, gähnte Baumann. »Is des der Moo aus der Bengerdz?« Sie deutete auf das bearbeitete Foto, das Mur auf Hackenholts Schreibtisch liegengelassen hatte.

»Die geschönte Version.« Hackenholt schob das obere Bild zur Seite. »Und das ist die Realität.«

3»Ned ganz a su ådli.« Baumann zog die Nase kraus. »Hosd du scho Kobien gmachd?«

»Nein. Christine hat die Fotos gerade eben erst gebracht. Kannst du das bitte übernehmen?«

Bevor Baumann antworten konnte, trat Hans-Jürgen Dorschner, der Kommissariatsleiter, ins Büro. »Hast du einen Augenblick Zeit, Frank?«

»Ich bin gerade auf dem Weg zur Pressekonferenz. Danach?«

Dorschner sah auf seine Armbanduhr. »Sagen wir elf dreißig?«

»Das sollte zu schaffen sein.«

Hackenholt ließ seine Augen über die besetzten Stuhlreihen schweifen. Für seinen Geschmack waren viel zu viele Journalisten anwesend. Wäre es nach ihm gegangen, hätte es lediglich eine schriftliche Pressemitteilung mit der Bitte um Veröffentlichung des Fotos gegeben. Aber dafür hatte der spektakuläre Leichenfund zu hohe Wellen geschlagen.

Zumindest sah man am fehlenden polizeilichen Aufgebot, dass das Treffen allein der Presse wegen durchgeführt wurde. Weder hatte sich die Staatsanwaltschaft noch einer von Hackenholts Chefs zu einem persönlichen Erscheinen bemüßigt gefühlt.

Hackenholt ging zum Podium und nahm neben der Pressesprecherin Platz. Nachdem die Journalisten ihre in Diktafone verwandelten Handys auf dem Tisch vor den beiden Beamten platziert hatten, eröffnete die Kollegin das Treffen mit einer freundlichen Begrüßung. Dann leitete sie auf den gestrigen Tag über, auf die Suche nach dem Messer. Schließlich übernahm Hackenholt das Wort. Er schilderte den Leichenfund und das bisherige Vorgehen der Kripo.

Während er sprach, konzentrierte er sich darauf, möglichst entspannt in die Kameras zu blicken, da er in der Zeitung immer wieder Bilder von Kollegen zu sehen bekam, auf denen die Beamten wie Zombies wirkten: mit gefletschten Zähnen, das Weiß des Augapfels hervorstechend, und mit einer Mimik, als wolle der Kriminaler sich jeden Moment auf seine Zuhörer stürzen, um sie zu zerfleischen.

Auf einmal nahm Hackenholt aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr, die ihn erschrocken den Kopf herumreißen ließ. Ein junger, rothaariger Mann, den er noch nie zuvor in der Pressemeute gesehen hatte, war mit seiner Kamera auf einen Stuhl gestiegen, dessen hölzerne Sitzfläche ein gefährliches Knacken von sich gab. Er knipste nun im Stehen von oben herab. Hackenholt versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was er sagen wollte; es gelang ihm nur schlecht. Immer wieder bemerkte er am Rande seines Gesichtsfelds die Verrenkungen des Fotografen.

Plötzlich ertönte ein: »Wenn Sie vielleicht beim Sprechen auch mal hierher schauen könnten?«

Hackenholt sah direkt zu dem Mann hoch. Ein Blitz flammte auf. Hackenholt fühlte sich für Sekundenbruchteile geblendet. Automatisch kniff er die Augen zusammen und holte Luft. Bevor er etwas sagen konnte, ergriff die Pressesprecherin das Wort.

