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Im Auftrag der Bayerischen Staatsregierung soll ein Forschungsteam der Uni Kiel den Tiefen Brunnen auf der Nürnberger Kaiserburg ein weiteres Mal betauchen und archäologisch begutachten. Um die Bevölkerung auf dieses wichtige Projekt aufmerksam zu machen, lässt sich der Burghausherr während eines Pressetermins persönlich in den Brunnen abseilen. Zum Entsetzen aller Beteiligten stößt er auf der Brunnensohle jedoch auf eine Leiche. Obwohl sich Erster Kriminalhauptkommissar Frank Hackenholt als frischgebackener Kommissariatsleiter eigentlich nur noch um administrative Aufgaben kümmern sollte, bittet der Polizeipräsident ihn aufgrund der politischen Dimension des Falls, die Ermittlungen persönlich zu übernehmen. Gemeinsam mit der Soko 'Brunnen' findet Hackenholt heraus, dass es sich bei dem Toten um einen wagemutigen Tauchlehrer handelt. Aber wonach sollte der junge Mann gesucht haben? Schlummert in den Tiefen des Brunnens womöglich eine unentdeckte Kostbarkeit aus dem Mittelalter? Hat er sie gefunden? Warum sonst sollte er nach dem Tauchgang von seinen Komplizen getötet worden sein?
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Seitenzahl: 404
Tief im Brunnen
– Hackenholts neunter Fall –
von
Stefanie Mohr
EBOOK
Stefanie Mohr, geboren 1972, liebt ihre Heimatstadt Nürnberg, in der sie (fast) jeden Winkel kennt. Sie wohnt und arbeitet als freiberufliche Autorin und Fotodesignerin im Nürnberger Norden. Nähere Informationen: www.stefanie-mohr.com
In dieser Reihe bereits erschienen: »Die vergessenen Schwestern«, »Das letzte Lächeln«, »Die dunkle Seite des Sommers«, »Frauentormauer«, »Glasscherbenviertel«, »Reichskleinodien«, »Tödliche Kristalle«, »Bombenstimmung«und»Tief im Brunnen«.
Im Auftrag der Bayerischen Staatsregierung soll ein Forschungsteam der Uni Kiel den Tiefen Brunnen auf der Nürnberger Kaiserburg ein weiteres Mal betauchen und archäologisch begutachten. Um die Bevölkerung auf dieses wichtige Projekt aufmerksam zu machen, lässt sich der Burghausherr während eines Pressetermins persönlich in den Brunnen abseilen. Zum Entsetzen aller Beteiligten stößt er auf der Brunnensohle jedoch auf eine Leiche. Obwohl sich Erster Kriminalhauptkommissar Frank Hackenholt als frischgebackener Kommissariatsleiter eigentlich nur noch um administrative Aufgaben kümmern sollte, bittet der Polizeipräsident ihn aufgrund der politischen Dimension des Falls, die Ermittlungen persönlich zu übernehmen. Gemeinsam mit der Soko »Brunnen« findet Hackenholt heraus, dass es sich bei dem Toten um einen wagemutigen Tauchlehrer handelt. Aber wonach sollte der junge Mann gesucht haben? Schlummert in den Tiefen des Brunnens womöglich eine unentdeckte Kostbarkeit aus dem Mittelalter? Hat er sie gefunden? Warum sonst sollte er nach dem Tauchgang von seinen Komplizen getötet worden sein?
+++HINWEIS:+++
Die Übersetzung der fränkischen Passagen befinden sich im Anhang und sind im Text mit Fußnoten gekennzeichnet. Klickt man auf die Ziffer, gelangt man direkt zur Übersetzung, klickt man dort erneut auf die Ziffer, gelangt man zurück an die Textstelle.
Copyright © Stefanie Mohr, 2016.
All Rights Reserved - Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto und -gestaltung: Stefanie Mohr
Verlag: Edition Gelbes Sofa, Inh.Stefanie Mohr, Nordring 125, 90409 Nürnberg
Originalausgabe
Für
I have to remind myself to breathe– almost to remind my heart to beat!
Emily Brontë, »Wuthering Heights«
Anna Terheim stand vor ihrem Kleiderschrank. Auf dem Bett lag ein aufgeklappter Koffer, in dem sich bereits Nachtwäsche, Bademantel, Strümpfe und Unterwäsche befanden. Nun musste sie sich für eine Bluse und einen Rock entscheiden. Oder sollte sie lieber ein Kleid einpacken? Das braune mit den Rüschen? Sie nahm es vom Bügel, faltete es zusammen und legte es in ihren Koffer. Dann drehte sie sich wieder um und merkte, dass die Schranktür plötzlich Zacken hatte. Zacken, die sich bewegten. In allen Farben des Regenbogens, nur viel greller. Sie fraßen sich wie Raupen durchs Bild, hin und her, vor und zurück. Die alte Dame atmete tief ein und aus und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie in der Mitte ihres Gesichtsfelds eine verschwommene Stelle. Innerhalb der folgenden halben Stunde wurde daraus ein blinder Fleck, der stetig wuchs.
Ihre Migräne kündigte sich nicht oft durch Auren an. Aber wenn das geschah, dann folgten meistens massive Anfälle. Sie wusste, was ihr bevorstand. Wahrscheinlich hatte sie sich zu sehr gefreut, war zu aufgeregt gewesen. Vielleicht war auch das Glas Rotwein schuld. Oder sie hatte zu fett gegessen. Im Grunde genommen war der Auslöser egal. Entscheidend war allein, dass sie heute nicht zu ihrer Schwester fahren konnte. Sie fühlte schon die ersten pulsierenden Schmerzen in der linken Gehirnhälfte.
Aus der Küche holte sie eine Flasche Mineralwasser und einen Eimer und trug beides zu ihrem Bett. Als sie ihre Schwester anrief, erreichte sie nur den Anrufbeantworter. Also hinterließ sie eine Nachricht: Eine Migräne sei im Anmarsch. Sie brauche Ruhe und werde sich melden, sobald es ihr wieder besser gehe.
Da sie während der Anfälle extrem licht- und geräuschempfindlich war, schaltete sie anschließend das Telefon aus und stellte die Türklingel ab. Danach schloss sie im gesamten Erdgeschoss die Jalousien. Zuletzt nahm sie eine Tablette und legte sich in der Erwartung, dass kommen werde, was kommen sollte, ins Bett.
Mit einem Stöhnen drehte Anna Terheim den Kopf. Hinter ihren Augen pulsierte der Schmerz. Das Medikament wirkte nicht. Sie hatte Durst. Aufrichten und trinken bedeutete, dass ihr schlecht werden würde. Sie versuchte, sich bequemer hinzulegen und mithilfe einer Yogaübung zu entspannen.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch.
Langsam öffnete sie die Augen. Die Jalousien waren geschlossen. Es hätte stockdunkel sein müssen. Doch durch den Spalt unter der Tür drang ein Lichtschimmer zu ihr ins Schlafzimmer. Schwach, aber sichtbar. Außerdem waren da Schritte. Gedämpft vom dicken Teppichboden, aber nichtsdestotrotz Schritte. Sie war sich ganz sicher.
Hatte ihre Schwester die Nachbarin verständigt? Frau Auerbach besaß einen Schlüssel, für den Fall der Fälle. Aber würde sie einfach so hereinkommen? Ja – wenn ihre Schwester ihr aufgetragen hätte, nach dem Rechten zu sehen.
»Hallo?«, flüsterte Anna Terheim mit schwacher Stimme. »Frau Auerbach?«
Keine Reaktion. Niemand antwortete. Wenn sie wenigstens gewusst hätte, wie spät es war. Aber um auf die Uhr zu sehen, hätte sie das Licht einschalten müssen. Auf einmal hörte sie wieder ein Geräusch. Es klang, als hätte jemand die Schublade des Buffets im Esszimmer geöffnet. Was sollte Frau Auerbach dort tun?
Eine innere Stimme sagte ihr, dass es ihr im Augenblick völlig egal war, was die Nachbarin in ihrem Esszimmer werkelte. Sie wollte nur ihre Ruhe. Nichts sehen, nichts hören, nichts fühlen. Vor allem Letzteres.
Dann klapperte Besteck. Aber nicht so, wie beim Essen üblich. Es klang vielmehr, als nehme jemand sämtliche Messer auf einmal aus der Lade. War ihre Schwester gekommen, um ihren Geburtstag hier zu feiern? Um Himmels willen, bloß nicht! Das würde sie nicht durchstehen. Auch wenn es sicherlich gut gemeint wäre.
