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Ein Jahr nachdem Lucy Theiss bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist, wird sie im Himmel zu Erzengel Gabriel gerufen. Von ihm erfährt sie, dass ihr Mann Gregor nach wie vor um sie trauert. Laut einer Prophezeiung sollte er sich jedoch schon längst wieder gefangen haben, sich in eine andere Frau verlieben, sie heiraten und Kinder bekommen. Nach kurzem Zögern übernimmt Lucy die Mission und geht auf die Erde zurück. Eigentlich um Gregor zu suggerieren, dass er sie loslassen soll - tatsächlich beschließt sie jedoch, die Suche nach ihrer Nachfolgerin selbst in die Hand zu nehmen. Kein Wunder, dass sich binnen kürzester Zeit eine Menge hübscher Interessentinnen um den attraktiven Witwer scharen - blöd nur, dass es die falschen sind.
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Seitenzahl: 319
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Lucy im Himmel
von
Stefanie Mohr
KINDLE EDITION
Stefanie Mohr, geboren 1972, liebt ihre Heimatstadt Nürnberg, in der sie ihr bisheriges Leben verbracht hat und (fast) jeden Winkel kennt. Sie wohnt und arbeitet als freiberufliche Autorin und Fotografin im Nürnberger Norden. Nähere Informationen: www.stefanie-mohr.com.
Ein Jahr nachdem Lucy Theiss bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist, wird sie im Himmel zu Erzengel Gabriel gerufen. Von ihm erfährt sie, dass ihr Mann Gregor nach wie vor um sie trauert. Laut einer Prophezeiung sollte er sich jedoch schon längst wieder gefangen haben, sich in eine andere Frau verlieben, sie heiraten und Kinder bekommen.
Nach kurzem Zögern übernimmt Lucy die Mission und geht auf die Erde zurück. Eigentlich um Gregor zu suggerieren, dass er sie loslassen soll – tatsächlich beschließt sie jedoch, die Suche nach ihrer Nachfolgerin selbst in die Hand zu nehmen. Kein Wunder, dass sich binnen kürzester Zeit eine Menge hübscher Interessentinnen um den attraktiven Witwer scharen. Blöd nur, dass es die falschen sind.
Copyright © Stefanie Mohr, 2012.
All Rights Reserved - Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto und -gestaltung: Stefanie Mohr
Verlag: Edition Gelbes Sofa, Inh. Stefanie Mohr, Nordring 125, 90409 Nürnberg
ISBN: 978-3-9816768-7-7
Originalausgabe
Für
JGT
Wer stirbt, erwacht zum ewigen Leben
– Franz von Assisi –
Tag null in Lucys Zeitrechnung
Ich gähnte und streckte mich.
»Bist du müde, Lucy?«, fragte Martin.
»Zum Umfallen. Nur gut, dass ich nächste Woche endlich Urlaub habe.«
»Hat dein Mann auch frei?«
»Ja.«
»Und? Fahrt ihr weg?«
»Hmm-mmh.« Ich musste schon wieder gähnen. »Drei Tage in den Bayerischen Wald. Wellnesshotel.«
»So gut wie ihr möchte ich es auch mal haben.«
Unwillkürlich musste ich lachen. Wenn jemand nicht in ein Wellnesshotel passte, dann war es mein Kollege Martin.
»Mit dem Wetter scheint ihr auch richtig Glück zu haben.«
»Na ja, wie man es nimmt. Fünfzehn Grad wärmer könnte es schon sein, schließlich haben wir Juni.«
»Typisch verfrorene Frau!« Er grinste und sah mich von der Seite herausfordernd an.
»Schau auf die Straße, sonst stelle ich die Heizung höher.«
»Noch eine halbe Stufe mehr und ich bin komplett durchgegart, bis wir wieder in der Dienststelle sind.«
»Jetzt mach mal halblang!« Mich fröstelte. Von einer lauen Sommernacht konnte definitiv nicht die Rede sein. Ich lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze und schlang die Arme um meinen Körper. Nach einer Weile fielen mir die Augen zu, und ich nickte ein.
»Scheiße!«
Martins Schrei schreckte mich auf. Während mein Kollege das Steuer herumriss und hart auf die Bremse trat, versuchten meine Augen schlaftrunken in der nächtlichen Dunkelheit die Situation zu erfassen. Doch die Sekundenbruchteile, die mir noch blieben, genügten nicht, um zu erkennen, was das für ein Hindernis war, gegen das wir krachten.
Mir wurde nur plötzlich eiskalt und dann schlagartig sehr, sehr warm, bevor sich eine Dunkelheit über mich legte, die so schwarz und allumfassend war, wie ich sie noch nie zuvor empfunden hatte.
Nordfränkische Nachrichten – Tageszeitung – Rubrik: Lokales
Unfalltragödie auf Bundesstraße:
PKW unter LKW begraben
LKW stürzt auf Golf – Zwei Insassen sofort tot
(pb) Eine schreckliche Unfalltragödie spielte sich in der Nacht auf der Bundesstraße 286 in Bayern ab.
Nach ersten Angaben befuhr ein Mercedes die B286 in Richtung Schweinfurt. Aus bislang ungeklärter Ursache geriet der PKW in Höhe Schwebheim auf die Gegenfahrbahn. Ein entgegenkommender LKW, beladen mit tonnenschweren Papierrollen, konnte noch ausweichen, kam dadurch jedoch ins Schleudern und stürzte quer auf die Fahrbahn. Dabei begrub er einen nachfolgenden Golf unter sich. Dieser wurde völlig zerstört, die beiden Insassen hatten keine Chance. Der Fahrerdes umgestürzten LKW wurde schwer verletzt.
Der unfallverursachende Mercedes geriet bei dem Manöver ebenfalls ins Schleudern und prallte Sekundenbruchteile später frontal in einen zweiten LKW. Die beiden Insassen im Mercedes wurden dabei schwer verletzt. Für die Rettungskräfte bot sich an der Unfallstelle ein Bild des Grauens.
Bei den Toten handelt es sich um Lucy T., eine 38 Jahre alte Zollbeamtin der Kontrolleinheit Verkehrswege, und Martin R., ihren 27-jährigen Kollegen, der das Fahrzeug lenkte
In dem Lucy Erzengel Gabriel kennenlernt
Über zwölf Monate später.
