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Augenblicke - das Wort enthält den Begriff der Augen, im Blick steckt das Sehen. Augen sind von außerordentlicher Bedeutung, seit der Mensch versucht, den Menschen darzustellen. Wir alle sehen Augen, auch da, wo sie nicht gemeint sind. Wir haben am Beginn unseres Lebens gelernt, in die Augen der Mutter, des Vaters, der Bezugsperson zu blicken. Dieser Blick in die Augen eines anderen Menschen wurde für uns prägend. Es genügen zwei Punkte, um den Eindruck eines Gesichts zu erwecken: Punkt, Punkt, Komma, Strich ... In diesem III. Teil geht es um die Entwicklung der Darstellung des menschlichen Gesichts in der Moderne, die häufig archaische Muster aufnimmt. Wie Denken durch Bilder zutage tritt, wie Bilder zu gemalten Gedanken werden können, wie die Welt durch die Darstellung des menschlichen Antlitzes gedacht wird, das möchten meine Ausführungen beleuchten. Reisen, schauen, lesen und über das Erfahrene reflektieren - so ergeben sich persönliche Schwerpunkte. Ein Ordnen der Eindrücke wird unerlässlich.
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Seitenzahl: 185
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Für Siegfried
Augen-Blicke – Das Auge in der Kunst der Moderne
Das Auge als solches
Augen im Alltag
Punkt, Punkt, Komma, Strich…
„Das Gesicht als Aufmerksamkeitsmaschine“
Das Auge in der Architektur
Augen-Metaphern
Augen in der Literatur
VOM PORTRÄT ZUR MASKE
Einfluss afrikanischer Masken in der Moderne
Pablo Picasso
Bedeutung afrikanischer Masken für Picasso
Picassos Frauendarstellungen
Unmittelbare Nachkriegszeit – Schloss Grimaldi in Antibes
Ernst Ludwig Kirchner
James Ensor
Emil Nolde (1)
Asger Jorn und Carl-Henning Pedersen
Cordula Güdemann
Einfluss Ägyptens
Alberto Giacometti
Paula Modersohn-Becker
Einfluss archaischer Kunst
Constantin Brâncuşi
Amadeo Modigliani
Alexej von Jawlensky
Der Kopf in der Moderne
Paul Gauguin
Emil Nolde (2)
Odilon Redon
Ernst Barlach und Alfred Kubin
George Braques
Oskar Schlemmer
Paul Klee
Horst Antes
Bernd Zimmermann
Das Hybride in der Moderne
Totempfähle
Geflügelte Wesen
Max Ernst
Joan Miró i Ferrà
Das Auge im Surrealismus
Giorgio de Chirico
Man Ray und Salvador Dalí
René Magritte
Francis Picabia
Hannah Höch
Das Gesicht in der zeitgenössischen Kunst
Poul Gernes
Das Gesicht als Chiffre
Malerei / Fotocollage:
Matthias Mansen
Marwan
Wolfgang Nkole Helzle
Yoko Ono
Skulptur:
Per Kirkeby
Dietrich Klinge
Michael Croissant
Franz Bernhard
Gesichtslosigkeit oder das Phänomen des Verschwindens
Margund Smolka
Anneline Schjødt Pedersen
Alexandra Medilansky
Das Gesicht, das keines sein will
Wassily Kandinsky
Giuseppe Santomaso
Das zerstörte Gesicht
Jürgen Goertz
Jean Dubuffet
Kjartan Slettermark
Erró
Augenblicke, das Wort enthält den Begriff der Augen, im Blick das Sehen. Der Blick fällt auf etwas, kann aber auch bewusst auf etwas gerichtet sein. Augen sind, soweit wir es überblicken können, von außerordentlicher Bedeutung, seit der Mensch versucht, den Menschen darzustellen, sich ein Bild von ihm zu machen. Mit dem Auge erobert der Mensch die Welt, das innere Auge schafft Vorstellungen, Visionen, führt den Menschen schon früh über die reale, die materielle Welt hinaus in eine Transzendenz. Hat er einmal die Fragen nach dem Woher und Wohin gestellt, ist er sich seines Soseins, seiner Identität bewusst geworden, so steht er dem eigenen Ungenügen, den Grenzen seines Menschseins gegenüber. Es ist wohl zu allen Zeiten das Auge gewesen, das der Mensch als das wichtigste Organ der Erkenntnis betrachtet hat.
