Der Mensch in der Skulptur der Moderne - Ingeborg Bauer - E-Book

Der Mensch in der Skulptur der Moderne E-Book

Ingeborg Bauer

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Beschreibung

Der Mensch in der Skulptur der Moderne Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt es in der Malerei zur Abstraktion, die auf die Skulptur übetragen wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg tritt die Figuration zunächst hinter der Abstraktion zurück. Auguste Rodin steht am Wendepunkt. Er bleibt Orientierung für Künstler, die den Menschen als Ausgangspunkt ihres Schaffens betrachten. Mit Rodin tritt auch der Torso, die Fragmentierung als dauerhafte Neuerung hinzu. Der Klassiker Aristide Maillol feiert den Körper, ohne ein Individuum abzubilden. Wilhelm Lehmbruck schafft überlange, schlanke Frauenfiguren. Das Gesicht wird zum stärksten Ausdruck des Immateriellen. Alberto Giacomettis Figuren bleiben auf Distanz. Joan Miró, vom Surrealismus geprägt, findet zu einer eigenen Formensprache. Er spielt mit Fundstücken. Die Figur des Vogels spielt bei ihm und bei Max Ernst eine zentrale Rolle. Es kommt zur Berührung von Figuration und Abstraktion. Der Mensch als Abbild spielt bei George Segal, Duane Hanson, Stephan Balkenhol und Karin Sander auf recht unterschiedliche Weise eine Rolle. Jügen Brodwolfs Tubenfigur, Horst Antes' Kopffüßler und A.R. Pencks Strichmännchen interpretieren den Menschen aus einer reduzierten Figuration heraus. Der Dialog mit demKunstwerk wird zur zentralen Forderung des Künstlers an den Betrachter, dem viel Freiheit zugestanden wird.

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Für Siegfried

DER MENSCH IN DER SKULPTUR DER MODERNE

Einführung

Der Mensch als Torso Auguste Rodin und das unvollendete „Höllentor“

Der Mensch als Körper

Aristide Maillol – Klassiker der Körperkunst

Wilhelm Lehmbruck – das Geistige im Körper

Der Mensch als Baum Alberto Giacometti – Existenzielle Distanz

Exkurs in die Literatur

Giacometti und Miró eingebettet:

Fondation Maeght

Picasso Museum Antibes

Der Mensch und der Vogel - Surrealismus Joan Miró

Warum Vögel?

Max Ernst

Exkurs: Der Mensch und das Spiel

Alexander Calder

Tony Cragg

Der Mensch als Abbild

George Segal – Der Mensch als weißer Schatten

Duane Hanson – Der Mensch als reales Abbild

Stephan Balkenhol – Gegenüberstellung

Karin Sander – Der Mensch 3D-gescannt

Der Mensch als Vorstellung

Jürgen Brodwolf – Tubenfigur

Horst Antes – Kopffüßler

A.R. Penck – Strichmännchen

Der Mensch als Vorstellung: Brodwolf – Antes – A.R. Penck A.R. Penck

DER MENSCH IN DER SKULPTUR DER MODERNE

Kurzfassung

DER MENSCH IN DER SKULPTUR DER MODERNE

Horst Antes: „Der Raum der abstrakten Malerei war für mich ein unlebendiger, unmenschlicher, unbewohnbarer Raum.“

Stephan Balkenhol: „Ich versuche ein Bild zu schaffen, das für etwas grundsätzlich Menschliches steht.“

Pablo Picasso: „Es gibt keine abstrakte Kunst. Man muss immer mit etwas anfangen. Nachher kann man alle Spuren der Wirklichkeit entfernen. Dann besteht ohnehin keine Gefahr mehr, weil die Idee des Dinges inzwischen ein unauslöschliches Zeichen hinterlassen hat. Es ist das, was den Künstler ursprünglich in Gang gebracht, seine Ideen angeregt, seine Gefühle in Schwung gebracht hat.“

Die Figur des Menschen ist von Anfang an als Skulptur herausragendes Thema, so in der Venus vom Hohle Fels, gefunden auf der Schwäbischen Alb, die mit etwa 40 000 Jahren vielleicht die älteste Skulptur der Welt darstellt. Sie ist vermutlich kein reales Abbild, sondern, indem die Darstellung die Fruchtbarkeit betont, bekommt sie einen Kultcharakter. Sie stellt eine Interpretation dar. Eine solche Figur wirkt in sich ruhend und entrückt. Es handelt sich um ein frühes Kunstwerk.