»Lucy, kommst du bitte mal?«, riss mich Engel Helene aus meinen Gedanken. »Gabriel möchte dich sprechen.«
»Erzengel Gabriel?«
Sie nickte.
Rasch stand ich auf und folgte ihr. Vom Erzengel hatte ich bislang nur gerüchteweise gehört – obwohl ich nun bereits seit über einem Jahr im Himmel wohnte. Immerhin hatte es sich bis zu mir herumgesprochen, dass die Engel hierarchisch gegliedert waren – und Gabriel war der Oberboss.
Helene führte mich zu einer altmodischen Gittertür. In dem Augenblick, in dem sie sie mit den Fingerspitzen berührte, schwang das Tor zur Seite, und Helene bedeutete mir hineinzugehen. Ich betrat einen lichtdurchfluteten warmen Raum. Unter mir ein Teppich aus weichen Wolken, über mir blauer Himmel und eine strahlende Sonne. Wände schienen nicht zu existieren, denn sobald ich durch die Tür getreten war, umgab mich Weitläufigkeit bis zum Horizont. Inmitten dieser fluffigen Landschaft stand ein einsamer Schreibtisch, an dem ein Mann saß.
Im Gegensatz zu allen anderen Personen, die mir hier oben bislang begegnet waren, steckte er nicht etwa in einem weißen, nachthemdähnlichen Kleidchen. Vielmehr trug er einen maßgeschneiderten Anzug derselben Farbe, der ihn schon allein optisch zum Himmelsmanager erhob. Sein schlohweißer Vollbart war ordentlich getrimmt und lenkte von der Tatsache ab, dass sein Schädel annähernd kahl war. Als er mich erblickte, stand er auf und kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu.
»Guten Tag, Herr Erzengel«, murmelte ich unsicher.
»Hallo, Lucy.« Er hatte eine angenehme, tiefe Stimme, die ihn väterlich wirken ließ. »Wie du weißt, gibt es bei uns keine Förmlichkeiten. Nenn mich einfach Gabriel.« Er bot mir einen sehr bequem aussehenden Sessel vor seinem Schreibtisch an. »Was möchtest du trinken? Einen Latte macchiato?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«
»Du musst nicht schüchtern sein, Lucy.« Er sah mich freundlich an.
»Überredet, dann nehme ich einen.« Schließlich war man auch im Himmel den irdischen Genüssen nicht abgeneigt.
»Es ist schön, dass du Zeit für mich hast. Ich freue mich, dich endlich persönlich kennenzulernen. Wie geht es dir?«
»Danke, prima.«
»Hast du dich gut eingelebt?«
Ich legte den Kopf schief und musterte seine große, schlanke Gestalt mit den filigranen Gliedmaßen und den manikürten Fingern, während er mir das Kaffeeglas reichte. Konnte ein Chefengel allen Ernstes so viel Zeit haben, um Smalltalk mit mir zu halten? Und wenn ja, warum hatte er es dann nicht schon viel früher getan? Nun ja, wenn ihm danach war: An mir sollte es nicht scheitern. Langsam lehnte ich mich im Sessel zurück und schlug die Beine übereinander.
»Langweilig ist es mir bisher noch nicht geworden. Ich entdecke nach wie vor jeden Tag etwas Neues. Gestern zum Beispiel war ich in den Gewächshäusern und habe die Orchideen bestaunt, und am Tag vorher ...« Ich plapperte und plapperte.
»Wir haben ein Problem, bei dem wir deine Hilfe brauchen«, eröffnete Gabriel mir schließlich zögerlich.
»Natürlich, gerne.« Ich setzte mich sofort ein klein wenig aufrechter hin, um meine Einsatzbereitschaft zu signalisieren. Vielleicht war jemand in der Gärtnerei ausgefallen, oder sie kamen mit der Bügelwäsche nicht hinterher.
»Vermisst du irgendetwas aus deinem früheren Leben?«
»Nein. Mir geht es rundum gut«, antwortete ich erstaunt. Was hatte denn mein Befinden mit seinem Problem zu tun?
»Kannst du dich noch an das erinnern, was war, bevor du zu uns gekommen bist?«
Einen Moment lang grübelte ich, dann schüttelte ich verwirrt den Kopf.
»Du warst eine attraktive Frau Ende dreißig, der ihre Arbeit viel Freude bereitet hat.« Gabriel sah mich aufmerksam an. »Außerdem warst du mit einem sehr netten und fürsorglichen Mann verheiratet. Du hast ihn sehr geliebt.«
Ich wurde feuerrot. Wie hatte ich das nur vergessen können? Mit aller Macht versuchte ich mich an meinen Mann zu erinnern, aber da war nichts. Mir fiel nicht einmal sein Name ein. Und so sehr ich auch in mich hineinhorchte, ich hatte nicht das Gefühl, dass ich ihn vermisste. Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke: War ich am Ende vielleicht sogar Mutter gewesen?
»Nein, Lucy«, beruhigte mich Gabriel, obwohl ich die Frage nicht laut ausgesprochen hatte. »Ihr hattet keine Kinder. Und es gibt auch nicht den geringsten Grund, sich für das Vergessen zu schämen. Dafür kannst du nichts, das gehört quasi zu unserer Politik im Himmel.«
Ich ließ die Worte in mir nachhallen und entspannte mich allmählich wieder. Gleichzeitig wurde ich jedoch immer neugieriger: Wobei sollte ich ihm denn nun helfen?
»Genau deswegen tut es mir unendlich leid, dass ich dich in die Welt des Schmerzes und der Realität zurückschicken muss«, fuhr Gabriel mit einem Seufzen fort. »Aber ich hoffe, dass es nur für eine ganz kurze Zeit sein wird.«
Mir stockte der Atem. Offensichtlich war sein Problem größer als ein Berg überfälliger Bügelwäsche.
»Glaube mir, wenn es einen anderen Weg gäbe, dann würde ich es nicht machen, aber wir haben alle uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausgeschöpft.« Er erhob sich aus seinem ergonomisch geformten Chefsessel und bedeutete mir, ihm zu folgen.
