Aufgelöst - Wilma Müller - E-Book

Aufgelöst E-Book

Wilma Müller

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Beschreibung

'Mit der Zeit wirst du alles verstehen. Das Spiel von Licht und Schatten. Ich wollte dich nur warnen. Pass auf. Es ist nicht immer alles schwarz oder weiß.' Hallo, ich bin Ilka. Ein ganz normales Mädchen. Zumindest war ich das bis zu dem Ereignis das mein komplettes Leben auf den Kopf stellte. Na ja und jetzt? Unheimliche Schatten, Personen aus Nebel und seltsame Kräfte. Natürlich konnte ich jetzt super Streiche spielen, aber ich hatte mich in ein massives Knäuel aus Geheimnissen verstrickt und war mir nicht sicher, ob ich es je verstehen würde. Dabei konnten mir wohl nur ein paar ziemlich schräge Leute helfen...

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Wilma Müller, geboren 2003, ist noch Schülerin an einem Gymnasium. Mit 13 Jahren begann sie ihre Ideen zu Papier zu bringen. „Aufgelöst – Hinterm Nebel liegt die Wahrheit“ ist ihr erster Fantasy-Roman.

Für alle, die, genau wie ich,

gleich mit der Geschichte anfangen

und das hier gar nicht erst lesen

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 1

Hallo, ich heiße Ilka, um genau zu sein Ilka Iris Ina Ingrid Isolde Isabell Ingeborg Schreiner-Imholz. Fieser Name, ich weiß. Meine Eltern haben generell einen schrägen Humor. Da hat es meine siebenjährige Schwester schon besser getroffen. Frieda Felizitas ist zwar auch nicht gut, aber um Welten besser.

Übrigens ich ging mittlerweile in die achte Klasse. Allerdings ähnelte meine Klasse manchmal eher einem Irrenhaus als sonst was (als die Patienten einer Psychiatrie gingen sie in den 5 Minuten Pausen definitiv durch).

Eine der schrägen Macken meiner Klasse war zum Beispiel, dass manche Haare sammelten. Sie rissen sie den Anderen aus und tauschten diese auch unter einander. Von meinen Haaren waren, aber noch nicht so viele im Umlauf.

Leider saßen meine beiden besten Freundinnen Nele und Rita in der anderen Ecke des Klassenraums und ich musste mich mit der Gesellschaft eines Klaviers begnügen. Auch sonst führte ich das typische, eintönige Leben eines Teenagers.

Das änderte sich jedoch an einem Freitag der eigentlich ganz normal wirkte.

Ich war in einem Wald in China. Woher ich wusste, dass ich ausgerechnet in China war, wusste ich nicht. Wie das nun mal in Träumen manchmal so ist, man weiß Dinge ohne ersichtlichen Grund.

Auf jeden Fall war es Winter. Die Bäume waren mit Frost überzogen und dicke Schneeflocken schwebten vom Himmel. Bei jedem meiner Schritte knirschte der mit einer Eisschicht überzogene Schnee. Außer einem blütenweißen Nachthemd, das ich noch nie gesehen hatte, trug ich nichts. Und trotzdem waren meine nackten Füße nicht kalt. Der Himmel war grau und alles war ganz leise.

Die einzigen Laute die in dieser Einöde zu hören waren, waren meine Schritte, die in der Stille unfassbar laut wirkten. Mir war nicht kalt, irgendwie fühlte ich gar nichts. Wie in Trance ging ich in einem immer gleichen Rhythmus durch den Wald. Alles sah gleich aus, aber irgendetwas in mir wusste den Weg.

„Ilka! Warte! Bleib stehen!“, rief eine Stimme die mir gleichzeitig so bekannt und doch so fremd war. Der Teil in mir, der bis jetzt die Kontrolle gehabt hatte, der gefühllose Teil, wollte weiter gehen, doch ich wollte sehen wer nach mir gerufen hatte.

Es fühlte sich falsch an den Rhythmus zu unterbrechen und im Schnee stehen zu bleiben. Ich drehte meinen Kopf und warf einen Blick über die Schulter. Zuerst konnte ich niemand sehen. Bis mir etwas Schwarzes auffiel. Das einzige Schwarze hier. Und dieses Schwarze Etwas war mir sehr bekannt.

„Pummelchen!“, ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus und mit einem Schlag waren alle meine Gefühle wieder da, inklusive der Kälte, die um mich herum herrschte. Fröstelnd schlang ich die Arme um meinen Körper. „Wie kommst du hier her?“, fragte ich die sprechende Katze die mich mit großen Augen anblickte und eigentlich seit letztem Herbst tot war.

„In Träume zu kommen ist nicht besonders schwer. Ich glaube du schaffst das auch. Mit ein bisschen Übung natürlich. Lass uns weiter gehen, dann erzähle ich dir mehr“, antwortete sie mit einer Stimme die eindeutig nicht menschlich war, aber genau so wenig das Maunzen einer Katze.

Gemeinsam gingen wir weiter. Pummelchens Pfoten hinterließen feine Abdrücke im Schnee. Die Schneeflocken blieben in ihrem schwarz-weißen Fell hängen, doch ihr schien gar nicht kalt zu sein. Im Gegensatz zu mir. Seit meine verstorbene Katze aufgetaucht und ich wieder voll bei Bewusstsein war, war mir sehr kalt.

„Wie meinst du das mit dem in Träume kommen?“, wollte ich den Blick auf die dicke Katze gerichtet wissen: „Ich verstehe das alles nicht.“

Schon oft hatte ich schräge Träume gehabt in denen Pummelchen vorkam, doch keiner hatte so… real auf mich gewirkt wie dieser.

„Mit der Zeit wirst du alles verstehen. Das Spiel von Licht und Schatten. Ich wollte dich nur warnen. Pass auf. Es ist nicht immer alles schwarz oder weiß“, mit diesen Worten fing Pummelchen an zu leuchten.

Das Licht war so hell, dass ich meine Augen schließen musste. Und dann war sie von einem Augenblick auf den Nächsten verschwunden. Verwundert schaute ich mich kurz um. Dann ging ich weiter in die Richtung die mir mein Unterbewusstsein vorgab. Nach kurzer Zeit war ich wieder in meinen Rhythmus verfallen und vollkommen gefühllos. Was auch ganz angenehm war, denn so spürte ich die eisige Kälte nicht mehr. Scheinbar endloslang stapfte ich weiter durch den Schnee.

Irgendwann, ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, erreichte ich einen gigantischen zugefrorenen See. Mein Unterbewusstsein sagte mir, dass ich unbedingt über diesen See gehen musste, aber ich zögerte.

Eine leichte Windbrise wehte die Nebelschwaden, die über der eisigen Wasseroberfläche hingen zur Seite. Das Eis sah allerdings nicht besonders dick aus, denn ich konnte Schatten unter der Oberfläche sehen. Waren das Fische? Oder war das etwas anderes … Böses?

Bei diesem Gedanken lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Nie und nimmer würde ich auf diesen See gehen.

Doch plötzlich stieß mich etwas von hinten so fest, dass ich nach vorne auf den See stolperte. Sofort bildeten sich Risse.

Bevor ich irgendwie reagieren konnte, zerbrach das Eis unter meinen Füßen und ich tauchte unter. Doch dieses Wasser war anders als alles das ich kannte. Ich fiel durch es hindurch, als wäre es nur Luft und hatte gleichzeitig das Gefühl zu ertrinken. Immer tiefer stürzte ich in pure Finsternis.

Mit einem dumpfen Laut kam ich auf dem Boden auf. Und der Boden war…weich.

Außerdem fühlte der Sturz sich nicht an wie aus großer Höhe, eher wie aus meinem Bett. Wenn ich es mir recht überlege, dann fühlte sich der Boden an, wie der Teppich in meinem Zimmer. Und dieses gurgelnde Geräusch glich dem das mein Filter im Aquarium machte.

Langsam richtete ich mich wieder auf. Ja, das war mein Zimmer und China nur ein Traum.

Erleichtert ließ ich mich nach hinten fallen. Ein Fehler. Ich hatte nicht daran gedacht, dass ich nicht im Bett lag. Also lag ich schon wieder auf meinem Teppich.

Mühselig krabbelte ich in mein heiß geliebtes Bett und ließ mich rein plumpsen. Das war ein tolles Gefühl. Wärme, Geborgenheit und eine kuschelige Decke.

Leider hielt dieses Gefühl nur wenige Sekunden an. Laut begann mein Wecker zu piepen.

Ein Stöhnen entfuhr mir. Es war ja Montag! Langsam ging mir das Piepen des Weckers auf den Wecker.

„Lass mich doch schlafen, ich hab schlecht geträumt!“, maulte ich den Wecker an. Aber was brachte das schon? In Deutschland gibt es ja LEIDER Schulflicht.

Wiederstrebend robbte ich aus dem Bett und stellten den Wecker aus. Schnell schaltete ich das Licht an. Schwarze Punkte tauchten vor meinen Augen auf, aber diese verschwanden auch bald wieder, als sich meine Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten.

