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Erinnerungen sind nicht der Chronologie unterworfen. Sie kommen und gehen, sie sind voller Lücken. Vergessen ist genauso wichtig wie erinnern. Wir können beides weder er-zwingen, noch verhindern. Erinnerungen sind einfach da und sind unser persönlicher Fingerabdruck: sie machen unsere Identität aus. Erinnerungen kehren wieder, verändern sich, manchmal ohne dass wir es merken. Das liegt an unserem Gehirn und seinen sich verändernden Vernetzungen. Erinnerungen wiederholen sich, im Laufe des Lebens kommen neue Erkenntnisse hinzu, manches wird nun verstanden, manches wird vertieft, verdichtet sich. Die Teile dieses Bandes sind im Zeitraum von 30 Jahren entstanden. Erzähltes wiederholt sich in anderer oder ähnlicher Form, das entspricht der Natur des Erinnerns, das in Wellen verläuft. Ich habe es so belassen, wenn es mir im Gesamtkontext des jeweils Erzählten notwendig erschien. Es entspricht einem Kreisen um einen Kern, um eine Nabe, für uns wesentliche Momente. Es ist auch ein Versuch, diesem Kern möglichst nahe zu kommen. In den mehr fiktiven Teilen sind Wiederholungen gewollte Stilmittel der Verdichtung. Wir alle leben in einer von der Geschichte, den Zeitumständen gestalteten Zeit, und können nur mit ihr zusammen verstanden werden. Das Kind nimmt die Welt, so wie es sich ihm darbietet. Erst mit der Pubertät reflektieren wir das uns bis dahin Selbstverständliche, unterwerfen es unserer erweiterten Perspektive. Das kann zu Konflikten führen, die uns vielleicht lange, vielleicht unser Leben lang beschäftigen. Wir können aber nicht umhin, auch die älteren Generationen aus ihrer Zeit heraus, aus ihren Lebensbedingungen heraus zu betrachten. Verstehen und verstanden werden gehören für mich zum Wesentlichen . Empathie gilt es einzuüben.
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Seitenzahl: 261
Unwillkürlich sehn sie seinem Spiel
lange zu; zuweilen tritt das runde
seiende Gesicht aus dem Profil,
klar und ganz wie eine volle Stunde,
welche anhebt und zu Ende schlägt.
Doch die Andern zählen nicht die Schläge,
trüb von Mühsal und vom Leben träge;
und sie merken gar nicht, wie es trägt — ,
wie es alles trägt, auch dann, noch immer,
wenn es müde in dem kleinen Kleid
neben ihnen wie im Wartezimmer
sitzt und warten will auf seine Zeit.
Rainer Maria Rilke
Der Neuen Gedichte Anderer Teil
Anna – Geschichten Herkunft
Das Kind
Vorwort
Anna – Geschichten
Anna - Geschichten (I)
Der Blumenstrauss
Der Verlorene Teddy
The Lost Teddy
Unvorhersehbar
Hazards
Entbehrung oder die Puppe
Deprivation or the Doll
Ins Unreine Leben
To Make Amends
Kaffeeklatsch
Cake and Something
Erlkönig
Vom Mittelpunkt der Welt
Vom Zeichnen
Martinimarkt
Blutritt
Es Brennt
Grossmutter macht Besuche (I)
Grossmutter macht Besuche (II)
Die Puppenstube in der Villa
Anna –Geschichten (II)
Kindlicher Alltag (I)
Lange Weile
Das Lebkuchenhaus
Kindlicher Alltag (II)
Nadelstiche
Kinderspiele
Märchen-wald
Die Himmelsleiter
Die Muschel und das Meer
Worte
Böse Gestalten: der Teufel
Rauschgoldengel
Die Kleine Katze
Autobiographische Facetten – Reflexionen
Geboren im 19. Jahrhundert
Metamorphose (I)
Erste Erinnerung
Der Keller
Angst des Kindes, Geboren im Krieg
Türen
Schreikind
Nikolaus
Pelzmärte
Das Schloss am See
Wünsche
Hitze in der Kindheit
Wahrheit und Fiktion
„Heimat
Reisen
Träume – Traumfetzen – Traumsplitter
Anrufe aus der Vergangenheit
Meine Mutter
Meine Mutter
No Joe Behind Mary
Kein Joe Hinter Mary
Beim Beschauen alter fotos Lebensgeschichten
„Identitätssuche“ – Das Leben Meiner Mutter (2. Versuch Einer Annäherung)
Alter und Sterben Meiner Mutter
Hitze
Mutterbindung (Wiederholung)
Fiktive Vorstellungen Bezüglich der Kindheit Meiner Mutter
Keine Zeugen
„Eifersucht“ oder „Im Kreidekreis“ (Der vater)
Glücklichsein Verboten
Once in a Blue Moon
Wahrheit und Fiktion
Fliegender Teppich
Von Puppen und Puppenstuben
Keine Zeugen
Durch den Strom Schwimmen (Besuch bei der Mutter)
Aufräumen und Sortieren
Eine Stimme von Weither – Die Freundin Meiner Mutter
Gedanken nach der Lektüre von Botho Strauss: Herkunft
Schreiben
Mnemosyne – Erinnern
Betrifft: Erinnern
Erinnern
Über Vergeben und Vergessen
Das Leben Betreffend
In Kürze: Mein Leben betreffend
An meine Kinder und Enkel!