»Entschuldigen Sie bitte, aber es ist bei uns nicht üblich, auf die Stühle zu steigen. Wenn Sie sich vielleicht ein Vorbild an Ihren Kollegen nehmen könnten?«

»Deswegen sehen deren Fotos immer so langweilig aus. Neue Blickwinkel, das ist mein Motto. Schließlich muss man dem Zeitungsleser heutzutage etwas bieten. Stichwort: Eventfotografie.«

»Dafür würde ich Ihnen einen Besuch im Tiergarten nahelegen«, antwortete die Pressesprecherin trocken, wofür sie einiges Gelächter von den anwesenden Journalisten erntete. Offenbar war der Neue unter den Kollegen nicht sonderlich beliebt.

Hackenholt nahm den verlorenen Faden wieder auf. »Wir würden Sie daher bitten, dieses Foto«, er hielt das bearbeitete Bild des unbekannten Toten in die Luft, »zu veröffentlichen, zusammen mit der Frage, wer den Mann kennt. Wohnt er in der Region? Oder war er ein Tourist?« Ein Handy vor ihm begann zu klingeln. Hackenholt ignorierte es. »Der Mann trug eine hellblaue Jeans, ein weißes Unterziehshirt und ein kurzärmeliges kariertes Hemd der Marke –« Ein jäher Rums ließ ihn innehalten.

Der rothaarige Fotograf war vom Stuhl gesprungen und hatte dabei einen anderen umgerissen. Jetzt spurtete er zum Podium, griff nach dem klingelnden Handy und meldete sich mit einem knappen »Ja?«, um dann lautstark kundzutun, wo er sich befand. Hackenholt musste sich darauf konzentrieren, dass ihm seine Gesichtszüge nicht entglitten.

»Wenn Sie Ihr Gespräch bitte vor der Tür fortführen wollen?«, sagte die Pressesprecherin energisch. Der Mann zuckte mit den Schultern, packte seine Kamera ein und verließ telefonierend den Raum. Es dauerte mehrere Minuten, bis das allgemeine Gemurmel nachließ und Hackenholt fortfahren konnte.

»Wer hat im Bereich Maxbrücke in den vergangenen drei Wochen etwas Auffälliges gesehen und kann sachdienliche Hinweise geben?«, nahm er den Faden ein weiteres Mal auf. »Insbesondere würde uns interessieren, ob –«

Es klopfte an der Tür. Der Dienstgruppenleiter des Kriminaldauerdienstes steckte seinen Kopf herein. »Gehört dieser Herr zu euch?« Er wies auf den Rothaarigen, den er am Ellbogen festhielt. »Er ist nämlich gerade bei uns durch die Büros spaziert, um sich umzuschauen.«

»Jetzt ist er fällig!«, murmelte die Pressesprecherin leise.

»Wenn ich schon mal hier bin, wollte ich die Gelegenheit nutzen«, verteidigte sich der Mann.

»Hat er irgendetwas fotografiert?«, fragte Hackenholt.

Der Beamte schüttelte den Kopf.

»Dann genügt es, wenn du den Herrn bitte vor die Tür eskortierst. Danke schön.« Hackenholt hätte gerne ein paar deftigere Worte verwendet, aber er war sich der vielen, jeden Mucks aufzeichnenden Handys nur allzu bewusst.

Nachdem der offizielle Teil der Pressekonferenz vorüber war, musste Hackenholt einen Großteil des Gesagten zunächst noch einmal vor der Fernsehkamera und dann auch noch einmal für zwei Radiosender wiederholen, da deren Mitschnitte durch die ständigen Unterbrechungen unbrauchbar waren.

So kam es, dass er erst mit zwanzigminütiger Verspätung zu dem Termin bei seinem Vorgesetzten erschien.

»Ich dachte schon, du hättest mich vergessen«, begrüßte Dorschner ihn.

Hackenholt winkte ab und berichtete kurz von den Eskapaden des Pressefotografen.