Immer noch etwas benommen von meinem Alptraum taumelte ich zu meinem Schrank. Wenig wählerisch zog ich aus den Schubladen eine schlichte blaue Jeans, ein Paar Socken und ein dunkelblaues Sweatshirt. Verträumt zog ich mich um und trottete die Steintreppe runter.

Aus der Küche schien schon Licht. Wie immer. Genüsslich räkelte ich mich noch einmal bevor ich in die Küche trat.

„Hallo, Papa!“, müde ließ ich mich auf die Bank fallen.

„Gut geschlafen, Mäuschen?“, so nennt er mich immer obwohl ich schon 14 bin!

„Ganz gut“, das war natürlich gelogen, aber er musste ja nicht wissen, dass ich einen Alptraum gehabt hatte. Wahrscheinlich würde er sonst noch jede Nacht in mein Zimmer kommen und mir ein Nachtlicht in die Steckdose stecken. Darauf konnte ich gut verzichten.

„Ich habe dir schon mal dein Müsli gemacht“, meinte mein Vater viel zu fröhlich für den frühen Morgen.

„Danke Papa!“, das war jetzt nicht gelogen ich fand es wirklich nett, das Frühstück gemacht zu bekommen, auch mit 14.

Nach dem kurzem Essen spazierte ich ins Wohnzimmer. Ich hatte noch ein bisschen Zeit bis ich los musste.

Zum Englisch lernen hatte ich heute kein Bock. Deshalb schnappte ich mir einfach ein Buch und begann zu lesen. War nicht gerade das Spannendste, aber für diesen Moment genau das Richtige.

„Mäuschen! 35!“, Papa lehnte schon im Türrahmen. Mit „35“ meinte er, dass es 6:35 war und ich mich auf den Weg machen muss.

„Ich komm ja“, murrte ich.

Am Ende der Treppe zog ich mir meine schwarzen Stiefeletten an.

„Mau!“, etwas oder besser gesagt jemand strich um meine Beine. Um genau zu sagen Rambo unser Kampfkater. „Ach Rambo, ich muss jetzt in die Schule. Geh spiel doch ein bisschen mit deinem Bruder Rocky.“

Wie gesagt unsere Familie hatte einen Faible für seltsame Namen.

„Beeil dich, du musst los! Sonst verpasst du noch das Taxi!“, tönte es ungeduldig von oben auf der Treppe.

Bedacht auf keine Pfoten, Schwänze oder Sonstiges zu treten, holte ich meinen Bundeswehr-Parka

„Tschüss, bis heute Mittag“, das es dazu nicht mehr kommen sollte, wusste ich damals noch nicht.

Schnell schlüpfte ich aus dem Haus.

Es war kalt und regnerisch. Aber das machte mir nicht wirklich was aus, denn der Bundeswehr-Parka aus dem Jahr 1984 hielt super Kälte und Regen ab. Und er hatte wirklich riesen große Taschen, in denen ich immer alles Mögliche verstaute. Dafür war er auch extrem schwer.

Der Weg zur Bushaltestelle war nicht weit. „Bushaltestelle“ ist eigentlich nicht korrekt, da hier außer dem Kindergartenbus keine Busse fahren. Weil Widanbach so klein ist (mehr Kühe als Einwohner) wurden wir morgens und mittags immer mit dem Taxi in den Nachbarort gefahren.

Hin und wieder erklang ein einzelnes Vogelzwitschern. Wieder mal war ich die Erste und erst langsam kamen die Anderen.

Lara war schon in der 12. Und so verhielt sie sich auch, sie durfte immer vorne auf dem Beifahrersitz sitzen, während wir uns hinten rein quetschen mssten.

David war auch nicht viel besser. Er meckerte immer an allem rum und war voll egoistisch. Vielleicht wollte er dadurch lässig erscheinen, weil er schon in die 10. ging. Keine Ahnung. Ich mochte ihn einfach nicht.

Und da gab es ja auch noch Simon. Der war am schlimmsten. Er ging in die 7., war aber nur so groß wie ein Grundschüler (und nein er hat keine Klasse übersprungen). Da passte der Spruch „Gift gibt es nur in kleinen Flaschen“ gut. Auf den ersten Blick sah er einfach nur lächerlich aus mit seinen schulterlangen blonden Löckchen und den Wollsocken. Aber hinter dieser Fassade schlummerte ein Vollidiot. Er hatte mich schon einmal mit Bananenschalen abgeworfen! Ich könnte ja noch weiter erzählen, aber das war der Trottel nicht wert.

Nach einer gefühlten Ewigkeit im Regen kam auch endlich das Taxi. Ich hielt David die Tür auf und er war dumm genug als Erster rein zu gehen. So konnte ich mir ganz leicht einen Platz am Fenster ergattern, denn in der Mitte zu sitzen war einfach nicht auszuhalten.

Gedankenverloren blickte ich aus dem Fenster. Selbst durch den dünnen Wasserfilm auf der Fensterscheibe konnte ich in der Ferne die Lichter der umliegenden Dörfer aus machen. Ansonsten war alles dunkel. Nicht mal der Mond war zu sehen. Und dabei hatten wir fast Vollmond.

Nebel waberte über die Wiesen. Alles lag friedlich da, wie immer. Die Dunkelheit wechselte zu den Lichtern von Finkelstein. Hier endete meine Fahrt. Nun konnte ich mir hier den Arsch abfrieren.

Es war jeden Tag die gleiche unendliche Warterei, dabei war es nur ne‘ Stunde. Nicht gerade leise bog unsere Schrottkarre von Bus um die Ecke. Ja, er awr zwar noch voll funktionstüchtig, aber im Vergleich zu den Anderen ist er einfach nur schrottig. Im Bus hatte ich so zu sagen einen festen Platz. Fast immer saß ich hinter dem Fahrer.

Dies sollte ich auch, als es geschah.

Aus dem Busfenster konnte man auch nicht mehr erkennen als aus dem Taxi. Normalerweise starrte ich während der Busfahrten nur verträumt nach draußen. Doch heute war ich durch den fiesen Albtraum einfach zu fertig. Meine Augen wurden fast sofort schwer, so schwer, dass sie mir schon nach wenigen Wimpernschlägen endgültig zufielen.

Ich stand auf der Steintreppe, die zu den Informatikräumen führte. Plötzlich veränderte sich die Treppe. Ein Stück aus vielleicht 10 Stufen verschwand. Und es kam mir vor als würde der Abstand zur nächsten Treppe sich vergrößern.

Gänsehaut überzog meine Arme. So etwas passierte andauernd in meinen Träumen. Abwärts konnte ich jetzt schon mal nicht mehr gehen. Der Einfachheit halber stieg ich die restlichen Stufen wieder hoch.

Zielstrebig bog ich in den linken Schulflur ein. Warum wusste ich nicht. Es war wie bei meinem letzten Traum. Etwas zog mich regelrecht in die eine Richtung. Niemand war da.

Totenstille herrschte hier. Nur meine Schritte hallten gespenstig und unnatürlich von den Wänden wieder.

Ich öffnete eine Tür nach der anderen. Doch keine führte in einen Klassenraum sondern nur in einen weiteren Flur voller Türen.

Irgendwann hatte ich mich hilflos verlaufen. Meine Füße taten vom ganzen Gehen schon weh und diese Herumirrerei ging mir langsam aber sicher auf die Nerven.

Gelangweilt riss ich die nächste Tür auf.

Diese Tür war anders, hinter ihr erschien das Innere eines Busses. Fast war er vollständig besetzt nur ein einziger Platz war frei. Und der lag ausgerechnet neben Titus.

Wenn ihr mich fragt war er von den Jungen aus meiner Klasse mit Abstand der Beste.

Sollte ich noch mal zurück gehen und sehen ob ich vielleicht einen anderen Ausweg finde?

Suchend sah ich mich nach einer der grauen Klassentüren um, aber die durch die ich gekommen war, war verschwunden. Einfach weg.

Gerade hatte ich mich entschieden neben Titus auf den Sitz zu fallen, da bebte plötzlich der ganze Bus.

Die Kulisse verwandelte sich. Der Bus löste sich auf und wurde zu einem Anderen.

Anscheinend war der Bus, der echte, reale Bus, in ein Schlagloch gefahren.

Zum Glück, denn sonst hätte ich das Aussteigen verpennt. Als die Türen aufgingen, wehte mir ein kalter Lufthauch entgegen. Wir waren da. Mit schnellen Schritten überquerte ich den Bushalteplatz.

Vor mir lag jetzt der von allen auf der Schule verhasste Restweg zur Schule. Es waren zwar nur etwa 400 Meter, aber eine tierisch steile Straße. Morgens ging es nach unten, aber mittags… Der Aufstieg war immer der reinste Horror. Besonders im Sommer. Aber das war bei dem jetzigen Wetter kein Problem.

Die Straßenlaternen warfen mit ihrem rötlichen Licht lange Schatten auf den Gehweg. Hinter mir ging eine schnatternde Gruppe Mädels aus der 9. oder so. Ansonsten war der Weg leer.

Entweder standen die Anderen noch an der Bushaltestelle oder sie waren schon unten auf dem Schulhof.