„Venus vom Hohle Fels“

Der Mensch in der Skulptur des 20. Jahrhunderts bewegt sich zwischen Abstraktion und Figuration. Die menschliche Figur erfährt eine Interpretation, die es erlaubt, bestimmte Wesensmerkmale herauszuarbeiten, Fragen zu stellen. Dabei gehen die Künstler unterschiedliche Wege. Der Torso, das Fragment spielt eine entscheidende Rolle. Selbst am Bauhaus steht der reinen Geometrie die Figuration eines Oskar Schlemmer gegenüber. Figuration und Abstraktion scheinen sich zu berühren.

Besonders nach dem 2. Weltkrieg wird die Figuration weitgehend abgelehnt, da sie in den faschistischen und sowjetischen Diktaturen ausschließlich akzeptiert wurde. Doch wachsen selbst aus dem gestischen Informell eines Asger Jorn bewusst oder unbewusst Gesichter. Der Kopf, das Gesicht, die Büste erscheinen auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Skulptur häufig fragmentarisch und stehen für den ganzen Menschen. Surrealistische und existenzialistische Einflüsse wirken auf die Körperlichkeit von Skulptur ein.

In der Skulptur gilt Henry Moore als der große Neuerer. In Deutschland bekennt sich HAP Grieshaber in seinen Holzschnitten zur menschlichen Figur. Und nach ihm kommt sein Schüler Horst Antes, der sich des Menschen in einer reduzierten Form annimmt und so Inneres an die Oberfläche trägt. Horst Antes spricht 1970 von „Botschaften des Innenlebens“, sieht seine Werke als „Projektionen von innen her“.

Jürgen Brodwolf betont die Offenheit seiner Werke, die zum Dialog einladen. „Meine Figuren lassen keine eindeutige Interpretation zu, sagen nichts über Alter, Geschlecht und Zeit aus. Die fragmentarische Ausformung und Struktur der Figuren lassen dem Betrachter in seiner Interpretation sehr viel Raum. Der sinnende Betrachter sucht nach eigenen Deutungen und Antworten – abhängig vom Hintergrund seiner religiösen, sozialen und philosophischen Weltanschauung.“

Doch beginnt die moderne Skulptur mit Auguste Rodin.

Der Mensch als Torso Auguste Rodin (1840-1917)

Wendepunkt zur Bildhauerkunst des 20. Jahrhunderts

“Die Bürger von Calais” von Auguste Rodin stehen in London auf einer Grünfläche in der Nähe des Parlamentsgebäudes. Gerade in London muss eine Positionierung einer solchen Skulpturengruppe auf Augenhöhe auffallen, wo all die Helden aus oft kriegerischen Auseinandersetzungen in der Regel auf sehr hohem Sockel über dem Betrachter stehen. Eindrucksvoll bei der Skulptur von Rodin sind die Hände, die den jeweiligen Charakter anreißen.