Der Kommissariatsleiter schüttelte den Kopf. »Irgendwie gibt es in Nürnberg immer mehr Spinner. Ich bin wirklich froh, wenn ich in ein paar Monaten zurück in die Oberpfalz wechseln kann. Dort geht es hoffentlich noch nicht ganz so verrückt zu.«

»Steht der Termin jetzt fest?«

»Ich gehe zum 1. März. Du kannst also schon mal deine Bewerbung auf meine Stelle schreiben.« Er hielt kurz inne. »Aber das ist meines Erachtens sowieso nur noch eine Formsache. Die Chefetage wird sich in den nächsten Wochen mit dir in Verbindung setzen. Und nachdem die Mitarbeitervertretung unter der Hand schon grünes Licht signalisiert hat ...« Er ließ den Satz in der Schwebe. »Aber darüber wollte ich jetzt gar nicht mit dir sprechen, Frank.« Seine Stimme war mit einem Mal ernster geworden. »Es geht ... um die Schweinsbergers.«

Wie immer, wenn der Name der Männer, die ihn entführt hatten, unvermutet auftauchte, fühlte Hackenholt schlagartig ein Unwohlsein in sich aufsteigen. »Was ist mit ihnen?« Seine Stimme klang ein wenig atemlos. Szenarien eines Knastausbruchs schoben sich ihm vor Augen. War er wieder in Gefahr?

»Das Gericht hat einen Prozesstermin festgelegt. Mitte November geht es los.«

Hackenholt fühlte sich, als habe man ihm in den Magen geboxt.

»Ich wollte es dir persönlich sagen und dir die Ladung nicht einfach so auf den Schreibtisch legen.«

Alles, was Hackenholt zustande brachte, war ein mechanisches Nicken.

»Wenn du willst, könntest du in der Zeit Urlaub nehmen. Oder wenn es dir nicht gut geht, kannst du dich selbstverständlich auch krankschreiben lassen«, fügte er schnell hinzu.

Noch einmal nickte Hackenholt, murmelte etwas, von dem er hinterher nicht mehr hätte sagen können, was es gewesen war. Dann erhob er sich und ging wie ferngesteuert in sein Büro zurück.

Natürlich hatte er gewusst, dass irgendwann der Augenblick kommen würde, in dem er den Tätern vor Gericht gegenübertreten musste. Aber er hatte es verdrängt.

Er ließ sich schwer auf seinen Bürostuhl fallen, kippte die Lehne zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte in den grauen Himmel vor dem Fenster. Wenn wenigstens die Sonne geschienen hätte. Er fühlte ein Ziehen in der Brust. Das körperliche Unwohlsein von damals war wieder da, doch er wollte es nicht zulassen. Er wollte nicht dorthin zurück, wo er sich nach seiner Entführung befunden hatte: in einem Zustand seelischer Erschöpfung. Das konnte er Sophie und Ronja nicht antun. Am besten wäre es, auf der Stelle gegenzusteuern. Er sollte den Psychologen anrufen, den ihm die Reha-Ärztin empfohlen hatte, und einen Termin für ein Gespräch vereinbaren.

Ohne es zu wollen, schoben sich ihm Sequenzen vor Augen, die sich während seiner Entführung in sein Hirn eingebrannt hatten. Immer wieder versuchte er, sie mit solchen zu überlagern, die er sich während der Therapie antrainiert hatte. Er war so sehr in seine Gedanken versunken, dass er nicht merkte, wie die Zeit verging. Plötzlich stand Wünnenberg im Büro.

»Was ist denn mit dir los?« Er musterte ihn kritisch. »Du siehst aus, als ob dir ein Gespenst begegnet wäre. War die Pressekonferenz so schlimm?«

»Nein, da ist alles gut gelaufen.« Die Episode mit dem nervigen Fotografen hatte Hackenholt längst vergessen. »Wir haben die Informationen wie besprochen rausgegeben.« Abrupt stand er auf. »Ich mache heute früher Schluss.« Noch während er das sagte, nahm er seine Jacke vom Haken.

»Willst du denn nicht wissen, was –«

Doch Hackenholt hatte das Büro schon verlassen.