Unten angekommen, wollte ich mich am liebsten irgendwo hinlegen, aber jetzt war ich schon so weit gegangen da konnte ich auch noch das bisschen zum Vertretungsplan gehen. Wie üblich hatten wir volle sechs Stunden und keinerlei Freistunden. Unsere Parallelklasse hatte da definitiv mehr Glück – wie immer.

Dann gesellte ich mich zu den Mädels aus meiner Klasse.

Das Gespräch heute im „Kreis“ war auch uninteressant.

Das Thema war nämlich Fußball. Langweilig.

Da war die Pausenglocke mal zur Abwechslung eine echte Erlösung.

Ich schloss mich meinen Freundinnen Rita und Nele an und stellte mich dem Schulalltag. In Mathe mussten wir mit Buchstaben rechnen und so einen Quatsch. Und auch der weitere Schultag zog sich wie Kaugummi dahin. Die Englischstunde von Frau Zerezki schläferte mich dann endgültig ein.

Als ich wieder aufwachte klingelte es gerade zum Schulende und ein Sabberfleck hatte mein Heft verschmiert. Na toll.

Ein Glück, dass ich in der letzten Reihe saß, vielleicht war es ja niemandem aufgefallen.

In diesem Jahr hatten wir wirklich einige der schlimmsten Lehrer erwischt.

Bedauerlicherweise stand mir nun der Rückweg zur Bushaltestelle bevor.

Mittlerweile hatten sich die Regenwolken von heute Morgen verzogen und die Sonne schien erbarmungslos auf uns herab. Dazu hatte der Wind von angenehm kühl zu eiskalt gewechselt.

Schon nach Dreiviertel des Weges keuchte ich völlig außer Atem und wollte einfach nur stehenbleiben. Aber wenn ich noch den Bus kriegen wollte, musste ich wohl oder übel weiter.

Endlich war ich oben angekommen. Mein schneller Atem bildete kleine Rauchwölkchen.

Und welcher Bus stand da schon? Meiner. Völlig fertig hetzte ich noch die letzten Meter zum Bus.

Obwohl „mein Platz“ noch frei war standen hinten im Bus schon einige Schüler. Ich weiß gar nicht was alle gegen den Sitz hinterm Fahrer hatten.

Verträumt starrte ich aus dem Fenster, froh das ich den Bus nicht verpasst hatte.

Doch es wäre wohl besser für mich gewesen, ich würde jetzt verzweifelt an der Haltestelle stehen.

Am Anfang war alles wie normal. Da überall Baustellen waren, mussten wir einen langen Umweg fahren. Deshalb hatte der Bus in letzter Zeit auch andauernd Verspätungen gehabt.

Es geschah kurz nach unserem ersten Halt. Munzenheim.

Hinter diesem Ort führt eine schmale Straße bergab. Plötzlich ertönte ein Unheil verkündendes Geräusch.

Überrascht setzte ich mich aufrecht hin. Was war das?!

Panik packte mich. Wir waren viel zu nah am Abhang.

Kam es mir nur so vor oder neigte sich der Bus langsam zur Seite? Mein Gehirn war wie leer gefegt. Dann ging alles viel zu schnell. Gelähmt saß ich da, unfähig mich zu bewegen.

Die Reifen drehten durch. Ein Ruck durchfuhr den gesamten Bus und er kippte zur Seite.

Äste zerbrachen unter dem Gewicht des Fahrzeugs. Leute fielen durch den Bus und alle schrien wild durcheinander.

Auf einmal durchfuhr ein stechender Schmerz meinen Hinterkopf. Alles wurde schwarz und alle verstummten.

Kapitel 2

Langsam öffnete ich meine Augen. Nichts tat mehr weh und… ich fühlte mich seltsam leicht.

Vorsichtig setzte ich mich auf. Wo war ich überhaupt?

Orientierungslos blickte ich mich um.

War das etwa…nein. Aber alles sah danach aus. Die weißen Wände, die blinkenden Geräte und zu guter Letzt das Krankenbett neben mir. Wieso sollte ich im Krankenhaus sein? Und warum hatte ich dann immer noch Jeans und Sweatshirt an?

Erst jetzt bemerkte ich, dass ich irgendwie durchscheinend aussah. Das war doch unmöglich! Bestimmt sah ich nur etwas verschwommen.

Moment mal! Ich saß da auf etwas, das nach einer Person aussah. Mit ungutem Gefühl stand ich vom Bett auf. Meine Beine zitterten, aber das kam nicht von Anstrengung.

Wieder schwappte eine Welle der Angst über mich, Angst vor dem was ich sehen würde wenn ich mich umdrehe.

Ein Teil wollte einfach nur die Augen schließen und davon rennen, doch etwas sagte mir, dass es sein musste. Vorsichtig drehte ich mich wieder um.

Im Bett lag…ich. Bewusstlos. Geschockt taumelte ich rückwärts. „W-was?“, stotterte ich.

Mittlerweile fühlten sich meine Beine an wie aus Gummi.

„Bestimmt ist das nur wieder einer dieser Alpträume“, versuchte ich mir ein zu reden. Aber es wirkte na ja so… real.

Das war jetzt eindeutig zu viel für einen Tag.

Erschöpft ließ ich mich gegen die Wand mit den Fenstern fallen. Zumindest hatte ich das vorgehabt.

Ich fiel rückwärts. Plötzlich verschwamm alles vor meinen Augen und mir wurde schlecht. Nur Sekunden später war das Gefühl auch schon wieder vorbei. Allerdings befand ich mich im freien Fall und stürzte neben dem Krankenhaus in die Tiefe.

Gefährlich schnell kam der Boden näher. „Gleich wirst du Wort wörtlich am Boden zerstört sein. Und nur weil du durch eine massive Steinwand gekippt bist“, sagte mir mein Verstand.

Doch wie viel Sinn ergibt das schon? Man fällt doch nicht einfach durch eine Wand und hinterlässt nicht mal ein Loch an der Stelle!

5… 4… 3… 2… 1… BUMM!! Eigentlich müsste ich jetzt tot sein.

Ohne irgendwelche Probleme richtete ich mich auf. Was war nur mit mir los?! Ich war so in Gedanken vertieft, dass ich erst zu spät bemerkte, dass ein Krankenwagen auf mich zu fuhr. Der Fahrer machte nicht mal den Versuch auszuweichen oder zu bremsen.

War der denn verrückt geworden!? Ich dachte Sanitäter versuchen Menschen zu retten und nicht platt zu fahren!

Wie erstarrt glotzte ich den Fahrer an. Gleich wär es wieder aus mit mir.

Obwohl das hatte ich eben bei dem Sturz auch schon gedacht.

Erneut verschwamm alles, nur wurde mir dieses Mal nicht so extrem schlecht.

Die Wucht des Aufpralls zwang mich in die Knie. Ansonsten ging es mir den Umständen entsprechend „gut“.

Die Gewissheit jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken. War ich vielleicht schon tot? Dann würde ich doch nicht mehr im Krankenhaus liegen, oder? Es gab nur einen Weg das heraus zu finden.

Von neuer Entschlossenheit gepackt, marschierte ich zum Eingang. Mit einem Ruck wollte ich die Tür auf reißen, doch meine Finger glitten durch den Türgriff.

„Hatte ich ganz vergessen“, murmelte ich vor mich hin.

Wenn ich Recht hatte mit meiner Vermutung würde eh keiner mich hören geschweige denn sehen können. Das würde dann auch erklären wieso ich gerade rücksichtslos überfahren wurde.

Ich atmete tief durch und ging geradewegs durch die Tür.

Dieses Mal war mir sogar nur noch etwas schwindelig.

Langsam gewöhnte ich mich daran, dass ich durch alles und jeden gehen konnte.

Trotzdem beunruhigte mich diese Vorstellung immer noch.

Ich war verwirrt und wusste nicht was ich als Nächstes tun oder von dieser ganzen Sache halten sollte.

Mal im Ernst das war wirklich zu absurd!

Ziemlich planlos machte ich mich auf die Suche nach meinem Zimmer. Ich schätze die Lage auf mindestens das 4.

Stockwerk oder höher.

Ein resignierter Seufzer entfuhr mir und ich setzte mich in Bewegung. In den Aufzug traute ich mich nicht zu gehen, wer weiß was dann passieren würde. Ich wollte es lieber gar nicht wissen.

Deshalb nahm ich die Treppe. Hin und wieder versank mein Fuß bis zum Knöchel in einer Stufe aber ansonsten war alles normal.

Wie in meinem Traum leitete mich mein Unterbewusstsein.

Vor einer Tür blieb ich abrupt stehen.

Von drinnen hörte ich bekannte Stimmen. War das etwa meine Schwester? Unentschlossen wippte ich von einem Fuß auf den anderen.

„Jetzt reiß dich gefälligst zusammen!“, stutzte ich mich in Gedanken selbst zu recht. Und schon stand ich im Raum.

Um mein bewusstloses Ich stand meine Familie. Alle blickten betroffen und mitfühlend auf mich herab (die Bewusstlose Ilka). Sie alle schienen genauso wenig glauben zu können wie ich, was hier vor sich ging.