Mit zitternden Knien rappelte ich mich auf.
Wie aus dem Nichts erschien eine Tür vor Gabriel, die sich nur mit einem Irisscan seines rechten Auges öffnen ließ.
Der Raum, in den wir traten, war groß. Im Gegensatz zum Büro hatte er Wände. Es waren jedoch keine gemauerten wie in einem Haus; vielmehr bestanden sie aus unendlich vielen kleinen neben- und übereinander liegenden Fenstern. Hinaussehen konnte man trotzdem nicht: Der Ausblick eines jeden Gucklochs war von einem winzigen Vorhang oder einer Jalousie verdeckt.
»Was verbirgt sich dahinter?«, fragte ich neugierig.
»Das werde ich dir gleich zeigen.« Gabriel blieb vor einer Wand stehen und räusperte sich. »Lucy, du hast mir vorhin gar nicht gesagt, wo du früher gearbeitet hast.«
»Beim Zoll. Kontrolleinheit Verkehrswege«, antwortete ich, ohne nachzudenken.
Gabriel lächelte und nickte. »Und dein Mann?«
»Gregor ist ebenfalls Zollfahnder, leitet aber eine ganz andere Abteilung als die, in der ich tätig war. Wir haben uns bei einer Tagung kennengel–«, ich hielt abrupt inne. »Warum kann ich mich auf einmal wieder erinnern?«
»Das ist das Geheimnis dieses Raums. Ich nenne ihn immer ›Zimmer mit Aussicht‹. Das klingt nicht ganz so abschreckend wie ›Zimmer mit Blick auf die Realität‹«, antwortete Gabriel in seiner ruhigen Art.
»Wie geht es meinem Mann?«, fragte ich ein klein wenig atemlos. Gregor: Zwei Jahre älter als ich, groß, hager, sportlich, geradlinig, ehrlich – der liebenswerteste Mensch auf der ganzen Welt. Ich merkte, wie mein Herz beim Gedanken an ihn schneller zu schlagen begann.
»Nicht gut«, sagte der Erzengel mit leiser Stimme. »Um die Wahrheit zu sagen: Es geht ihm sogar sehr schlecht. Wir machen uns große Sorgen, deswegen brauchen wir deine Hilfe, Lucy. Wir sind mit unserem Latein nämlich am Ende.« Gabriel sah mich ernst an.
Ich spürte sofort einen Kloß im Hals. »Warum? Was ist mit ihm?«
In dem Lucy einen Entschluss fasst
Statt einer Antwort drehte sich Gabriel um, zog die Jalousie hoch, die bisher den Ausblick durch eines der kleinen Fenster verdeckt hatte, und öffnete es. Dann trat er einen Schritt zur Seite, damit ich hinaussehen konnte.
Vor mir erstreckte sich der Nürnberger Johannisfriedhof. Mein Blick glitt über die akkurat ausgerichteten sandsteinernen Gräberreihen und blieb schließlich an einem großen, schlanken Mann in schwarzen Jeans und ebensolchem Hemd hängen. Gregor. Mein Herz krampfte sich zusammen.
Seine Haare waren grau geworden, seine Statur noch schmaler, als sie sowieso schon immer gewesen war. In der Hand hielt er einen Strauß roter Rosen. Seine Schultern zitterten sichtbar. Ich sah seine geröteten Augen, in denen Tränen schimmerten, seine dünnen, aufeinander gepressten Lippen.
»Nein! Nicht!« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Nicht weinen! Mir geht es doch gut.« Mit einem Mal beugte ich mich so weit es ging aus dem Fenster, schrie Gregors Namen und winkte ihm zu, aber er bemerkte mich nicht. Verzweiflung stieg in mir hoch. Dann spürte ich eine Hand, die meinen Ellenbogen umfasste und mich vom Fenster zurückzog.
»Er kann dich nicht hören.« Gabriel holte ein blütenweißes Baumwolltaschentuch aus seiner Jacketttasche und drückte es mir in die Hand. Jetzt erst fühlte ich, dass auch mir Tränen über die Wangen liefen.
»Dein Mann leidet Höllenqualen, weil er deinen Tod nicht verwinden kann. Noch immer besucht er mindestens einmal pro Woche dein Grab. Er arbeitet fast rund um die Uhr, vergisst oft zu essen, geht seinen Hobbys nicht mehr nach, trifft sich kaum noch mit Freunden und trägt nach wie vor ausschließlich schwarze Kleidung.«
Mich packte das schlechte Gewissen. Gregor trauerte seit einem Jahr ununterbrochen um mich. Und ich? Ich hatte die ganze Zeit über kein einziges Mal an ihn gedacht. Schlagartig sah ich all die Schlüsselsituationen vor meinem inneren Auge: Wie wir uns kennenlernten, seine erste Essenseinladung, unser erster Kuss, sein Heiratsantrag. Ich hörte sein leises Lachen und fühlte seine Hände, die mich nachts im Bett so zärtlich streichelten, seinen Körper, mit dem er mich so leidenschaftlich liebte.
»Er ... er darf nicht so leiden«, sagte ich mit bebender Stimme. »Bitte! Das hat er nicht verdient. Kann man ihn nicht zu mir–«, ich hielt inne und biss mir auf die Unterlippe.
Gabriel schüttelte sanft den Kopf. »Man darf nicht einfach jemanden in den Himmel holen, dessen Zeit auf Erden noch nicht abgelaufen ist. Das wäre nicht nur gegen das Gesetz, wir Engel haben ganz einfach nicht die Macht, uns gegen das Orakel zu stellen. Nicht einmal ich.«
»Was für ein Orakel denn?«, schniefte ich in mein Taschentuch.