Unruhe bemächtigte sich ihrer und nahm immer weiter zu, bis sie schließlich die Bettdecke zurückschlug und sich stöhnend aufsetzte. In ihrem Zustand kam das einer Folter gleich.
Gegen die aufsteigende Übelkeit ankämpfend schleppte sie sich zur Tür, öffnete sie und presste die Augenlider zusammen, als helles Deckenlicht grelle Blitze mitten in ihr Gehirn sandte.
»Licht aus!« Ihre Stimme klang nicht annähernd so autoritär, wie sie es sich wünschte. Mit einem Mal wurde ihr schlecht. Ihre Beine zitterten. Sie versuchte, sich ins Bad zu schleppen, stieß gegen ein Hindernis, öffnete reflexartig die Augen, sah Licht, eine Gestalt, Tarnkleidung, eine Maske.
Anna Terheim begann zu schreien.
Erster Kriminalhauptkommissar Frank Hackenholt saß im Büro des Polizeipräsidenten im dritten Stock des Gebäudekomplexes am Jakobsplatz und lauschte der Ansprache, die der Leiter des Kriminalfachdezernats 1 anlässlich Hackenholts Ernennung zum Kommissariatsleiter hielt. Es waren vollmundige Worte, die das Vertrauen des Vorgesetzten in seine Fähigkeiten unterstrichen.
Je länger die Rede dauerte, desto unruhiger rutschte Hackenholt auf seinem Stuhl hin und her. Wie bereits mehrere Male zuvor fragte er sich, ob es wirklich die richtige Entscheidung gewesen war, die exponierte Position anzunehmen. Die erste Veränderung hatte sich schon vor einigen Wochen ergeben: Bei einem ausgedehnten Einkaufsbummel bestand Sophie darauf, ihn komplett neu einzukleiden. Seinem heftigen Protest, als sie auf einen Schlag zehn Krawatten kaufte, begegnete sie mit der Frage, ob er in Zukunft gedenke, mit einem ins halb offene Hemd gewurschtelten Herrenschal herumzulaufen, wie sie es einmal – sehr zu ihrer Belustigung – bei einem anderen Kommissariatsleiter gesehen hatte. Auf sein energisches Kopfschütteln hin lächelte sie ihn an und sagte nur: »Dann also doch die Krawatten.«
In der Folgezeit fühlte er sodann immer wieder vereinzelte Momente der Irritation – zumeist wenn er längere Zeit mit seinem Vorgänger Hans-Jürgen Dorschner in dessen Büro ganz am Ende des Flurs verbrachte. Aber auch die vielen Lehrgänge, die er in den vergangenen Monaten besuchte, behagten ihm nicht immer.
Hackenholt war natürlich klar, dass er ab sofort nur noch in seltenen Ausnahmefällen eigene Ermittlungen anstellen würde. Stattdessen musste er sich fortan um die administrativen Belange seiner Dienststelle kümmern: Stellungnahmen zu absonderlichen Statistiken, Umsetzung von zum Teil widersinnigen EU-Richtlinien, Vorschläge hinsichtlich der Handhabung von dieser oder jener Sache. Er wusste auch um die Kämpfe, die auf ihn zukamen: das Gezerre um den Stellenplan, der die Zuteilung neuer Beamten regelte, und das Hauen und Stechen, wenn es um die Beurteilungen seiner Kollegen ging – schließlich durften sie nicht nach tatsächlicher Leistung bewertet werden, sondern nach einem zuvor festgelegten Kontingent, das viele strategische Überlegungen mit sich brachte.
Das letzte, dafür umso nachhaltigere Zwicken in der Magengegend verspürte er an diesem Morgen, als er gegen sieben Uhr nach zweieinhalb Lehrgangswochen sein angestammtes Büro betrat und keinerlei persönliche Gegenstände mehr dort vorfand. Stattdessen lagen diverse Akten kreuz und quer über den Schreibtisch verteilt. Ein Blick auf die neu aufgehängten Bilder an der Wand bestätigten seine Vermutung: Martin Groß, der bislang in Ermangelung eines eigenen Schreibtischs den Arbeitsplatz eines abwesenden Beamten in Beschlag nahm, hatte sich in seinem bisherigen Büro breitgemacht.
Mit einem Gefühl, das er nicht näher beschreiben konnte, setzte sich Hackenholt in seinen ehemaligen Bürostuhl und ließ seine Augen durch den mit den Jahren so vertraut gewordenen Raum schweifen. Ralph Wünnenbergs geheiligte Kaffeemaschine stand auf einer Ablage zu seiner Rechten, auf dem Bord darüber warteten feinsäuberlich aufgereiht diverse Kaffeedosen auf ihren Einsatz. Er würde das von Wünnenberg all morgendlich zelebrierte Ritual des Kaffeekochens – bei dem dieser unter keinen Umständen gestört werden durfte – vermissen. Überhaupt: Wünnenberg würde ihm fehlen und Stellfeldt und Baumann und Groß. Obwohl sie nur eine Flurlänge von ihm entfernt waren, saß er von nun an allein in einem Büro – ohne Doppeltür ins Nachbarzimmer. Endlich hörte er Schritte im Flur.
»Ich glaube, du hast dich in der Tür geirrt. Dein Platz ist jetzt dort hinten.« Manfred Stellfeldt wies mit dem Daumen in die Richtung, aus der er gekommen war.
»Ich hatte gehofft, ich könnte den Umzug noch eine Weile hinauszögern.«
»Natürlich. Und die Besprechungen mit ganz oben hältst du dann hier ab, während Ralphs Kaffeekanne blubbert und Saskia Martin irgendwelche fränkischen Formulierungen verhochdeutscht.« Stellfeldt schüttelte den Kopf.
Plötzlich stand Wünnenberg neben dem Kollegen im Türrahmen. »Warum siehst du dir dein neues Büro nicht mal an? Wir haben ein paar Modifikationen daran vorgenommen.«
»Was habt ihr gemacht?« Hackenholt zog alarmiert die Augenbrauen hoch.
1»Ach, eichndlich is ned der Red werd«, wiegelte Baumann aus dem Nebenzimmer ab.
Von so viel verdächtigen Beschwichtigungsversuchen getrieben, sprang Hackenholt aus dem Bürostuhl. Er kannte seine Kollegen zu gut, als dass er ihren Unschuldsbeteuerungen Glauben schenken mochte. Irgendetwas hatten sie angestellt. Und wenn er bedachte, wozu sie in der Vergangenheit fähig gewesen waren, wollte er sich gar nicht erst ausmalen, was ihn nun erwartete.
Am Ende des Flurs angekommen, hielt er einen Moment inne und holte noch einmal tief Luft, bevor er die Türklinke hinunterdrückte. Augenblicklich schlug ihm der Geruch von frischer Farbe entgegen.
»Habt ihr die Wände gestrichen?«, fragte er verwundert. Auf den ersten Blick sah im morgendlichen Dämmerlicht alles völlig unverdächtig aus. Er tastete nach dem Lichtschalter. Mit einem lauten Klack sprang die Neonröhre an. Sein Blick wanderte unwillkürlich zur Decke. Sofort schrak er zusammen. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen: In der hinteren Ecke zogen sich rote Schlieren die Wand hinab.
»Wusstest du, dass Martin in Sulzbach-Rosenberg eine Diplomarbeit über die Analyse von Blutspurenmustern geschrieben hat?«
Hackenholt drehte sich um und sah in Christine Murs leuchtende Augen.
»Ein derart anspruchsvolles forensisches Thema traut man ihm als ehemaligem SEK’ler gar nicht zu, nicht wahr?« Sie grinste. »Vielleicht wollte er aber auch nur erforschen, wie er am wenigsten Spuren hinterlässt, wenn er sich mit jemandem prügelt. Du stehst übrigens gerade vor dem Blutspurenmuster, das sich ergibt, wenn man einer Person deiner Größe, die rund einen Meter von der Wand entfernt steht, dreimal mit einem Stahlrohr auf den Kopf schlägt.«
»Sag, dass das nicht wahr ist!«, murmelte Hackenholt und betrachtete die Wand, an die in bester Manier blutrote Farbe gespritzt worden war.