Zuhause angekommen, stellte er erleichtert fest, dass der Kinderwagen nicht vor der Tür stand. Sophie musste mit Ronja spazieren gegangen sein. Eilig lief er ins Schlafzimmer, zog Krawatte, Anzug und Hemd aus. Dann schlüpfte er in seine Joggingsachen, setzte sich ins Auto und fuhr über Buchenbühl hinaus Richtung Kalchreuth.

Kurz bevor die Straße den Forst verließ, bog er rechterhand auf einen kleinen Parkplatz ein, stellte den Wagen ab und lief los. Immer der Nase nach den Waldweg entlang Richtung Osten. Nach einer Weile gabelte sich der Pfad, Hackenholt hielt sich rechts.

Er merkte, wie er sich während des Laufens zu entspannen begann – aber es stellte sich nicht dasselbe Gefühl ein wie im Frühsommer in Bad Bocklet. Ein Teil der Beklemmung blieb. Vielleicht lag es an der fehlenden Sonne, die ihm nicht wie seinerzeit ihre Wärme und Strahlen entgegensandte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ihm die verschiedenen Therapien gutgetan hatten und er sie hier in vereinfachter Form hätte fortführen sollen. Er würde sich darum kümmern. Gleich morgen.

Mittwoch

Als Hackenholt das Kommissariat betrat, sah er Licht in seinem Büro. Er seufzte. Sicher hatte Wünnenberg am Abend vergessen, es auszuschalten. Doch plötzlich ging die Tür zum Sozialraum auf und der Kollege kam mit seiner mit Wasser gefüllten Kaffeekanne heraus.

»Was tust du denn so früh schon hier?«, fragte der Hauptkommissar perplex.

»Nachdem das Foto des Toten heute in der Zeitung ist, sollte doch wohl jemand da sein, der die Hinweise der Anrufer entgegennimmt. Du hast gestern irgendwie krank ausgesehen. Ich habe befürchtet, dir ist der Nieselregen nicht bekommen.«

»Nein, nein«, sagte Hackenholt schnell. »Mir geht es gut.« Trotzdem wandte er sich eilig ab und hängte seine Jacke auf. Obwohl er seit langem mit Wünnenberg befreundet war, konnte er ihm nicht erzählen, dass es der anstehende Gerichtstermin war, der ihm so zusetzte. Nicht bevor er mit Sophie darüber gesprochen hatte, denn auch ihr hatte er seine Sorgen verschwiegen. »Was ist gestern bei euch herausgekommen?«, fragte er und ging mit gesenktem Blick zu seinem Schreibtisch.

»Nichts. Rein gar nichts. Das war der berühmt-berüchtigte Griff ins Klo. Keiner der Anwohner hat Schüsse wahrgenommen. Einige haben grölende Betrunkene gehört, die sich lautstark gestritten haben – aber das ist in der Ecke offenbar an der Tagesordnung, und die Studenten scheinen sich auch nicht sonderlich leise zu verhalten. Andere wollen ein Feuerwerk gesehen haben – Kanonenschläge inklusive. Aber jemanden, der einen Mann ins Wasser warf, hat niemand bemerkt. Hoffentlich kommt bei der Öffentlichkeitsfahndung etwas Brauchbares heraus.«

Wünnenbergs Telefon klingelte. Er meldete sich, lauschte, dann zog er seinen Schreibblock heran. »Ich bräuchte als Erstes mal Ihren Namen ... Können Sie das bitte buchstabieren ... Aha ... Ja ... Und Sie haben den Mann in der U-Bahn gesehen? ... Wann und wo war das? ... Aha ... Ja ... Nein ... Es war absolut richtig, dass Sie sich bei uns gemeldet haben. Wenn wir noch weitere Fragen haben, werden wir uns mit Ihnen in Verbindung setzen. Danke für Ihren Anruf.« Er legte auf und sah Hackenholt an. »Wie ich es liebe! Der Herr hier will unseren Toten öfter in der U-Bahn gesehen haben.«

»Der Tote ist mit der U-Bahn gefahren? Das ist ja ganz was Neues. Wenn er das wirklich gemacht hat, wirst du noch eine ganze Reihe solcher Anrufe bekommen. Tote fallen in der U-Bahn dann doch irgendwie auf«, kommentierte Mur von der Tür. Baumann stand neben ihr und kicherte.