Gabriel seufzte. »Vor der Geburt eines jeden Menschen legt es fest, wie das Leben der Person verlaufen wird. Die Orakelschreiber notieren das im ›Buch des Lebens‹. Und die Aufgabe von uns Engeln ist es, dafür Sorge zu tragen, dass das dann auch so passiert. Jeder Mensch kann zwar sein eigenes Leben beeinflussen, aber nur bis zu einem gewissen Maß. Die Eckpfeiler sind vorgegeben.« Gabriel machte eine Pause, bevor er fortfuhr: »Wenn ein Mensch in den Himmel geholt wird, dann gibt es immer Engel, die sich um die Hinterbliebenen kümmern. Jeder Einsatz verläuft anders. Meistens weilen meine Kollegen nur als stille Beobachter an der Seite derjenigen, die einen Freund oder ein Familienmitglied verloren haben. Manchmal müssen sie aber auch eingreifen, wenn sie sehen, dass jemand zu sehr leidet. Aber bei deinem Mann hat nichts geholfen. Er kann einfach nicht loslassen. Deshalb haben wir in seinem ›Buch des Lebens‹ nachgeschaut: Zu unserer großen Überraschung hat das Orakel für deinen Mann bestimmt, dass er noch sehr, sehr lange leben wird – und zwar glücklich im Kreis seiner neuen Familie. Er soll sich nicht nur wieder verlieben und noch einmal heiraten, sondern sogar Kinder haben.«
Mir klappte der Mund auf – gleichzeitig fühlte ich ein Ziehen in der Herzgegend, das sich ganz und gar nicht gut anfühlte. Eifersucht. Ich dachte unwillkürlich an den fantastischen Sex, den wir gehabt hatten und war mir definitiv nicht sicher, ob ich wirklich wollte, dass eine andere zur Empfängerin von Gregors Zärtlichkeiten und Liebesbeweisen wurde. Und dann auch noch Kinder! Das war doch gar nichts für ihn. Wir hatten uns ganz bewusst dagegen entschieden.
»Lucy«, mahnte Gabriel sanft, »du musst großherzig sein. Gönne deinem Mann das Glück, das ihm zusteht, solange er auf Erden sein muss.«
»Warum bringst du dann nicht einfach diese Frau zu ihm, machst ein bisschen himmlischen Hokuspokus, damit er sich in sie verliebt und gut ist’s? Ich meine, wer den gesamten Himmel organisieren kann, der wird es doch wohl hinbekommen, dass sich auf der Welt zwei Normalsterbliche ineinander verlieben, oder?«, fuhr ich ihn an, bevor ich mich abwandte. Mir wäre es definitiv lieber gewesen, wenn ich von alledem nichts erfahren hätte.
»Wir können sie nicht finden«, murmelte Gabriel hinter meinem Rücken.
Ich fuhr herum. »Was? Das kann ja wohl nicht so schwer sein. Ihr seid schließlich Engel!«
»Bei sieben Milliarden Menschen soll es nicht so schwer sein, die Richtige zu finden?«
Ich schluckte. »Ja, hat denn dieses Orakel keinen Namen genannt?«
Gabriels Blick sprach Bände.
»Und ihr wisst auch nicht, wann und wo Gregor sich wieder verlieben soll?«, fragte ich zögerlich. Mit einem Mal war meine Wut verpufft.
Der Erzengel schüttelte den Kopf. »Es gibt weder Name noch Datum, denn das Orakel bleibt oftmals sehr vage in seinen Vorhersagen. Wir tappen völlig im Dunkeln.«
»Aber wie soll denn ausgerechnet ich Gregor helfen, wenn ihr himmlischen Wesen es schon nicht schafft?«
Der Chefengel klang angespannt, als er mir seine Theorie erklärte: Die Erfahrung habe gezeigt, dass sich der neue Partner in den allermeisten Fällen schon im unmittelbaren Umfeld des Trauernden aufhielt. Bei meinem Mann bestehe aber eine Wahrnehmungsblockade. Wenn Gregor nun wüsste, dass er nicht mehr trauern müsste, dass es mir gut ginge, dass ich mit einer neuen Partnerschaft einverstanden wäre, mir diese sogar für ihn wünschte, dann würde er vielleicht die Frau in seiner Umgebung erkennen und alles könnte endlich nach den Vorgaben des Orakels laufen.
»Okay. Und was soll ich konkret tun? Ihm einen Brief schreiben, dass er sich keine Sorgen um mich machen soll, sondern sein Leben genießen und nach vorne schauen?«
»So einfach geht es nicht. Wenn dein Mann aus heiterem Himmel einen Brief von dir bekäme, würde er glauben, dass ihn jemand auf den Arm nehmen will. Genauso wenig können wir einen Abschiedsbrief auftauchen lassen, denn das würde nicht zu der Art passen, wie du gestorben bist.«
»Und wie machen wir es dann?«
»Du müsstest zurück auf die Erde, Lucy.«
Ich dachte einen Augenblick nach, dann sagte ich »Einverstanden« und nickte nachdrücklich. Wenn es Gregor half, würde ich eben noch mal für eine Stunde hinuntergehen und mit ihm reden. Für ihn wollte ich das gerne tun.
Gabriel lächelte mich milde an.
»Was? Was habe ich denn jetzt schon wieder Falsches gesagt?«, fuhr ich ihn sofort wieder unbeherrscht an.
»Nicht gesagt, sondern gedacht, Lucy. So einfach ist die Sache nämlich leider nicht. Du kannst nicht eine Stunde zurück auf die Erde gehen, mal schnell deinen Mann treffen, ihm berichten, wie gut es dir hier geht und dich dann für immer von ihm verabschieden. Stell dir vor, was er denken würde, wenn er plötzlich seiner toten Frau gegenüberstünde.«
Ich nagte an meiner Unterlippe.