»Und dort drüben haben wir das Fallbeispiel eines Kopfschusses angebracht.« Mur deutete in die entgegengesetzte Richtung. »Wir müssen jetzt nur aufpassen, dass die Putzfrau nicht versehentlich das Fenster wischt. Dann wäre ein Großteil unserer mühevoll hingepinselten Abrinnspuren dahin.«
»Ihr Kindsköpfe! Euch kann man doch keine fünf Minuten lang allein lassen, ohne dass ihr irgendeinen Blödsinn ausheckt! Wie soll ich hier denn bitte schön ...« Langsam drehte sich Hackenholt um die eigene Achse. Einige der Wandflächen, die nicht mit Blutspurenmustern verunziert waren, hatten die Kollegen mit großformatigen Plakaten verschönert. Unmittelbar neben der Tür prangten ihm die Köpfe von Henry Fonda, Charles Bronson, Claudia Cardinale und Jason Robards entgegen. Darunter stand in großer, eckiger Westernschrift der Filmtitel: Spiel mir das Lied vom Tod. Natürlich war auch Stellfeldts Liebling vertreten: das Make-my-day-Poster aus Sudden Impact mit Clint Eastwood. Beide hatten bislang im Sozialraum gehangen. Hackenholt schüttelte den Kopf. Was hatten sich die Kollegen nur dabei gedacht? Dann hielt er abrupt inne. »Wo ist eigentlich Hans-Jürgens Schreibtisch abgeblieben? Oder glaubt ihr, mir genügt in Zukunft eine Hängematte?«
»Na endlich! Dein Gehirn scheint schon im Chef-Modus zu sein, so langsam wie du heute denkst«, grinste Wünnenberg. »Komm!«
Sie gingen den Flur zurück zu ihrem bisherigen Büro. Dem gegenüber hatte sich bislang der Sozialraum befunden. Schwungvoll riss der Beamte die Tür auf, und Hackenholt stockte der Atem. Aktenschränke, Schreibtisch, Computer, Bildschirme, Telefon, Aktenordner, Fotos von Sophie und Ronja auf dem Schreibtisch – alles war da. Sogar eine große Topfpflanze mit Schleife hatte den Weg vom Baumarkt ins Kommissariat gefunden.
»Ihr seid einfach die Besten!« Hackenholt strahlte.
2»Dermidsd ned ersu ganz wech vom Schuss bisd!«, erklärte Baumann.
»Hast du wirklich geglaubt, dass wir dich ausgrenzen? Nur weil du jetzt Chef bist?«, fragte Stellfeldt in einem Tonfall, der nahelegte, dass ihn die Unterstellung verletzte.
»Da wäre ja der Kaffee kalt geworden, wenn du ihn von uns bis in Dorschners Büro hättest tragen müssen«, warf Wünnenberg ein.
»Wäre es nach mir gegangen, hätten wir das Zimmer allerdings in einem anderen Farbton gestrichen«, stellte Martin Groß klar. »Leider hat Christine zu wenig Rot gekauft. Sie dachte, wir bräuchten es nur für die Blutspurenmuster. Für mehr als dieses zarte Rosa hat es in all dem Weiß nicht gereicht.«
»Ronja würde es sicher gefallen.« Stellfeldt lachte. »Eine erstklassige Kinderzimmerfarbe für kleine Mädchen.«
3»Edzerdler häldsd ermål di Lufd oo!«, schimpfte Baumann. »Der Farbdoon is bsichologisch hoochgrådich werdvoll. Er is neemli idendisch mid denn, der in derer Schdudie embfooln worn is.«
»Von welcher Studie sprichst du?«, fragte Hackenholt, obwohl er die Antwort zu kennen glaubte.
4»No, wassdscho, däi wou besåchd, dassmersi in rosane Raim schneller beruhichd un wenicher Aggressioner aufbaud. Då hodds doch den Feldversuch in zwaa Jusdizvollzuggsånschdaldn in Noddrhein-Wesdfåln geem.«
»Soweit ich mich erinnere, wurden die Zellen inzwischen schon wieder weiß gestrichen, weil sich kein nachhaltig positiver Effekt nachweisen ließ«, entgegnete Hackenholt trocken.
»Tja, wahrscheinlich waren die Schwerverbrecher nicht so sensibel, wie du es bist. Stell dir nur mal vor, was du alles für uns herausschlagen kannst, wenn du in Zukunft alle wichtigen Verhandlungen in diesem Zimmer führst«, unterstrich Wünnenberg.
Ein lautes Klopfen an der Bürotür des Polizeipräsidenten riss Hackenholt aus seinen Gedanken und beförderte ihn jäh ins Hier und Jetzt zurück. Auch der Dezernatsleiter hielt in seiner Ansprache abrupt inne.
»Ja, bitte?« Der Polizeipräsident runzelte die Stirn. Wenngleich die schlichte Zeremonie nichts mit dem gemein hatte, was auf dem Land bei der Ernennung eines neuen Dienststellenleiters aufgefahren wurde, wollte er der Sache doch eine gewisse Würde verleihen und dabei nicht unterbrochen werden.
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, aber ich habe die persönliche Assistentin des Herrn Ministers am Telefon«, begann die Vorzimmerdame. »Also nicht die vom Innenminister, sondern vom Heimatminister. Sie sagt, es wäre wahnsinnig wichtig. Ihr Chef hat nämlich einen Toten gefunden.«
Eilig erhob sich der Polizeipräsident und nahm das Telefonat entgegen. Die Anwesenden schwiegen, während er zuhörte, eine einzige Rückfrage stellte und sodann kundtat, er werde sich umgehend um die Sache kümmern und sein bestes Team schicken.
»Der Minister hat bei einem Pressetermin auf der Burg eine Leiche im Tiefen Brunnen gefunden. Die Feuerwehrleute, die vor Ort waren, um ihn in den Brunnen hinabzulassen, sind gerade dabei, den Leichnam zu bergen.«
Hackenholt schloss gequält die Augen. Es war überaus vorhersehbar, was der Chef als Nächstes sagen würde.
»Wir wissen, was das bedeutet: Die Presse wird sich auf den Fall stürzen. Und das Ministerium wird auf eine schnellstmögliche Aufklärung dringen, um einmal mehr zu demonstrieren, wie effizient die Bayerische Polizei arbeitet. Ich halte es daher für das Sinnvollste, wenn Sie, Herr Hackenholt, die Ermittlungen persönlich leiten und sich sofort mit Ihrem Team zum Tatort begeben.« Dann wandte er sich an die anwesende Leiterin der Pressestelle. »Sie sollten ebenfalls auf direktem Weg zur Burg fahren und sich um die Journalisten kümmern. Zeigen Sie dem Minister, dass wir der Sache gewachsen sind.«
»Eine kurze Verständnisfrage: Was macht der Heimatminister im Tiefen Brunnen?«, fragte Wünnenberg. Er saß neben Saskia Baumann auf dem Rücksitz des Dienstwagens.
5»Liesd edzerd du kaa Zeidung ned?«, fragte die Kollegin.
»Doch ... manchmal zumindest«, antwortete Wünnenberg ausweichend.
»Der Tiefe Brunnen wird derzeit von irgendwelchen Wissenschaftlern erforscht«, erklärte Martin Groß, der den BMW über das alte, unebene Kopfsteinpflaster der Burgstraße lenkte. »Die holen das ganze Zeug raus, das während des Zweiten Weltkriegs hineingefallen ist.«
»Dann besteht also die Chance, dass der Minister ein siebzig Jahre altes Skelett gefunden hat?« Wünnenberg klang fast fröhlich.
»Mal den Teufel nicht an die Wand! Das wäre definitiv kein Grund zur Freude«, murmelte Hackenholt vom Beifahrersitz.
»Warum nicht? Dann wären wir doch aus dem Schneider: Für einen derart alten Knochenhaufen sind wir nicht zuständig – das ist ein Fall für die Archäologen. Außerdem lässt sich wahrscheinlich nicht einmal die Todesursache feststellen. Der Mensch könnte also beispielsweise während eines Bombenangriffs gestorben und in den Brunnen gefallen sein.«
»Ich würde dir voll und ganz zustimmen, wenn Lieschen Müller die Leiche gefunden hätte. Es war aber nun mal unser Heimatminister – und damit haben wir es mit einem Politikum zu tun. Vor allem da er in seiner Funktion als Finanzminister Hausherr der Kaiserburg ist.«
»Soll ich das Auto hier abstellen oder ganz rauffahren?«, fragte Groß. Sie waren am Himmelstor angekommen. Unmittelbar davorstand ein Pulk Touristen. Die Fremdenführerin hielt einen rot-weiß gestreiften Regenschirm in die Luft und lieferte sich mit einem der beiden Streifenpolizisten ein heftiges Wortgefecht, da der Gruppe der Zutritt verwehrt wurde.