Auguste Rodin, Hände der “Bürger von Calais”

„Es giebt [sic!] im Werk Rodins Hände, selbständige, kleine Hände, die, ohne zu irgend einem Körper zu gehören, lebendig sind. Hände, die sich aufrichten, gereizt und böse, Hände, deren fünf gesträubte Finger zu bellen scheinen wie die fünf Hälse eines Höllenhundes. Hände, die gehen, schlafende Hände, welche erwachen […] und solche die nichts mehr wollen […]“.1

Und an anderer Stelle: „Man sieht sich unwillkürlich nach den zwei Händen um, aus denen diese Welt erwachsen ist. Man erinnert sich, wie klein Menschenhände sind, wie bald sie müde werden und wie wenig Zeit ihnen gegeben ist, sich zu regen. Und man verlangt die Hände zu sehen, die gelebt haben wie hundert Hände.“ 2 Rilke geht aus von den Händen des Künstlers, der mit diesem, seinem wichtigsten Werkzeug diese großartigen Skulpturen formt. Dann kommt er auch auf die Hände der geschaffenen Figuren zu sprechen. Da sind die in der Tat sprechenden Hände der sechs Bürger von Calais.

Und es gibt die „große verkrampfte Hand“, die mit einem Flehen verbunden ist und die „Kathedrale“, die geradezu perfekt zwei rechte Hände knospenhaft zueinander führt und damit an das Spitzbogenartige der Gotik anknüpft, das Himmelstrebende.

Auguste Rodin, Die Kathedrale (1908)

Dominique Jarrassé beruft sich auf Rodin, wenn er die Hand Gottes mit der des Bildhauers gleichsetzt. „Es ist die Hand Gottes. Sie kommt aus dem Fels, dem Chaos und den Wolken. Sie hat genau den Daumen eines Bildhauers. Sie nimmt den Lehm vom Boden und schafft daraus Adam und Eva.“ 3 Die Riesenhand ist die Hand Rodins. Darüber hinaus gleicht sie Michelangelos Hand Gottes in der „Erschaffung des Adam“ in der Sixtinischen Kapelle. Er will damit keine Gleichsetzung mit Gott zum Ausdruck bringen, sondern die Geste des Bildhauers aufzeigen, der seine eigene Schöpfung kreiert. Damit macht er die Hand zur Metapher für die Kunst. 4

Rodin: „Die Bürger von Calais“ in London

Die „Bürger von Calais“ stehen in der Nachfolge von „Johannes dem Täufer“ (1878), aus dem Rodin den Torso des ersten „Schreitenden“ (1877-1911) entwickelt hat. Jetzt geht es ihm allein um die Geste, die Bewegung des Körpers, der seine ursprüngliche Glätte verloren hat. Es handelt sich um eine historische Begebenheit, den „Moment des Aufbruchs“, der das Leben dieser sechs Männer einschneidend verändert, wobei „jeder mit seiner eigenen Vergangenheit“ beladen erscheint. Rodin schildert wortlos, durch reine Gestik, Mimik, wie jeder einzelne diesen Moment bewältigt. „Und dabei berührten die einzelnen Gestalten einander nicht, sie standen nebeneinander wie die letzten Bäume eines gefällten Waldes, und was sie vereinte, war nur die Luft, die an ihnen teilnahm.“

Auguste Rodin schneidet, und hier ist er mit Michelangelos Arbeit am „David“ vergleichbar, seine Figuren auch direkt in den rohen Marmor („taille directe“). Der Marmor wird so zu einer lebendigen Haut, die pulsierendes Leben vermittelt. Er schafft Teilfiguren, die wie Hände, für das Ganze einer Figur stehen können. Und es gibt diese glatt polierten Figuren, die direkt aus dem Marmor zu wachsen scheinen wie der „Gedanke“ (1886-89), wo der Kopf von Camille Claudel aus einem im Übrigen roh belassenen Marmorkubus herausgearbeitet ist. Diese Mischung von roh belassenem Stein und polierter Glätte, die die Haut geradezu atmen lässt, ist – vor der Jahrhundertwende schon ein sehr moderner Zug. Eindrücklich dargestellt ist dies in der oben besprochenen „Hand Gottes“(1897), die aus Lehm (hier ist es Marmor) die ersten Menschen formt. Hier ist die künstlerische Schöpfung Begründung der Formung des Künstlers.

Rodin steht am Wendepunkt zur Bildhauerkunst des 20. Jahrhunderts.