»Genau! Er würde sich fragen, ob er nun endgültig den Verstand verloren hat.« Gabriel schüttelte den Kopf. »Mit Stimmen verhält es sich übrigens genauso: Würde ein Angehöriger plötzlich die Stimme eines Verstorbenen hören, würde er ebenfalls sofort denken, er sei ein Fall für die Psychiatrie.«
»Ähm ... und wie soll ich dann mit Gregor reden?«
»Gar nicht. Zurück auf der Erde, können dich die Menschen nicht sehen und auch nicht hören. Man kann dich weder anfassen, noch merkt man es, wenn du jemanden berührst. Aber du hast die Fähigkeit, in anderen Menschen Gefühle hervorzurufen.«
»Und wie mache ich das?«
»Indem du die betreffende Person fest ansiehst und dich völlig auf den Gedanken beziehungsweise das Gefühl konzentrierst, das du ihr vermitteln willst. Bei deinem Mann geht es darum, dass er loslassen soll. Das klappt nicht über Nacht. Deswegen müsstest du für zwei Tage und ebenso viele Nächte auf die Erde zurück. Achtundvierzig Stunden.« Gabriel machte eine Pause. »Du müsstest die ganze Zeit in seiner Nähe verbringen, tagsüber mit ihm ins Büro gehen und nachts im Bett bei ihm bleiben. Während des Schlafes ist das menschliche Unterbewusstsein nämlich besonders empfänglich.« Er hielt noch einmal inne, bevor er fortfuhr. »Deine Sachen, also die Kleidung, die du am Körper trägst und die Handtasche, die wir dir mitgeben werden, sind übrigens ebenfalls unsichtbar. Wenn du auf der Erde aber etwas berührst, es in die Hand nimmst oder dich darauf setzt, bleibt es natürlich sichtbar. Darauf musst du genau achten.«
Ich schaute noch ein letztes Mal aus dem Fenster, hinunter auf die Erde. Dort war es mittlerweile Abend geworden. Gregor war daheim in unserem Haus. Ich beobachtete ihn, wie er sich im Schlafzimmer auszog. Anschließend ging er ins Badezimmer und stellte sich unter die Dusche. Sofort fühlte ich ein Kribbeln in mir aufsteigen. Lust, seinen Körper zu streicheln und von ihm berührt zu werden.
Wer weiß, vielleicht bot sich ja eine Gelegenheit, ein paar zärtliche Stunden mit ihm zu erleben. Er war ein fantastischer Liebhaber gewesen. Und vielleicht täuschte sich Gabriel und mein Mann konnte meine Berührungen auf seiner nackten Haut sehr wohl fühlen – und ich seine? Sicherlich hatte ein Erzengel noch nie ...
»Worauf warten wir denn dann noch?«, murmelte ich lüstern. »Kann ich jetzt gleich gehen?«
Gabriel sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Lucy, wenn du den Auftrag übernimmst, hast du eine Mission zu erfüllen, die darin besteht, deinem Mann zu vermitteln, dass er dir nicht mehr nachtrauern, sondern endlich wieder an sich selber denken soll. Du darfst dich unter keinen Umständen in sein Gefühlsleben einmischen! Hast du das verstanden?«
Ich nickte eifrig.
»Lucy, ich meine es ernst.« Gabriel schaute mich eindringlich an. »Wenn du auf die Erde gehst, darfst du dich keinesfalls einmischen. Wenn du mir das nicht ernsthaft versprichst und es auch so meinst, kann ich dich nicht gehen lassen.«
Ich seufzte. Daran, dass jemand meine Gedanken lesen konnte, musste ich mich erst noch gewöhnen.
In dem Lucy bemerkt, dass manches nicht so einfach ist
Es wurde später Vormittag, bis ich endlich startklar war. Engel Helene rüstete mich für solch eine wichtige Mission ziemlich minimalistisch aus: Ich bekam ein Gerät, das nicht nur wie ein Handy ausschaute, sondern auch genauso funktionierte – zumindest, wenn man davon absah, dass man damit lediglich im Himmel anrufen konnte. Außerdem erhielt ich eine schneeweiße Handtasche, deren Innenvolumen sich automatisch an das anpasste, was man hineinsteckte, ohne dass sich ihre Außenmaße veränderten. In ihr befand sich himmlisches Spezialfutter: Schließlich musste ich in den kommenden achtundvierzig Stunden etwas zu essen haben und sollte Gregor nicht dadurch verunsichern, dass ich ihm alles, was er sich auf den Teller legte, in einem unbemerkten Moment wegfutterte.
Meine Bitte, mich anstatt in meinem weißen Himmelskleidchen lieber in Jeans und T-Shirt zurück auf die Welt zu schicken und auch meine weißen Badelatschen gegen ein schickes Paar Schuhe einzutauschen, ignorierte Helene. Genauso wischte sie meinen Einwand beiseite, dass weiß eine schrecklich unpraktische Farbe war und ich nach einem halben Tag wie ein kleines Ferkel aussehen würde.
»Betrachte es einfach als Dienstkleidung, Lucy. Außerdem bist du unsichtbar«, war alles, was ich ihr zu dem Thema entlocken konnte.
Mit einem Seufzen gab ich mich scheinbar geschlagen. Insgeheim plante ich jedoch, sobald ich auf der Erde war, schnurstracks nach Hause zu gehen und mich umzuziehen. Nur gut, dass Engel Helene nicht wie Gabriel Gedanken lesen konnte.
»Was passiert, wenn ich mich ausziehe und meine Kleider irgendwo hinlege? Zum Beispiel, wenn ich duschen will? Oder wenn ich meine Handtasche versehentlich auf dem Sofa liegen lasse? Sieht Gregor die dann?«, fragte ich scheinheilig.
»Alles, was du aus dem Himmel mitbringst, ist unsichtbar.«
»Und wenn mir kalt ist und ich eine meiner alten Jacken überziehen will?«
»Die kann auch keiner sehen: Alles, was du anziehst, also richtig am Körper trägst, wird ebenfalls unsichtbar.«
Ich nickte zufrieden.
»Dinge, die du nur berührst oder in die Hand nimmst, bleiben allerdings sichtbar.«
Ich nickte erneut. Das hatte Gabriel gestern schon erwähnt; da würde ich ziemlich aufpassen müssen.
»Also noch mal: Wenn es Probleme gibt, rufst du umgehend im Himmel an. Unter 999 erreichst du die Notrufzentrale. Sie ist rund um die Uhr besetzt. Und melde dich wirklich sofort, wenn du denkst, dass irgendetwas nicht stimmt.«
»Mach ich. Versprochen.«
»Gut, Lucy«, sagte Engel Helene endlich. »Wenn du keine weiteren Fragen hast, bist du jetzt startklar.«
Ich nickte noch einmal so nachdrücklich, wie ich nur konnte – dann zitterten mir plötzlich die Knie. Der große Moment war gekommen.