An Freundinnen und Freunde, Leserinnen und Leser!
Erinnerungen sind nicht der Chronologie unterworfen. Sie kommen und gehen, sie sind voller Lücken. Vergessen ist genauso wichtig wie erinnern. Wir können beides weder erzwingen, noch verhindern. Erinnerungen sind einfach da und sind unser persönlicher Fingerabdruck: sie machen unsere Identität aus. Erinnerungen kehren wieder, verändern sich, manchmal ohne dass wir es merken. Das liegt an unserem Gehirn und seinen sich verändernden Vernetzungen. Erinnerungen wiederholen sich, im Laufe des Lebens kommen neue Erkenntnisse hinzu, manches wird nun verstanden, manches wird vertieft, verdichtet sich.
Die Teile dieses Bandes sind im Zeitraum von 30 Jahren entstanden. Erzähltes wiederholt sich in anderer oder ähnlicher Form, das entspricht der Natur des Erinnerns, das in Wellen verläuft. Ich habe es so belassen, wenn es mir notwendig im Gesamtkontext des jeweils Erzählten erschien. Es entspricht einem Kreisen um einen Kern, um eine Nabe, für uns wesentliche Momente. Es ist auch ein Versuch, diesem Kern möglichst nahe zu kommen. In den mehr fiktiven Teilen sind Wiederholungen gewollte Stilmittel der Verdichtung.
Ob Ihr dieses erinnerte Leben wohl verstehen könnt? Ich schreibe an einer Stelle, dass ich aus dem 19. Jahrhundert stamme – das ist rein faktisch falsch, aber ich denke, dass mein Verständnis bis in die Generation meiner Großeltern zurückreicht, und ich auch von ihnen, der Zeit, in der sie lebten, geprägt bin. Wir alle leben in einer von der Geschichte, den Zeitumständen gestalteten Zeit, und können nur mit ihr zusammen verstanden werden. Das Kind nimmt die Welt, so wie es sich ihm darbietet. Erst mit der Pubertät reflektieren wir das uns bis dahin Selbstverständliche, unterwerfen es unserer erweiterten Perspektive. Das kann zu Konflikten führen, die uns vielleicht lange, vielleicht unser Leben lang beschäftigen. Wir können aber nicht umhin, auch die älteren Generationen aus ihrer Zeit heraus, aus ihren Lebensbedingungen heraus zu betrachten. Verstehen und verstanden werden gehören für mich zum Wesentlichen – Empathie gilt es einzuüben. Ich habe mir immer gewünscht, es möge so etwas wie eine übergeordnete Gerechtigkeit geben, die jeden Menschen nach seinen Voraussetzungen, nach seinen Möglichkeiten beurteilen möge. Diesen höheren Maßstab kann man Gott nennen oder es bei diesem höchsten ethisch gebotenen Maßstab belassen. Ob es so ist, weiß ich nicht, aber ich würde es mir wünschen. In diesem Sinne möchte ich folgende Bibelstelle begreifen, die für mich von zentraler Bedeutung ist:
1. Kor.13,12: Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich’s stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.
„Erinnerung hat viel mit unserer Sterblichkeit zu tun. Erinnerung arbeitet gegen die Vergänglichkeit an. In diesem Sinne arbeiten wir mit der Erinnerung gegen unsere Angst an, in der Welt verloren zu sein. Wir versuchen mit der Erinnerung Kontinuität herzustellen, gerade weil wir wissen, dass es diese Kontinuität nicht gibt. Und genau dabei stoßen wir natürlich auf Brüche, Veränderungen – und beginnen, wenn wir es ernst meinen, nachzudenken. Wirkliches Erinnern ist nie das Greifen in einen Schublade, sondern dieser Prozess des Nachdenkens.“
Jenny Erpenbeck
SZ 7./8.9.19: „Lebenszeit auf Reserve. Jenny Erpenbeck schreibt und spricht so mitreißend darüber, wie sich Erinnerungen in Dingen sedimentieren und warum sie schlecht etwas wegwerfen kann. Aber wie sieht das in ihrer Wohnung aus? „ / Von Alex Rühle
„Ich hab’ geradezu einen Horror davor wegzuschmeißen.“ – „Warum?“ – „Weil man damit immer auch Lebensgeschichte wegwirft.“
Cf. „Heimsuchung“, ihr autobiografischer Roman über ein Haus an einem der märkischen Seen. Walter Kempowski, der große Sammler von Erinnerungen, ist ihr Hausheiliger.
„Einige frühkindliche Erlebnisse und Bilder [ließen mich] nicht in Ruhe, sie bildeten gleichsam Erinnerungskristalle, an die sich weitere Erinnerungen hefteten. Doch erst während des Schreibens wurde aus den Splittern ein Kaleidoskop.“
Ilma Rakusa in: Mein Alphabet (S.→)
Wie Ilma Rakusa möchte ich dieses autofiktionale Buch nicht als Memoiren im üblichen Sinne verstanden wissen.