Rodin hat das Kunstprinzip des Torsos wie überhaupt des Fragments als endgültige Form eingeführt. Sie entpuppt sich als dauerhafte Neuerung. Rodin-Ausstellungen von 1898 und 1900 zeigen Figuren, die anatomisch unvollständig sind, da ihnen Kopf oder Arme oder Unterschenkel oder gar sämtliche Gliedmaßen fehlen. Einzelne Körperteile erscheinen als in sich abgeschlossene Skulpturen, wobei nicht nur Rilke dem Fragment die größere Ausdruckskraft zuschreibt.

In Rilkes Aufzeichnungen über Rodin stellt er bei der Beschreibung einer Figur fest, dass die Arme fehlen, dass Rodin sie offenbar nicht als notwendig empfunden habe. „Man steht vor diesen [armlosen] Stelen als vor etwas Ganzem, Vollendetem, das keine Ergänzung zulässt. Nicht aus dem einfachen Schauen kommt das Gefühl des Unfertigen, sondern aus der umständlichen Überlegung, aus der kleinlichen Pedanterie, welche sagt, dass zu einem Körper Arme gehören und dass ein Körper ohne Arme nicht ganz sein könne, auf keinen Fall.“ 5

Im Falle Rodins schafft der künstlerische Wille mit dem Torso ein ganzheitliches Kunstwerk, so wie wir heute auch klassische Torsi erleben.

Etwas Zerstörerisches, sei es verursacht durch Kräfte der Natur, durch Zufall oder böse Intention, schafft in einem antiken Torso ein neues Werk, das nicht mehr allein dem Schöpferwillen des Künstlers von damals untersteht: Der Torso als solcher wird zum Kunstwerk, in dem, nach Rilke „die Kraft steht“. Im „Archaïschen Torso Apollos“ schreibt Rilke: „Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, / darin die Augenäpfel reiften. Aber / sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, / in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, // sich hält und glänzt.“ 6

Rilkes Gedicht korrespondiert mit Rodins Äußerung, als er gefragt wird, warum er einer Skulptur keinen Kopf gegeben habe, dass dieser doch überall sei.

„Der Plastiker Rodin verfügte in Schubladen über ein richtiggehendes Formenalphabet, das er zu immer neuen Kombinationen heranziehen konnte. […] Von einer modellierten Form lässt er mehrere Gipsabdrücke machen. Diese dienen als Buchstaben, die in verschiedenem Kontext Verschiedenes bedeuten können.“ Das „Serielle“ dieser „turbulente[n] Versammlung von Köpfen, Leibern und Gliedern“ führt in die Moderne. Rodin arbeitet mit kleinen Gipsmodellen, die er etwa im „Höllentor“ zusammenfügt. Er bedient sich auch hier schon der in die Zukunft weisenden Montagetechnik. 7

Es gibt Fotos vom Atelier des Meisters, wo er inmitten von Trümmern dargestellt ist. Rodin zerbricht gelegentlich mit Absicht Arbeiten, verstümmelt sie, um so ein Fragment zu erhalten, an dem er weiterarbeiten kann. Rilke versetzt sich in das Schauen des Meisters, wenn er sagt: „Da waren Steine, die schliefen […] und andere, die eine Bewegung trugen, eine Gebärde.“ Rilke erwähnt auch, dass Steine sprechen, wohl zum Künstler, der schon etwas in ihnen erblickt. Man denkt dabei an Michelangelo und den nicht idealen Stein, in dem der Künstler aber seinen David erkennt. 8

Rilke sieht in Rodin „ein[en] Träumer, dem der Traum in die Hände stieg“. Und er sieht in den flirrenden, fluktuierenden Oberflächen von Rodins Skulpturen „Begegnungen des Lichts mit dem Dinge […]dass jede dieser Begegnungen anders war und jede merkwürdig. […] und es gab Stellen ohne Ende und keine, auf der nicht etwas geschah.“ 9

Doch sieht er diesen Träumer als „immerfort arbeitend, denkend.“ 10 Er nennt Rodin einen „Mann der ersten Zeiten“, einen Adam. Adam stellt für Rodin eine wichtige Figur dar, die ursprünglich das „Höllentor“ krönen sollte. Er hat die Figur in den „Drei Schatten“ in abgedrehter, dreifach modifizierter Stellung inszeniert.