Helene brachte mich zu einer Tür. Dahinter verbarg sich ein gläsernes Treppenhaus. In der Mitte verlief ein röhrenförmiger Schacht, der von einem auf Hochglanz polierten Scherengitter aus purem Gold eingefasst wurde. Es dauerte einen Moment, dann bimmelte über unseren Köpfen ein leises Glöckchen drei Mal und die Aufzugkabine kam von unten heraufgeschwebt. Instinktiv wich ich einen Schritt zurück. Ein adrett in eine weiße Uniform mit weißer Mütze gekleideter gutaussehender Engel in meinem Alter öffnete von innen das Aufzuggitter. Er deutete eine knappe Verbeugung an und forderte mich mit einer eleganten Handbewegung zum Einsteigen auf.
»Ich möchte bitte nach Nürnberg, in die Gruft in den Arkaden an der Westmauer des Johannisfriedhofs«, sagte ich mein auswendig gelerntes Sprüchlein auf, das mir Helene eingetrichtert hatte. Das war nämlich der Ort, der üblicherweise in meiner Gegend als Landestation für Engel benutzt wurde. Der Liftboy nickte und schloss das Türgitter.
Helene hob die Hand und winkte mir zum Abschied kurz zu. »Denk dran, der Aufzug holt dich in genau achtundvierzig Stunden wieder ab.«
Bevor ich antworten konnte, sausten wir jedoch schon nach unten. Ich wäre fast in die Knie gegangen, hätte mich der Engel nicht am Ellenbogen gefasst und festgehalten.
»Zum ersten Mal mit einem Aufzug unterwegs, Frau Kollegin?«, fragte er grinsend. »Ich bin übrigens Manuel.«
»Ich bin kein Engel«, sagte ich leise und wurde rot. »Ich gehe zurück auf die Erde, weil mein Mann nicht über meinen Tod hinwegkommt und die Engel nicht mehr weiter wissen.«
Manuel sah mich überrascht an. »Oh. Da wird dir aber eine große Ehre zuteil. Gabriel muss dich sehr mögen. Ich habe noch nie einen Menschen zurück auf die Erde gebracht.«
»Ach, in zwei Tagen bin ich ja schon wieder hier oben.« Dann fiel mir ein, dass ich mich nicht einmal vorgestellt hatte. »Ich heiße Lucy.«
Engel Manuel ergriff meine Hand und schüttelte sie. »Na, vielleicht macht dir die Mission ja so viel Spaß, dass du danach beschließt, dich für eine Engelsausbildung zu bewerben. Wir haben im Moment nämlich ein paar Probleme mit dem Nachwuchs.«
»Man kann lernen, ein Engel zu sein?«, fragte ich ungläubig.
Manuel nickte. »Natürlich. Du musst nur den Eignungstest bestehen. Dann ist es ein ganz normaler Ausbildungsberuf. Oder hast du gedacht, wir fallen einfach so vom Himmel?« Er musste über sein eigenes Wortspiel lachen.
Mir sausten die Ohren. Wollte er mich auf den Arm nehmen? Plötzlich begann der Aufzug langsam zu bremsen, bis er schließlich ganz sanft zum Stehen kam. Manuel trat vor und öffnete das Gitter, dann ließ er mich aussteigen.
Um uns herum erstreckte sich ein großer quadratischer Raum, an dessen Wänden in antik aussehenden Schalen Flammen züngelten, die gespenstische Schatten warfen. Sobald wir die Gruft betraten, loderte das Feuer heller, sodass der Raum gleich ein bisschen weniger gruselig wirkte. Insgeheim hatte ich befürchtet, dass sich in der Gruft Särge befinden könnten; stattdessen stand an einer Seite des Raumes eine einfache Bank, wie es sie früher an Bushaltestellen gegeben hatte.
»Nanu?« Mein Begleiter sah sich suchend um. »Niemand da, um dich in Empfang zu nehmen?«
»Nein, die Engel haben alle zu viel zu tun.«
»Ich sag ja: Personalengpass. Hat dir Helene wenigstens gesagt, wie du hier rauskommst?«
»Ja«, murmelte ich zögerlich. »Ich soll die Stufen hinaufgehen. Am Ende ist eine Tür, die aus der Gruft führt. Durch die muss ich hindurchgehen, ohne sie aufzumachen.« Meine Stimme wurde immer unsicherer. Oben im Himmel hatte es sich noch nicht so abstrakt angehört wie hier unten. »Könntest du vielleicht warten, bis ich draußen bin, bevor du zurückfährst? Ich meine ... falls ich es nicht schaffe«, beendete ich den Satz fast im Flüsterton. Mein Gott, wäre das peinlich, wenn ich schon an der Tür scheitern würde und über mein Handy einen Notruf in den Himmel schicken müsste.
»Warte, ich komme schnell mit bis zur Tür.« Manuel nahm mich bei der Hand. Sofort fühlte ich mich erleichtert.
Wie sich einen Augenblick später herausstellte, war alles ganz einfach. Ich schreckte nur im ersten Moment zurück, weil es ungewohnt war, durch etwas hindurchzugehen. Aber schlussendlich war es nicht schwerer, als eine Hand in einen Eimer Wasser zu stecken. Im Freien drehte ich mich noch einmal um und winkte Engel Manuel zu, dann lief ich durch die Arkaden in die Sonne.
Ein warmer Sommertag empfing mich. Ich blieb stehen, schloss die Augen, hielt mein Gesicht in die leichte Brise und atmete den Duft eines nahen Rosenstrauchs ein.
Nach einer Weile beschloss ich, auf dem Weg zum Ausgang schnell mein Grab zu besuchen. Ich drehte mich um und ... stieß mit einer Frau zusammen, die mit dem Rücken ganz nah hinter mir stand. Sie fuhr erschrocken herum.
»Oh Gott, ich habe Sie gar nicht gesehen. Entschuldigen Sie bitte«, murmelte sie verlegen.
Ich war so schockiert, dass ich kein Wort herausbrachte. Stattdessen starrte ich sie ein paar Sekunden lang entsetzt an. Sie trug einen kleinen funkelnden Stein im linken Nasenflügel – mehr nahm ich nicht wahr. Abrupt wandte ich mich ab und ergriff die Flucht: Ich lief um mehrere Grabsteine und zwei hohe Statuen herum, bevor ich mich hinter vier ausladenden Lebensbäumen ins Gebüsch schlug. Dort lehnte ich mich schwer atmend gegen die alte Sandsteinmauer, die den Friedhof umgab. Mein Herz klopfte bis zum Hals.
Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, zückte ich wutentbrannt mein Handy und wählte die 999.
»Himmlische Notrufzentrale, ich bin Engel Isolde. Schönen guten Tag, was kann ich für dich tun?«
»Ich will auf der Stelle Erzengel Gabriel sprechen.«
»Wer ist denn da bitte?«
»Lucy. Lucy Theiss.«
»Und worum geht es?«
»Das sage ich Gabriel schon selbst!« Ich hasste dieses typische Vorzimmerdamengeplänkel.
»Erzengel Gabriel ist gerade in einer Konferenz. Kann ich ihm etwas ausrichten oder möchtest du es später noch einmal probieren?«
»Ich muss ihn aber jetzt sofort sprechen!«
»Wie gesagt, Gabri–«
»Es ist absolut dringend«, unterbrach ich sie. »Er hat gesagt, dass ich ihn jederzeit erreichen kann. Es geht quasi um Leben und Tod.«
Am anderen Ende der Leitung ertönte ein theatralisches Stöhnen. »Einen Moment bitte.«
Dann hörte ich ein Knacken in der Leitung. Ich wollte schon empört auflegen, weil ich glaubte, dass mich dieser blöde Engel aus der Leitung geschmissen hatte, als sich Gabriels ruhige Stimme meldete.
»Wer stirbt denn gerade, Lucy?«
So wie er die Frage stellte, konnte ich gleichsam durch die Leitung sehen, wie ein Lächeln seine Mundwinkel umspielte. Offenbar hatte er nicht erwartet, dass ich länger als fünf Minuten auf Erden weilen würde, ohne ein Problem zu haben. Na, dem würde ich es zeigen!
»Ich! Und zwar tausend Tode! Ich bin nämlich nicht unsichtbar!« Empört berichtete ich ihm von meinem Zusammenstoß mit der Frau und wie sie sich dann auch noch bei mir entschuldigt hatte.
Am anderen Ende blieb es einen Augenblick still, dann hörte ich ein leises Seufzen. »Die Frau war also der allererste Mensch auf der Erde, dem du begegnet bist?«, fragte der Erzengel in äußerst verständnisvollem Tonfall.
»Ja«, antwortete ich zögerlich.
»Okay, Lucy, pass auf. Es ist, wie ich es dir gesagt habe: Du bist unsichtbar.«
»Aber sie hat doch mit mir geredet!«
»Wenn man zum ersten Mal nach dem eigenen Tod wieder unter Menschen kommt, kann es passieren, dass man am Anfang das Gefühl hat, alle würden einen anschauen und mit einem reden. Aber das ist bloß Einbildung. Glaube mir, das passiert nur in deinem Kopf.« Nach einem Augenblick fuhr er noch sanfter fort: »Geh in die Gruft zurück, wenn du Angst hast. Ich schicke Engel Manuel, um dich abzuholen. Dann müssen wir uns eben etwas anderes für deinen Mann überlegen.«
»Ist es wirklich nur Einbildung?«, fragte ich kleinlaut. Keinesfalls wollte ich mich nach fünf Minuten schon wieder einsammeln lassen. Das wäre sicher das absolute Aus für meine mögliche Engelkarriere gewesen.
»Ja, definitiv.« Gabriel hielt einen Moment inne, dann fragte er: »Kannst du auf dem Friedhof irgendjemanden sehen?«
Ich steckte den Kopf hinter meinem Sichtschutz hervor und schaute mich um. »Schräg gegenüber ist eine alte Frau, die Blumen gießt.«
»Okay, Lucy. Geh zu der Dame, und frag sie nach der Uhrzeit. Ich bleibe so lange am Telefon.«
Schweren Herzens schlüpfte ich aus meinem Versteck und lief zögerlich zu der Rentnerin hinüber. Zwar hatte ich Bedenken, dass sie vielleicht einen Herzinfarkt bekommen könnte, wenn plötzlich eine ganz in weiß gekleidete Frau mit ebensolchen Badelatschen neben einem Grab auftauchte und sie ansprach, aber ich verließ mich darauf, dass in ihrem »Buch des Lebens« nicht gerade dieser Augenblick zum Sterben vermerkt war.
»Entschuldigung, könnten Sie mir bitte sagen, wie spät es ist? Ich habe dummerweise meine Uhr zu Hause liegengelassen.«
Das Mütterchen reagierte nicht. Ich wurde mutiger und fragte noch einmal – diesmal mit erhobener Stimme, die sie hören musste, auch wenn sie schwerhörig war. Wieder keine Reaktion. Endlich beugte ich mich vor, hielt ihr meine Hand vors Gesicht und machte eine winkende Bewegung. Sie reagierte noch immer nicht.
»Hm, du hast wohl doch recht«, murmelte ich verschämt ins Telefon. »Das war offenbar falscher Alarm.«
»Kein Problem, Lucy. Dafür bin ich ja da. Wenn wieder etwas ist, ruf mich einfach an. Aber vielleicht könntest du dir damit eine halbe Stunde Zeit lassen, wir haben gerade ein Konsolidierungsgespräch.«
Ich schluckte. »Dann ... Entschuldigung wegen der Störung.«
»Ist schon in Ordnung, Lucy. Bis zum nächsten Anruf.« Damit legte Gabriel auf.
Na, das hatte ich ja klasse hinbekommen. Sicher hatte ich jetzt im Himmel meinen Ruf weg. Ich seufzte und machte mich auf den Weg zur Straßenbahnhaltestelle der Linie 6. Zwar achtete ich noch immer verstohlen darauf, wie die Menschen auf mich reagierten, da aber niemand Anstalten machte, mich anzusprechen, ging ich schon bald hocherhobenen Hauptes durch die Straßen.
Erst, als ich in die Tram einstieg und mir schlagartig bewusst wurde, dass ich nun als Schwarzfahrerin unterwegs war, begann ich, die Leute wieder ganz genau zu mustern. Denn das wurde mir in dem Augenblick zum ersten Mal bewusst: Ich besaß weder einen Ausweis noch Geld. Das Einzige, was ich bei mir hatte, war ein Handy, mit dem man im Himmel anrufen konnte.