Meine kleine Schwester sprach die Frage, die auch mir auf der Zunge lag laut aus: „Ist Ilka tot?“

Meine Mutter blickte sie mit blassem Gesicht an und versuchte ein beruhigendes Lächeln in ihr Gesicht zu zaubern:

„Nein, mein Schatz. Sie liegt im Koma. Bestimmt wacht sie schon bald noch mal auf. Die Ärzte tun alles Mögliche.“

Die Verzweiflung und Angst in ihrer Stimme waren deutlich heraus zu hören. Frieda jedoch gab sich damit zufrieden und legte mir mit den Worten: „Rudi passt auf dich auf, bis du wieder daheim bist. Hab dich lieb!“, ihr Lieblingskuscheltier in den Arm.

Tränen der Rührung traten mir in die Augen. „Hab euch auch lieb“ flüsterte ich, auch wenn mich keiner hören konnte: „Ich schaff das!“

Es tat so weh sie alle so traurig und verzweifelt zu sehen.

Wenigstens war ich nicht tot, das war aber nur ein kleiner Lichtblick in einem Meer aus Problemen.

Lautlos wurde die Tür hinter mir geöffnet. Niemand merkte etwas, nur ich, denn wer auch immer sie geöffnet hatte, hatte die Tür direkt durch mich hindurch bewegt. Kein angenehmes Gefühl, kann ich euch sagen.

Wütend drehte ich mich um. Im Türrahmen stand eine Krankenschwester und schaute ernst in die Runde: „Die Besuchszeit ist zu Ende. Unsere kleine Patientin braucht ihre Ruhe. Dr. Müller hat nun Zeit. Folgen sie mir bitte.“

Und schon wieder glitt die Tür durch mich hindurch. Wenn ich vorbereitet war, dass so etwas passiert ging es ja noch, aber wenn ich das nicht war, war es gar nicht toll.

Der ganze Trupp bewegte sich den Flur entlang bis zum Arztzimmer und ich schlich hinterher. Zwar war das Anschleichen völlig unnötig, aber instinktiv machte ich es trotzdem. Im Zimmer saß ein mittelalter Arzt mit weißem Kittel und bat meine Familie sich zu setzen. Gerne hätte ich das auch getan, aber ich befürchtete, dass ich dann wieder ein Stockwerk tiefer landen würde. Deshalb blieb ich einfach stehen.

Nach den Begrüßungsformeln ging es endlich zur Sache.

„Der Zustand ihrer Tochter ist stabil und wir konnten glücklicherweise keine gravierenden inneren Verletzungen feststellen. Entscheidend werden nun die kommenden 2 Wochen sein. Ein Großteil der Patienten wacht innerhalb dieses Zeitraumes von alleine wieder auf. Auf Grund ihres jungen Alters sehen wir hier große Chancen. Sie ist hier in guten Händen. Momentan können wir nur abwarten“, erklärte der Arzt mit ruhiger Stimme.

Ich sah einen Hoffnungsschimmer in den Gesichtern meiner Familie. Nur Frieda beschäftigte sich lieber mit den Stiften auf dem Schreibtisch. Sie legte sternenförmige Muster und war sich offensichtlich dem Ernst der Lage nicht bewusst.

Nach der Verabschiedung verließ ich mit den anderen das Zimmer und schlüpfte durch die Tür bevor sie zuging.

Es hatte eh keinen Sinn hier zu bleiben und Trübsal zu blasen. Aber wo sollte ich jetzt hin?

Zurück zu meinem Körper oder nach Hause zu meiner Familie?

Ein völlig neuer Gedanke kam mir: „Vielleicht hatte das Geister-Dasein ja auch Vorteile!“

Dieser Gedanke war so absurd, dass er sogar wieder logisch war.

Ungeahnte Möglichkeiten taten sich auf.

Begeistert war ich stehen geblieben - großer Fehler, denn jetzt liefen alle durch mich hindurch. Übelkeit überkam mich.

Als ich mich wieder gefasst hatte, rannte ich den Rest der Treppe hinunter. Was gar nicht so einfach war, denn meine Füße versanken andauernd in den Treppenstufen.

Plötzlich kam mir ein Arzt entgegen. Instinktiv wich ich aus.

Normalerweise hätte mich das Geländer aufgehalten, aber unter diesen Umständen kippte ich einfach hindurch.

Ein erstaunter Quicklaut entfuhr mir. „Na toll!“, dachte ich mir im freiem Fall.

Zum Glück war dieses Mal mein Sturz nicht ganz so tief.

Mit mächtigen Kopfschmerzen setzte ich mich auf. Das Geländer ragte aus meinen Beinen empor und der Rest von mir war in der untersten Treppenstufe versunken.

So langsam gingen mir diese Stürze auf die Nerven. Aber egal, jetzt wollte ich endlich mal ein bisschen experimentieren!

Was wollte ich als erstes versuchen?

Ich glaubte als Erstes statte ich meiner Schule einen Besuch ab. Ob wohl jetzt Unterricht war?

Ich hatte absolut keinen Plan welchen Tag oder welche Uhrzeit wir nun hatten.

Sofort machte ich mich auf den Weg.

Nach der halben Strecke bereute ich meine Entscheidung allerdings schon wieder. Gehen ist mühselig, wenn man die ganze Zeit im Boden versinkt. Ein bisschen so wie bei Tiefschnee.

Aber wenn ich andauernd im Boden versinke, ging dann nicht auch das Gegenteil?

Ich lenkte alle meine Gedanken auf den Wunsch abzuheben.

Und es klappte! Meine Füße hingen zwar nur wenige Millimeter in der Luft, aber immerhin.

„Vorwärts!“, befahl ich mit der gleichen Willenskraft mit der ich auch schweben wollte.

Dieses Mal funktionierte es nicht ganz so gut. Zwar bewegte ich mich vorwärts, aber so langsam, dass ich wohl noch Stunden brauchen würde um anzukommen.

Resigniert ließ ich mich wieder auf den Boden sinken. Genug Übung! Zu mindestens für den Moment. Es war anstrengender als ich gedacht hätte und es verursacht Kopfschmerzen.

Erschöpft ließ ich mich auf eine nahegelegene Bank sinken.

Das war zumindest meine Absicht gewesen.

Aber ich fiel einfach hindurch, gerade so als wäre da nichts gewesen.

„Was soll’s? Dann bleib ich einfach auf dem Boden sitzen“, erwiderte ich trotzig in Gedanken.

Eigentlich müsste ich jetzt so langsam wissen, dass ich durch so ziemlich alles hindurch falle.

Beleidigt verschränkte ich die Arme vor meinem „Körper“.

Eine Träne lief mir über die Wange. Ich hatte das nicht gewollt! Nie wollte ich ein Geist sein! Und schon gar nicht in diesem Alter!

Vor meinen Augen sauste der Verkehr hin und her. Alles wirkte so normal.

„Reiß dich gefälligst zusammen Ilka Iris Ina Ingrid Isolde Ingeborg Schreiner-Imholz!“, schimpfte meine innere Stimme streng: „Mach einfach das Beste draus!“

Meine innere Stimme hatte recht. Es nützte überhaupt nichts, wenn ich hier nur rum lungerte.

Mit einem tiefen Seufzer stand wieder ich auf. Die Bank ragte aus meinem Unterleib, aber das war mir egal. Und weiter ging‘s.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte ich das Gymnasium erreicht.

Nirgends waren Leute zu sehen und der Schulhof wirkte schon fast gespenstig leer.

An der Fensterscheibe hing noch der Vertretungsplan von jenem Montag an dem ich den Unfall hatte. Ein gutes Zeichen, also war noch nicht viel Zeit vergangen. Wenigstens etwas.

Aber wie sollte ich jetzt nach Hause kommen?

Meine Eltern waren schon weg, Busse fuhren keine mehr und bei meinem Tempo zu Fuß … kam gar nicht in Frage!

Die orangenen Strahlen des kommenden Sonnenuntergangs spiegelten sich bereits in den Fenstern der Klassenräume. Das Licht blendete mich.

Erst jetzt merkte ich, wie müde ich war. Wo sollte ich nur schlafen?

Moment mal, hier in der Schule gab es doch ein Krankenzimmer mit Liege!

Müde schleppte ich mich die Treppen bis dahin hoch. Um ins Gebäude zu gelangen war ich einfach durch die Wand gegangen, dafür musste ich mich ja einfach nur nicht konzentrieren.

Endlich im Krankenzimmer angekommen, ließ ich mich erschöpft auf die dort stehende Liege fallen.

Erstaunlicherweise blieb ich drauf liegen und fiel nicht auf den Boden. Leider konnte ich mich nicht zudecken aber immerhin hatte ich jetzt ein Bett. Ich versank augenblicklich in einen unruhigen Schlaf.

Es war Neumond. Vereinzelte Wolkenschwaden zogen über den Himmel. Trotzdem waren die meisten Sterne verdeckt.

Ich wusste wo ich war. Auf den Feldern vor Widanbach.

Nicht weit von mir entfernt begann auch schon der Wald.

Zwischen den Bäumen waberte der Nebel hervor. Hinter mir sah ich die Straßen von Widanbach rötlich leuchten.

Widanbach war so nah und doch so weit entfernt.

Ein Geräusch ließ mich zusammenfahren. Wahrscheinlich war es der Wind, der durch die Äste und Blätter pfiff. Doch das war völlig ausgeschlossen, denn im Moment war es windstill.