Wünnenberg streckte den beiden Kolleginnen die Zunge raus und wandte sich demonstrativ wieder Hackenholt zu. »In unregelmäßigen Abständen, nachmittags in der U2, Richtung Röthenbach. Wobei er an der Haltestelle Rothenburger Straße ausgestiegen ist.«

4»Hom mier er Gligg, dass däi VAG däi Ieberwachungsfideos vo derer U-Båhn ned ersuu lang aufhebbd, sunsd mäisserdn mer amend di neggsdn Dåch vuurn Bildschirm verbringer.«

»Ich glaube nicht, dass uns das weiterbringen würde. Er wird nicht gerade mit einem Schild um dem Hals herumgelaufen sein, auf dem er Name und Adresse notiert hatte«, brummte Wünnenberg.

»Was gibt es von deiner Seite Neues?«, wandte sich Hackenholt an Christine Mur. »Bist du gestern bei der Suche nach Sand fündig geworden?«

»Ja, ich habe zwei mögliche Stellen entdeckt, an denen sich der Täter bedient haben könnte. Die Proben sind schon auf dem Weg ins Labor. Daneben habe ich allerdings etwas festgestellt: Man kann einen Rucksack nicht einfach so mit bloßen Händen randvoll mit Sand füllen; man braucht eine Schaufel oder etwas Ähnliches. Außerdem ist gestern Nachmittag ein erster Befund hinsichtlich der Projektile aus dem Labor gekommen: An keinem einzigen wurde Gummiabrieb festgestellt.«

»Das heißt, der Täter hat keinen Schalldämpfer verwendet?«, fragte Hackenholt erstaunt.

»Richtig.«

»Wer weiß, ob die Kanonenschläge, die einer der Anwohner gehört haben will, wirklich zum Feuerwerk gehört haben«, mischte sich Martin Groß, der neue Kollege, ins Gespräch. Er lehnte an der Verbindungstür zu Stellfeldts Zimmer.

»Wann war das?«, fragte Hackenholt.

»Das konnte er nicht genau sagen«, antwortete Wünnenberg. »Vielleicht vor zwei Wochen, vielleicht aber auch nicht.«

»Können wir das nachprüfen? Feuerwerke müssen doch beim Ordnungsamt angemeldet werden. Kümmerst du dich darum, Martin?«

Der Kollege nickte.

»Darüber hinaus hat das Labor mitgeteilt, dass es sich bei den Geschossen um ein handelsübliches Neun-Millimeter-Kaliber handelt«, fuhr Mur fort.

Wünnenbergs Telefon klingelte erneut.

»Es wäre zu schön, wenn es etwas Ausgefallenes gewesen wäre«, sagte Hackenholt mit gesenkter Stimme, um den Kollegen nicht zu stören.

»Abwarten, vielleicht kann uns der Ballistiker trotz allem etwas Hilfreiches dazu sagen. Möglicherweise ist die Waffe schon mal in Erscheinung getreten. Ich werde heute jedenfalls noch einmal mit einem Kollegen und dessen Leichenspürhund zum Nägeleinsplatz zurückkehren. Vielleicht schnüffelt er etwas. Ansonsten müssen wir Meter für Meter absuchen. Sollte das Opfer wirklich dort erschossen worden sein, werden wir die Stelle finden.«

»Ich glaube einfach nicht, dass man mitten in der Stadt einen Menschen erschießen kann, und niemand hört es.«

»Aber wer wäre denn so dumm, jemanden weiß Gott wo zu töten und anschließend an einer derart zentralen Stelle in die Pegnitz zu werfen?«, hielt Mur dagegen.

