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Du bist 17? Du bist fett? Dann renn um dein Leben!
Nur, wenn du bestehst, wirst du deinen 18. Geburtstag erleben. Andernfalls endest du wie Paul und Leonie: nackt in einem Käfig. Du wirst bepöbelt und ausgelacht, mit Dreck beschmissen und angepinkelt und am Ende nehmen sie dein Blut und deine Organe.
Die Volksgesundheit will es so.
Einmal im Jahr sind Mahnungstage. Dann laufen übergewichtige Siebzehnjährige in den Dörfern und Städten des Landes um die Wette, um zu beweisen, dass sie es wert sind, Teil der Gesellschaft zu bleiben.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
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Wahn
Florian Tietgen
ut tamen et poscas aliquid uoueasque sacellis exta et candiduli diuina tomacula porci, orandum est ut sit mens sana in corpore sano. (Aber damit du was hast, worum du betest, weshalb du vor dem Schreine die Kutteln und göttlichen Weißwürste opferst, sollst um gesunden Geist in gesundem Körper du beten.)
Das Fest beginnt. Trotz des Regens haben sich die Bewohner des Dorfes auf dem Marktplatz versammelt. Der Bürgermeister steht auf einem überdachten Podium vor dem Eingang des Rathauses. In der Mitte des Platzes: ein Käfig, drei Meter lang, drei Meter breit, mit Stroh ausgepolstert. Ich kann ihn nicht sehen, aber weiß, er ist dort. Wie in jedem Jahr, seit die Fastenzeit auf das ganze Jahr ausgedehnt wurde und die drei tollen Tage in den Sommer verschoben worden sind.
Neben mir warten Carsten und Leonie. Barfuß, wie ich, nur ein langes weißes Nachthemd über dem Körper, das vor Nässe fast durchsichtig an uns klebt. Wir sprechen nicht miteinander, schauen auf den Boden, damit der Regen uns nicht ins Gesicht schneidet und wir den Menschen nicht in die Augen sehen müssen. Drei Polizisten halten uns fest, so eng, dass deren Atem im Nacken brennt. Ohne Schirm warten sie, bis der Bürgermeister das Zeichen gibt, uns auf die Empore zu schubsen. Die Handschellen drücken in meine Gelenke. Wir zittern nicht nur vor Kälte.
Für uns Drei hat das diesjährige Fest gestern schon begonnen.
Ich saß in meinem Zimmer, damit beschäftigt, ein Referat über Juvenal zu schreiben. Von unten vernahm ich Stimmen, drei männliche, eine weibliche. Vater, Mutter und zwei Fremde. Mein Name fiel. »Paul ist nicht hier.«
Noch nie hatte ich meine Mutter lügen gehört.
»Davon überzeugen wir uns selbst. Wo ist sein Zimmer?«
»Suchen Sie es doch.« Mein Vater.
Schritte auf der Treppe. Juvenal hatte keine Chance. Die Mahnungstage. Ein Blick in den Spiegel, einer auf die Tabelle mit den Maßen, die wir jeden Morgen ausfüllen mussten, machte unwiderruflich klar: Sie hatten mich auserwählt.
»Er ist siebzehn«, hörte ich meine Mutter weinend, »er ist Klassenbester, schreibt Referate für die Schüler der älteren Jahrgänge. Er ist doch nicht wertlos, weil er ein paar Kilo zu viel hat. Sie können ihn doch nicht …«
Wenn ich zuhörte, konnte ich nicht im Kleiderschrank verschwinden oder durch die Dachluke auf den Boden kriechen. Die Dachluke sähen sie und stiegen die Leiter hinauf. Der Schrank … Viel zu kindisch. Sie fänden mich. Selbst, wenn ich jetzt fliehen konnte, sie fänden mich.
Die Schritte und Stimmen kamen näher. Die Worte wurden harsch: »Das Gesetz ist bekannt. Sie hätten aufpassen müssen, was er isst, darauf achten, dass er Sport treibt. Jetzt ist es zu spät.«
Rasendes Herz, gelähmte Beine. Die Stimmen direkt vor meinem Zimmer: »Er hat Sport getrieben, jeden Tag ist er ins Studio gegangen. Er ist einfach so veranlagt.«
»Na, dann wollen wir doch mal sehen, wo er sich versteckt.« Eine Tür wurde aufgerissen, wieder zugeschlagen. Ich saß auf meinem Stuhl, unfähig, mich zu bewegen, unfähig, den Computer herunter zu fahren, den ich nicht mehr bräuchte. Wohl nie mehr.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, er ist nicht hier.« Mein Vater.