»Stell dich vor den Sandsteinfelsen«, entschied Hackenholt. »Den Rest laufen wir. Wahrscheinlich ist oben sowieso schon alles überfüllt, wenn Feuerwehr, Taucher, Archäologen, Presse und der Minister samt Entourage da sind.«
Während sie ausstiegen, rumpelte Christine Mur in ihrem weißen VW-Bus an den Ermittlern vorüber. Die Kollegin hupte ungeniert, bis die Touristen Platz machten, und quälte den Wagen sodann die steile Auffahrt in den äußeren Burghof hinauf. Hackenholt beschleunigte seinen Schritt. Mit einem knappen »Kriminalpolizei« schob er sich durch die Menschenmenge und nickte den uniformierten Beamten am Tor einen Gruß zu. Mur war bereits in einen weißen Schutzanzug geschlüpft und holte gerade einen ihrer Koffer aus dem Fahrzeug, als er etwas außer Atem ankam.
Der Tote war abseits des Brunnenhauses diskret hinter einem Feuerwehrfahrzeug abgelegt worden. Ein einziger Blick genügte, um Wünnenbergs Hoffnung zunichte zu machen: Die Leiche trug einen modernen Taucheranzug. Daneben lag eine gelbe Sauerstoffflasche.
Hackenholts Augen schweiften über den Burghof und blieben an einem Grüppchen gut gekleideter Männer haften. Sie standen bei einer dunklen Limousine, die neben dem Sinwellturm parkte. Journalisten konnte der Hauptkommissar keine ausmachen – allerdings war das große Tor, das zur Burgfreiung führte und zu dieser Stunde üblicherweise weit offen stand, geschlossen worden. Mit einem Zeichen gab er seinen Kollegen zu verstehen, dass sie sich einen ersten Überblick verschaffen sollten. Dann ging er Richtung Limousine.
Bevor er die Gruppe erreichte, schälte sich eine Mitfünfzigerin daraus hervor. Ihre ergrauten Haare waren zu einem streng wirkenden Knoten zusammengefasst. Die zartrosa Bluse erinnerte ihn an die Farbe seines neuen Büros, und der Rock des dunkelgrauen Kostüms war etwas zu kurz geraten, sodass er ihre mageren Beine betonte. Unter ihrem Arm klemmte eine schwarze Aktenmappe.
»Mein Name ist Rosenfels, ich bin die persönliche Assistentin des Ministers.« Der Begrüßung folgte ein Händedruck, der ganz und gar nichts Weibliches an sich hatte. »Wir liegen mittlerweile fast eine Stunde hinter unserem Zeitplan. Der Minister hat in dreißig Minuten einen Termin am Flughafen. Zuvor muss er allerdings nach Hause fahren, um sich zu duschen und umzuziehen. Ich schlage daher vor, Sie wenden sich zwecks Terminvereinbarung an unser Büro – sofern das überhaupt nötig sein sollte. Die Herrschaften von der Feuerwehr können Ihnen sicher genauso gut weiterhelfen.« Damit drückte sie Hackenholt ihre Visitenkarte in die Hand.
»Ich möchte trotz allem kurz mit dem Herrn Minister sprechen«, entgegnete er bestimmt. »Ich muss mir ein Bild von der Lage machen.«
»Komm, Erika, so viel Zeit haben wir schon noch.«
Hackenholt blickte über Frau Rosenfels’ Schulter zu dem Sprecher und sah einen Mann im Taucheranzug, der in eine Decke gehüllt mit ausgestreckter Hand auf ihn zukam. Auch wenn der Minister für seine sagenhaften Faschingsverkleidungen berühmt war, musste Hackenholt doch zweimal hinsehen, um ihn zu erkennen.
»Wie Sie sicherlich der Presse entnommen haben, wird der Brunnen ab heute im Auftrag der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen erneut von Forschungstauchern der Arbeitsgruppe für maritime und limnische Archäologie der Universität Kiel erforscht. Das geschieht in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege und in Kooperation mit dem Geozentrum Nordbayern der FAU Erlangen-Nürnberg sowie unter Einbindung des hiesigen Wasserwirtschaftsamts«, erläuterte die Assistentin.
»Um die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit auf dieses wichtige Projekt zu lenken, wurde ich zu einem Pressetermin eingeladen«, übernahm nun ihr Chef. »Da ich in meiner Freizeit sehr gerne tauche, habe ich mit dem Projektleiter vereinbart, heute Morgen persönlich einen Tauchgang zu unternehmen und den ersten Kübel Sediment zu bergen.«
»Man hat Sie also mit einem Eimer in den Brunnen hinuntergelassen?«
»So ungefähr. Erst wurde ein Feuerwehrmann in den Brunnen abgeseilt, danach folgte der Korb, in den ich den Schlamm schöpfen sollte, und schließlich ich. Von dem Toten war zunächst nichts zu sehen. Als ich zum Grund getaucht bin, kam mir jedoch etwas in die Quere. Ein Ast oder Holzbalken, dachte ich im ersten Moment. Deshalb zog ich ihn hoch. Aber dann habe ich gemerkt, dass es ein Mensch war.«
»Wie ging es weiter?«
»Die Feuerwehr hat ihn geborgen, und wir haben im Polizeipräsidium angerufen, um den Leichenfund zu melden.« Im Hintergrund räusperte sich Frau Rosenfels hörbar. Der Minister nickte ihr zu. »Ich muss leider weg. Termine. Sie wissen ja, wie das ist. Halten Sie mich unbedingt auf dem Laufenden. Die Presse wird Ihre Ermittlungen auf Schritt und Tritt verfolgen – und wir wollen sie nicht enttäuschen, nicht wahr?«
Nachdem sich der Minister verabschiedet hatte, ging Hackenholt zurück zum Brunnenhaus. Unterwegs kam ihm ein Mann entgegen, der ihm vage bekannt vorkam.
»Gerhard Vieweger. Ich bin vom Wasserwirtschaftsamt.«
Nun fiel Hackenholt ein, wo sie sich schon begegnet waren. »Ich erinnere mich: Sie haben uns nach dem Leichenfund beim Nägeleinswehr so kompetent unterstützt.«
Der Mann nickte lächelnd.
»Was tun Sie hier?«
»Ich bin diese Woche dazu abgestellt, die Bergung des Schlamms aus dem Brunnen zu überwachen. Zwei unserer –«
»Frank?« Christine Mur gab dem Hauptkommissar ein Zeichen.
»Es ist gut, dass Sie da sind«, entschuldigte sich Hackenholt rasch. »Ich werde später auf alle Fälle wieder Ihre Hilfe in Anspruch nehmen.« Im Laufschritt eilte er zu seiner Kollegin. »Was gibt’s?« Doch im nächsten Moment sah er es schon selbst: Dr. Maurice Puellen war eingetroffen und kniete neben der Leiche, die nunmehr entkleidet war. Wie immer war der Rechtsmediziner, mit dem Mur seit einer Weile liiert war, in seiner guten Laune kaum zu bremsen.
»Ein sehr interessanter Fall, den wir hier haben. Wirklich sehr interessant.«
»Geht es vielleicht etwas genauer, Maurice?«
»Aber du weißt doch, dass ich dir vor der Obduktion nicht viel sagen kann.«
Hackenholts Augen glitten über den männlichen Körper. »Er scheint weder erschossen noch erstochen worden zu sein.«
Puellen seufzte. »Soweit ich es im Augenblick beurteilen kann, gibt es zwei mögliche Szenarien: Er ist beim Sturz in den Brunnenschacht so unglücklich gegen die Mauer geprallt beziehungsweise auf der Wasseroberfläche aufgeschlagen, dass er sich massive innere Verletzungen zugezogen hat, an denen er sofort gestorben ist. Infrage käme beispielsweise ein Genickbruch. Oder eine Rippe könnte sich in die Lunge gebohrt haben. Oder die Milz könnte ruptiert worden sein. Oder, oder, oder ... Wenn er wider Erwarten den Sturz überlebt haben sollte, dann ist er wohl ertrunken. Vielleicht hat ihm die Sauerstoffflasche beim Aufprall die Wirbelsäule zertrümmert, und er konnte sich nicht mehr bewegen. Oder er ist ertrunken, weil das eiskalte Wasser trotz Schutzanzug seine Muskulatur gelähmt hat.« Puellen sah Hackenholt mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Anstatt wild herumzuspekulieren, sollten wir ihn lieber möglichst schnell aufschneiden und nachsehen.«
»Warum glaubst du, dass er in den Brunnen gefallen ist?«
»Es gibt jede Menge Anzeichen für Einwirkung von stumpfer Gewalt.« Puellen zeigte auf kaum sichtbare Hautverfärbungen, die Hackenholt für Leichenflecken gehalten hatte.