Das „Höllentor“ („Porte de l’Enfer“) basiert auf Dantes „Inferno“. Er arbeitet ein halbes Leben lang an diesem Werk, das letztlich unvollendet bleibt. In den 186 Figuren, die Türrahmen und Flügeltüren des „Höllentors“ geradezu sprengen, tauchen immer wieder neue Gesten auf. Während die Figuren im Rahmen aufsteigen, stürzen sie in den Flügeltüren hinunter. Auf den Querrahmen aber hat Rodin schließlich den „Denker“ gesetzt, den Mann, „der das ganze Ausmaß des Schreckens sieht, weil er denkt. Er sitzt versunken und stumm, schwer von Bildern und Gedanken, und alle seine Kraft (die die Kraft eines Handelnden ist) denkt. Sein ganzer Leib ist Schädel geworden.“ 11

Rodin hält sich nicht an narrative Quellen. Er widmet Figuren um, stellt sie in andere Zusammenhänge. Sie erscheinen mit anderen Gesten. Transformation und Formwiederholung sind Stichworte. Es geht Rodin nicht mehr um die Perfektion des Einmaligen, sondern das Fragmentarische und Halb-Fertige beschäftigt ihn, das mit Weiterentwicklung einhergeht. Es wird nicht mehr ausformuliert. Es bleibt etwas Unausgefülltes, etwas, das verwandt ist mit dem Konzept der Lücke, dem Loch, das die beiden jüngeren Briten, Barbara Hepworth und Henry Moore, in den Stein bohren, was die Verbindung von „hole“ und „whole“, die die englische Sprache erlaubt, geradezu nahelegt.

In Rodins Skulpturen leben die Epochen der Bildhauerei weiter und erfahren eine Art Synthese. Er habe die Antike studiert, die Skulptur des Mittelalters. Er stehe in der Tradition der Primitiven, der Ägypter, der Griechen und der Römer. Für die griechische Antike stehe Phidias, für die Renaissance Michelangelo. Mit beiden verbindet er gegensätzliche Auffassungen. Der Grieche betone das Licht, der Italiener, den er der Moderne zurechnet, arbeite mit dem Schatten. Rodin hat die weiblichen Torsi in einer Beugung nach hinten dargestellt, so dass ihr Körper das Licht voll einfangen kann. Sein Adam und die drei Figuren über dem Höllentor aber beugen sich in die Tiefe und verkörpern den Schatten.

Rodin spielt in der Darstellung seiner Skulpturen mit dem Wechsel von Licht und Schatten, betont vorzugsweise einmal den einen Aspekt, dann den anderen.

„Adam“ steht für den Schatten und verkörpert die Angst. Und es ist die Angst, die sich in den „Drei Schatten“ über dem Tor als Trauer über das Sein, das Schicksal des Menschen formiert.

Der Vorrang der Form vor dem Thema bedeutet auch eine Abkehr vom Symbolismus, vom Narrativen. Rodin bricht mit dem Literarischen. Dantes „Divina Comedia“ fügt sich Rodins Formwillen. Er entwickelt das „Höllentor“ aus seiner Vorstellung heraus. Die Formen erzeugen Ideen, nicht umgekehrt. Die Formgebung hat Priorität. Man müsse die Formen nicht in ihrer Ausdehnung, sondern in ihrer Tiefe betrachten. Die Teile des Körpers stelle er sich als „Vorsprünge kubischer Massen“ vor. Im Wechsel von Licht und Schatten entsteht die von Rodin gewollte Tiefe. Aus dem Innern einer Form wächst die Skulptur. Eine Kante oder Aushöhlung erzeugt ein Spiel von Licht und Schatten. 12