Mental Maps
Die Straßen der Kindheit
sind ihres Pflasters beraubt.
Das Mauerwerk ist geglättet,
so dass die alten Geschichten
daran abgleiten. Bodenhaftung
ist ins Netzwerk
der Erinnerung gerückt.
Das Gedächtnis bewahrt
in Furchen und Falten
Facetten und Zeichen
auf ergrabenen
Scherben.
Die Landkarten der Befindlichkeit
sind gefühlsbeladen
eine Spurensicherung schwierig -
und aus dem Nebel
steigen Bilder auf,
die wie alte Fotografien
unverrückbar auf dich schauen:
ein Fels in der Brandung,
an dem du dich wund stößt,
an den du dich klammerst.
Der Blumenstrauß
Der verlorene Teddy
The Lost Teddy
Unvorhersehbar
Hazard
Entbehrung oder die Puppe
Deprivation or the Doll
Ins Unreine leben
Kaffeeklatsch
Cake or Something
Erlkönig
Vom Zeichnen
Martinimarkt
Blutritt
Es brennt
Großmutter macht Besuche
Die Puppenstube in der Villa
Die Mutter hatte Anna
in den Park geschickt
zusammen mit einem Freund der Familie.
Anna mochte ihn sehr.
Er war so lustig und
begann auch sogleich
mit seinen geschickten Fingern
ein Kasperltheater -
nur für Anna.
Aber dann bestand er darauf,
dass Anna Blumen pflücke für die Mutter
im Park - und Anna wusste,
dass man das nicht durfte.
Anna war ratlos,
pflückte die Blumen schließlich
gezwungenermaßen,
hielt aber den Strauß
in der Hand, an der er Anna hielt.
War er nicht verantwortlich
für diese Untat?
Es blieb nicht unbemerkt,
denn er erzählte Annas Mutter später,
dass Anna ein kleiner Teufel sei.
Anna fühlte sich missverstanden
und hat das Kasperltheater
eine Weile lang
ganz vergessen.
Der verlorene Teddy
brachte alles zu Tage.
Anna war unvorsichtig gewesen.
Anna hatte keine Sorgfalt walten lassen,
Anna hatte nicht genug geliebt.
Sie war schuldig -
und untröstlich
über das Endgültige ihres Versagens.
Sie hatte jemanden
in die äußerste Einsamkeit gestürzt,
der ihr anvertraut worden war.
Sie konnte das nicht
so zum Ausdruck bringen,
aber das war es, was ihre Tränen
so verzweifelt machte.
The lost teddy
revealed everything.
Anna had been careless.
Anna had not cared enough.
She was at fault.
She was inconsolable
about the finality of her failure.
She had inflicted the utmost solitude
on someone who depended on her.
She could not say so then,
but that's what she felt.
Anna war in ein Fahrrad gelaufen,
das sie wohl übersehen hatte.
Sie war bestürzt.
Es traf sie aus heiterem Himmel.
Der Mann war ärgerlich mit ihr,
und ihr Haar war aufgelöst.
Aber was sie eigentlich bedrückte
war, dass sie nicht wusste, wie
Unvorhersehbarem zu begegnen sei.
Anna had run into a bicycle
which had been there
all of a sudden.
She had not seen it in time.
The man was angry with her,
and her hair had come down.
But what really worried her
was that she did not see
how to prevent things
like that in future.
Life had its hazards.
Annas Großmutter war die jüngste von zehn,
und Großmutters Vater war nicht gerade glücklich
über das Anwachsen seiner Familie – eine Tatsache,
die Anna schaudern ließ.
Sie begriff die Härte des Aufwachsens
am eindrücklichsten, als sie erfuhr,
dass Großmutter nie eine Puppe besessen hatte.
Die 10-jährige Anna erstand eine Puppe
zu Großmutters Geburtstag
und war enttäuscht - Großmutter
kümmerte sich nicht um die Puppe.
Anna's grandmother was the youngest of ten,
and grandmother's father was not really pleased
about the growing family - a fact
that made Anna shiver.
She understood the hardship best
when she was told
that grandmother never had a doll.
Ten-year-old Anna bought a doll
for grandmother's birthday
and was disappointed -
grandmother would not
take care of it properly.
Anna ist Perfektionist.
Wenn immer möglich,
schreibt sie ins Unreine,
und es fällt ihr schwer,
sich für Endgültiges zu entscheiden.
Du kannst nicht ins Unreine leben,
sagt ein Freund, nicht ohne Schärfe.
Leben ist endgültig.
Es gibt keine zweite Version.
Dies ärgert Anna.
Der Gedanke lässt ihr
den Lebensvollzug
noch schwieriger erscheinen.
Anna is a perfectionist.
Whenever it is possible
she will make rough copies,
and it is difficult for her
to decide on a final version.
In life you cannot correct things
like that, says a friend.
You live and that is it.
This makes Anna angry.
Can't you make amends?
Anna war mit ihrem Kuchen fertig.
Sie nahm ihr Buch und lehnte sich zurück.