»Es könnte also ein Unfall gewesen sein?«
Ein Hoffnungsschimmer. Hackenholt erinnerte sich, dass die Leiche ein Klettergeschirr getragen hatte, an dem einige Meter Seil befestigt waren. Womöglich war es aufgrund eines Materialfehlers während des Hinabkletterns gerissen?
»Einen Unfall können wir ausschließen«, machte Mur seine aufkeimende Hoffnung umgehend zunichte. »Das Ende ist nicht ausgefranst, sondern glatt durchtrennt.«
»Könnte –«
»Nein, es kann sich nicht einfach gelöst haben – woran auch immer es festgemacht war. Der Brunnen ist fünfzig Meter tief. Das Seil ist jedoch deutlich weniger als zehn Meter lang.«
»Das würde heißen –«
»Es wurde absichtlich durchgeschnitten«, vollendete Christine Mur den von Hackenholt begonnenen Satz.
»Warum sollte jemand so etwas tun?«
»Das herauszufinden ist deine Aufgabe. Ich bin nur für die Spurenlage zuständig.«
Hackenholt schnitt eine Grimasse. »Wann können wir mit der Obduktion beginnen?«
»In zwei Stunden?«, schlug Puellen vor.
»Je früher, desto besser«, stimmte Hackenholt zu; er brauchte so rasch wie möglich Fakten. Bevor er sich abwandte, stellte er noch eine letzte Frage: »Wie lange lag er schon im Brunnen?«
»Hätte ich zwischenzeitlich eine Methode erfunden, die durch die reine Inaugenscheinnahme einer Leiche zu einem zuverlässigen Ergebnis käme, wäre ich der Anwärter für den Nobelpreis.«
Hackenholt verdrehte die Augen.
»Ein bis vier Tage, würde ich schätzen«, schob Puellen unwillig hinterher. »Einerseits hat sich die Totenstarre noch nicht wieder vollständig gelöst. Andererseits soll die Wassertemperatur nur knapp zehn Grad betragen und er hat sich unmittelbar vor seinem Tod körperlich angestrengt. Da ist vieles möglich. Genauer kann ich es dir erst nach diversen Untersuchungen sagen.«
»Kümmerst du dich darum, dass die Wassertemperatur exakt gemessen wird?«, bat Hackenholt Christine Mur.
»Natürlich. Ich habe aber kein fünfzig Meter langes Seil, an dem ich das Thermometer hinablassen kann. Und damit kommen wir zu einem weiteren Problem, um das wir uns kümmern müssen.« Sie führte ihn zum Eingang des Brunnenhauses. Im Inneren waren ihre Kollegen bereits zugange und sicherten, was es an Spuren zu sichern gab. Die Herausforderung, vor der sie standen, war jedoch offensichtlich: Um den Brunnen herum war ein Gerüst errichtet und auch ein Teil der Einfassung zum Schutz mit Decken verhüllt worden. Überall hingen Gurte und Seile mit Karabinern. Auf einem Quergestänge in der Mitte war eine motorbetriebene Seilwinde angebracht.
»Haben die Taucher das heute Morgen aufgebaut?«, fragte Hackenholt.
»Nein, die Kollegen von der Berufsfeuerwehr, und zwar gestern Nachmittag.«
»Wir müssen unbedingt mit den Männern sprechen, die beim Aufbau geholfen haben«, beschied Hackenholt und sah seine Kollegen an, die gerade zu ihnen stießen.
Wünnenberg nickte.
»Außerdem brauche ich jemanden, der sich auf der Burg auskennt. Wann finden die letzten Führungen statt? Wann wird das Tor zur Burg, wann die Tür zum Brunnenhaus verschlossen? Wer besitzt die Schlüssel?«, warf Hackenholt eine Handvoll Fragen in die Runde.
6»Wooner då ned sogår Leid?«
»Der Kaiser ist schon vor ein paar Jahren ausgezogen, soweit ich weiß«, grinste Wünnenberg.
7»Iech erinner mich, dassi in der Zeidung wos ieber däi Leid gleesn hobb, wou då wooner«, beharrte Baumann.
»Das wäre ja ein Ding«, murmelte Groß. »Sie könnten etwas bemerkt haben. Solch ein Sturz wird nicht gerade heimlich, still und leise vonstattengegangen sein.«
»Ralph, versuch jemanden aufzuspüren, der sich mit den hiesigen Gegebenheiten auskennt. Vielleicht gibt es einen Verwalter oder so.« Hackenholt wollte sich umdrehen, als Mur ihn zurückhielt.
»Wir müssen noch etwas anderes besprechen: Wenn unsere bisherige Annahme stimmt und es sich um ein vorsätzliches Tötungsdelikt handelt, dann ist der Brunnenschacht unser Tatort.«
Hackenholt war sofort klar, worauf sie hinauswollte. Bevor er jedoch antworten konnte, rief eine markante Frauenstimme hinter ihm: »Ich grüße Sie. Müller-Kolokowski, Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth. Wo verweilt der Herr Minister?«
Als wäre er zwischen Hammer und Amboss geraten, wurde schlagartig alle Luft aus Hackenholts Lunge gepresst. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Von allen Anklagevertreterinnen hatte er die mit Abstand schlimmste erwischt. Er atmete ein paarmal tief durch, dann wandte er sich um.
»Guten Morgen, Frau Müller-Kolokowski. Ihr Chef, Oberstaatsanwalt Dr. Holm ...?«
»Ist verurlaubt«, beschied sie knapp. »Wo verweilt denn nun der Minister?«
»Seine anderweitigen Verpflichtungen haben keinen weiteren Aufschub geduldet. Er lässt sich entschuldigen und bittet Sie, ihn auf dem Laufenden zu halten.« Rasch zog er Frau Rosenfels’ Visitenkarte aus der Jacketttasche und überreichte sie der Staatsanwältin, die sie ohne ein Wort des Dankes in ihre Manteltasche stopfte.
»Und der Tote?«
»Wurde bereits abtransportiert, nachdem ihn unser gewissenhaftester Rechtsmediziner in Augenschein genommen hat«, beruhigte Hackenholt. »Die Obduktion ist für dreizehn Uhr angesetzt. Möchten Sie dabei sein?«
»Ich werde selbstverständlich partizipieren«, nickte sie gewichtig. »Wie lauten Ihre bisherigen Erkenntnisse?«
»Wir sind derzeit noch dabei, uns einen Überblick zu verschaffen«, erklärte Hackenholt so freundlich wie möglich.
»Lavieren Sie nicht herum! Wenn Sie nichts wissen, dann formulieren Sie das auch so.«
Einen Augenblick lang starrte Mur sie irritiert an, dann wandte sie sich demonstrativ an Hackenholt und kam auf das Thema zurück, das sie vor Frau Müller-Kolokowskis Ankunft mit ihm besprechen wollte. »Wir müssen die Kollegen vom LKA verständigen. Der Schacht muss mit einem 3-D-Laserscanner vermessen werden, damit wir den möglichen Sturz am Computer simulieren können.«
»Kümmerst du dich darum?«, bat er.
»Das ist aber nicht alles«, fuhr Mur fort. »Der Grund des Brunnens muss untersucht werden. Sollen das die Taucher von der Bepo übernehmen?«
Was unter normalen Umständen überhaupt keiner Erwähnung bedurft hätte, brachte Hackenholt nun in eine Zwickmühle. Für das Absuchen eines Gewässers war üblicherweise die Bereitschaftspolizei zuständig. Die Beamten waren geschult, eine Flusssohle Zentimeter für Zentimeter abzutasten und sämtliche Gegenstände zu bergen. Aber genau aus diesem Grund waren die Wissenschaftler der Universität Kiel nach Nürnberg gekommen: Um den Grund des Tiefen Brunnens von dort abgelagerten Gegenständen und Schlamm zu befreien. Allerdings hatte ein Forschungstaucher keine polizeiliche Ausbildung. Aber: Brauchte er eine? Schließlich ging es hier nicht darum, eine Schusswaffe oder ein Messer zu finden. Und: Er musste sowieso behutsam vorgehen, da durchaus noch scharfe Munition aus dem Zweiten Weltkrieg dort unten liegen konnte. Hackenholt warf Frau Müller-Kolokowski einen fragenden Blick zu, aber sie reagierte nicht.
