1,99 €
Frank wird zu einem Klassentreffen eingeladen. Die Einladung weckt Erinnerungen, Neugier und Angst. Vor Jahrzehnten musste er die Klasse nach einem kalten Wintertag verlassen: Einem Tag im Übermut der Jugend auf der zugefrorenen Alster, an dem ein unfassbares Verbrechen geschah.
***************************************************
Qindie steht für qualitativ hochwertige Indie-Publikationen. Achten Sie also künftig auf das Qindie-Siegel!
Für weitere Informationen, News und Veranstaltungen besuchen Sie unsere Website: qindie.de
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2020
Qindie steht für qualitativ hochwertige Indie-Publikationen.
Achten Sie also künftig auf das Qindie-Siegel!
Für weitere Informationen, News und Veranstaltungen besuchen Sie unsere Website.
http://www.qindie.de/
Sie hatten mich gefunden. Dabei war ich extra in eine andere Stadt gezogen und hatte meine Nummer nicht in die Telefonbücher aufnehmen lassen.
Aber jetzt liegt er da; der Brief mit der Einladung.
Vielleicht hatte die Neugier sie intensiver forschen lassen, als man es normalerweise tut. Vielleicht wollten sie unbedingt wissen, was aus mir geworden ist, wie ich jetzt lebte. Vielleicht wollten sie auch einfach herausbekommen, in welchem Gefängnis ich mich aufhielt.
Julia muss doch hören, wie laut mein Herz klopft, während ich immer wieder die Einladung lese. Mein Brustkorb ist viel zu klein für eine so hektische Bewegung. Das Herz müsste die Rippen brechen.
*
Ich sehe ihn mit seinem Fahrrad den Anhänger mit den gesammelten Pfandflaschen ziehen, die er täglich gegen etwas zu essen und eine Flasche Korn eintauscht. Ich höre ihn pfeifen: »It’s now or never.« Er ist der einzige Mensch, der gleichzeitig lachen und pfeifen kann. Woher nimmt er das unverschämte Glück?
*
»Du sagst ja gar nichts«, stellt Julia fest, nimmt die Karte aus meiner Hand, überfliegt sie kurz und fragt: »Bist du nicht neugierig?«
Wie es den anderen wohl geht, die damals dabei gewesen sind? Ich bin neugierig. Aber größer ist meine Angst. Es soll im Verborgenen bleiben, dieses Damals. Es ist Vergangenheit.
»Doch«, antworte ich tonlos. »Aber was erzähle ich dort? Bei Klassentreffen prahlt jeder damit, was aus ihm geworden ist. Man stellt sich dar, die beruflichen Erfolge, das private Glück. Ich kann nur über mein Versagen berichten.«
»Hast du kein privates Glück?« Julia müsste mich ohrfeigen. Stattdessen stellt sie sich hinter mich und massiert meinen verspannten Nacken.
»Aber das liegt nur an deiner Geduld mit mir.«
»Du solltest hingehen, Frank.« Sie lässt mich los, geht in die Küche. Von dort höre ich klappernde Töpfe, den Wasserhahn und die Kühlschranktür. Wie kann sie jetzt ans Essen denken?
*
Ich sehe ihn vor dem Kaufhaus sitzen, den Hut zu seinen Füßen. Menschen gehen vorbei. Nur ganz selten wirft einer etwas Klingendes in den Hut. Er nickt dann freundlich, bedankt sich und wünscht noch einen schönen Tag. Er sieht immer gleich aus, sein Haar ist struppig und sein Jackett grau und verschlissen. Seine Hose reicht nicht ganz zu den Schuhen. Oben ist sie mit einer Kordel zugebunden.
*
Julia deckt wortlos den Tisch. War sie schon so lange in der Küche? Ich habe nicht einmal meine Haltung geändert. Die Einladung liegt vor mir.
»Frank, kommst du?«, fragt Julia und verschwindet wieder. Sie hat Kerzen angezündet, die Servietten gefaltet und die Teller auf hübsche Sets gestellt. Ich erhebe mich so schwerfällig, als hätte ich einen anstrengenden Tag gehabt, schleiche zum Esstisch und setze mich. Wortlos nimmt Julia die Teller, füllt sie mit Kartoffeln, Schinken, Spargel und Hollandaise, sieht mich an, wartet, bis ich den ersten Bissen im Mund habe.
Wie viele Stunden können wir schweigend verbringen, wie viele Tätigkeiten nebeneinander verrichten?
Nur Messer und Gabeln quietschen leicht über das Geschirr, während wir essen. Nur die Teller klappern, als wir gemeinsam den Tisch abräumen. Nur das Besteck klirrt blechern, als ich es in die Spülmaschine lege. Die Scharniere der Schränke ächzen, unsere Schritte knirschen leise über den Küchenfußboden. Musik, die niemand hört, tönt aus dem Radio und verstärkt die Stille durch Überspielen.
Das Rauschen fließenden Wassers bricht sich im Geschirr, dröhnend arbeitet der Motor der Spülmaschine.