Während sie las, hörte sie dem Gespräch der Großen zu.
Manchmal flüsterten die. Anna wusste, dass sie
über Dinge sprachen, von denen sie nichts wissen sollte.
Später würden sie Anna dann völlig vergessen
und sie würde zuhören wie sie klatschten,
was Anna zum Lauscher machte.
Tabus wuchsen langsam, aber stetig in ihr,
ganz unauffällig wie dornige Hecken.
Sie drohten, Anna zu überwuchern.
Aber anders als im Märchen
war es Anna selber, die zum Schwert griff
und die Hecken niederschlagen musste -
dennoch würden sie nicht völlig verschwinden.
Sie würde es immer aufs Neue tun müssen.
Aber Anna in ihrer Ecke wusste das noch nicht.
Anna had finished her cake.
She took up her book and leant back.
While reading she listened to the adults talking.
Sometimes they whispered.
Anna knew they talked about things
she was not supposed to hear.
Later they would forget about her completely
and she would listen to their gossip
that would put Anna in an enclosure.
And taboos would grow in her slowly
quite unobtrusively like thorny hedges;
they would intrude on Anna,
and unlike in the fairy-tale
it had to be Anna herself who took
the sword and cut the hedges.
They would not die down completely
and she would have to do it
over and over again.
But Anna in her corner
did not know that yet.
Anna ist betroffen von Goethes Erlkönig,
von Schuberts Musik. Anna sieht
in dem Unvermögen des Kindes,
sich dem Vater zu offenbaren,
die grundsätzliche Tragik
der Kindheit, ihrer eigenen Kindheit.
Kinder werden beschwichtigt,
ihre Ängste nicht für wahr,
nicht ernst genommen. Ihre Furcht,
für die sie die passenden Worte
nicht findet, ihre Botschaften,
die ans Fabulöse grenzen, sich des
Märchenhaften, des Vagen bedienen,
sie werden unter den Tisch gekehrt:
du dummes Kind, das verstehst du nicht.
Und so verstummt das Kind, bleibt allein
in seiner Ohnmacht, seiner Verzweiflung.
Der Erlkönig ist nur ein Wort,
ein Bild, eine Maske - ein Versuch,
das Unerklärliche in den Griff
zu bekommen, die große Angst,
die sich hinter all den kleinen Ängsten
verbirgt: der letzte Feind des Lebens:
der TOD.
Das Kind ahnt es, weiß es.
Da hilft kein Beschwichtigen.
Und darum schaudert Anna
über den Erlkönig,
über Schuberts Musik.
Dem Kind wurde gesagt,
die Welt sei eine Kugel.
Das Kind hatte einen Ball,
der entsprach einer Kugel -
und fragte nun, wo genau
in diesem Ball es sich befände,
im Innern oder mehr außen -
man verstand nicht,
was das Kind meinte
und es konnte nicht insistieren.
Es wünschte sich, in der Mitte
des Balles zu sein,
sozusagen nahe dem Herzen.
Es glaubte sich dort
am ehesten geborgen.
Wie enttäuscht war das Kind,
als es begriff, dass sich alles Leben
an der Oberfläche abspiele,
es keine Mitte gäbe:
eine Art kopernikanischer Wende
im Leben des Kindes.
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Trinity College: Pomodoro’s sculpture, Sphere within Sphere (1982)
Die Kugel als geographischer wie kosmischer Lebensraum des Menschen. Das war eine Vorstellung, die den Maler Max Beckmann berührte, bewegte. Sein Sohn erinnert sich: „1930 war Beckmann von der Hohlwelttheorie fasziniert, in der der Mensch im Innern einer Hohlkugel lebend gedacht worden war“. Der Sohn widerspricht dem, doch der Vater hält an seiner Auffassung fest. Ein solcher heftiger Widerspruch gegenüber einer unhaltbaren Auffassung war offenbar ungewöhnlich für Beckmann. Der Sohn erinnert sich an keinen ähnlichen Fall.
Bevor ich das gelesen hatte, hatte ich nicht gewusst, dass es eine solche Theorie gab. Aber als Kind (vermutlich am Ende der Kindergartenzeit oder zu Beginn der Grundschule), als ich den Gedanken aufnahm, dass die Erde, auf der ich mich bewegte, eine Kugel sei, nahm ich ganz selbstverständlich an, dass sich diese Welt im Innern dieser Kugel befinden müsse und da der Wunsch nach Geborgenheit in mir stark war, wünschte ich mir, dass sich Deutschland recht nahe der Mitte befinden möge. Ich stellte die Frage meiner Mutter, ob wir uns mehr am äußeren Rande oder mehr in der Mitte befänden, doch sie verstand mich nicht und redete sich irgendwie heraus. Das Kind, das ich war, war verunsichert.
Und nun in Dublin als Teil einer uralten Bildungseinrichtung diese Skulptur von Pomodoro aus dem Jahr 1982, die mir meine kindliche Vorstellung wieder bewusst machte, die mich rechtfertigte in meiner freilich unvernünftigen Vorstellung, die das Innere der Kugel als einen bewohnbaren Raum darstellte.