»Wer weiß, was in einem kranken Hirn vorgeht?«

Mur erhob sich. »Wir werden sehen. Sobald ich etwas entdecke, rufe ich dich an.«

Wünnenberg legte den Telefonhörer auf. »Das war jemand, der den Mann in einem Internetcafé gesehen haben will.«

»Wo?«

»In der Rothenburger Straße.«

»Dann lass uns dort hinfahren und den Inhaber befragen. Mit etwas Glück kann er die Aussage nicht nur bestätigen, sondern kennt sogar den Namen des Toten.«

»Und wer kümmert sich ums Telefon?«

»Saskia natürlich.« Hackenholt erhob sich, um im Geschäftszimmer den Schlüssel für einen Dienstwagen zu holen.

»Hältst du das für eine gute Idee?«, fragte Wünnenberg leise.

»Da so gut wie alle Anrufer Franken sein werden, sehe ich keine Probleme. Außerdem hat sie ja Martin zur Unterstützung.«

Das Internetcafé in der Rothenburger Straße war im Erdgeschoss eines unscheinbaren Neubaus untergebracht. An den Schaufenstern aus Milchglas prangte in großen Buchstaben »Internet« und »1 € pro Std«. Hackenholt stieß die Tür auf und ging in den L-förmigen Laden hinein.

Das Erste, was er sah, war eine blaue Eistruhe. Ein Blick hinein zeigte ihm, dass Eiscreme im Moment nicht der Verkaufsschlager war. Unmittelbar hinter der Truhe befand sich ein drei Meter langer Tresen, auf dem sich Boxen mit Gummibärchen, Lollies und anderen Süßigkeiten auftürmten. Dem Mann inmitten dieser Kinderträume blieb nur ein schmaler Schlitz zum Hindurchschauen. Rechts hinter dem Tresen stand ein Kopierer, daran schlossen sich helle Holztische an, auf denen Computerbildschirme thronten. An den Trennwänden hingen Kopfhörer. Drei der anwesenden Kunden saßen auf bequem aussehenden Bürostühlen. Einer holte sich gerade einen Kaffee aus dem Automaten an der Stirnseite. Alles in allem machte der Laden einen heimeligen Eindruck.

»Kann ich Ihnen helfen?« Der junge Mann hinter dem Tresen erhob sich, um über die Süßigkeitenboxen sehen zu können.

Hackenholt zeigte seinen Dienstausweis. »Sind Sie der Inhaber?

»Ja, ich bin Francesco Montanari.«

»Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?« Er hielt ihm ein Foto der geschönten Version des Toten entgegen.

Der junge Mann mit den kurzen schwarzen Haaren streckte überrascht die Hand aus und nahm das Blatt.

»Ja«, sagte er nach einem Augenblick. »Der ist manchmal hier.« Mit einem Ruck sah er Hackenholt an. »Was hat er getan? Ist er der, den die Polizei sucht, weil er die Bäckereien überfällt?«

»Sie haben heute noch keine Zeitung gelesen, nicht wahr?«

»Das tue ich nie.« Montanari grinste. »Mein Medium ist das Internet, da erfährt man alles viel schneller.«

Oder gar nicht!, dachte Hackenholt. Denn wer behält schon die Geschehnisse vor der eigenen Haustür im Auge, wenn er die Möglichkeit hat, die absurdesten Nachrichten aus aller Welt zu konsumieren. »Der Mann ist tot. Wissen Sie, wie er hieß?«

»Nein, tut mir leid. Eigentlich weiß ich gar nichts über ihn. Er war alle ein bis zwei Wochen hier und hat immer eine Stunde gesurft. Manchmal hat er dabei einen Kaffee getrunken.«

»Wann war er zum letzten Mal bei Ihnen?«

»Das ist schon eine Weile her.« Montanari dachte nach. »Drei oder vier Wochen, würde ich sagen.«

»Wie hat er bezahlt?«

»Bar natürlich. Eine Stunde kostet doch nur einen Euro.«

»Wohnte er in der Nachbarschaft?«

»Ich weiß es beim besten Willen nicht. Ich frage die Leute nicht aus, die zum Surfen hierherkommen, und ich schaue ihnen auch nicht heimlich über die Schulter.«

Hackenholt merkte, dass er nicht mehr erfahren würde. Er bedankte sich bei dem jungen Mann und verließ den Laden.