Rodin bezeichnet sich selbst als „Brücke, welche die beiden Ufer Gegenwart und Vergangenheit verbindet“. Die Alterungsprozesse der Figuren sowie die Werkspuren lässt Rodin ebenso ungeschönt stehen, wie er durch den Prozess des Modellierens die plastisch unruhige Oberflächengestaltung, die von Licht und Schatten mitgestaltet wird, zum indirekten Bestandteil der Plastik werden lässt. 13

Auguste Rodin: „Der Denker“

In einem von Rodin anlässlich der Weltausstellung 1900 präsentierten „Höllentor“, sind fast alle Figuren verschwunden mit Ausnahme der „drei Schatten“ an der Spitze der Skulptur. Dantes Inferno ist geopfert zugunsten halb abstrakter Figuren, die nur ein Kenner des Gesamtwerks ergänzen kann. Mit dieser Darstellung eröffnet Rodin ein Jahrhundert, in dem die Reduktion des Gegenständlichen zum Programm wird.

Rodin: „Die Drei Schatten“

In seinem fast „abstrakten“ Höllentor dominiert die Form, treten die Figuren aus Dantes „Inferno“ aus ihrem Kontext. Allein die „drei Schatten“ an der Spitze sind noch deutlich zu identifizieren. Es handelt sich um eine „Absage an thematische Direktheit und Genauigkeit.“ Werner Spies erinnert an Mallarmés Hinweis, dass Suggerieren besser sei als Sagen und verweist damit auf die Ästhetik des 20. Jahrhunderts. „Das Tor, das sich auf nichts zu öffnet, wird zur porta santa in eine andere Zeit.“ 14

Literatur zu Auguste Rodin :

Dominique Jarrassé: Rodin. Faszination der Bewegung (Paris 1993), insbesondere das Kapitel: Rodin als Bildhauer der Moderne Rainer Maria Rilke: Auguste Rodin (Frankfurt am Main und Leipzig, 1955 / TB 1984); Erster Teil: Einer jungen Bildhauerin, Paris, im Dezember 1902 Werner Spies: Wege ins 20. Jahrhundert. Auge und Wort: Gesammelte Schriften zu Kunst und Literatur, darin: „Rodins Auftritt in der Weltausstellung 1900“, S.298-301 Skulptur. Von der Renaissance bis zur Gegenwart. Hrsg. von Georges Duby und Jean-Luc Daval (Köln 2006)

TORSO

dass gerade der Torso die größere Freiheit vermittle, dass die Gesichtslosigkeit aus der Begrenzung befreie, dass die eine große Geste sich zum Allgemeinen hin verdichte,dass der Torso auf dem Wege sei zu einer neuen Schöpfung, zu einer Abstraktion, die die Vereinzelung aufhebe, die abhebe von der Trennung durch die Konzentration auf das Wesentliche, dass mit der Auflösung eine Einbettung einhergehe der Torso also ein Stück Einsamkeit hinter sich lasse dass das Fragment so zum Traum zur Utopie werde

Torso Verdichtung der Sprache des Körpers Verschlüsselung zur Chiffre Bündelung der Kräfte Nähe zum Pulsschlag.

Marmorne Haut, die Außenwelt auf den Körper projizierend ihr Brüchigwerden ihre Verletzlichkeit: die Achillesferse als Bruchstelle und Synapse zum Raum.