Langsam drehte ich mich um. Wieder ertönte diese seltsame Mischung aus Pfeifen, Heulen und Flüstern.

Es jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Kam es mir nur so vor oder bewegte sich etwas im Nebel.

Plötzlich hörte ich ein Flüstern. Ein unnatürliches Flüstern.

Zuerst noch undeutlich. Die verschwommenen Konturen einer Frau bildeten sich am Waldrand, dort wo der Nebel am dichtesten war. Sie bewegte sich nicht und trotzdem wusste ich, dass sie es war, die dort sprach. „Komm zu uns.

Komm zu uns. Wir können dir helfen. Du kannst uns helfen.

Vertrau uns. Hier ist dein Platz. Komm zu uns. Komm zu uns!“, mit jeder Wiederholung wurde das Flüstern drängender. Wie in Zeitlupe hob sie den Arm und winkte mich zu ihr.

Aus irgendeinem Grund wollte mein Herz ihr Glauben schenken und vertrauen, aber mein Verstand weigerte sich strikt dagegen.

Plötzlich ertönte erneutet Gemurmel, doch es klang ganz anders. Die Stimme die eben noch gesprochen hatte war ruhig gewesen, die die nun sprach war rau und sie machte mir Angst. „Wir können dich sehen und wir werden dich holen, wenn du nicht freiwillig kommst. Folge uns und du wirst Ruhm erlangen oder kehre uns den Rücken zu und du wirst sterben. Wir sind immer da, du kannst uns nicht entkommen. Du hast die Wahl“, sprach diese raue und tiefe Stimme zu mir.

Auf einmal zogen sich Schatten durch den Nebel, die Frau verschwand und dort wo sie eben noch gestanden hatte, blieb ein schwarzes Loch. Nein, es war kein Loch, es war ein Schatten, der Schatten eines Mannes. Aber hier war kein Mann. Ein dröhnendes Lachen ließ die Grashalme auf der Wiese beben: „Du kannst nirgendwo hin!“ Von einer Sekunde auf die andere wurde alles dunkel.

Kapitel 3

Langsam drangen Stimmen in mein Bewusstsein und ich öffnete meine Augen. Wiedermal war es nur ein unschöner Traum gewesen. Warum musste ich in letzter Zeit nur immer so schlecht schlafen?! Das nervte!

Gestern hatte ich mich mit dem „Üben“ so verausgabt das ich heute noch etwas wackelig auf den Beinen war. Ich torkelte etwas unbeholfen zum Fenster. Unten auf dem Schulhof war schon jede Menge los.

Die Treppen wieder runter zu gehen, hatte ich keine Lust und richtig wach war ich auch noch nicht. Dann würde ich wohl die schnellere Variante nehmen. Kurz entschlossen ließ ich mich durch die Wand fallen.

Wenn ich mir es recht überlege, war so ein freier Fall gar nicht soooooo übel, besonders wenn man sich dabei nicht verletzten konnte.

Mein Magen sah das ein wenig anders. Ich musste mich wohl noch an das Geister Dasein gewöhnen, vorausgesetzt, dass das überhaupt möglich war.

Lautlos schlug ich auf dem Boden auf. Hätte ich noch meinen Körper, wäre der jetzt ziemlich übel zugerichtet. Doch darüber brauchte ich mir zur Zeit ja keine Sorgen mehr machen.

Aufmerksam ließ ich meinen Blick über die auf dem Schulhof versammelten Schüler schweifen.

Ziemlich zügig entdeckte ich Titus am Eingangstor. Wie schon erwartet war er von seinen Freunden umgeben.

Plötzlich kam mir ein Gedanke, ein guter Gedanke. Verwegen grinsend ging ich auf ihn zu.

Mal sehen ob ich mich auch spürbar machen konnte.

Neben ihm angekommen, begann ich sofort mich zu konzentrieren. Vorsichtig legte ich dem Jungen meine Hand auf die Schulter, was gar nicht so einfach war. Beim ersten Versuch rutschte meine Hand einfach durch ihn.

Aber davon ließ ich mich nicht entmutigen. Vom ganzen Konzentrieren tat mir schon langsam der Kopf weh. Auf einmal spürte ich ein warmes Kribbeln in den Fingerspitzen.

Anscheinend hatte er meine Berührung gespürt, denn er drehte sich mit gerunzelter Stirn zu mir um. Und ließ seinen Blick suchend schweifen, natürlich konnte er mich nicht entdecken.

Zufrieden nahm ich meine Hand wieder weg und Titus wandte sich wieder achselzuckend seinen Freunden zu.

Zu wissen, dass ich mich noch bemerkbar machen konnte, hatte irgendwie etwas Beruhigendes an sich. In Gedanken versunken ging ich über den Schulhof.

Es war fast so als wäre alles normal.

Beim Vertretungsplan entdeckte ich die restlichen Leute aus meiner Klasse. Mit anderen Worten die Mädchen.

Aber etwas war anders. Die Haltung, die Gesten, irgendwie die gesamte Stimmung. Genauso plötzlich wie sie gekommen war, verschwand nun meine Selbstzufriedenheit.

Ich war so mit meiner eigenen Situation beschäftigt gewesen, dass ich meine Freundinnen völlig vergessen hatte.

Sie waren schon so oft mein Fels in der Brandung gewesen und jetzt standen sie da wie ein Häufchen Elend. Am liebsten hätte ich sie umarmt und ihnen gesagt, dass alles gut werden würde. Aber würde es das?

Weil es eben so gut geklappt hatte Titus zu berühren, versuchte ich es nun bei meinen Freundinnen. Entschlossen ging ich auf sie zu.

„Macht euch keine Sorgen, ich schaffe das“, redete ich mir selbst zu und umarmte Nele. Konzentriert schloss ich meine Augen und versuchte meine Arme möglichst spürbar zu machen.

Dennoch glitten sie einfach so durch ihren Körper, ich verlor das Gleichgewicht und landete in der Mitte der Gruppe auf dem Pflaster. Um genau zu sein versank mein Gesicht komplett im Boden.

„Scheiße!“, fluchte ich. Irgendwie kam ich mir jetzt reichlich blöd vor. Gott sei Dank konnte mich keiner sehen.

Gerade als ich den Kopf wieder aus dem Boden gezogen hatte, klingelte es zur ersten Stunde.

Auweia, alle kamen auf mich zu. Die komplette Schülermasse trampelte einfach über mich drüber und redete dabei fröhlich.

Wieder wurde mir übel. Mein Magen mochte es immer noch nicht unfreiwillig durchlöchert zu werden. Seufzend steckte ich den Kopf wieder in den Boden bis es vorbei war.

Erst als der letzte Schüler eilig über mich gerannt war, rappelte ich mich auf. Bis jetzt hielten sich die Vorteile des Geisterlebens echt in Grenzen.

Unschlüssig stand ich da und überlegt, ob ich mit meinen Freundinnen in den Unterricht gehen sollte, als das gleiche unheimliche Flüstern wie in meinem Traum ertönte:

„Da bist du ja! Komm! Oder ich hole dich!“ Plötzlich zogen sich die Schatten auf dem Schulhof in die Länge, bis sie fast die gesamte Fläche bedeckten. Erschrocken wich ich zurück.

Panik überkam mich, als die Schatten immer näher kamen.

„Lauf weg!“, in meinem Kopf schrillten die Alarmglocken.

Was auch immer mit den Schatten los war es war nicht normal. Wie gelähmt starrte ich auf die schwarze Fläche.

Ich musste hier weg! Aber wohin? Überall waren Wände.

Natürlich! Wände konnten mich doch nicht mehr aufhalten.

So schnell ich konnte rannte ich auf die nächstbeste Wand zu. Es war die Wand, die zum Jungenklo führte. Nicht gerade der Ort an dem ich gerne sein wollte, aber besser als hier, umgeben von gruseligen Schatten.

Kurz bevor ich die Wand erreichte, kniff ich aus Instinkt die Augen zu und hob meine Arme schützend vor den Kopf.

Etwas berührte mich am Arm und es fühlte sich nicht an wie eine Wand. Erschrocken riss ich meine Augen weit auf.

Direkt vor mir war ein Schatten. Aber kein gewöhnlicher Schatten. Er hatte Augen und einen Mund und lächelte heimtückisch. Laut schrie ich auf.

„Hey! Du da! Diese Seele gehört mir! Lass sie los!“, rief eine Mädchenstimme hinter mir.

Verwirrt drehte ich meinen Kopf um.

Mitten auf dem Schulhof stand ein Mädchen, so etwa in meinem Alter und mit braunen schulterlangen Locken. Sie war von einer Nebelwolke umgeben und schaute entschlossen zu mir und dem Schatten, der mich eisern festhielt.

Eine Tatsache, die mich sehr verwunderte, weil es ja nur ein Schatten war. Man sollte nicht meinen, dass so etwas einen festhalten konnte.

„Meike? Hätte nicht gedacht dich je wieder zu sehen! Du kleine, erbärmliche Verräterin“, entgegnete der Schatten mit einer Stimme, die sich weiblich anhörte.