»Weißt du, was interessant ist?«, fragte Wünnenberg auf dem Rückweg zu ihrem Dienstwagen. »Der Anrufer, der unseren Unbekannten öfter in der U-Bahn gesehen haben will, hat gesagt, er wäre stets an der Haltestelle Rothenburger Straße ausgestiegen. Und in derselben Ecke befindet sich das Internetcafé, das er besucht hat. Er wird wohl kaum aus der Innenstadt extra hierher gefahren sein.«

»Immerhin scheint es sich bei dem Toten nicht um einen Touristen zu handeln. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich früher oder später jemand melden wird, der ihn gekannt hat.«

Hackenholts Handy piepte.

»Gerade eben hat eine Frau angerufen. Sie hat gesagt, dass sie den gesuchten Mann im Jobcenter gesehen hat.« Hackenholt hörte Papierrascheln, dann redete Martin Groß weiter. »Das war am 20. August, um viertel elf. Sie hatte einen Termin bei ihrem Sachbearbeiter, einem Herrn Liedel, Raum 209. Der Mann ist vor ihr aus dem Zimmer herausgekommen, unmittelbar bevor sie aufgerufen wurde.«

»Du meinst das Arbeitsamt am Richard-Wagner-Platz, oder?«

»Nein. Ich spreche nicht von der Agentur für Arbeit, sondern vom Jobcenter West, also dem ehemaligen Sozialamt in der Nicolaistraße.«

Hackenholt notierte sich den Namen des Sachbearbeiters und die genaue Adresse der Behörde. Im Stillen fragte er sich, warum man den Dingen in Deutschland regelmäßig eine neue Bezeichnung geben musste. Warum machte man aus Sozialämtern Jobcenter und verwendete damit wieder einen Anglizismus für etwas Urdeutsches?

»Das, was wir heute machen, erinnert mich an eine Schnitzeljagd«, meinte Wünnenberg, während er den Dienstwagen in eine illegale Parklücke in der Muggenhofer Straße quetschte und eine Kelle mit der Aufschrift POLIZEI hinter die Windschutzscheibe legte.

»Wenn die Anruferin recht hat, werden wir gleich wissen, wie der Tote heißt.« Der elektrische Türöffner summte, während sich die Tür vor Hackenholt öffnete. »Zimmer 209 sollte im zweiten Stock liegen. Wollen wir die Treppe nehmen?«

Doch bevor sie den Aufgang zum Treppenhaus erreichten, rief jemand in ihrem Rücken: »Hallo? Kann ich Ihnen helfen?«

Hackenholt wandte sich um. Eine junge Frau stand hinter einer Art Tresen und musterte ihn skeptisch. »Wir möchten gern mit Herrn Liedel aus Zimmer 209 sprechen«, sagte er und legte seinen Dienstausweis vor.

»Haben Sie einen Termin?«

»Nein.«

»Das habe ich mir gedacht. Herr Liedel ist derzeit nämlich nicht im Haus.«

»Wann kommt er wieder?«

»Worum geht es denn? Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen?«, antwortete die junge Frau ausweichend.

»Um Mord!«, sagte Wünnenberg, dem das Vorzimmerdamengeplänkel auf die Nerven ging.

Die Mitarbeiterin erbleichte.

»Kennen Sie diesen Mann?«

»Ist das –?«

»Kennen Sie ihn?«, unterbrach Hackenholt sie.