Nachdem sich Teil I mit den „Augen-Blicken der Menschheit“ als entscheidenden Schritten in der Entwicklungsgeschichte des homo sapiens beschäftigt hat, wurden in Band II unter den Rubriken Porträt und Maske an exemplarischen Beispielen herausragender Künstler die Leistungen in der Neuzeit vorgestellt. In Band III soll nun der Einfluss der in Band I besprochenen Kulturen, der Kunst der Archaik, auf die Künstler der Moderne zur Sprache kommen, eine innere Verwandtschaft, aber auch eine Abgrenzung aufgezeigt werden. Es geht um die Entwicklung der Darstellung des menschlichen Gesichts in der Moderne, wiederum exemplarisch. Wie Denken durch Bilder zutage tritt, wie Bilder zu gemalten Gedanken werden können, wie die Welt durch die Darstellung des menschlichen Antlitzes gedacht wird, dazu möchten meine Ausführungen anregen.
Reisen, Schauen, Lesen und über das Erfahrene reflektieren – so ergeben sich persönliche Schwerpunkte. Die Beschäftigung damit macht ein Ordnen der Eindrücke unerlässlich.
Gerhard Stadelmaier über Ulrich Matthes und die Augen-Blicke von Schauspielern:
„Was von ihm haften bleibt, sind seine Augen. Niemand, den sie angeschaut, keine Figur, kein Text, kein Zuschauer, sind danach noch dieselben. Andere große Schauspieler, wie Minetti zum Beispiel, mögen alles durchdringende, oder wie Gert Voss alles durchschauende, oder wie Rolf Boysen alles durchschauernde Augen haben oder gehabt haben. Ulrich Matthes hat alles durchglühende Augen.“1
Das Auge ist das Organ, das Medium, durch das der Mensch die Welt wahrnimmt. Das gilt in besonderem Maße für den Künstler.
Augen finden sich unter den frühesten Darstellungen, die der Mensch als Höhlenzeichnungen und als frühe Plastik gestaltet hat. Es wird zum apotropäischen Zeichen. Als Auge Gottes steht es symbolisch für den christlichen Gott, von dem der Mensch sich kein Bildnis machen soll.2
Soziales Handeln hängt vollständig von unserem Gesicht ab, von seiner Unversehrtheit und mimischen Funktionsfähigkeit. Das Gesicht als mehrdimensionale Zeichenfiguration verweist sowohl auf die Lebensgeschichte eines Menschen, als auch auf seine Augenblicksbefindlichkeit und enthält immer eine affektive Tönung, eine emotionale Ausdruckskraft. Auch was der andere in meinem Gesicht gelesen hat, teilt sich mir mit, beeinflusst meine Befindlichkeit. Sartre spricht von einer “reinen Verweisung auf mich selbst“ und negativ formuliert: „Die Hölle, das sind die anderen.“ Das Gesicht ist ein Spiegel der Identität. Und es sind die Augen, in denen die Identität sich verdichtet, kristallisiert. Die Augen sind ein psychologisches Zentrum intimster Regulierungen. Bei der Nervenkrankheit ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) sind die mit der Pupille auszuführenden Kleinstbewegungen im Spätstadium die einzigen Ausdruckskomponenten. Das Auge hat eine Semantik, die intuitiv verstanden wird. Wie in dem vorangestellten Zitat von Gerhard Stadelmaier können Augen die unterschiedlichsten Gefühle ausdrücken: strahlend können sie sein, aber ein Blick kann auch stechend, durchdringend, verhangen, traurig, fröhlich, müde, frustriert, resigniert sein. Bei Scham wird der Blick entzogen, Furcht lässt den Blick sich abwenden. Augen werden auch Spiegel der Seele genannt, die den Charakter enthüllen. Ein einziger Augen-Blick kann entscheidend sein, ob ein Mensch mir sympathisch ist oder nicht.