»Fürs Erste sollten wir uns um die Sicherung der Spuren im Schacht kümmern und ihn vom LKA vermessen lassen.« Damit gewannen sie Zeit. »Ich spreche unterdessen mit den Wissenschaftlern, danach sehen wir weiter. Vor morgen können sie sowieso nicht mit ihrer Arbeit beginnen.«
Mur nickte. »Da wäre noch eine Sache: Wenn wir den Schacht auf Anprallspuren untersuchen, können wir dann wie üblich unser Luminol verwenden, um etwaige Blutspuren sichtbar zu machen?«
»Warum nicht?«
»Weil das eine Chemikalie ist und wir es mit jahrhundertealtem Gestein zu tun haben. Außerdem sickert das Wasser da unten ins Grundwasser.«
»Irgendwelche Vorschläge, Frau Müller-Kolokowski?«, wandte sich Hackenholt diesmal direkt an die Staatsanwältin.
»Die technischen Abläufe obliegen allein Ihnen. Ich bestehe jedoch auf einer gründlichen Vorgehensweise.«
»Sprich mit Herrn Vieweger vom Wasserwirtschaftsamt. Einen Skandal wegen verseuchtem Grundwasser können wir uns nicht leisten. Und vielleicht kann dir einer der Geologen sagen, wie die alten Steine auf das Luminol reagieren. Wir sollten besser nicht daran schuld sein, dass der Tiefe Brunnen einstürzt.«
»Ich werde mich nun zurückziehen«, verkündete die Staatsanwältin hastig, offenbar wollte sie nicht mit möglichen Negativschlagzeilen in Zusammenhang gebracht werden.
Hackenholt nickte erleichtert.
Thomas Diez war der ranghöchste Beamte des Höhenrettungsteams 1 der Nürnberger Berufsfeuerwehr. Er und weitere vier Männer waren am Vortag für den Aufbau des Gerüsts und der technischen Hilfsmittel zuständig gewesen. Seit dem Morgen unterstützten sie nun die Forschungsarbeiten. Der Taucher der Universität Kiel sollte immer zusammen mit einem Höhenretter in den Brunnenschacht abgeseilt werden. Dessen Aufgabe bestand darin, via Funk Kontakt zu seinen Kollegen zu halten und den Transportkorb hinauf und hinunter zu schicken. Hauptsächlich war er jedoch für die Sicherung des Forschungstauchers verantwortlich. Sollte etwas Unvorhergesehenes geschehen, musste er dessen sofortige Bergung in die Wege leiten.
»Wann haben Sie gestern mit dem Aufbau begonnen?«, wandte sich Hackenholt an Diez, während er sein Notizbuch aufschlug.
»Wir waren kurz nach vierzehn Uhr hier.«
»War das Brunnenhaus zu dem Zeitpunkt abgesperrt?«
»Ja. Herr Zippelius, der Burgverwalter, musste uns aufschließen.«
»Ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Nein, überhaupt nichts.«
»Haben Sie mal in den Brunnen hinabgesehen?«
»Natürlich. Wir haben ja das Schutzgitter entfernt.«
»Welches Schutzgitter?«
»Das dort drüben.« Diez zeigte auf ein lackiertes Eisenkonstrukt, das an der Mauer lehnte. »Es ist ungefähr dreißig Zentimeter unterhalb der Brüstung mit dem Schacht verschraubt, damit niemand versehentlich bei einer Führung in den Brunnen stürzen kann. Sonnenbrillen oder andere Gegenstände hält es natürlich nicht zurück.«
Hackenholt musterte das runde Gebilde, das einem grobmaschigen Spinnennetz glich, wobei in der Mitte eine große Aussparung war. Sofern er sich richtig erinnerte, hatte der Burgführer während seiner bislang einzigen Besichtigung vor einigen Jahren dort hindurch einen brennenden Kerzenleuchter in die Tiefe gelassen. Jedenfalls war die mittige Öffnung so groß, dass eine nicht übermäßig kräftige Person problemlos hindurchpasste. Ob ein Mann mit Sauerstoffflasche auf dem Rücken wohl ebenfalls hindurchkam?
»War das Gitter ordnungsgemäß befestigt?«
Thomas Diez nickte. »Und es gab keine Anzeichen dafür, dass es vor Kurzem abmontiert worden war. Im Gegenteil: Eine Mutter haben wir kaum aufbekommen.«
»Wann waren Sie mit dem Aufbau fertig?«
»Gegen sechzehn Uhr dreißig.«
»Wer hat das Brunnenhaus als Letzter verlassen?«
»Daran erinnere ich mich nicht.« Diez zuckte mit den Schultern. »Der Burgverwalter hat jedenfalls in meinem Beisein abgesperrt.«
»Und heute Morgen war die Tür noch verschlossen, als Sie zurückgekommen sind?«
»Nein. Herr Zippelius hatte sie bereits geöffnet, weil die Wissenschaftler von der Uni Kiel vor uns da waren.«
»Lagen Ihre Gerätschaften alle an ihrem Platz?«
»Es fehlt zumindest nichts. Ob etwas benutzt und wieder zurückgelegt wurde, kann ich nicht ausschließen. Aber falls heute Nacht jemand im Brunnenhaus gearbeitet hat, wäre es den Burgbewohnern sicher aufgefallen. Die Seilwinde ist laut. Krach wäre das falsche Wort, aber nachts würde man sie auf alle Fälle hören.«
»Berichten Sie mir von dem Leichenfund.«
»Ich wurde zuerst abgeseilt, dann folgte der Minister. Er tauchte hinab, um den Gitterkorb zu füllen. Als er wieder hochkam, hielt er den Toten gepackt. Wir haben den Körper am Seil gesichert. Anschließend habe ich den Kollegen Bescheid gegeben, woraufhin sie den Minister nach oben geholt haben und danach mich und die Leiche.«
»Danke. Ich glaube, für den Augenblick ist das erst einmal alles.« Als sich Hackenholt abwandte, bemerkte er, dass die Kollegin von der Pressestelle auf ihn zueilte.
»Ich habe mit der Assistentin des Ministers telefoniert. Er möchte, dass wir so schnell wie möglich eine Pressekonferenz abhalten und die ersten Ermittlungsergebnisse bekannt geben. Ist dir vierzehn Uhr recht?«
»Die ersten Ermittlungsergebnisse?« Hackenholt holte tief Luft. »Wir wissen nicht, wie der Tote heißt, woran er starb, wann er in den Brunnen geklettert ist und vor allem: warum? Welche Ergebnisse sollen wir denn in zwei Stunden präsentieren?« Er schüttelte entgeistert den Kopf. »Vor siebzehn Uhr geht nichts. Wir müssen das Obduktionsergebnis abwarten.«
Sein Blick schweifte über die umstehenden Personen. Er suchte Gerhard Vieweger vom Wasserwirtschaftsamt. Als er ihn schließlich ein wenig abseits entdeckte, ging er zu ihm hinüber.
»Sie würden mir enorm helfen, wenn Sie mir einige Hintergrundinformationen zusammenstellen könnten. Erstens: Wann haben die vorherigen Betauchungen stattgefunden, und was wurde dabei zutage gefördert? Zweitens: Fakten zum Tiefen Brunnen. Wie breit und tief ist er? Wie alt? Wie hoch steht das Wasser darin? Wo kommt es her? Wo fließt es hin?«
Vieweger schien erfreut, dass sein Fachwissen wieder einmal gefragt war, und versprach ihm, die benötigten Unterlagen schnellstmöglich zu mailen.
»Darf ich vorstellen: Das ist Herr Zippelius«, machte Wünnenberg Hackenholt einen Augenblick später mit dem Burgverwalter bekannt. »Er hat mir schon sehr viel Wissenswertes erzählt. Saskia hatte recht: Die Burg ist tatsächlich bewohnt. Martin befragt gerade die Leute.«
»Von welchem Gebäude sprechen wir?«
»Es geht um die Vorburg samt Hasenburg – die eigentliche Kaiserburg steht natürlich leer. Kennen Sie sich hier aus?«, fragte Zippelius.
»Nicht so gut, wie es wohl wünschenswert wäre«, räumte Hackenholt ein.