Im Zeichenunterricht musste Anna
Schafherden malen, nur mit dem Pinsel,
einer dunklen Wasserfarbe,
doch nicht völlig schwarz.
Das Blatt sollten sie spontan füllen.
Auf die Genauigkeit des Abbildens
kam es nicht an. Doch das hatte Anna
nicht, noch nicht begriffen. Sie kämpft
mit der Form, den von der Realität
geforderten Proportionen. Auch gab es
im Klassenzimmer keine Schafe oder
auch nur Bilder von Schafen.
Heute weiß Anna, dass es dem Lehrer
um ein rhythmisches Setzen der Linie,
um ein spontanes Formen und Füllen
des Blattes ging. Damals hing Anna
in den Fesseln der vermeintlich
geforderten Realität.
In der Erinnerung war Anna
immer krank um den Martinimarkt herum.
Sie wohnte damals mitten in der Stadt
in der großen breiten Straße,
in der die Buden und Karussells
aufgebaut wurden. Wenn das Fieber
gesunken war, durfte sie nachmittags
aufstehen, und dann stand Anna am Fenster
und blickte unentwegt hinunter
in die Straße, sie war gefesselt
von den Menschen da unten,
verwundert über deren Unterschiedlichkeit.
Sie genoss ihren Logenplatz,
die Zuwendung die der Genesenden
zuteil wurde. Und wie beneidete sie
den kleinen Afrikanerjungen,
der zu einem der Budenbesitzer gehörte
und unendlich einen Hula-Hoop-Reifen
kreisen ließ. Dieses Talent erschien ihr
über alle Maßen wünschenswert.
Einmal im Jahr galoppierten die Reiter
durch die nächtliche Straße,
es war unheimlich, die dunklen Schatten
mit den Augen zu verfolgen.
Sie kamen in kleinen Gruppen
und in unregelmäßigen Abständen.
Irgendetwas Flatterndes umgab sie,
die Schärpen, die Fahnen, die sie trugen.
Unten in der Straße gab es damals
noch Pferdeställe und einen Schmied,
wo auch tagsüber ein Feuer flackerte
und Pferde beschlagen wurden.
Das wusste Anna, und obwohl sie immer
aus irgendeiner Furcht heraus
daran vorbeirannte, warf sie immer
einen neugierigen Blick hinüber.
Aber dieses nächtliche Ereignis,
das sie mitten aus dem Schlaf holte,
hatte etwas Märchenhaftes,
etwas aus einer längst vergangenen Zeit,
das die Reiterprozession am nächsten Morgen
in den Schatten stellte. Ein oder das andere Mal
hatte jemand Anna dahin mitgenommen
und sie hatte das Schauspiel als ein Faszinosum
erlebt, das noch gesteigert wurde durch die Angst,
als protestantischem Kind nicht hierher zu gehören.
Anna fühlte sich völlig unzureichend vertraut
mit dem Ritus, wusste nicht recht, wann niederzuknien
und wie das Kreuzeszeichen zu machen sei.
Sie fürchtete stets, etwas Ungehöriges zu tun,
etwas, was ihr nicht zustand, ja sie hatte das Gefühl,
ein Eindringling zu sein, einem Mysterium beizuwohnen,
bei dem sie nicht zu den Eingeweihten gehörte.
Anna hatte Besen und Blocker in Kindergröße,
und diese Instrumente eigneten sich dazu,
die Prozession nachzuspielen. Und so liefen
ein anderes kleines Mädchen und sie
angemessenen Schrittes mit hocherhobener
Besen-Fahne durch den langen dunklen Gang
der Wohnung. Dabei kamen Anna keine Bedenken.
Anna verbrachte ihre Kindheit in einem Haus,
dessen Basis ins Mittelalter reichte.
Es gab einen kleinen Hof,
den die Sonne kaum je erreichte.
Dort spielte Anna. Es gab ein paar
kümmerlich dahinvegetierende Pflanzen,
Holzscheite und Dinge, die die Bewohner
hinausgeworfen hatten, absichtlich oder
aus Versehen. Gelegentlich gab es Ratten.
Aber eines Tages sah Anna Feuer
aus der Waschküche lodern
und Ratten, die sich in den Hof retteten.
Niemand war um den Weg.
Anna begriff, dass sie Hilfe holen musste.
Abends hatten die Eltern verbrannte
Augenbrauen und Brandblasen an den Händen.
Aber das Feuer war gelöscht.
Wie Anna mit dem Ereignis umging,
darum kümmerte sich niemand.
Dass Großmutter sie an der Hand
genommen hätte, daran kann sich
Anna nicht erinnern. Sie sieht sich
stets allein dastehen,
einen freien Raum
wie einen Gürtel um sich gelegt,
der zu weit und keinen Halt gab.
In die Wohnung der Witwe, die
wohl eine Schulfreundin der
Großmutter war, ging man
durch eine dunkle Halle,
die voll stand mit Mobiliar,
darunter eine große Standuhr,
die etwas Beängstigendes hatte.
Vielleicht war wie im Märchen
vom Wolf und den sieben Geißlein,
und Anna war nicht das Jüngste,
dem die Rettung beschieden war.
