Aus sich hinaus ... Und was ist mit deinem Vater? - Florian Tietgen - E-Book

Aus sich hinaus ... Und was ist mit deinem Vater? E-Book

Florian Tietgen

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Beschreibung

Der Frage nach dem Vater weicht Mika immer aus. Ihretwegen flieht er auch vor Benedikt, obwohl er sich in ihn verliebt hat. Aber Benedikt ist hartnäckig und stellt die Frage, bis Mika langsam Vertrauen fasst und ihm die Geschichte seines Vaters erzählt, die sein eigenes Leben bisher bestimmt hat.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Und was ist mit deinem Vater?

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Impressum

Texte © Copyright byFlorian Tietgen, [email protected] Lektorat: Satzklang www.satzklang.de

Bildmaterialien © Copyright byCover: Jacqueline Spieweg, http//jspieweg.de/ unter Verwendung des Bilds "Farbkleckse" von Isabel Meyer, http://www.isabelmeyer.de

Alle Rechte vorbehalten.

 

1

 

»Und was ist mit deinem Vater?«

 

Ich kann ihn sehen, wenn er mich fünfjährig auf seinem starken Arm in den Himmel hält. Ich kann mich vor Vergnügen kreischen hören, wenn er mich durch die Luft wirbelt. Mein Papa, so stark, so groß, so liebevoll.

 

Der Mund, aus dem die Frage kommt, lächelt mich freundlich und ahnungslos an. Der Mund gehört zu einem Gesicht, zu einem sehr hübschen Gesicht, mit niedlichen Grübchen in den Wangen und mit dunkelbraunen, fast schwarzen Augen, in denen man sich spiegeln kann. Die Haare haben die gleiche Farbe wie die Augen. Der Name, der zu diesem Gesicht gehört, ist Benedikt.

 

Benedikt ist erst seit Kurzem auf unserer Schule. Er fiel mir nicht besonders auf, denn außer Kunst habe ich kein Fach mit ihm gemeinsam. Doch im Kunstkurs teilt uns unsere Lehrerin in zwei Gruppen. Die einen müssen ihren Namen auf einen Zettel schreiben und diesen gefaltet in eine Plastiktüte schmeißen, die anderen müssen sich anschließend einen der Zettel vom Grund dieser Tüte wühlen. Ich ziehe den letzten Zettel, im Drängeln bin ich nicht besonders gut. Unsere Aufgabe ist es, ein Portrait zu zeichnen, jeder von dem Partner, den das Los ihm zudachte.

Benedikt lächelt, als ich mich auf ihn zu bewege. Er hat sich einen Sitzplatz in der Sonne gesucht, die in gefächerten Strahlen durch die schmutzigen Scheiben scheint. Die Paare positionieren sich, spitzen die Bleistifte, legen die Radiergummis in Reichweite und fangen an.

Schauen und zeichnen, schauen und zeichnen.

Ich sehe Benedikt an. Die Sonne wirft Schatten über sein braun gebranntes Gesicht. Das Haar hängt wild und tief in seine Stirn. So kann ich den Haaren und Schatten folgend zeichnen, bis sich das Bild irgendwann schließt. Male nie zuerst die Form. Fange mit den Schatten an.

Benedikt tut gar nichts. Er hält meinen Blicken stand, betrachtet mich seinerseits. Ich fühle die Pupillen wie Hände auf mir, die auf und ab wandern, mich erforschen, ruhig liegen blieben und langsam, Knochen für Knochen, Muskel für Muskel, ihre Entdeckungsreise fortsetzen. Doch während ich hektisch meine Eindrücke in Bleistiftstrichen festhalte, sie kontrolliere, korrigiere, wieder radiere und erneuere, sieht er mich nur ruhig an.

Er durchbohrt mich nicht, er nimmt mich nur wahr. Die sanfte Berührung durch seine Blicke brennt leicht. Das Blut schießt mir ins Gesicht. Ich kann nicht ausweichen. Und es ist mir nicht mehr möglich, die Oberfläche zu zeichnen. Ich male nicht Haut mit darunter liegenden Knochen, nicht Haare, nicht Augen, Zähne, Ohren und Lippen, die ich in einer bestimmten Form zueinander bringen muss. Ich füge nicht aufgeteilte Proportionen zusammen. Ich male Lächeln, Wehmut, Glanz. Mich erschreckt, was ich da tue, denn während ich male, ergreife ich Besitz von Benedikt, so wie seine Blicke Besitz von mir ergreifen. Wir dringen vorsichtig ineinander ein.

Erst als ich meinen Bleistift aus der Hand lege und meine Mappe zuklappe, setzt Benedikt sich an seinen Tisch und zeichnet. Er brauchte kaum fünf Minuten, dann ist er wieder bei mir, hält mir seine Zeichnung hin und blättert meine Mappe auf. Er betrachtet kurz, was ich zu Papier gebracht habe und sagt: »So siehst du mich also. Du hast mich verstanden.«

Die Proportionen seines Bildes stimmen nicht, aber ich fühle mich getroffen. Die Augen steigen überdimensional aus meinem Kopf, ohne karikaturesk zu wirken. Mein Mund ist ernst und geschlossen, obwohl ich schwören könnte, die ganze Zeit verlegen gegrinst zu haben. Mein kurzes blondes Haar steht aufrecht und neben der Nase hat sich eine tiefe Falte eingegraben, über die eine Träne läuft.