Das Bild im Spiegel ist Kommunikation mit der eigenen Person. Es unterliegt allerdings auch einer vielfältigen willentlichen Manipulation. Es findet eine Annäherung an ein inneres Sollbild statt, an dem meine Vorstellung von meinem Selbst hängt. Das Auge besteht aus Wimpern und Brauen, Augenweiß und dunkler Pupille. (Schimpansen haben meist einen dunklen Augapfel.) Es ist der hell-dunkle Kontrast, der die kommunikative Signalwirkung prägnanter erscheinen lässt. Sympathie erweitert die Pupillen, während negative Gefühle sie verengen. Das Auge kann die ganze Bandbreite von Gefühlen zum Ausdruck bringen. Wird der Blick entzogen, so kann das viele Gründe haben, u.a. Misstrauen, Scham, Schüchternheit, Abwehr.
Jemand verliert sein Gesicht, das kann im übertragenen Sinn den Verlust von Respekt, von Achtung bedeuten. Verliert aber ein Mensch sein Gesicht, weil es durch Krankheit oder Unfall entstellt wird, so ist dieser Verlust einschränkender als verlorene Glieder es sein könnten. Eine Gesichtsverletzung stört den mitmenschlichen Kontakt. Der Andere schreckt zurück, der Betroffene wird gemieden. Nach dem Ersten Weltkrieg sah man keine Gesichtsverletzungen in den Straßen, auch ein Otto Dix oder George Grosz malte sie nicht. Auch daraus kann man folgern, dass dem menschlichen Gesicht eine Ausnahmestellung zukommt, wobei auch heute noch eine sakral-transzendente Komponente mitspielen dürfte: Der Mensch, der nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde.
Das Gesicht besteht aus einer Konfiguration von Zeichen, die, wie man aus der Beschreibung des Täters durch das Opfer oder einen Zeugen der Tat weiß, nicht leicht zu entziffern ist. Der Phantombildzeichner Rainer Wortmann konstatiert jedoch, dass ein Betroffener, der vom Täter bedrängt worden ist, sich meist am besten an die Augen erinnert.3
Doch bleiben Rückschlüsse auf den Charakter fragwürdig. So wurde die Frenologie eines Lavater, der den Kopf schlichtweg vermessen hat und aus diesen Maßen seine Schlüsse zog, schon früh kritisiert, zum Beispiel von Lichtenberg. Auch Goethe, der zunächst Interesse zeigte, wandte sich später ab. Physiognomische Vorurteile sind in der Regel nicht haltbar. Allerdings lässt sich nicht bestreiten, dass ein Gesicht eine Lebensgeschichte enthalten mag. Auch scheint die Mimik nur begrenzt kontrollierbar zu sein. Einzig die Augen sind dem Willen des Einzelnen weitgehend entzogen. Augen lügen nicht.
Das Auge als Organ, das Bilder aufnimmt, die das Gehirn abbildet, interpretiert, das Auge als wichtigstes Sinnesorgan wirkt reziprok. Es sieht, und der andere Mensch oder das Tier blickt ihm ‚ins Auge’. Im Englischen entsprechen sich die Aussprache von Eye (Auge) mit I (Ich), das könnte man dahingehend interpretieren, dass sich im Auge als solchem die Identität eines Menschen niederschlägt beziehungsweise ausdrückt. Es ist auffallend, dass die Augen einer Verschleierten, indem sie vom übrigen Gesicht isoliert erscheinen, eine gesteigerte Aufmerksamkeit auf sich ziehen, während ein mit einem Balken versehenen Porträt an Aussagekraft verliert.4
Andererseits hebt eine Verschleierung, ähnlich wie eine Maske, die Reziprozität des Sehens auf. Niqab und Burka bewirken eine De-Individualisierung, verursachen eine Asymmetrie unter Gesprächspartnern, unter den Geschlechtern, stören einen ausgewogenen Dialog.
Die Iris eines Menschen setzt sich aus 255 Daten zusammen.
Der Fingerabdruck beruht dagegen auf nur 70 Messwerten.
Der Naturwissenschaftler John Daugman von der Universität Cambridge / Massachusetts hat ein Verfahren entwickelt, das die Iris des menschlichen Auges digitalisiert und so die Grundlage geschaffen, die Iris eines Menschen aus 255 Daten zu analysieren. Jeder einzelne Mensch verfügt offensichtlich über eine einzigartige Iris, die damit den Fingerabdruck ersetzen könnte, der auf nur 70 Daten beruht. Die Idee der Erkennung durch die Iris hatte schon 1936 ein amerikanischer Augenarzt. Inzwischen hat Elizabeth II. ihn für seine Entdeckung zum Ritter geschlagen.5
Inzwischen wurde in Russland ein Programm erstellt, das unter der Zuhilfenahme von 80 Punkten eine Person unter anderem nach Alter und Geschlecht zu differenzieren vermag. Das Programm versucht dann eine Personenerkennung, um zum Gesicht den Namen und damit die Identität festzustellen. Das ist eher beunruhigend.