Diese Situation gefiel mir ganz und gar nicht. Wäre ich doch nur im Krankenhaus bei meinem Körper geblieben.

Ruckartig zog mich die „Schattenperson“ an sich und hielt mir etwas Kaltes an den Hals.

Ich konnte nicht sehen, was es genau war und ehrlich gesagt wollte ich es auch gar nicht erst wissen.

„Du wirst sie doch wohl nicht umbringen? Der Herrscher würde bestimmt nicht froh sein, wenn du sie tötest. Es ist doch deine Aufgabe sie ihm zu bringen. Oder irre ich mich etwa?“, erwiderte das Mädchen auf dem Schulhof und lächelte auf eine provozierende Art und Weise: „Obwohl so wichtig kann dieser Auftrag nicht sein, sonst hätte er jemanden geschickt der nicht so ein Feigling ist wie du!

Traust dich ja nicht mal dein Gesicht zu zeigen!“

Und es funktionierte. Verächtlich schnaubte der weibliche Schatten und warf mich zu Boden.

Plötzlich ging alles sehr schnell.

Etwas Schwarzes flog durch die Luft auf das lockige Mädchen zu, doch das verschwand einfach so. Dann spürte ich eine Hand auf meinem Handgelenk, ein wütender Schrei ertönte und alles verschwamm vor meinen Augen.

Ich wurde nicht ohnmächtig oder so, es war als würde ich mich schnell im Kreis drehen, was ich aber nicht tat. Es war als wäre ich in einen Sog geraten oder so, auf jeden Fall fühlte es sich so an. Alles wurde grau, für einen Moment.

Als die graue Farbe verblasste konnte ich die verschwommen Umrisse von einem Ort sehen, der mir irgendwie bekannt vorkam. Aber es war noch zu unscharf, als das ich genau hätte sagen können, wo ich war. Langsam nahm die neue Umgebung deutlichere Konturen an. War das Widanbach? Es sah ganz danach aus. Eigentlich hatte ich ja nichts dagegen, wenn mich jemand nach Hause brachte, doch meine Mutter sagte ja immer, man soll nicht mit Fremden gehen.

Was wollten die eigentlich von mir?! Reichte der Unfall nicht schon?!

Wütend drehte ich mich zu meiner Entführerin um.

Noch war es nicht zu spät, um wieder die Kontrolle zu bekommen, schließlich war ich unmateriel, da sollte ich mich doch befreien können.

Mit einem trotzigen Aufschrei entmaterialisierte ich meine Hand noch mehr (also das Gegenteil von heute Morgen, als ich versucht hatte mich bemerkbar zu machen).

Als wäre nur Luft vor mir, sackte meine Hand nach unten.

Jetzt oder nie! Ohne groß abzuwarten konzentrierte ich mich auf den nächstbesten Ort, der mir einfiel.

Erleichtert bemerkte ich das Widanbach und seine Felder wieder verschwanden. Die Nebelgestalt war zu verdutzt um mich noch aufhalten zu können.

Vor meinen Augen erschien unser Klassenraum. Erschöpft ließ ich mich auf den ersten freien Stuhl sinken. Oder besser gesagt, ich ließ mich durch den Stuhl sinken. Im Moment war mir das egal. Ich war einfach zu fertig.

Ein schrilles Klingeln ließ mich aufschrecken, ich war wohl eingenickt.

Der größte Teil von mir lag unter dem Tisch, mein Hals jedoch wurde von der Tischplatte durchtrennt, was nicht gerade meine Denkfähigkeit unterstützte. Kein sonderlich angenehmes Gefühl. Besonders nicht wenn man gerade erst wach geworden war.

Stöhnend stand ich auf. Wie spät war es eigentlich? Immer noch müde warf ich einen Blick auf die Uhr über der Tür.

Bestimmt war sie wieder stehen geblieben. Nach der Uhr war es nämlich schon Schulschluss. Doch der Sekundenzeiger drehte eifrig seine Runden.

Hatte ich etwa fast sechs Stunden geschlafen? Dafür fühlte ich mich aber noch ziemlich schwach. Vielleicht waren das ja die Nebenwirkungen von der ganzen Zauberei? Wenn man das, was ich heute gemacht hatte überhaupt als Zauberei bezeichnen konnte.

Wie benommen taumelte ich zum Fenster. Ich hatte furchtbares Kopfweh, es fühlte sich so an als würde ein Presslufthammer dort arbeiten.

„Komm zu uns!“, in einer Endlosschleife geisterten diese Worte immer und immer wieder durch meinen Schädel. Das machte mich echt noch wahnsinnig.

Mir stockte die Luft, als ich den Schulhof sah. Alles war in Nebel gehüllt. Der Schock verschaffte mir einen Moment der Klarheit. Wenn ich hierbleiben würde, würden sie mich holen kommen und dieses Mal würden sie es wahrscheinlich auch schaffen. Ich war einfach zu schwach, um noch einmal zu entkommen.

Also was tun? Sachlich betrachtet sah die Lage ziemlich übel aus. Aber was hatte sachlich denken denn nach allem was mir passiert war für einen Sinn?

Solange ich mit den Anderen hier im Raum war, würden mich die Gestalten nicht angreifen. Hoffte ich jedenfalls.

Sollte ich vielleicht nach Hilfe rufen? Verschlimmern konnte es die Situation zu mindestens nicht mehr.

„Hilfe!“, zuerst war meine Stimme nicht mehr als ein Flüstern. Doch dann wurde sie fester und lauter. Es tat gut einfach alles rauszuschreien. „Hilfe! Hilfe! Hilfe!“ Niemand konnte mir helfen geschweige denn mich hören.

Kapitel 4

Ich schrie so lange bis ich schon beinahe heiser war. Irgendwie fühlte ich mich besser. Das Brummen in meinem Schädel war erloschen. Ein Lächeln huschte über meine Lippen, es war völlig unpassend. Wärme erfüllte meinen ganzen Körper. Mir war, als hätte mir jemand all meine Sorgen und meine Angst von den Schultern genommen.

„Ilka“, ich hatte diese Stimme schon einmal gehört: „Hab keine Angst. Ich bin es.“

In dieser Stimme lag nichts drängendes, nicht wie bei den Frauen eben. Ganz im Gegenteil ihr Klang beruhigte mich.

Ich drehte mich um und dort saß sie, wie ein Stern der einem in der Finsternis Trost spendet. Sie war von einem warmen, zarten goldenen Licht umgeben. „Pummelchen?“

murmelte ich ungläubig, „Du du bist doch… tot.“

Noch nie hatte ich eine Katze lächeln gesehen, doch bei Pummelchen sah es sehr danach aus.

„Ilka, ich bin hier um dir zu helfen. Ich kann dir einen Weg zeigen, wie du dich vor den Nebel- und Schattenwesen verstecken kannst“, meinte meine verstorbene Katze.

Immer noch verdutzt schaute ich auf sie herab und nickte einfach nur. Das war jetzt schon meine dritte seltsame Begegnung seit dem Busunfall.

„Bei deinen momentanen Kenntnissen ist eine Seelenverschmelzung deine einzige Chance. Besonders da du dich beeilen musst. Du solltest fertig sein, bevor alle auf dem Schulhof sind“, erklärte Pummelchen mir sachlich.

Erst jetzt wurde mir der Zeitdruck wirklich bewusst.

„Und wie geht diese Seelenverschmelzung?“, fragte ich hastig.

„Der Junge da, hat eine Seele mit der du verschmelzen könntest. Berühre ihn und versuche ihn zu überzeugen das er dich in seinen Körper lässt“, als sie mit ihrem Schwanz auf Titus deutete, zog ich die Augenbrauen hoch.

Er? „Warum nicht Nele oder Rita oder….“, fing ich an zu widersprechen, aber die Katze unterbrach mich: „Keine Fragen, mach schon.“

Der Gedanke mit meiner Seele in den Körper von einem Jungen zu gehen gefiel mir nicht besonders. Auch wenn es noch schlimmere Jungs als Titus in unserer Klasse gab.

Bevor ich noch irgendetwas sagen konnte, leuchtete Pummelchen kurz hell auf und war verschwunden.

Ich hatte nicht gerade Lust zu verschmelzen, aber wenn die Alternative der Tod oder vielleicht etwas noch Schlimmeres war dann doch lieber schmelzen.

Es kostete mich einiges an Selbstbeherrschung Pummelchens Anweisungen zu befolgen.

Nachdem ich meine Hand auf seine Schulter gelegt hatte, begann ich stockend: „Hallo, Titus. Ähm… Also…“ Was hatte es denn für einen Sinn um dein heißen Brei herum zu reden?

„Titus, hier ist der Geist von Ilka. Draußen warten weiß Gott wie viele Nebelmonster oder so was auf mich. Wenn ich jetzt auf den Schulhof gehe, schnappen sie mich. Aber wenn ich hier warte kommen sie mich holen. Meine eigentlich verstorbene Katze hat mich gerade besucht und gemeint du könntest mir helfen. Darf ich vielleicht mit dir verschmelzen?“, in Sekunden Schnelle hatte ich das alles runter gerattert. Erst im Nachhinein wurde mir bewusst wie bescheuert sich das anhörte.