Nach Rodin haben Bildhauer wie Brâncuşi den Kopf als gültige Darstellung einer Person gesehen, ohne jedoch dem Symbolismus anzuhängen, von dem Rodin ursprünglich ausging. Gerade Brâncuşi, der ursprünglich wegen Rodin nach Paris kommt, dem Meister dann aber sehr kritisch gegenübersteht, hat diese Reduktion im Sinne eines Fragments immer wieder vollzogen. Sein Hauptthema wird der menschliche Kopf, der in seiner glatten Politur das Licht spiegelt und so eine Öffnung zum Raum schafft. 15

Für Wilhelm Lehmbruck wird der Torso als Büste aussagekräftig. In der Mitte des Jahrhunderts übernimmt Alberto Giacometti das Fragment, das über sich hinausweist in der „Hand“ von 1947 und dem „Bein“ von 1956, wobei wie bei entsprechenden Arbeiten von Rodin das Fragment eine überzeugende Aussagekraft erlangt. Auch Horst Antes arbeitet mit dem Kopf, der den Menschen als Ganzen darstellt.

1 Rainer Maria Rilke: Auguste Rodin (Frankfurt a.M. 1984), S.30

2 R.M. Rilke: Rodin a.a.O. S.9

3 Auguste Rodin, „Die Hand Gottes“, dazu: Dominique Jarrassé: Rodin. Faszination der Bewegung (Paris 1993), „Die Hand Gottes oder die Hand des Künstlers“, S.213

4 Skulptur. Von der Renaissance bis zur Gegenwart. Hrsg. von Georges Duby und Jean-Luc Daval (Köln 2006)

5 Rilke: Rodin a.a.O. S.30

6 Rilke, Werke in drei Bänden, Band 1, Gedicht-Zyklen (Wiesbaden 1955), S.313

7 Werner Spies: Wege ins 20. Jahrhundert. Auge und Wort: Gesammelte Schriften zu Kunst und Literatur, S. 298-301

8 Rilke: Rodin a.a.O. S.27

9 Rilke: Rodin a.a.O. S.15

10 Rilke: Rodin a.a.O. S21

11 Rilke: Rodin, a.a.O. S.39

12 Dominique Jarrassé: Rodin. Faszination der Bewegung (Paris 1993), insbesondere das Kapitel: Rodin als Bildhauer der Moderne, S.175

13 Skulptur. Von der Renaissance bis zur Gegenwart. Hrsg. von Georges Duby und Jean-Luc Daval (Köln 2006)

14 W. Spies a.a.O. S.300/301

Der Mensch als KörperAristide Maillol (1861-1938)

Aristide Maillol wurde in dem kleinen Fischerort Banyuls-sur-Mer nahe der spanischen Grenze geboren. Mit 20 Jahren geht er nach Paris, um Kunst zu studieren. Er malt zunächst im Sinne des Symbolismus, lässt sich von den Nabis inspirieren, webt Teppiche und beginnt erst im Alter von 40 Jahren zu modellieren.

Wie Rodin um die Jahrhundertwende vollzieht auch Maillol eine radikale Reduzierung der narrativen Mittel. In der Bronze „Leda“ von 1902 zeigt er die Protagonistin in zurückweichender Abwehrhaltung ohne den sie bedrängenden Schwan. Es geht Maillol um die Situation der jungen Frau, ihr psychologisches Erleben. Ohne das Narrativ zu kennen, ist es einfach eine psychologische Situation, die etwas allgemein Gültiges ausdrückt.

Maillol teilt ursprünglich die Expressivität Rodins hinsichtlich der Modellierung, findet aber in seinen reifen Arbeiten zu einem ruhigen, geradezu klassischen Stil der Darstellung von Frauenakten, denen er Titel gibt wie „La Mediterranée“ („Das Mittelmeer“) oder „La Nuit“ („Die Nacht“). Volumen, Masse und das Blockhafte sind entscheidende Kriterien für die figürliche Plastik von Maillol, der Bildhauerei als Körperkunst versteht und ein Schönheitsideal der eher üppigen, runden Formen vertritt.

Er bevorzugt glatte Oberflächen, runde, eher gedrungene Körperformen. Es sind Figuren, die kaum individuelle Züge aufweisen, stattdessen im Allgemeinen verharren, was auch die genannten Titel andeuten, die Orte oder Tageszeiten beinhalten. Als Vorbild dient Maillol die frühklassische antike Plastik, die er allerdings erst 1908 auf einer Griechenlandreise mit seinem Mäzen Harry Graf Kessler im Original zu sehen bekommt. Sein Schaffen ist im Klassizismus begründet.