Der Ursprung der Menschheit liegt in Afrika. Alle Menschen hatten dunkle beziehungsweise braune Augen. Erst vor etwa 6 000 bis 10 000 Jahren fand eine Mutation statt. Der Genforscher Hans Eiberg von der Universität Kopenhagen vermutet sogar, dass alle Blauäugigen von einem Menschen abstammen. Diese Veränderung ist evolutionsbiologisch bestimmt und fand in Nordeuropa statt. Weniger Pigment bildet eine geringere Barriere für Sonnenstrahlen, die im Norden nur begrenzt vorhanden sind und die der Körper zur Produktion von Vitamin D braucht. In den Tropen bieten braune Augen Schutz vor der schädlichen Wirkung von ultraviolettem Licht. Die Augenfarbe hängt vom Grad der Pigmentierung ab. Die Stroma der Iris ist weitestgehend unpigmentiert und die Färbung kommt durch die dünne Pigmentschicht (Epithelium pigmentosum) auf der Hinterseite der Iris zustande. Babys mit heller Hautfarbe haben noch wenig von dem Farbstoff Melanin, der für die Färbung der Pigmente verantwortlich ist. Dies kann sich im Laufe der Entwicklung ändern, und so können sich die blauen Augen eines Neugeborenen nach einem Jahr oder auch noch später in braune Augen verwandeln. Allgemein besteht eine Korrelation mit der Haut- und Haarfarbe.
In diesem Zusammenhang muss man auch in Betracht ziehen, dass blaue Augen in südlichen Ländern Schrecken hervorrufen können, ein Umstand, der schon von Tacitus kommentiert wurde. Blaue Augen werden oft mit dem bösen Blick gleichgesetzt. Im Nahen Osten, in Ägypten und im Maghreb, aber auch auf Malta, fallen dem Besucher Fischerboote auf, an deren Bug blaue Augen aufgemalt sind. Sie sollen apotropäisch wirken wie die blau getönten Augen, die an Hals und Finger getragen werden und heute an Touristen verkauft werden, selbst wenn diese blaue Augen haben. Sind die heutigen Ägypter noch Nachfahren derer, die Udjat-Augen (Augen des Horus) als Amulett benutzten? Die Horusaugen auf altägyptischen Särgen sollten dem Verstorbenen überdies den Blick nach außen ermöglichen, ins Diesseits, waren also auch als Kommunikationskanal gemeint. Auch der Spiegel, der den Blick ins Haus verwehrt, indem er das Bild des Eintretenden zurückwirft und seine möglichen bösen Intentionen abwehrt, gehört in diesen Zusammenhang. In dem türkischen Sprichwort, das davor warnt, nicht zu schnell mit jemandem Gesicht und Auge zu werden, entspricht der Effizienz des Auges der Blick, der über eine Beziehung entscheiden kann. Heutzutage wird von manchen Menschen das Fremdartige, das sich für sie in blauen Augen mitteilt, als besonders attraktiv angesehen und zum Schönheitsideal erhoben, was möglicherweise mit dem politischen und ökonomischen Aufstieg West- und Nordeuropas in Zusammenhang steht.
Die Heldin von Penelope Livelys Roman “The Spiderweb” (Spinnwebe) macht sich Gedanken über die Psyche einer jungen Frau im Nildelta, in deren Haus sie lebt, an deren Leben sie teilnimmt, hautnah sozusagen, und ich erzähle die Episode hier, weil sie zeigt, wie wenig sich Menschen unter Umständen in Jahrhunderten, Jahrtausenden ändern, und auch wie nahe wir gelegentlich noch dieser Welt sind.