Herzlichen Glückwunsch demjenigen, der diese Geschichte einem Fahrkartenkontrolleur oder einer hinzugerufenen Streifenwagenbesatzung erzählen wollte.
Meinen Befürchtungen zum Trotz kam ich nach zweimaligem Umsteigen unbehelligt bei unserem Haus in der Lerchenstraße an. Ich blieb einen Augenblick an der Gartenpforte stehen, bevor ich mich verstohlen umsah, mein Kleid zusammenraffte und umständlich über das Türchen kletterte. Schade, dass die Tür zur Gruft eine Ausnahme gewesen war und es mir als Nicht-Engel unmöglich war, einfach so durch Wände zu gehen.
Im Garten lief ich über die frisch gemähte Wiese zu unserem kleinen Geräteschuppen, in dem ich vor Jahren in einer alten Lebkuchendose hinter dem Rasendünger einen Ersatzschlüssel versteckt hatte. Hoffentlich hatte Gregor ihn zwischenzeitlich nicht weggenommen. Er war immer dagegen gewesen, es Einbrechern leichter zu machen als unbedingt nötig. Aber ich hatte Glück: Dose und Schlüssel waren noch dort.
Erneut blickte ich mich prüfend um, bevor ich die Haustür aufschloss. Es war ein eigenartiges Gefühl, nach einem Jahr so unerwartet das traute Heim wieder zu betreten. Einen Augenblick überkamen mich Zweifel, ob ich wirklich sehen mochte, was sich alles verändert hatte, seit ich gestorben war. Aber jetzt war es zu spät. Ich wollte Gregor helfen, da konnte ich nicht vor der Tür stehen bleiben.
Gleich als Erstes ging ich auf direktem Weg ins Dachgeschoss, um einen Blick in mein ehemaliges Zimmer zu werfen. Als mein Mann und ich das Haus gekauft hatten, war für uns bereits klar gewesen, dass wir keine Kinder wollten. Also hatte sich jeder von uns ein eigenes Zimmer in der Mansarde eingerichtet. Gregor hatte seine Modelleisenbahn aufgebaut – ich hatte meins mit Bücherregalen vollgestopft. Und mit einem bequemen Sessel, einer Leselampe und den Stofftieren aus meiner Kindheit. Mir zitterten die Finger, als ich die Hand nach der Klinke ausstreckte.
Ich hätte mir aber keine Sorgen machen müssen: Nichts hatte sich verändert. Gar nichts. Weder hier noch in den anderen Räumen. Meine Betthälfte im Schlafzimmer war nach wie vor bezogen, meine Kleider hingen alle wie früher neben denen von Gregor im Schrank, und auch meine Blumen im Wohnzimmer waren gegossen. Alles sah so aus, als sei ich bloß in die Arbeit gegangen und würde am Abend zurückkommen. Nur in der Küche war nirgendwo etwas Essbares zu finden.
Ich lief zurück hinauf ins Schlafzimmer, um mir eine Jeans und ein T-Shirt herauszusuchen, entschied mich dann im letzten Moment aber für eins meiner Kostüme. Cremefarbene Bluse, enger roter Rock bis knapp übers Knie, rotes Sakko. In Rock und Bluse sah ich nicht nur schicker aus, ich fühlte mich darin auch anders. Agentin Null Null Engel Lucy. Ich musste grinsen. Meine Engelskleidung versteckte ich vorsichtshalber hinter ein paar Stofftieren in meinem alten Zimmer. Sicher ist schließlich sicher. Danach schlüpfte ich schnell in meine roten Pumps, die Gregor anlassbezogen so sehr mochte und machte mich auf den Weg zu seiner Dienststelle.
In dem Lucy ihren Mann wiedersieht
Eine halbe Stunde später hatte ich mich unbemerkt durch die Sicherheitsschleusen in das Gebäude gemogelt. Mit klopfendem Herzen ging ich den breiten Flur entlang. Das vorletzte Büro rechts gehörte Gregor. Die Tür stand offen. Ich blieb auf der Schwelle stehen und schaute hinein.
Er saß an seinem Schreibtisch und telefonierte. Seine müden Augen waren blutunterlaufen. Er war unrasiert, trug ein schwarzes, kurzärmeliges Hemd. Seine schmalen langen Finger spielten ununterbrochen mit einem Füller. Und seine Stimme klang zwar so ruhig wie immer, aber für mein langjährig geschultes Ohr hatte sich auch da eine Nuance der Trostlosigkeit eingeschlichen. Plötzlich beugte er sich vor, nahm mit einer Hand seine Brille aus dem Etui, setzte sie auf und las etwas von seinem Bildschirm ab.
Ich hatte es immer besonders gemocht, wenn er sie trug, weil sie ihm so gut stand und seinem hageren Gesicht ein wenig mehr Breite verlieh. Vor allem aber gefiel mir der Anblick, weil sie seine walnussbraunen Augen betonte und ihn irgendwie reifer wirken ließ. Denn trotz seines Alters und seiner Führungsposition konnte mein Mann hochgradig infantil herumalbern, wenn er mit mir allein war.
Nachdem er das Gespräch beendet hatte, ging ich ins Zimmer und sprach ihn behutsam an. Zwar hatte ich inzwischen verinnerlicht, dass die Menschen mich nicht sehen und hören konnten, aber ich war mir sicher, dass es bei ihm anders war.
Wir waren über fünfzehn Jahre lang glücklich verheiratet gewesen. Wir hatten gewusst, was der andere dachte, ohne dass er es aussprechen musste, hatten die Stimmungen erkannt, sobald wir uns sahen – und wir hatten gefühlt, wenn der andere den Raum betrat.
Doch mein Mann sah weder auf, noch ließ er auf sonstige Art erkennen, dass er meine Anwesenheit bemerkt hatte. Um genau zu sein, tat er sogar das Gegenteil: Er rollte in seinem Bürostuhl ein Stück vom Schreibtisch zurück, nahm die Brille ab und warf sie achtlos neben den Bildschirm. Dann drehte er sich von mir weg, um aus dem Fenster zu starren.