Plötzlich begann Titus Körper zu schimmern. Erschrocken wollte ich meine Hand zurück ziehen, aber sie schien an diesem komischen Schimmern fest zu kleben. Und etwas zog mich in den Körper hinein. Überrumpelt versuchte ich mich zu wehren, aber ich kam einfach nicht los. War das die Seelenverschmelzung? Pummelchen hatte mir nicht genau gesagt was passierte.

Ich hätte sie fragen sollen, aber jetzt war es eben zu spät.

Für einen Moment war ich von meinen Gedanken abgelenkt und das schien dieses Schimmerzeug zu merken. Denn mit einem Ruck zog es mich in Titus Körper hinein.

Vor meinen Augen verschwamm alles in einen silbernen Nebel. Jede einzelne Faser meines Körpers wollte sich dagegen sträuben. Nur das ging nicht, weil ich gar keinen Körper mehr hatte. Auf einmal spürte ich überall ein leichtes Kribbeln, mit jeder Sekunde wurde dieses Gefühl stärker.

Als ich das nächste Mal die Augen öffnete, sah ich wieder klar. In meinen Händen hielt ich das Mathebuch und verstaute es gerade in meinem Rucksack. Aber das war nicht mein Rucksack und auch nicht meine Hände.

Da ging mir ein Licht auf. Die Seelenverschmelzung! Natürlich! Ich war jetzt wohl im Körper von Titus. Irgendwie war der Gedanke schon schräg. Und gewöhnungsbedürftig war es auch nicht mehr kontrollieren zu können was man tat.

Obwohl wenn ich es mir recht überlegte tat ich es ja nicht sondern Titus. Oder doch ich?

Egal, vom ganzen Nachdenken bekam ich eh nur Kopfweh und dieses ganze Seelen Zeug zu verstehen war quasi unmöglich.

Gleich würde es so weit sein, gleich würde ich den Schulhof betreten und sehen ob Pummelchen recht gehabt hatte. Mit jedem Schritt wuchs meine Anspannung.

Wir betraten den Schulhof und gingen durch den Nebel … und es passierte rein gar nichts.

„Es klappt!“, ausversehen hatte ich diese Worte laut ausgesprochen. Zeitgleich murmelte Titus etwas, dass sich schwer nach „Er schwabbt“ oder so was anhörte.

Zielstrebig ging er die Straße hoch. Ich wusste zwar schon vorher, dass er sportlicher war als ich, aber es war so viel leichter die Strecke in seinem Körper zurück zu legen als in meinem. Hatte schon was, sportlich zu sein. Vielleicht sollte ich mal was in die Richtung tun.

Der Nebel wurde immer weniger, bis er bei der Bushaltestelle schließlich ganz verschwunden war.

Mir war gar nicht aufgefallen das Titus stehen geblieben war. Mein, oder besser gesagt sein Blick, schweifte umher.

Ein Plakat zog meinen Blick regelrecht an. Dort wurde Werbung für ein Fußballspiel gemacht, in großen Buchstaben stand FREUNDSCHAFTSSPIEL geschrieben.

Dann blieb mein Blick an einem leuchtend roten Auto hängen. Gerade lange genug um das Nummernschild zu sehen. Darauf stand: IL KA 1600. Meinen Namen auf Nummernschildern zu sehen war eigentlich nicht ungewöhnlich, denn hier fingen alle mit IL (für Ildenburg) an. Aber auf der Rückseite des Autos war alles voller Matschspritzer, so dass es aussah als würde dort „Wall 4h“ stehen.

Fast erweckte es den Anschein als wollte mich jemand zu einem Treffen einladen. Nein, das konnte nicht sein. Ich glaube ich wurde langsam paranoid, kein Wunder in meiner aktuellen Situation.

Nach Hause zu fahren erschien mir im Moment die beste Idee zu sein. Mir fehlte meine Familie. Der Einfachheit halber würde ich mit dem Bus beziehungsweise Taxi fahren.

Im Bus könnte ich dann auch noch eine Weile in Titus Körper bleiben. Nicht das ich besonders scharf darauf gewesen wäre. Aber dann musste ich nicht dafür sorgen, dass ich nicht durch den Sitz falle.

„Hallo, Titus!“, und schon wieder war ich so versunken in Gedanken gewesen, dass ich Elias Kommen gar nicht gemerkt hatte. Elias war ein anderer Junge aus meiner Klasse. Wenn ihr mich fragt ein Volltrottel.

„Hallo, Elias! ‚tschuldigung, dass ich nicht auf dich gewartet habe“, kam die Antwort von Titus.

„Nicht gewartet ist gut. Du bist ja fast hoch gelaufen!“, sagte Elias mit beleidigtem Unterton. Bevor Titus auch nur den Mund öffnen konnte kam endlich mal der Bus.

Normalerweise sitze ich ja direkt hinter dem Fahrer, aber Titus nicht. Er entschied sich für einen Platz in der Nähe der hinteren Eingangstür. Etwas nervig war es ja schon, wenn man nicht machen konnte, was man wollte und von einem anderen kontrolliert wurde. Außerdem war es meine erste Busfahrt nach dem Unfall und es war echt ein komisches Gefühl.

Plötzlich erklang Musik. Ich wollte mich schon verwirrt nach der Quelle umsehen, doch natürlich wollte Titus‘ Kopf das nicht.

War ich blöd! Die Musik kam aus den Kopfhörern, die er soeben angezogen hatte. Vielleicht sollte ich mal etwas an meiner Aufmerksamkeit arbeiten.

Der Rest der Fahrt verlief eigentlich recht ruhig. Allerdings machte ich mir allmählich Sorgen, wie ich wieder aus Titus‘ Körper rauskommen sollte. Vielleicht sollte ich mich einfach verabschieden.

Es klappte tatsächlich nur musste ich nachdem Titus ausgestiegen war ständig aufpassen, dass ich nicht durch den Bus fiel.

Ausnahmsweise stand das Taxi schon an der Haltestelle.

Da gab es nur ein kleines Problem. Wo sollte ich mich hinsetzen? Dummerweise war das Taxi heute voll besetzt und ich hatte nicht die geringste Lust mich auf dem Schoß von Jemanden nieder zu lassen. Schon allein der Gedanke…, würg.

Einen Moment lang rang ich mit mir selbst und entschied mich dann für den Kofferraum. Hoffentlich purzele ich nicht raus während der Fahrt.

Zwischen den ganzen Ranzen und Rucksäcken war es zwar reichlich unbequem, aber immer noch besser als zu Fuß zu gehen oder auf einer der anwesenden Personen zu sitzen.

Die Ankunft in Widanbach war die pure Erleichterung für mich.

Unheimlicherweise war ganz Widanbach und die nähere Umgebung in leichten Nebel gehüllt. Dieser Anblick jagte mir eine Gänsehaut den Rücken hinunter. Jeder einzelne Nerv in mir schien „Gefahr“ zu schreien.

So schnell ich konnte rannte ich zu unserem Haus und einfach geradewegs durch die Tür.

Schlitternd bremste ich ab und schnaufte erst mal tief durch.

War es schön wieder zu Hause in Sicherheit zu sein.

Wusch! „Oma, ich komme!“, mit einem breiten Grinsen im Gesicht sprang meine kleine Schwester die letzten beiden Stufen hinunter – geradewegs durch mich hindurch. Danach rannte sie einfach weiter als wäre nichts passiert. Obwohl für sie war ja auch nichts passiert. Nur ich lehnte halb im Heizungskörper im Flur. Genauso angenehm wie eh und je.

Zumindest schaffte ich es auf die Seite zu krabbeln bevor meine Eltern auch noch auf mir rumtrampelten.

Taumelnd folgte ich ihnen in die Küche, wo sich alle zum Mittagessen versammelt hatten. Ein köstlicher Duft nach Linsensuppe und Waffeln stieg mir in die Nase – darin war meine Oma wirklich Weltklasse.

Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Wie lange hatte ich eigentlich nichts mehr gegessen? Wahrscheinlich muss man als Geist nichts mehr essen. Man kann ja eh nichts mehr anfassen. Bestimmt würde das Essen durch meinen Körper gleiten und auf den Boden fallen. Mit einem Seufzer ließ ich mich auf die Bank sinken.

Dieses Mal klappte es auch, denn ich konzentrierte mich auf meine Materialisierung. Seitdem ich meine Seele eine Runde verschmelzen gelassen hatte, funktionierte das irgendwie viel besser.

Die Stimmung wirkte irgendwie… bedrückt. Kein Wunder ein Familienmitglied lag immerhin im Koma, fiel mir wieder ein. Manchmal vergaß ich diese Tatsache völlig.

„Gibt es Neuigkeiten aus dem Krankenhaus?“ fragte meine Oma, während sie die Suppe verteilte.

„Leider gibt es keine Veränderung“ seufzte meine Mutter.

„Der Arzt sagt, dass wir nur abwarten können“, ergänzte mein Vater.

„Kann ich dann Ilka’s Zimmer haben?“ quatschte Frieda dazwischen und erntete dafür von allen böse Blicke.