»Die Vorburg ist der Bereich des äußeren Hofs, wo wir uns derzeit befinden. Sie beginnt beim Tor zum äußeren Burghof neben dem Sinwellturm und erstreckt sich bis zum Heidenturm – der auch Margarethenturm genannt wird – und dem inneren Burgtor, das zur eigentlichen Kaiserburg führt. Außerdem zählt auch der Bereich der Hasenburg dazu.«
»Hasenburg?«
Zippelius lächelte. Offenbar freute er sich, dass er dem Polizeibeamten eine Lektion in Sachen Heimatkunde erteilen konnte. »Das Gebäude dort drüben.« Er deutete mit dem Finger auf den Teil der Burgmauer, der sich in südlicher Richtung an das Vortor anschloss. »Es wurde nach Sbinko Has von Hasenburg benannt. Das Tor unten an der Hasenburg ist das Himmelstor. Das gab es allerdings nicht von Anfang an. Erst aufgrund der Spannungen zwischen dem Rat der Stadt und den Burggrafen wurde entschieden, einen Mauerdurchbruch zu schaffen, um einen unmittelbaren Zugang von der Stadt zur Kaiserburg zu erhalten. Für den Einzug von Kaiser Karl V. wurde das Tor 1520 erweitert.«
Zippelius hatte die Hände hinter dem Körper verschränkt und wippte leicht auf den Fußballen vor und zurück. Hackenholt nahm an, dass das seine übliche Haltung war, wenn er bei den Burgführungen ins Dozieren kam.
»Unmittelbar an die Hasenburg und das Himmelstor schließt sich die Himmelsstallung an. Der Fachwerkbau war im Mittelalter wahrscheinlich eine Stallung. Er musste erneuert werden, weil er beim Bombenangriff auf Nürnberg am 2. Januar 1945 zerstört wurde. Beim Aufstieg in den äußeren Burghof kommt man am Margarethenbrunnen vorbei, der sich auf der gegenüberliegenden Seite der Himmelsstallung befindet und nach derzeitigem Wissensstand der älteste Brunnen der Kaiserburg ist. Zusammen mit dem Tiefen Brunnen und einem Ziehbrunnen vor dem Fünfeckturm, der heute jedoch abgedeckt ist, bildete die Margarethenquelle die Wasserversorgung der Burganlage.«
»Könnten wir auf die Gebäude zurückkommen, die bewohnt werden?«, bat Hackenholt, den all das zwar interessierte, dem aber der Zeitdruck zu schaffen machte, unter dem er stand.
»In der Himmelsstallung wohnt ein Burgführerehepaar. Das Badehaus wird nur tagsüber genutzt. Das –«
»Welches Badehaus?«, hakte Hackenholt sofort nach.
»So wird der Anbau rechts neben dem Brunnenhaus bezeichnet. Er entstand 1564 und wurde als Badestube und Anziehstüblein verwendet.«
Hackenholt bedeutete ihm fortzufahren.
»In der Sekretärswohnung leben meine Frau und ich. Außerdem ist dort die Burgverwaltung untergebracht.« Als Hackenholt sich suchend umsah, deutete Zippelius auf das Gebäude an der Nordseite des äußeren Burghofs. »Im Osten schließt sich der Finanzstadel an. Er wurde 1564 gebaut. Zuvor stand an dieser Stelle der Kaiserliche Marstall, der bis zu einhundert Pferde aufnehmen konnte. Der Finanzstadel beherbergt heute eine Dependance des Umweltamts.«
Dann wandte sich Zippelius in die entgegengesetzte Richtung. »Westlich der Sekretärswohnung befindet sich neben dem inneren Burgtor das sogenannte Kastellansgebäude. Der altfränkische Fachwerkbau wurde im 16. Jahrhundert anstelle des Küchengebäudes errichtet. Dort wohnen derzeit drei Frauen.«
»Ich nehme an, dass alle Personen, die hier leben und arbeiten, einen Schlüssel für das Tor besitzen, das in den äußeren Burghof führt?«, warf Hackenholt ein.
»Nicht für das große Tor, sondern für die Pforte daneben«, korrigierte der Burgverwalter. »Allerdings kann ich Ihnen nicht einmal die genaue Anzahl der Schlüssel nennen, die sich derzeit im Umlauf befindet, geschweige denn, wer alles einen besitzt.«
»Und wie sieht es mit dem Brunnenhaus aus? Wer kommt dort hinein?«
»Das sind nicht annähernd so viele. Ich habe einen Schlüssel und an den Bunden, die die Burgführer während den Führungen bei sich tragen, befindet sich natürlich auch einer. Diese Schlüssel werden nach getaner Arbeit in ihre Fächer zurückgelegt und verlassen das Gelände nicht.«
»War das Brunnengebäude in letzter Zeit mal unverschlossen?«
Zippelius schüttelte den Kopf. »Das wäre viel zu gefährlich. Meine Mitarbeiter sind darauf gedrillt, stets sämtliche Türen hinter sich zuzusperren.«
»Wie häufig wird das Brunnenhaus betreten?«
»Jetzt, also von Oktober bis März, finden zwischen zehn und sechzehn Uhr alle halbe Stunde Führungen statt. Sieben Tage die Woche.«
»Dann kann es offensichtlich nur nachts passiert sein«, stellte Wünnenberg fest.
Hackenholt nickte. »Eine allerletzte Frage habe ich noch«, wandte er sich abschließend noch einmal an den Verwalter. »Wann wird die Burg für Besucher geöffnet und geschlossen?«
»Ich öffne die Tore meistens gegen sieben Uhr – ich bin Frühaufsteher. Am Abend werden sie in den Wintermonaten gegen achtzehn Uhr geschlossen. Um einundzwanzig Uhr mache ich üblicherweise noch einmal einen Rundgang und überprüfe, ob alles in Ordnung ist. Ungefähr eine Stunde später gehen meine Frau und ich zu Bett.«
Während sich die beiden Beamten entfernten, sah Hackenholt auf die Uhr. »Ich muss los, wenn ich pünktlich zur Obduktion erscheinen will. Da Frau Müller-Kolokowski ebenfalls zugegen sein wird, sollte ich mich besser nicht verspäten. Macht ihr hier weiter. Wir treffen uns nachher in der Dienststelle.«
Als Hackenholt den Sektionssaal betrat, lag die Leiche schon auf dem Obduktionstisch. Am eingeschalteten Leuchtkasten hingen die Röntgenbilder, die Puellens Assistent von dem unbekannten Taucher gemacht hatte.
»Zwölf Frakturen«, ertönte plötzlich die Stimme des Rechtsmediziners hinter ihm. »Ich gehe davon aus, dass er sie sich während des Sturzes zugezogen hat. Sogenannte Anpralltraumata. Ich habe in der Zwischenzeit im Internet recherchiert, dass der Durchmesser des Brunnenschachts im Schnitt zwei Meter beträgt. Es gibt aber auch Stellen mit einer Breite von nur einem Meter siebzig. Demnach scheint es ziemlich naheliegend, dass der Körper im freien Fall mehrfach gegen die Mauern gestoßen ist. Komm mal mit.«
Puellen ging Hackenholt voran in einen kleinen Nebenraum. Auf dem Tisch stand ein Laptop. Der Mediziner berührte das Touchpad, und der Bildschirmschoner verschwand.
»Das ist eine Aufnahme des Schachts. Wie es scheint, gibt es auf die gesamte Länge verteilt in regelmäßigen Abständen Löcher oder besser Vertiefungen in der Wand.« Sein Zeigefinger schnippte gegen den Bildschirm. »Der Tote könnte versucht haben, sich im Fallen festzuklammern. Fingerfrakturen entstehen schon durch verhältnismäßig geringe Krafteinwirkung. Es wird sehr anspruchsvoll werden, den Sturz in einer Computersimulation nachzustellen.«
Ein Ruf aus dem Sektionssaal ließ sie wissen, dass der Landgerichtsarzt sie erwartete. Gemeinsam gingen sie zurück. Auch Frau Müller-Kolokowski war inzwischen eingetroffen. Dr. Puellen begrüßte die ihm unbekannte Staatsanwältin überschwänglich. Offenbar witterte er ein neues Opfer, das er in die Geheimnisse seiner Zunft einführen konnte.
