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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Der Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn war verärgert. Wieder einmal hatte ihn die Frau des reichen Fabrikanten Kunzemüller unnötig zu ihrem Königspudel gerufen. Sie hatte ihm die Schmerzzustände des Tieres so drastisch geschildert, dass er die Sprechstunde abgesagt hatte. Doch dann hatte sich herausgestellt, dass dem Hund überhaupt nichts fehlte. Hans-Joachim stellte den Wagen vor der Garage ab und ging auf das helle Haus zu, das ihm gehörte. Ein Motorengeräusch veranlasste ihn, sich rasch noch einmal umzudrehen. Eben bog Andrea, seine Frau, mit ihrem kleinen Wagen um die Ecke. Wieder einmal fuhr sie viel zu schnell. Die Reifen quietschten, eine kleine Staubwolke wirbelte auf. Dann stand das Fahrzeug. Schon stieg die junge attraktive Frau aus. Sie trug Jeans und eine Karobluse und sah so schlank und mädchenhaft aus, dass man sie für eine Gymnasiastin hätte halten können. Hans-Joachim ging ihr lächelnd entgegen. Er liebte Andrea. Ihre frische natürliche Art begeisterte ihn jeden Tag von Neuem. »Hallo, Liebster!« Andrea fiel ihrem Mann um den Hals, als hätte sie ihn nicht nur wenige Stunden, sondern einige Tage lang nicht gesehen. Ungeniert küsste sie ihn auf den Mund. Der junge Tierarzt hielt seine temperamentvolle Partnerin fest und sah ihr liebevoll in die strahlenden blauen Augen. Aller Ärger war verflogen. »Hast du etwas Hübsches eingekauft?« »Du wirst staunen. Ich glaube, du errätst es nicht!« Andrea lachte. Ihre gleichmäßigen weißen Zähne schimmerten im Licht. Wunderschön sah sie aus mit dem schulterlangen dunklen Haar und der makellosen braunen Haut. »Wie geht's dem ›Baron‹ von Frau Kunzemüller?« Dr. von Lehn, der seine Frau um fast
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Der Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn war verärgert. Wieder einmal hatte ihn die Frau des reichen Fabrikanten Kunzemüller unnötig zu ihrem Königspudel gerufen. Sie hatte ihm die Schmerzzustände des Tieres so drastisch geschildert, dass er die Sprechstunde abgesagt hatte. Doch dann hatte sich herausgestellt, dass dem Hund überhaupt nichts fehlte.
Hans-Joachim stellte den Wagen vor der Garage ab und ging auf das helle Haus zu, das ihm gehörte. Ein Motorengeräusch veranlasste ihn, sich rasch noch einmal umzudrehen.
Eben bog Andrea, seine Frau, mit ihrem kleinen Wagen um die Ecke. Wieder einmal fuhr sie viel zu schnell. Die Reifen quietschten, eine kleine Staubwolke wirbelte auf. Dann stand das Fahrzeug. Schon stieg die junge attraktive Frau aus. Sie trug Jeans und eine Karobluse und sah so schlank und mädchenhaft aus, dass man sie für eine Gymnasiastin hätte halten können.
Hans-Joachim ging ihr lächelnd entgegen. Er liebte Andrea. Ihre frische natürliche Art begeisterte ihn jeden Tag von Neuem.
»Hallo, Liebster!« Andrea fiel ihrem Mann um den Hals, als hätte sie ihn nicht nur wenige Stunden, sondern einige Tage lang nicht gesehen. Ungeniert küsste sie ihn auf den Mund.
Der junge Tierarzt hielt seine temperamentvolle Partnerin fest und sah ihr liebevoll in die strahlenden blauen Augen. Aller Ärger war verflogen. »Hast du etwas Hübsches eingekauft?«
»Du wirst staunen. Ich glaube, du errätst es nicht!«
Andrea lachte. Ihre gleichmäßigen weißen Zähne schimmerten im Licht. Wunderschön sah sie aus mit dem schulterlangen dunklen Haar und der makellosen braunen Haut. »Wie geht’s dem ›Baron‹ von Frau Kunzemüller?«
Dr. von Lehn, der seine Frau um fast einen Kopf überragte, zog eine Grimasse. »Dem Baron fehlt überhaupt nichts. Er hatte sich nur überfressen und war daher zu faul, sich zu bewegen.«
Andrea blies die Backen auf. »Wie kannst du so etwas von einem derart vornehmen Hund sagen«, rügte sie mit schelmischem Augenzwinkern.