Über breite Treppen, von
schweren Teppichen belegt,
stieg man hinauf in die Halle, von der
man dann in den Wohnraum trat
Dort saß eine alte Dame
unbeweglich in ihrer
von dunkler Kleidung
völlig verborgenen Körperlichkeit.
Überhaupt befand man sich
in einer Dunkelheit, in der alles
Detail nur in Andeutung hervortrat.
Anna stand da – unbewegt –
und wagte kaum, sich umzuschauen.
Dunkle gemusterte Tapeten,
dunkle Bilder, deren Themen
der Mythologie entstammten, aber
für das kleine Mädchen war alles
nur gewaltig und beängstigend.
Die beiden Frauen schienen sie
nicht wahrzunehmen, bis
eine etwas jüngere Frau hereintrat
und eine Geschäftigkeit verbreitete,
die Anna nun völlig verwirrte.
Sie war in eine Zauberwelt geraten
und fühlte sich allein gelassen darin,
gefangen – eine kleine Alice in Wonderland,
nur nicht so tapfer.
Während der Besuch bei der Witwe
mit einer Begegnung in Dunkelheit
zusammengefasst werden konnte,
zeichnet sich ein anderer Besuch
durch Helligkeit aus. Es war eine Villa
am Hang und ein sonniger Tag.
Das Zimmer war mit vielen Personen
belebt, so dass Anna darin unterging,
geborgen und vergessen. Es war
die Zeit unmittelbar nach dem Krieg,
und Gebäck war etwas, das sie nicht kannte.
Da stand ein Teller mitten im Zimmer,
und Anna ging und nahm ein Plätzchen
nach dem andern, so wurde es
später ihrer Mutter berichtet.
Wie durch eine Tarnkappe verborgen,
müssen alle Ängste von Anna abgefallen sein,
und etwas wie Musik blieb zurück
in ihrer Erinnerung.
Ein Blatt meines Kunstkalenders zeigt einen Raum der Villa Stuck in München, das die Lebenswelt und das Stilempfinden der Epoche um den Wechsel vom 19. zum 20. Jahrhundert eindrucksvoll widerspiegelt. Und beim Betrachten des Blattes fällt mir eine Begebenheit aus meiner frühen Kindheit ein.
Es war wohl die Großmutter, die mich in die Villa begleitete, die am Hang lag, eine Villa unter anderen, die den prominenteren Bürgern der Stadt gehörten. Doch es war unmittelbar nach dem Krieg, und die Zeiten waren für alle schlecht. Dennoch machte allein der Aufgang zum Haus, die Architektur auf mich großen Eindruck. Es war eine andere Welt. Auch die Möbel, die Tapeten, die Teppiche hatten etwas Fremdartiges, etwas aus einer anderen Welt, und so muss ich es als Kind gespürt haben, einer Welt, die nicht mehr die meine war, noch sein würde. Meine Großmutter und die beiden alten Damen, die uns begrüßten, waren in dunklen Kleidern, und es war schwer vorstellbar, dass sie einmal Kinder gewesen waren, die mit den Puppenstuben gespielt hatten, die mir nun vorgeführt wurden. Sie wurden vorgeführt, denn anrühren durfte ich nichts, an ein Spielen war nicht gedacht, und es war auch unvorstellbar, dass je mit diesen offenbar sehr wertvollen Dingen gespielt worden war, dass Tisch und Stühle verschoben, die Püppchen zu Bett gebracht worden wären. Sie waren alle gekleidet wie aus einer fernen Zeit, die nicht mehr die war, von der ich allmählich einen Eindruck bekam. Unbeschreiblich die kleinen Geräte en miniature. Das Kind, das ich war, war entzückt, berauscht, begeistert. Und doch überkam mich gleichzeitig ein Befremden. Mir wurde der Abstand bewusst, der mich von dieser Welt trennte. Wahrscheinlich hätte ich das nicht ausdrücken können, aber es war dasselbe, was mich im Zusammenhang mit der Großmutter befiel, dass diese Welt in äußeren Dingen erstarrt war und die Welt der Gefühle, des inneren Erlebens ausgeklammert wurde, nicht zu existieren hatte. Aber dies hätte ich erst später so formulieren können.
Kindlicher Alltag (I)
Lange Weile
Das Lebkuchenhaus
Kindlicher Alltag (II)
Nadelstiche
Kinderspiele
Märchenwald
Die Himmelsleiter
Die Muschel und das Meer
Angst des Kindes / Geboren im Krieg
Worte (Lyrik)
Böse Körper, böse Gestalten: Der Teufel
Rauschgoldengel
Die kleine Katze
Dämmerung und die
Kerze erloschen – ihr Duft
voll Vergangenem.
Des Orpheus’ Leier
als Stütze des Erinnerns
an gute Tage
das Meeresrauschen aus der
Muschel – den Kindheitsmustern.
Weiße Holzpferdchen
galoppieren stracks aus dem
Kindheits-Erinnern.
Blüten weiß und rot –
an Schneeweißchen und Rosenrot
sich erinnern,
an Kindermärchen und an
Kinderträume alter Zeit.