So fragt sich die junge Archäologin Stella, wie sie die junge Mutter Dina verstehen soll, bei der sie lebt, um als Soziologin eine Darstellung der Kultur im ägyptischen Delta zu erstellen. Was geht in dieser Dina vor, fragt sie sich. Dina ist noch weitgehend in den Konventionen einer alten Welt gefangen. Nicht dass sie Dina für zurückgeblieben hält, aber sie lebt sichtlich in einer anderen Zeit als sie, die Europäerin. Dina ist religiös, Stella eher skeptisch. Dina glaubt an Geister. Sie glaubt zum Beispiel, dass ihr Esel krank wurde und starb, weil ein Nachbar ihn verwünscht habe. Auch glaubt sie, dass sie ihr Baby vor Stellas Blicken schützen muss, weil ihre blauen Augen ihm schaden könnten, obwohl sie der Soziologin keine bösen Absichten unterstellt. Sie hält sie ganz offensichtlich für eine anständige Person. Das Baby trägt ein Kettchen mit blauen Perlen um den Hals, um den bösen (blauen) Blick abzuwenden. Stella begreift nicht, warum ausgerechnet blaue Perlen vor dem bösen Blick schützen sollten, wo gerade Blau doch so verdächtig ist.6
Der Vergleich des Auges mit der Sonne ist spätestens im Sonnengott der Ägypter präsent. Die Sonne ist das Auge, das Licht, das den Menschen sichtbar macht. Man spricht vom Auge Gottes, dem Auge des Gesetzes, dem von ‚Big Brother’. Andererseits lässt der Ausfall des Auges, die Blindheit, eine tiefere Sicht der Dinge vermuten. So wird Homer als blinder Dichter gesehen: Substitution oder Sublimierung als Folge von äußerer Blindheit. Teiresias war blind und schaute in die Zukunft. Im Neolithikum hat man Tonfiguren mit geschlossenen Augen den Toten mit ins Grab gelegt. In Mazedonien im 4. Jahrhundert v.Chr. legte man Goldblättchen auf die Augen der königlichen Toten. Und Gold repräsentiert die Sonne.
Das Time Magazine brachte im Dezember 2015 ein Ölporträt von Angela Merkel auf der Titelseite. Sie war gerade zur „Person des Jahres“ gewählt worden. Der von TIME beauftragte Künstler Colin Davidson bemerkt dazu, dass es ihm auf die Augen ankäme, und so ist denn auch der Artikel überschrieben mit „The eyes have it.“ Der Künstler selbst sagt: „For me, it’s about the eyes.“ Und er ist überzeugt davon, dass es gerade die Augen sind, die den Betrachter ins Bild hineinnähmen. Er möchte den Menschen in seiner Würde und Menschlichkeit in einem Bildnis darstellen.7
Leben in einer Welt ohne Gesichter (Prosopagnosie)
Welcher Einschnitt im Leben, wenn ein Mensch die Gesichter seiner Mitmenschen nicht mehr erkennt, wenn man Gesichter nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Wenn das Gehirn Wahrnehmung und Gefühl nicht mehr miteinander verbinden kann, wenn man erkennt, ohne zu erkennen.
"Diese Personen sehen aus wie meine Eltern, aber sie sind nicht mit ihnen identisch." Das sagt der an Demenz leidende August Geiger in Arno Geigers Buch, „Der alte König in seinem Exil“.
Man vermutet, dass bei Patienten, die Gesichter nicht mehr erkennen können, Teile der Verbindung zwischen Großhirnrinde und Mandelkern unterbrochen sind und deshalb das Gefühl bei der Wahrnehmung von Gesichtern ausfällt. Vertraute Personen werden aber an solchen Gefühlen erkannt, auch wenn uns das in der Regel gar nicht bewusst ist. Mangelt es an dieser emotionalen Untermalung, ist man tief verunsichert. Diese emotionale Abkoppelung betrifft auch die eigene Identität, was eine Verunsicherung mit sich bringt. Der Patient bewohnt ein bizarres Niemandsland zwischen Illusion und Realität, wo selbst die Annahme des Ich auf tönernen Füßen steht.