»Wenn mich Frau Kunzemüller noch einmal umsonst ruft, sage ich noch ganz andere Dinge«, erwiderte Hans-Joachim grimmig. »Zum Beispiel, dass sie das arme Tier mit Filetstücken überfüttert, dass es viel zu wenig Bewegung hat, weil es nur im Mercedes fährt, und dass es auf seinen Seidenkissen viel zu weich liegt.«
»Du wirst doch deine beste Kundin nicht verärgern? Denke ans Honorar! Du weißt doch, wie gerne ich in Maibach einkaufe. Also, rate, was ich mitgebracht habe.« Herausfordernd sah Andrea ihren Mann an. Sie liebte seine korrekte pflichtbewusste Art, obwohl sie ihn manchmal ein wenig damit ärgerte. Doch meist ließen ihr Charme und ihr Humor eine Verstimmung gar nicht erst aufkommen.
»Ein neues Kleid.« Hans-Joachim unterdrückte einen Seufzer.
»Falsch. Du weißt doch, dass ich viel lieber Hosen trage.«
»Also, eine neue Hose. Wahrscheinlich auch eine passende Bluse dazu.«
»Auch falsch.« Andrea lachte silberhell.
»Ein neues Kleidungsstück für unser Peterle.«
»Das wäre Verschwendung. Du weißt doch, dass Mutti ihm fast jede Woche etwas kauft. Bei so süßen kleinen Sachen kann sie einfach nicht widerstehen.«
»Ich glaube eher, es liegt daran, dass der Bengel so goldig darin aussieht.« Wenn es um den kleinen Sohn ging, kannte Hans-Joachims Stolz keine Grenzen.
»Na, Kunststück. Er ist unser Sohn!« Andrea versuchte ein sehr würdevolles Gesicht zu machen, was ihr jedoch völlig misslang.
Hans-Joachim schmunzelte. Mit Andrea wurde der Alltag keinen Augenblick langweilig.
»Du lenkst ab. Wann errätst du endlich, was ich mitgebracht habe?«
»Du wirst doch nicht für mich …« Der junge Tierarzt tat erstaunt.
»Ein Hemd und einen Schlips. Schließlich musst du ordentlich aussehen, wenn du in die Villa Kunzemüller gehst.«
»Ich werde nicht mehr …« Hans-Joachim gab seine Frau frei.
»Du weißt doch, das Honorar, Liebster. Überhaupt habe ich noch etwas viel Interessanteres mitgebracht.«
»Erzähl schon. Ich möchte nicht mehr raten.« Der junge Tierarzt ließ den Kopf hängen, wie ein Schüler, der nichts weiß.
»Du bist ein Feigling. Das ist alles.« Andrea sagte das jedoch so charmant, dass ihr niemand hätte böse sein können. »Komm einmal mit!« Beschwingt und graziös ging sie voraus zum Auto. »Schau einmal hinein!«
Hans-Joachim bückte sich. Kopfschüttelnd starrte er auf das bunte Federknäuel, das wie ein Häuflein Elend auf dem Rücksitz saß.
»Du hast einen Papagei gekauft?« Hans-Joachim hatte es schon lange aufgegeben, sich über die Einfälle seiner Frau zu wundern.
»Nicht gekauft, gefunden.« Andrea konnte ihre Freude darüber nicht verbergen. Sie liebte Tiere und konnte nie genug um sich haben. Im Tierheim, das der Praxis angegliedert war, fanden sich Vierbeiner aller Art.
»Aber, Andrea, ein Papagei geht doch nicht verloren wie ein Regenschirm.«
»Aber er entfliegt. Und das muss hier der Fall gewesen sein. Jedenfalls saß er auf dem Dachständer meines Autos, als ich mit Taschen beladen zum Parkplatz zurückkam.« Stolz reckte Andrea den Kopf.
»Du hättest Nachforschungen anstellen müssen, wem das Tier gehört«, meinte der sympathische Mann mit dem kurz geschnittenen blonden Haar.
»Habe ich. Ich habe in sämtlichen umliegenden Häusern nachgefragt, war bei der Polizei und beim Fundbüro. Niemand hatte einen Papagei vermisst. Da habe ich ihn eben mitgenommen. Ich konnte doch das arme Tier nicht auf dem Parkplatz zurücklassen. Außerdem ist es hungrig. Ich werde Janosch bitten, den Findling zu versorgen.«
Janosch, das war der alte Tierpfleger, der bei dem jungen Ehepaar eine neue Heimat gefunden hatte und der sich aufopfernd um die vielen verschiedenen Tiere kümmerte.