„La Méditerrannée“ („Das Mittelmeer“), 1901 (Zeichnung) /1905 (als Gipsfigur), später auch in Stein und Bronze ausgeführt. Eine Skulptur wird in einem Zeitraum entwickelt, daher differieren in der Literatur die Entstehungsdaten; Bronzeabgüsse haben stets ein späteres Datum.

Die Figur zeichnet sich aus durch ein aufgestelltes Bein, auf dem der Ellenbogen aufgestützt wird. Der Kopf liegt locker in der angewinkelten Armbeuge. Die gewählte Körperhaltung gibt der Figur etwas Nachdenkliches, Meditatives. Das andere Bein ist liegend abgewinkelt, der gestreckte Arm stützt den Körper. Die weibliche Figur ist weicher modelliert als die des hart und kantig geprägten „Denkers“ von Rodin. Der gebeugte Kopf gibt der Figur eine in sich ruhende Stellung, nicht ohne Melancholie. Harry Graf Kessler ist sein großer Mäzen und gibt die Skulptur allein auf Grund einer Zeichnung in Auftrag.

Die Figur ist von einem geradezu perfekten Quader umschlossen. Doch geht ihre wie aus einem Würfel heraus gearbeitete Gestalt nicht auf altägyptische Skulpturen zurück und auch nicht auf die übliche Lieferform eines Steinquaders. Frühklassisch griechische, nach 1881 durch Bildpublikationen der Ausgrabungen bekannt gewordenen Metopen- und Giebelfiguren des Zeustempels von Olympia (ca. 460 v.Chr.). sind Vorbild für Maillol: Und zwar ganz konkret der mit einem aufgestellt und einem liegend angewinkelten zweiten Bein untätig dasitzende Knabe aus der Wettkampfgruppe im Ostgiebel.

Aristide Maillol: „La Méditerranée“ (1901/1905)

„La Méditerranée“ (1901/1905) wirkt nachdenklich, zeigt jedoch trotz des gebeugten Hauptes eine Öffnung nach außen. Das hat sich bei der späteren Skulptur mit dem Titel „La Nuit“ (Die Nacht) von 1909 verändert. Die Figur ist noch blockhafter und umfasst mit ihrer ganzen Körperlichkeit einen geschlossenen inneren Raum. Der Kopf ruht auf den übereinander gelegten Armen, die liegen wiederum auf den Knien auf. Ist das „Mittelmeer“ noch anmutig und grazil, so liegt auf der „Nacht“ die ganze Schwere der im Schlaf Befangenen. Rilke drückt das so aus: „Der Kopf senkt sich tief in das Dunkel der Arme, die sich über der Brust zusammenziehen wie bei einer Frierenden. Der Rücken ist gerundet, der Nacken fast horizontal, die Haltung vorgebogen[…] dieses Sich-nach-innen-Biegen, dieses angestrengte Horchen in die eigene Tiefe.“16. Während bei Rodin Bewegung im Vordergrund steht, geht es Maillol um Harmonie und Ruhe in der Darstellung. Auch sind seine Oberflächen, anders als bei dem Älteren, geglättet, anschmeichelnd. Man möchte sie berühren. Es ist, als wolle der Künstler mit seiner Figur harmonisch und im Reinen sein. Rodins Figuren sind dagegen dramatisch, expressiv und von einer fluktuierend flirrenden, rauen Oberfläche.

„La Méditerrannée“, die perfekte Skulptur, wird zum Grabstein Maillols in Banyuls-sur-Mer und ist heute Teil des Musée Maillol Banyuls.

“La Nuit”, 1902/1909 in Stuttgart

„L’Air“ (Die Luft), 1939

„L’Air“ (Die Luft), 1939