Der 2015 verstorbene Neurologe Oliver Sacks erzählt in seinem Buch „The Man Who Mistook His Wife For a Hat“ („Der Mann, der seine Frau mit seinem Hut verwechselte“) von einem Mann, der nicht nur die Fähigkeit einbüßte, Gesichter zu erkennen und deshalb seine Frau gelegentlich mit einem Hut verwechselte, sondern der auch Gesichter sah, wo keine waren: Hydranten oder Parkuhren. Für einen anderen Patienten sind alle Gesichter gleich: seltsam flache, weiße, ovale Teller mit großen dunklen Augen. Wieder ein anderer sagt von sich: "Ich vermag ganz klar die Augen, die Nase und den Mund zu erkennen, aber ich kann daraus kein Bild formen. Sie scheinen alle wie mit Kreide auf eine schwarze Wandtafel gezeichnet zu sein."8
1 Gerhard Stadelmaier, Liebeserklärungen – Große Schauspieler, große Figuren (Wien 2012), S.108
2 SWR2 – Essay (8.10.12): Lebensgeschichte und Augenblicksbefindlichkeit. Die Vielfalt des menschlichen Gesichts. Von Friedrich Pohlmann
3 EZ 29.12.2015: „Verbrecherjagd mit Computer und Bleistift“ / Oliver Schmale
4 Ertappte Ehebrecherinnen wurden in der Türkei vor nicht allzu langer Zeit noch in der Zeitung abgebildet, mit Balken vor den Augen. (SZ 9.9.15)
5 Sally Donnelly, Your Eyes Can Tell No Lies“ in Time, November 26, 2001
6 Ingeborg Bauer, Ägyptischer Bilderbogen, S.54/55
7Time, December 21, 2015: „The eyes have it“.
8 Jens Sparschuh in „Lavaters Maske“ (1999), S.202f. referiert, dass Lavater in seinen späteren Jahren zwar ‚Gesichte’ hatte, „aber er sah kein einzelnes, d.h. kein einziges Gesicht mehr. Alles wurde ihm zu einem Gesicht.“
Wir alle sehen Augen, auch da, wo sie nicht gemeint sind. Wir haben am Beginn unseres Lebens gelernt, in die Augen der Mutter, des Vaters, der betreuenden Person zu blicken. Dieser Blick in die Augen eines anderen Menschen wurde für uns alle prägend. Es genügen zwei Punkte, um den Eindruck eines Gesichts zu erwecken. Man denke nur an den Kindervers von „Punkt, Punkt, Komma, Strich …“. Wir sind anthropomorph geschult. In einem äußerst reduzierten Bild von Joan Miró „Peinture“ von 1927, dem er in Klammern den Untertitel beigibt: „Das Zirkuspferd“, genügen zwei kleine schwarze Punkte in einer Form, die entfernt ein Gesicht sein könnte, um uns darin ein solches sehen zu lassen. Von dieser chiffrierten Form geht in Mirós Bild eine Peitsche aus, mit der der Dompteur das gerade noch als kleines Pferd erkennbare Tier leitet.
Wir meinen ein Augenpaar in einer Palmettenkrone aus dem späten 4. bis frühen 3. Jahrhundert v.Chr. zu erkennen, das im Museum von Pella (Mazedonien) ausgestellt ist. Das Ornament über einer Grabstele suggeriert ein Gesicht mit dominierenden Augen wie sie bei Theatermasken der Zeit durchaus üblich sind. Hier entsteht der Eindruck gerade dadurch, dass das Gesicht des Verstorbenen darunter weitgehend zerstört ist.
Die Stele befand sich am Eingang eines Grabes in Derveni (altes Lete-Areal). Ein ähnliches Ornament wurde in Oraiokasstro/ Thessaloniki gefunden (450-425 v.Chr.). Auch auf einem Türgriff wurde die gleiche Figuration verwendet.
Rein ornamentale Formen des Barock, des Historismus, des Jugendstils lassen an Augen, an Gesichter denken.
Zufallsfunde von Steinen am Strand suggerieren Köpfe, Gesichter.
Am Ende der Idolplastik der Kykladen genügten leicht bearbeitete Strandkiesel.9
Die Rücklichter mancher Autos scheinen auf die Augenpartie, mit Augenbrauen oder Augenhöhlen, Bezug zu nehmen und so an ein Gesicht zu erinnern. Katzenaugen haben ihre Bedeutung wohl von den glühenden Augen der Katzen, wenn sie vom Licht angestrahlt werden.
Es erstaunt wenig, dass Optiker das Auge buchstäblich „im Schilde“ führen.