Mein Zimmer empfand ich als gute Idee, ich musste dringend nachdenken. Und vielleicht konnte ich ja nochmal Kontakt zu Pummelchen aufnehmen, wenn ich alleine war.

Bei dem Gedanken an mein Zimmer wurde mir richtig warm ums Herz und dann verschwamm auf einmal alles.

Kapitel 5

Als ich wieder klar sah, erkannte ich mein heiß geliebtes Zimmer. Wie war ich denn jetzt hier hin gekommen? Egal, ging auf jeden Fall besser als in den Treppenstufen zu versinken. Hauptsache ich war hier.

Die Botschaften von der Bushaltestelle ließen mir einfach keine Ruhe. Wenn es überhaupt Botschaften waren. Gedankenverloren blickte ich auf mein Aquarium, ein normalerweise beruhigender Anblick. Nur heute nicht. Die Fische wirkten irgendwie nervös, gerade so als würden unsere beiden Katzen davor sitzen. Aber hier war niemand außer mir, dachte ich zumindest.

Suchend drehte ich mich und als ich wieder Richtung Aquarium schaute, sah ich Pummelchen auf der Abdeckung hocken. Mit ihren leuchtenden Pfoten ärgerte sie die Fische.

„Hey!“, maulte ich: „Lass die Fische in Frieden! Wir haben ganz andere Probleme.“

Entspannt sprang die Leuchtkatze auf mein Bett und begann sich seelenruhig zu lecken.

Nun wurde ich richtig wütend: „Könntest Du vielleicht mal mit ein paar Erklärungen raus rücken?“

„Was möchtest du denn wissen?“ fragte sie lächelnd, können Katzen eigentlich lächeln?

Egal, jetzt sprudelten die Fragen nur so aus mir raus: „Wer waren die Frauen auf dem Schulhof? Was wollten die von mir? Überhaupt was ist mit mir los? Und wieso bist du hier? …“

Bevor ich sie weiter löchern konnte, unterbrach mich die Geisterkatze mit gelassener Stimme: „Hast du schon Botschaften bekommen?“

„Hä?“ entschlüpfte es mir, dann jedoch dämmerte mir worum es hier ging: „Meinst du die Schlammnachricht auf dem Auto?“

„Was stand dort?“, wollte Pummelchen von mir wissen, jetzt klang ihre Stimme nicht mehr ganz so entspannt.

„Wall 4h“, antwortete ich wahrheitsgemäß, wieso sollte ich sie auch anlügen?

„Das hört sich nach den Nebelseelen an. Du solltest…“, meinte die Katze, aber ich unterbrach sie: „Sag mir endlich was Sache ist! Nebelseelen, was ist das für ein Ding?! Und warum haben mich zwei Frauen auf dem Schulhof angegriffen?! Du sagst mir nur kurz wie ich meinen Kopf auf der Schlinge ziehen kann und bist dann wieder weg! Ich will auch mal Antworten!“

Verständnis lag in den grün-braunen Katzenaugen. „In Ordnung“, gab Pummelchen nach und fing an: „Man könnte sagen, dass du dich momentan im Leben nach dem Tod befindest. Das alles ist nicht so leicht zu erklären. Aber du musst wissen, es gibt Nebelseelen und Schattenseelen. Die Nebelseelen, sind Menschen und Tiere die nicht besonders böse und auch nicht besonders gut sind. Also so ein Mittel Ding. Schattenseelen hingegen sind herzlos und das was man böse nennen würde. Auf dem Schulhof bist du einer Schattenseele und einer Nebelseele begegnet. Ich denke du weißt wer, wer war. Ich bin keins von beiden, so zu sagen neutral. Die Nachricht ist eine Aufforderung der Nebelseelen, um dich zu treffen. Gehe um vier Uhr zum Wall, aber nehm dich trotzdem in Acht. Bei deinem Eintritt in die Geisterwelt sind seltsame Dinge geschehen, vielleicht haben die Nebelseelen mehr Antworten für dich. Bei ihnen solltest du sicher sein, aber die Schattenseelen sind nicht zu unterschätzen.“

Nachdem mir Pummelchen das erklärt hatte, war ich auch nicht viel schlauer. Es hatten sich eher noch mehr Fragen aufgetan. Wenigstens wusste ich jetzt so grob, mit wem ich es zu tun hatte. Aber wirklich nur grob.

Wie schon die vorigen Male verschwand meine tote Katze mit einem grellen Lichtblitz.

Bis vier Uhr hatte ich ja noch ein bisschen Zeit und den Weg bis zum Treffpunkt würde ich einfach wie eben per Gedankenkraft versuchen. Zu Fuß hatte ich eh keine Chance.

Nachdenklich ließ ich mich auf mein Bett sinken, um das eben gehörte zu verdauen. Nebelseelen, Schattenseelen in was war ich da nur rein geraten?

Ein herzhaftes Gähnen entfuhr mir. Mir fehlte eindeutig noch eine Mütze Schlaf. Und mir fielen schon nach wenigen Sekunden die Augen zu.

Ich saß mit allen anderen aus meiner Klasse in einem seltsamen Raum. Die Tische waren typisch Schule, genau wie die Tafel. Nur die Wände… sie schienen aus purem Licht zu bestehen. Aus warmen orangenen Licht.

Seltsamerweise stand mein Ranzen auf meinem Tisch.

Plötzlich fiel mein Mäppchen grundlos auf den Boden.

„Heb ich später auf“, nuschelte ich mehr zu mir selbst als zu jemandem anderen.

Nur wenige Sekunden später rutschten auch meine Hefte und Bücher über die Tischkante. „Das ist wirklich komisch“, sagte ich in Gedanken. Eben hatte ich sie doch noch in meiner Hand gehalten!

Gerade hatte ich fertig gedacht, da fiel auch schon mein Ranzen runter.

„Echt jetzt?!“, genervt verdrehte ich meine Augen.

Aus meinem Ranzen waren Unmengen Pinsel und Klopapier gerollt. Klopapier und Pinsel? Verwirrt blinzelte ich ein paarmal. Was hatte das alles denn in meinem Ranzen zu suchen? Mit noch immer gerunzelter Stirn begann ich das Zeug wieder in meinen Ranzen zu räumen. Eine Klopapierrolle nach der anderen verstaute ich, doch es schienen einfach nicht weniger zu werden.

Erst als ich meinen Kopf resigniert anhob, merkte ich, dass Titus neben mir kniete.

„Kann ich dir vielleicht helfen?“, fragte er bevor ich auch nur ein Wort stottern konnte.

Wie ein Fisch der nach Luft schnappt, klappte mein Mund auf und zu. Aber das schien ihm egal zu sein.

Als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt begann er mir zu helfen. So kannte ich ihn gar nicht.

„Danke“, stammelte ich. Mit einem Lächeln blickte er mich an und sagte: „Gern geschehen, kannst mich ja ins Kino begleiten.“ „Äh…“ lautete meine überaus intelligente Antwort.

Plötzlich zerriss ein schriller Schrei die Stille.

Alles um mich herum begann zu verblassen.

Auf den Schrei folgten nun eben so laute und schrille Wörter: „Eine Spinne! Hilfe! Mach die weg! Paaappaaa!“

Verwirrt blickte ich mich um. Ich war durch die Zimmerdecke in die Küche gesackt und lag unter dem Esstisch.

Mit einem Seufzer drehte ich meinen Kopf zur Seite.

Ein erschrecktes Quicken entfuhr mir. Direkt neben mir war eine riesige, schwarze, haarige Spinne! Sie schaute mir aus ihren sechs Augen mitten ins Gesicht!

Keinen Moment zögernd, war ich in Sicherheit gehechtet.

Verstohlen warf ich einen Seitenblick zur Uhr, ohne die Spinne auch nur aus den Augen zu lassen.

Was?! Schon fast vier?

Unaufhörlich kreischend lief mein Schwesterlein durch die Küche, auch ein paarmal durch mich.

Jetzt musste ich aber los.

Konzentriert nahm ich ein letztes Mal tief Luft. Schon wieder verschwamm alles um mich, das schien langsam zum Tagesablauf zu gehören.

Und dann war ich auch schon da. Überall um mich herum waberte der Nebel. Genau wie beabsichtigt stand ich auf den Überresten eines alten keltischen Ringwalls, der sich nicht weit entfernt von Widanbach im Wald befand. Schon oft war ich mit meiner Familie hierher gewandert und eigentlich war mir dieser Ort vertraut. Nur heute hatte er etwas Fremdes an sich.

Fast zeitgleich mit meiner Ankunft an diesem unheimlichen Ort kamen auch die Nebelseelen. Dutzende von ihnen umzingelten mich in wenigen Sekunden.

Ein Mädchen löste sich aus der Menge und trat vor.

Moment mal! Die kannte ich doch schon! Das war das Mädchen, das mich heute versucht hatte zu entführen.

„Hallo, ich bin Meike! Das heute auf dem Schulhof tut mir Leid, ist ein bisschen dumm gelaufen. Aber du hattest Glück, dass du nicht den Schattenseelen in die Finger gefallen bist. Ist ja auch egal, komm mit. Ich bring dich zu unserem Rat. Es gibt einiges zu klären“, begrüßte mich das Mädchen mit dem braunen Lockenkopf lächelnd.