Wir setzen uns ins Wohnzimmer, Julia lehnt sich an mich, ich umarme sie. Ihr Haar riecht noch ein bisschen nach dem Dunst des Spargelwassers. Sie schaltet den Fernseher ein, aber keiner von uns sieht hin. Still hängen wir an unseren Gedanken. Warum liebt sie ausgerechnet mich?
Als sie den Fernseher wieder ausschaltet, erheben wir uns wortlos, beenden den Tag, nicht das Schweigen, ziehen uns um, waschen uns und gehen zu Bett.
»Du solltest zu diesem Klassentreffen gehen.«
»Warum?«
»Weil du so viel Angst davor hast.« Julia dreht sich zur Seite, stützt sich auf ihrem Ellenbogen ab und streichelt mir mit der anderen Hand über die Brust. »Vielleicht findest du dort den Grund für dein Versagen?« Ihre Berührung kitzelt.
»Du hältst mich also auch für einen Versager.«
Julia zieht ihre Hand zurück, dreht sich wieder auf den Rücken, atmet ruhig ein und aus. »Wenn du es so verstehen willst.«
Ich wende ihr den Rücken zu. Einschlafen werde ich nicht können. Aber so tun kann ich wenigstens. Außerdem sehe ich so ihr Gesicht nicht. Ich höre sie nur atmen und einmal seufzen, bevor sie sich umdreht.
Ich zittere, als hätte ich Fieber, ziehe meine Schultern ein und die Beine an.
»Ich weiß, wie intelligent und kreativ du bist, und dass du fast alles nach kurzer Zeit kannst. Ich wäre froh, wenn ich so viel Talent für alles hätte wie du.«
»Damit machst du mich erst recht zum Versager«, antworte ich stockend. »Du attestierst mir, was ich alles kann aber ich bekomme trotzdem nichts auf die Reihe, habe kein Abitur, kein Studium abgeschlossen, keinen ordentlichen Job.«
»Das ist mir zu blöd«, antwortet Julia und schweigt wieder.
Ich bin zu blöd. Ich weiß doch, sie liebt mich. Aber Wissen und Wissen sind nicht dasselbe.
*
Wie es Annette wohl geht? Sie war doch damals auch dabei. Und trotzdem hat sie die Einladung unterschrieben. Hat sie keine Schwierigkeiten damit? Hat sie die Spuren gefunden, in denen sie weitergehen konnte? Hat sie Tritt gefasst im Leben? Wie stark muss das Profil dazu sein?
*
Ich kann ihn riechen, den Staub, der an seiner Kleidung klebt. Den Schweiß kann er sich nicht abduschen und auch der Hemdkragen ist dunkel und speckig. Es ist, als tropfte Tran aus seinen Talgdrüsen. Ich kann nicht sehen, wie alt er ist. Wahrscheinlich ist er viel jünger als er aussieht. Sicher hat das Wetter seine Haut gegerbt und die Sonne mehr als einmal das Gesicht verbrannt. Aber er tut niemandem etwas, außer da zu sein.
*
»Wie lange sind wir jetzt schon zusammen?« Julias Stimme ist belegt.
»Zwei Jahre knapp.«
Sie dreht sich wieder auf den Rücken. »Ich halte dich nicht für einen Versager.«
Wie oft haben wir das Gespräch in den zwei Jahren schon geführt?
»Und ich frage mich, woran das liegt«, fährt sie fort. »Als ich die Angst gesehen habe, mit der du auf die Einladung gestarrt hast, …«
Ich bleibe von ihr abgewandt liegen, warte, ob sie den Satz zu Ende spricht, ob da noch irgendetwas kommt.
»Was war da?«, frage ich nach langer Zeit.
»Was war in der Schule?«, fragt Julia zurück. »Warum möchtest du nicht daran erinnert werden? Wenn du der Angst folgst, kommst du vielleicht an den Platz, der dir dein Selbstvertrauen genommen hat.«
*
Was geht wohl in Thomas vor, wenn er die Einladung in der Hand hält, was in Sven, Christian oder Andreas? Kämpfen sie mit den gleichen Fragen? Oder überwiegt bei ihnen die Neugier? Welche Berufe haben sie, was haben sie studiert? Ob sie verheiratet sind, Kinder haben? Was, wenn ihre Kinder ihnen eines Tages antun, was wir unseren Eltern angetan haben?
*
So streiten wir immer, Julia und ich. Nie setzen wir uns auseinander. Wir schweigen uns an. Und ich weiß, ich bin für dieses Schweigen verantwortlich. So, wie ich für alles verantwortlich bin. Julia stellt Fragen in die Stille, Fragen, denen ich mich nicht stellen mag und die ich doch mit mir trage, egal wo ich gerade bin. Sie meint es gut, wenn sie mir Schmerzen zufügt, wenn sie in der Angst bohrt. Sie glaubt, ich könnte loslassen und leben, würde ich endlich reden und flennen.