(Haikus und Tankas)
Im Kindergarten wurden manchmal Märchen vorgelesen. Einige Kinder saßen dann im Kreis um eine der Betreuerinnen. Dann vergaß Anna die Welt um sich. Das andere waren Sonntagsausflüge in den Wald, die, fern von anderen Leuten, fast zur Idylle wurden. Anna verlor die Angst vor dem Vater, wenn er mit ihr Wohnungen für die Zwerge in den Wurzeln hoher Bäume einrichtete. Auch dann war die Welt für eine Weile heil. Als sie lesen konnte, verschlang sie solche Bücher, die sie in eine andere Welt führten. Es waren Bücher, von denen eine Deutschlehrerin später voller Verachtung und warnend sprach, dass sie die sozialen Verhältnisse, in denen wir Kinder heute lebten, nicht träfen. Aber diese Geschichten halfen Anna ins Freie, nahmen ihr für eine Weile die Last ab, die immer wieder auf ihr lag.
Der Kindergarten war katholisch geprägt. Am Nikolaustag kam der Nikolaus. Es war einer in Bischofsgewand mit Krummstab und goldenem Buch. Die Kinder wurden nun nach ihren Verfehlungen in Gruppen eingeteilt. Anna fand sich im mittleren Bereich, bei den Farblosen, doch gehörte sie angeblich zu den Schwatzbasen, was eigentlich nicht so recht stimmte. Allerdings fühlte Anna später in der Grundschule doch immer wieder den Tatzenstecken über dem Handrücken, weil sie einfach sagen musste, was ihr gerade durch den Kopf ging. Zu Hause war eben niemand. Und die Schule war zunächst einfach Unterhaltung.
Im Kindergarten gab es vor Weihnachten ein Krippenspiel. Die Rollen wurden so verteilt, dass die Hierarchie unter den Kindern deutlich wurde. Anna war einer der unbedeutenden Engel und wurde rasch zum gefallenen Engel, weil sie kurz nach Beginn der Aufführung einen Flügel verlor. Sie schämte sich nun, aber diesmal war es viel schlimmer, mit heutigen Worten, sie fasste dies als metaphysisches Fallen auf, war sie doch als evangelisches Kind sowieso auf der falschen Seite.
Andererseits war Anna bescheiden in ihren Ansprüchen, denn als Kinder sie einmal umringten und ihr bedeuteten, dass, wenn sie, da sie ja evangelisch war, ganz brav sei, sie auf die unterste Stufe im Himmel käme, da schien Anna die unterste Stufe ausreichend. Sie muss schon als Kindergartenkind über den Unterschied der Konfessionen gegrübelt haben, wahrscheinlich war dies ein alltägliches Thema in einer vorwiegend katholischen Umgebung.
Anna saß zwischen den Stühlen und fühlte sich schuldig, wenn sie die Familie der Putzhilfe, die zugleich wohl die einzige Vertraute der Mutter war, mit zum Blutritt nahm, und sie war überzeugt davon, dass sowohl der Pater mit der Reliquie, als auch Gott selber, sofort erkennen würde, dass sie sich hier etwas anmaßte, nicht dazugehörte. Anna war nicht sicher, wie das Kreuz zu machen sei und fühlte sich als Heuchler, den Begriff des Ketzers kannte sie noch nicht. Mit der Tochter der Putzhilfe spielte sie dann auch Fronleichnamsprozession unter Zuhilfenahme von Besen, Blocker und Schaufel. Das war dann Spiel und ungefährlich.
Zum Spielen hatte Anna kein sonderliches Geschick. Sie war ja ein Einzelkind und hatte selten Spielgefährten. Wenn sie etwas tat, etwas machte, das kindlich oder kindisch war, so sagte der Vater, das sei sinnlos. So legte sie selber bald einen strengen Maßstab an. Sie fühlte zwar Verantwortung für ihre Puppen, aber sie an- und auszuziehen, für sie zu kochen etc. befriedigte sie nicht. Bauklötze waren da schon besser, aber sie hatte nur einen Kasten, der noch dem Vater gehört hatte, wo alles nach Anleitung zu machen war, auch das war rasch „sinnlos“. Im Kindergarten wurde allerdings gebastelt, und auch wenn Anna nicht mehr im Einzelnen weiß, was dort fabriziert wurde, so erinnert sie sich doch an Plastilin und an Buntstifte, Ausnähbilder u.ä. Die Leiterin war eine Pestalozzischülerin gewesen. Das erfuhr sie später. Dadurch wurde Anna angeregt, wurde selber kreativ. Die Mutter des Vaters, die später die Winter in Annas Familie verbrachte, wusste nicht recht, was sie mit einem Kind anfangen sollte. Sie war mit Geschwistern aufgewachsen, aber es gab wohl kaum Spielzeug und auch kein Buch.
Dass Anna so oft langweilig war, wurde ihr auch als negativ angerechnet. Lesen war, was sie liebte, aber es gab nicht genug Lesestoff. Deshalb wünschte sie sich ein Buch, das nie zu Ende gehen würde.