»N ... nein.«

»Wann erwarten Sie Herrn Liedel zurück?«

»Er ist im Urlaub.«

»Dann möchte ich mit jemand sprechen, der sich in seiner Abwesenheit um seine Kunden kümmert. Und mit seinem Vorgesetzten.«

»Wir betreuen Klienten, keine Kunden.«

»Wie auch immer. Wo finden wir jemanden, der uns weiterhelfen kann?«

»Versuchen Sie es bei Frau Tanasescu. Zimmer 211. Sie ist Herrn Liedels Vertretung.«

Während Wünnenberg auf den Hacken kehrt machte und zum Treppenhaus ging, sah Hackenholt, wie die Empfangsdame zum Telefonhörer griff und ein paar Tasten drückte. Wahrscheinlich wollte sie ihre Kollegin warnen.

Im zweiten Stock angekommen, sah Wünnenberg kurz den langen Flur mit den vielen Türen rauf und runter, dann deutete er nach rechts. Das dritte Zimmer trug die Nummer 211. Davor stand eine Sitzgelegenheit mit drei Plastikschalen. Alle waren besetzt. Obwohl die zwei wartenden Frauen und der Mann sie mit bösen Blicken musterten und eine rote Leuchtschrift neben der Tür »Nicht Eintreten« anzeigte, klopfte Hackenholt und öffnete, noch bevor er zum Eintreten aufgefordert worden war.

»Wenn Sie –«, begann die Frau hinter dem Schreibtisch.

»Kriminalpolizei Nürnberg.« Hackenholt sprach laut und deutlich, während er seinen Ausweis hochhielt – auch wenn ihn die Sachbearbeiterin auf diese Entfernung unter keinen Umständen lesen konnte.

»Ich weiß. Sie müssen aber bitte trotzdem noch einen Augenblick draußen warten. Es wird nicht lange dauern. Sobald ich fertig bin, werde ich mich um Ihr Anliegen kümmern.« Sie hatte eine freundliche, resolute Stimme.

Hackenholt nickte und verließ das Zimmer.

»Was denkst du, wie lange so eine Beratung dauert?«, murmelte Wünnenberg leise.

»Keine Ahnung. Wollen wir mal zu Zimmer 209 schauen?«

Wünnenberg nickte. Auf einem Schild stand außer der Zimmernummer nur Liedels Name. Nach einem energischen Klopfen drückte der Ermittler die Klinke hinunter, aber die Tür war verschlossen.

»Offenbar sind das alles Einzelzimmer.«

»Worum geht es denn?«, fragte Silke Tanasescu, sobald sie die Tür hinter sich geschlossen und den Beamten zwei Stühle angeboten hatte.

»Kennen Sie diesen Mann?« Hackenholt legte einmal mehr das Foto vor.

»Das ist der Tote aus der Pegnitz. Ich habe das Bild heute Morgen in der Zeitung gesehen.«

»Kennen Sie ihn?«

»Nein. Sonst hätte ich doch bei Ihnen angerufen.«

»Er soll am 20. August um zehn Uhr fünfzehn bei Herrn Liedel gewesen sein.«

»Wirklich? Ich kenne nicht alle Klienten meines Kollegen. In seiner Abwesenheit kümmere ich mich nur um die Notfälle. Diesen Mann habe ich aber definitiv nie hier gesehen.«

»Gibt es jemanden, der alle seine Klienten kennt?«

»Wissen Sie was? Lassen Sie mir das Foto da, und ich frage bei meinen Kollegen herum. Frau Smolka, die Amtsleiterin, ist diese Woche ebenfalls nicht im Haus. Ich vertrete sie. Falls etwas herauskommt, rufe ich Sie an.«

»Können Sie nicht einfach in Liedels Agenda nachsehen, wer zum fraglichen Zeitpunkt einen Termin bei ihm hatte?«

Frau Tanasescu schüttelte den Kopf. »Datenschutz.«

Die beiden Ermittler waren gerade wieder auf den Bürgersteig getreten, als Hackenholts Handy erneut piepte.

5»Der Doude hassd efenduell Josef Walch«, rief Baumann aufgeregt.

»Woher weißt du das?«

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