»Das können Sie seinen Speckfalten erzählen.«
Bloß nicht husten, auch wenn es in den Bronchien juckte, bloß nicht niesen, so sehr es in der Nase kitzelte, ja nicht atmen. Nicht schwitzen, sonst konnten sie mich riechen. Nicht bewegen, sonst verrieten mich die knarrenden Rollen meines Bürostuhls. Egal, sie fänden mich sowieso.
»Sie machen sich strafbar, wenn Sie ihn nicht herausrücken.«
»Dann machen wir uns eben strafbar.« Meine Mutter.
»Was ist bloß los in diesem Land?« Mein Vater. »Sie tun gerade so, als seien Größe und Gewicht auf dem Reißbrett zu planen, als gäbe es ein Maß, das jeder einhalten könnte und es käme nur auf den Körper an.«
»In einem gesunden Körper wohnt auch ein gesunder Geist.«
Juvenal. Bloß nicht widersprechen, bloß nicht brüllen, ›mens sana in corpore sano‹ drücke den frommen Wunsch aus, in den ganzen gesunden Körpern möge auch ein gesunder Geist beheimatet sein. Bloß mein Zimmer nicht dadurch preisgeben, es besser zu wissen. Niemand mochte Besserwisser, erst recht keine fetten.
»Aber er ist fast noch ein Kind!« Meine Mutter. »Sie quälen Kinder für ein Gesetz.«
»Gequält werden die Kinder von verantwortungslosen Eltern, die ihnen Tonnen von Süßigkeiten einverleiben. Sich selbst haben Sie doch auch in Form gehalten.«
»Sie entwürdigen Kinder für eine Feier.« Mein Vater.
»Zur Mahnung an all die Eltern und Kinder, die wie Sie nicht hören wollen. Nicht die Feier ist entwürdigend, sondern der körperliche Zustand, in dem die Kinder sich befinden.«
»Er ist ...« Der Rest von der sich überschlagenden Stimme verschluckt, in Tränen ertränkt, von wütender Hilflosigkeit erdrückt.
Nicht husten, niesen, atmen, regen. Am besten die Augen schließen, die Ohren abschotten, nicht da sein, nichts hören, sehen, riechen, fühlen. Jeder Reiz konnte mich verraten. Als ob sie nicht irgendwann auch diese Tür öffneten.
»Er hat doch eine Chance. Wenn er so trainiert ist, wie Sie behaupten, hat er nichts zu befürchten.«
Ich hätte längst weglaufen sollen. Schon vor Tagen. Doch wohin?
»Wissen Sie, wie drastisch die Ausgaben der Sozialgemeinschaft gesunken sind, seit wir dieses Gesetz auf den Weg gebracht haben?«
»Sie plakatieren es ja überall.« Mein Vater.
Bloß die Klappe halten, nicht aufstehen, aus meinem Versteck platzen und brüllen, diese Berechnung ginge von falschen Annahmen aus.
»Wer sagt Ihnen, dass er nicht ein sportlicher schlanker Erwachsener wird?« Meine Mutter.
»Die Statistik. Wer sich mit siebzehn nicht im Griff hat, hat es mit dreißig auch nicht. Deshalb wurde der Lauf ja genau auf dieses Alter festgelegt.«
»Sie Bastard!« Meine Mutter. »Haben Sie keine Kinder? Er hat Freunde, sogar der Sohn des Bürgermeisters zählt dazu. Er ist klug und wir lieben ihn. Zählt das alles nicht?«
»Würden Sie ihn lieben, wäre er nicht so aus der Form geraten.«
Die nächste Tür wurde aufgerissen und wieder zugeschlagen. Das Schlafzimmer der Eltern?
»Das führt doch zu nichts.« Mein Vater. »Er ist nicht hier. Das sehen Sie doch.«
Irreale Hoffnung, sie könnten aufgeben, bevor sie in den letzten Winkel geschaut haben?
»Ihr Sohn wird uns nicht entkommen, verlassen Sie sich drauf. Er wird seinen Festlauf antreten.«