»So siehst du mich?«

Er nickt.

»Ich muss ein ziemliches Arschloch für dich sein.«

Er schüttelt den Kopf: »Nein. Das bist du nicht.«

Ich schaue auf die Zeichnung, schaue wieder auf ihn und wieder auf die Zeichnung. Ich habe mir eingebildet, fröhlich zu sein, Lebensfreude auszustrahlen. Jetzt starre ich in ein tristes Gesicht mit matten Augen, die unter tiefen Schatten liegen, und weiß: Es ist mein Gesicht. Es ist mein Gesicht, wie Benedikt es sieht.

»Hast du morgen Zeit?«, fragt er und legt mir eine Hand auf die Schulter.

»Warum?«

»Ist deine Zeit von einem Warum abhängig?«

Jetzt schüttele ich den Kopf.

»Ich kann nichts dafür, wenn du den Menschen nicht magst, den ich gezeichnet habe. Ich möchte mit ihm etwas trinken.«

Ich muss wie ein Idiot grinsen. Mein Bild ist nicht mehr wichtig. Jetzt keimt diese wahnsinnige Hoffnung in mir auf, er könnte mich mögen.

»Okay. Wann und wo?«

 

Ich hasse es, vor Glücksfantasien nicht schlafen zu können. Ich hasse es, mir tausend schöne Dinge auszumalen, die am nächsten Tag wie Seifenblasen platzen. Ich hasse mein Herz, wenn es vor Geschwindigkeit stolpert, nur weil ein nichtiger Anlass es aus der Fassung bringt.

Ich mache mindestens zehnmal die Haare wieder nass und föhne sie erneut, bis sie einigermaßen erträglich aussehen, ich ziehe mich an, wieder aus, wieder an, wieder aus, entdecke einen Pickel auf dem Rücken, den Benedikt ohnehin nicht zu sehen bekommen wird, suche erneut andere Klamotten aus dem sich türmenden Kleidungsberg, bis meine Mum ins Zimmer kommt und dem Spuk ein Ende macht.

»Was hattest du denn an, als er dich gefragt hat?«

Ich ziehe die getragene Jeans von gestern aus der Wäschetonne und das beigefarbene T-Shirt mit dem Aufdruck ›Undercover Playstation.‹

Ma sucht mir ein T-Shirt aus dem Haufen, das ich schon mehrere Male anprobiert und wieder verworfen habe, und drückt es mir mit der Jeans in die Hand.

»Mama, das sieht unmöglich aus.«

Doch sie lässt keinen Widerspruch gelten: »Bisher hast du ihm gefallen. Immerhin hat er dich nach einem Date gefragt.«

»Wir haben kein Date. Wir gehen nur was trinken.«

Meine Mum grinst. »Räume deine Kleidung wieder in die Schränke und verschwinde! Deine Vorfreude ist ja nicht auszuhalten.«

Ich laufe viel zu früh zum Bus, um künstliche Langsamkeit bemüht, doch die Beine wollen so schnell laufen, wie das Herz schlägt. Ich fahre voller Absicht zwei Stationen zu weit, vertrödle meine Zeit in Drogeriemärkten, denn viel bessere Geschäfte gibt es in der Fuhlsbütteler Straße nicht. Die Verkäuferinnen räumen immer unauffällig Regale ein, dort, wo ich stehe, lassen mich nicht aus den Augen, sobald ich etwas betrachte.

Warum kann ich nirgends warten, ohne Verdacht zu erregen? Wieso fühle ich mich überall so beobachtet?

Ich kaufe ein Päckchen aromatisierter Kondome, die ersten meines Lebens. Vermutlich werde ich sie irgendwann einmal über meine Finger stülpen, um den Geschmack zu probieren.

»Ist doch gut, wenn du dich schützt. Wir dachten, du wolltest klauen, dabei hast du dich nur geschämt.«

Ich stürze fluchtartig aus dem Laden, renne in die sengende Augusthitze. Ich und klauen. Ich wäre ja schon froh, könnte ich Mitschüler um einem Blatt Papier bitten oder wildfremde Menschen auf der Straße nach dem Weg fragen.

Endlich schiebt sich der große Zeiger meiner Armbanduhr auf fünf Minuten Verspätung. Endlich kann ich meinem Herzen Beine machen. Endlich darf der Rhythmus meiner Füße auf den Gehwegplatten schneller sein als der Rhythmus in meiner Brust.

Benedikt sieht zu mir hoch, als ich völlig außer Atem vor ihm stehe und um Entschuldigung bitte. Er sitzt an die Wand gelehnt und streckt seine Arme über die ganze Rückenlehne der Bank aus.

»Ich hatte schon befürchtet, du versetzt mich.«

 

2

 

»Und was ist mit deinem Vater?«