»Frauen fühlen sich im Allgemeinen ja viel mehr zu den forensischen Wissenschaften hingezogen als Männer. Sie dürfen mich gerne alles fragen, was Sie interessiert, liebe Frau Müller.«
»Müller-Kolokowski. Danke.« Die Anklagevertreterin wirkte nicht, als wüsste sie Puellens Angebot zu schätzen. Sie stand so weit wie möglich vom Seziertisch entfernt und hatte die Finger schützend vor Mund und Nase gelegt, obwohl es nicht roch. Als sie Hackenholts forschenden Blick bemerkte, ließ sie die Hand abrupt sinken, wodurch sich der Anschein, ertappt worden zu sein, noch weiter verstärkte.
Die beiden Mediziner widmeten sich zunächst der äußeren Leichenschau, vermaßen und beschrieben die Verletzungen. Danach wandten sie sich dem Kopf zu. Eine CT-Aufnahme verdeutlichte das Schädel-Hirn-Trauma – die hintere Schädelhälfte war großflächig zertrümmert worden.
»Als habe man ihm mit einem Brett auf den Kopf geschlagen«, kommentierte der Landgerichtsarzt. »Das war zumindest kein Rohr oder kantiger Gegenstand. Es würde allerdings bei einem Sturz ins Bild passen. Der Mann fällt, vielleicht versucht er sich festzuklammern. Durch die Sauerstoffflasche auf dem Rücken ist der Schwerpunkt verlagert, der Körper dreht sich, die Schwerkraft zieht ihn rücklinks nach unten, der Kopf knallt gegen die Schachtwand. Wie man erkennen kann, wurde das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen. Wahrscheinlich war er bewusstlos.«
Im Hintergrund war die Autopsiesäge zu hören. Als sich Hackenholt wieder umdrehte, hob Dr. Puellen gerade die Schädeldecke ab. Im selben Moment vernahm der Hauptkommissar ein gurgelndes Geräusch neben sich. Schneller als er zupacken konnte, glitt Frau Müller-Kolokowski auf den Boden.
Puellen sah erstaunt auf. »Was hat sie denn?«
»Das passiert ihr offenbar immer, wenn sie ein Gehirn zu Gesicht bekommt«, kommentierte der Landgerichtsarzt gelassen.
»Könnte mir mal jemand helfen?«, presste Hackenholt hervor, der versuchte, die bewusstlose Frau hochzuheben, was bei einem erschlafften Körper nicht annähernd so leicht war, wie es in Filmen aussieht. Endlich hatte Puellens Assistent Erbarmen und packte die Beine.
»Wohin?«
»Da auf den Tisch!« Der Assistent steuerte entschiedenen Schritts auf den nächstgelegenen Obduktionstisch zu.
»Aber –« Hackenholts Protest ging im erneuten Kreischen der Säge unter.
»Auf dem Fensterbrett steht ein Fläschchen Salmiak.« Puellen wies mit seinen behandschuhten Fingern ans andere Ende des Raums. »Halte es ihr unter die Nase, dann ist sie in Sekundenschnelle wieder ansprechbar.«
»Wir könnten ihr aber auch einfach eine kleine Auszeit gönnen und unsere Arbeit erledigen, ohne dass sie sich einmischen kann.« Es war ganz offensichtlich, dass der Landgerichtsarzt die Staatsanwältin nicht mochte. Noch während er sprach, öffnete Frau Müller-Kolokowski jedoch die Augen und fuhr abrupt hoch. Hackenholts hilfreich ausgestreckte Hand ignorierend, rutschte sie vom Stahltisch und wankte aus dem Sektionssaal. Hackenholt glaubte, ein leises »Das wäre geschafft!« vom Tisch nebenan zu vernehmen, nachdem sich die Tür hinter Frau Müller-Kolokowski geschlossen hatte.
»Ah, ein Schaumpilz wie aus dem Lehrbuch! Sieh dir das an, Frank«, rief Puellen Sekundenbruchteile später.
»Er ist also ertrunken?«
»Exakt.«
»Aber ich glaube nicht, dass er davon noch etwas mitbekommen hat«, stellte der Landgerichtsarzt klar. »Nicht nach diesen Gehirnverletzungen.«
Im Kommissariat herrschte rege Betriebsamkeit. Rasch ging Hackenholt in sein Büro, ließ sich in den Schreibtischstuhl fallen und schaltete den Computer ein. Sein Blick glitt zu Wünnenbergs Kaffeemaschine. Leer. Offenbar waren die Kollegen noch nicht von der Burg zurückgekehrt. Auf dem Bildschirm erschien die Eingabemaske für das Passwort. Er kam der Aufforderung nach. Der Computer piepte, und eine Fehlermeldung erschien. Das Passwort wurde zurückgewiesen. Schräg hinter sich vernahm er ein Räuspern. Er blickte auf. Manfred Stellfeldt stand in der Verbindungstür der beiden Büros.
»Kann es sein, dass du dich im Zimmer geirrt hast? Oder willst du Martin seinen Arbeitsplatz streitig machen?«
Hackenholt, der gerade erneut sein Passwort eintippen wollte, ließ die Hände sinken. Auf einmal fing Stellfeldt laut zu lachen an. Nach einem winzigen Moment stimmte Hackenholt ein.
»Haben wir einen Anhaltspunkt zur Identität unseres Opfers gefunden?«, fragte er den älteren Kollegen schließlich.
»Nein, es gibt keine Vermisstenmeldung, die auch nur im Entferntesten auf ihn zutrifft. Und die Fingerabdrücke, die Christine an der Leiche gesichert hat, helfen uns ebenfalls nicht weiter.« Stellfeldt hielt kurz inne. »Lässt sich aufgrund der Zähne etwas über seine mögliche Nationalität sagen?«
»Er hat nur eine einzige Füllung. Sieht nach einem westeuropäischen Zahnarzt aus.«
»Was kam bei der Obduktion heraus?«, fragte Stellfeldt weiter.
»Er ist ertrunken – wahrscheinlich war er bewusstlos, weil er sich beim Sturz eine massive Kopfverletzung zugezogen hat. Alternativ könnte er mit einem breiten Gegenstand niedergeschlagen worden sein, bevor er in den Brunnen geworfen wurde.«
»Das passt aber nicht recht zu dem abgeschnittenen Seilstück, das noch an ihm hing.«
»Die möglichen Szenarien sollten wir in der Besprechung diskutieren. Ich muss mich jetzt auf die Pressekonferenz vorbereiten.«
»Nur eins noch: Wie lange lag er schon da unten?«
»Das lässt sich momentan nach wie vor bloß grob eingrenzen. Wenn wir auf der sicheren Seite sein wollen, sollten wir von vierzehn bis sechzig Stunden ausgehen, sagt Puellen. Aber wahrscheinlich lag er mehr als einen Tag im Wasser.«
Hackenholt erhob sich, ging über den Flur in sein zartrosa gestrichenes Büro und schaltete seinen Computer ein. Diesmal klappte es mit dem Passwort auf Anhieb. Er zog die Notizen hervor, die er sich im Laufe des Tages gemacht hatte, und ergänzte sie um die Fakten, die ihm Gerhard Vieweger vom Wasserwirtschaftsamt gemailt hatte. So entstand eine in seinen Augen äußerst passable Zusammenfassung, die er als Gerüst für die Pressekonferenz verwenden wollte. Anschließend lief er in den dritten Stock, um sich mit dem Polizeipräsidenten und der Pressesprecherin abzustimmen.
Der große Saal im Erdgeschoss des Polizeipräsidiums war bis auf den letzten Platz gefüllt, als Hackenholt und seine Kollegin von der Pressestelle eintraten.
»Wo haben Sie gesteckt?«, zischte ihm eine Stimme ins Ohr. »Sie hätten sich mit mir absprechen müssen! Ich habe mir extra Vakanzen freigehalten. Ein konzertiertes Vorgehen ist das A und O in diesem Fall. Wir müssen eine Phalanx bilden, damit die Presse keine Angriffsfläche hat.«
»Lassen Sie mich nur machen, ich habe alles im Griff«, antwortete Hackenholt leise. Er musste sich nicht umdrehen, um die Sprecherin zu identifizieren. Niemand außer Frau Müller-Kolokowski schaffte es, derart viele Fremdwörter in so wenigen Sätzen zu verwenden. Hoch erhobenen Hauptes schritt er zur Stirnseite des Saals, wo er auf dem für ihn vorgesehenen Stuhl Platz nahm.
Im Publikum saßen viele bekannte Gesichter, aber auch diverse Journalisten, die sich normalerweise nicht nach Nürnberg verirrten. Welchen Unterschied es doch macht, ob Lieschen Müller eine Leiche findet oder ein Minister, dachte Hackenholt.