Abschied vom Kindergarten im Sommer 1949
Das Kind eingebettet
in den endlos erscheinenden Strom der Tage,
eine die Ewigkeit vorwegnehmende lange Weile,
die Langweile in sich bergen kann —
und dennoch:
diese nicht enden wollende Zeit
zerrinnt, beschleunigt sich,
und das Kind, das sich
ein nie enden wollendes Buch,
eine unendliche Geschichte,
gewünscht hatte, beginnt sich zu fürchten
vor der enden wollenden Zeit
und dem Verlust der langen Weile,
die eine Orientierung von Ich und Welt
und immer aufs Neue
einen Anfang erlaubt.
Kinder vergleichen sich mit anderen Kindern, und das Kind scheint dabei immer den Kürzeren zu ziehen. Die Anderen haben Geschwister und andere Eltern. Es wünschte sich ganz normale Eltern wie sie in dem sicher nicht sehr klugen Bilderbuch geschildert wurden, das mit „Peter, da steht er“ begann und wo ein Junge zum idealen treusorgenden Vater heranwuchs und einer glücklichen Kinderschar Schutz bot. Annas Vater war anders. Er amüsiert sich damit, dem Kind Angst einzujagen und wundert sich dann über dessen Reaktion. Wenn die Mutter es zwingt, nach dem Gottesdienst mit dem Vater zu einem Freund zu gehen, so ist dies eine Katastrophe. Das Kind weiß nicht recht, was daran und an diesem Ort so furchtbar war, aber es erinnert sich genau, dass es voller Verzweiflung weint und schreit, um sich gleichzeitig dafür zu schämen. Und obwohl die Mutter das weiß, muss das Kind das nächste Mal wieder mit dorthin.
Derselbe Freund des Vaters schenkt dem Kind zu Weihnachten ein schönes Lebkuchenhaus, das es wie ein Wunder betrachtet. Er kann es nicht gewesen sein, der es so in Angst versetzt hat. Aber auch für das Lebkuchenhaus hat es sich wieder nicht „richtig“ bedankt, was dem Geschenk seinen Wert nahm. Das Kind scheint nie etwas gut genug zu machen. Die Eltern meinen wohl, das seien sie der Erziehung schuldig. Sich Gedanken zu machen, nachzudenken, dazu habe sie nie Zeit gehabt, wird die Mutter später bekennen, und das Mädchen, zu dem das Kind heranwuchs, hat sie dafür unendlich bemitleidet. Wie viel hätte sie sich und dem Kind ersparen können, hätte sie nachgedacht, hätte sie sich gefragt, warum das Kind so reagiert, wie es reagiert, warum es nicht „funktioniere“.
Das Kind weint viel. Als es klein ist, gibt die Mutter ihm dann Zuckerwasser. Hätte sie sich doch gefragt, warum der Kummer des Kindes so überbordend war. Es hätte ja auch ein gegenseitiges Verständnis wachsen lassen, das noch bis ins Alter tragfähig gewesen wäre. So aber trennten sich nicht nur ihre Erinnerungen, sondern das alt gewordene Kind wurde ihr zur Fremden. Sie überträgt das egozentrische, rücksichtslose Verhalten des Vaters auf das Kind, wirft es ihm vor mit diesen verletzenden anklagenden Augen.
Kommen wir noch einmal zum Alltag des Kindes, zu den schmerzenden Stichen, den Nadelspitzen, die plötzlich und unerwartet ins Fleisch, ins Herz stechen. Das Kind fällt viel hin, schlägt sich die Knie auf. Es gibt zuerst Schläge dafür, dass es nicht aufgepasst hat und gefallen ist. Dann aber macht der Vater eine Kehrtwendung und holt den Verbandskasten, säubert die Wunde sorgfältig, entfernt einzelne Steinchen mit der Pinzette, träufelt Jod auf die noch blutende Wunde, die dann verbunden wird oder doch mit einem Pflaster abgedeckt wird. Der Vorgang ist schmerzhaft. Dabei zuckt das Kind nicht mit der Wimper. Die Schläge wirken als eine Art Anästhesie. Das Ganze ist ein immer wiederkehrendes Ritual und erschreckt das Kind nicht. Schmerz wird als Teil der Heilung erfahren.
Schlimm ist es, wenn die Großmutter es nicht mehr beachtet, nicht mehr mit ihm spricht. Dabei weiß das Kind, dass die dunkel gekleidete Witwe es sehr wohl beobachtet. Sie will das Kind strafen, will sehen, wie lange es diese Nichtachtung erträgt, wie lange es dauert, bis es zusammenbricht, bis es Abbitte tut. Aber Abbitte wofür? Das Kind hat eigentlich nichts Ungehöriges getan, und doch weiß das Kind unbewusst, was dem Verhalten der Großmutter zugrunde liegt. Sie allein will die Vertraute des Kindes sein. Wehe, wenn das Kind zu lange mit der Mutter spricht, eine Freundin der Gesellschaft der älteren Frau vorzieht, wenn es, da es spät dran ist für die Nachmittagsschule, sich nicht ordentlich von ihr verabschiedet. Das Kind steht in ständiger Furcht vor solchen Vergehen, und doch will es gerade das, was die Großmutter ihr wortlos untersagt.