Ein Auge mit Pupille, vor das sich eine Wolke schiebt wird kombiniert mit dem Text: „Blickpunkt Auge – Rat und Hilfe bei Sehverlust“. Ein solches Auge ist mit F. Scott Fitzgeralds ‚The Great Gatsby‘ in die Weltliteratur gelangt. In Kapitel II des Romans wird die graue Industrieeinöde kontrastiert mit der Luxuswelt von Gatsby und Daisie. Auf einem großen Werbeplakat erscheinen die Augen eines Doctor T.J. Eckleburg, die blau und gigantisch auf die Vorbeifahrenden blicken. Sie sind nicht Teil eines Gesichts, sondern blicken aus einem gelben Brillengestell, das sich auf keinen Nasenrücken stützen kann. Ein Augenarzt hat sich davon Kundschaft versprochen, doch ist er weggezogen und hat diese Augen hinterlassen, die sich nun zu einer Art von „Big Brother“ entwickeln, der das tragisch endende Geschehen an der Tankstelle scheinbar beobachtet.
Die Pfauenfeder ist voller Augen. Der mit einem solchen Augenzeichen geschmückte Schmetterling heißt Pfauenauge (Aglais io) und gehört zur Familie der Nymphalidae. Die Augenflecken auf den Flügeln sind schwarz, blau und gelb gefärbt. Sie wirken auf Feinde des Falters abschreckend und bieten ihm so Schutz. Auch andere Schmetterlinge haben augenähnliche Muster auf ihren Flügeln, die sie der Jahreszeit gemäß an die Umwelt anpassen, um der jeweils aktuellen Bedrohung zu entgehen.
Pfauen in der Krypta der Dimitrius-Basilika in Thessaloniki
Männliche Pfauen schlagen ein Rad, um paarungswillige weibliche Tiere zu beeindrucken. Sie versetzen ihr Federrad dabei in Bewegung, während die wie Augen aussehenden Flecken darin ruhig zu stehen scheinen. Dieses andauernde In-Bewegung-Sein verbindet sie auch mit der Vorstellung der christlichen Offenbarung, dass die Cherubim und Seraphim, die Gottes Sohn umgeben, sich in stetiger Bewegung befinden. Die wie mit Augen übersäten Pfauenfedern galten allgemein als Glaubenssymbol. Als Tier mit den hundert Augen [l’animal aux cent yeux] wird der Pfau in die Nähe Gottes und der gottesnahen Engel gerückt. Auch ihre Flügel sind mit Augen übersät. Schon in vorchristlicher Zeit war der Pfau ein Symbol für Unsterblichkeit. Wegen seines Rades aus Federn steht er auch für die Sonne, die von allen alten Kulturen verehrt wurde. Als Ewigkeitssymbol findet man ihn schon in den Katakomben, als Zeichen der Auferstehung ist er Teil des Begräbniskultes. Noch in der Romanik taucht er häufig auf. Seine Bedeutung ist aber ambivalent, da er auch für die Eitelkeit, die Vanitas stehen kann.
Maare, Vulkanseen werden gern als Vulkanaugen bezeichnet, was vor allem wegen der Spiegelung der Wasseroberfläche einleuchtet, die mit dem Weiß des Auges verwandt erscheint.
Gefäße in Frauenform sind in Anatolien weit verbreitet, sie lassen sich auf das Neolithikum und das Chalkolithikum zurückführen. Solche Objekte betonen stets die Augenpartie. Gesichtsdarstellungen in Mitteleuropa gibt es unabhängig vom Osten etwa zur gleichen Zeit.10
Aber auch heute bekommt man seinen Espresso gelegentlich in Tassen mit aufgemaltem Gesicht serviert.
Man spricht von Fettaugen in der Suppe. Weniger bekannt dürfte es sein, dass es auch Augengneis gibt. Gneis entsteht durch Umwandlung anderer Gesteine. So kann Granit unter hohem Druck und ebensolcher Temperatur zu Gneis werden. Gneise werden tief in der Erdkruste (etwa 10-30 Km) während großer Gebirgsauffaltungsphasen gebildet. So besteht der Großteil des Skandinavischen Grundgebirges aus Gneisen, die ein bis 2,5 Milliarden Jahre alt sind. Augengneis zeichnet sich durch mehr oder weniger große Mineralaggregate aus. Diese sogenannten Augen „schwimmen“ in Streifen und Bändern von Mineralien. Dabei ist roter Feldspat das häufigste „Augen“-Mineral. Das dunkle Glimmermineral Biotit ist besonders häufig in den dunklen Bändern, die die „Augen“ unmittelbar umgeben.