»Ein sehr schönes Tier«, murmelte Hans-Joachim. »Aber wir werden es sicher nicht behalten können. Der Eigentümer meldet sich bestimmt.«
»Inzwischen soll der Papagei es gut haben.« Andrea öffnete die Tür des Autos und griff nach dem bunten Vogel.
»Er wird dir wegfliegen«, prophezeite Hans-Joachim.
»Er ist ganz zahm.« Andrea hielt dem Papagei den Finger hin. Tatsächlich krabbelte er darauf und hielt sich fest. »Er ist froh, dass ich ihn mitgenommen habe.«
»Es scheint wirklich so.« Hans-Joachim schüttelte den Kopf. Immer wieder musste er feststellen, dass Andrea eine außergewöhnliche Begabung hatte, mit Tieren umzugehen. Die Tiere hatten Vertrauen zu ihr, waren in ihrer Nähe sanft und fügsam.
In diesem Augenblick kam Marianne, das Hausmädchen, ins Freie. Sie trug einen hübschen blonden Jungen auf dem Arm. Neben ihr drängte ein rothaariger Langhaardackel aus der Tür. Freudig bellend rannte er zu Andrea und deren Mann.
Peterle strebte zappelnd vom Arm der Betreuerin. »Mami, Mami«, krähte er und streckte verlangend die Patschhändchen aus.
Marianne stellte den Kleinen auf die Füße, blieb aber dicht hinter ihm, um ihn auffangen zu können, falls er stolperte.
Peterles kurze Beinchen wurden immer schneller. Ohne Zweifel hätte Marianne eingreifen müssen, wenn der kleine Kerl jetzt nicht sein Ziel erreicht hätte. Jauchzend stürzte er sich in die offenen Arme seiner Mami.
Andrea nahm ihn hoch und drückte ihn voll Zärtlichkeit an sich. »Peterle, mein Peterle!« Für einen Moment schloss sie die Augen. Sie war glücklich mit ihrem Mann und dem Kind. So glücklich, dass ihr manchmal ganz schwindlig wurde.
Hans-Joachim beugte sich vor und ließ sich von seinem kleinen Sohn ins Gesicht patschen. Er wusste ja, dass es zärtlich und liebevoll gemeint war.
Jetzt entdeckte Peterle den bunten Vogel, den Andrea rasch wieder ins Auto gesetzt hatte.
»Oh, piep-piep!« Der kleine Junge klatschte verlangend in die Händchen.
*
»Und wir sind doch besser als die B-Klasse!«, empörte sich Nick, ein bildhübscher großer Junge mit fast schwarzem Haar und blitzenden dunklen Augen.
»Warum habt ihr dann verloren?«, erkundigte sich Henrik, sein jüngerer Halbbruder, scheinheilig. Henrik gönnte dem großen Bruder die Niederlage ein bisschen. Denn überall stand Nick vorn. Alles konnte er besser, immer wusste er jede Neuigkeit, und manchmal durfte er abends aufbleiben, wenn die Eltern Besuch hatten oder wenn eine interessante Sendung im Fernsehen lief.
»Ach, du verstehst ja davon nichts.« Nick winkte geringschätzig ab.
Henrik stemmte die Arme in die Seiten und sah den Älteren herausfordernd an. »Ich soll nichts vom Fußball verstehen? Und wer spielt den Mittelstürmer in unserer Klasse?«
»Im Kindergarten, wolltest du sagen.« Nick war so aufgebracht, dass er im Augenblick bereit war, mit allen und jedem zu streiten. Dabei war er sonst ein verträglicher Junge, der sich besonders für die Interessen der jüngeren Kinder in Sophienlust einsetzte.
Sophienlust, das war das ehemalige Gutshaus, das nach dem Tod von Nicks Urgroßmama in ein Heim für elternlose Kinder umgewandelt worden war. Schon viele kleine Waisen hatten hier eine neue Heimat gefunden. Später einmal sollte der Besitz mit all seinen Ländereien Nick gehören. Bis zu seiner Volljährigkeit verwaltete seine Mutti das Anwesen. Obwohl die Familie auf dem benachbarten Gut Schoeneich wohnte, waren Nick und Henrik tagsüber meistens in Sophienlust.
»Streitet doch nicht«, bat Pünktchen, ein blondes Mädchen mit langen blonden Haaren und reizvollen Sommersprossen auf dem Stupsnäschen. Diesen Sommersprossen hatte Angelina Dommin ihren Spitznamen zu verdanken. Sie war noch sehr klein gewesen, als ihre Eltern bei einem Zirkusbrand ums Leben gekommen waren. Seither lebte sie in Sophienlust und war glücklich hier.
»Deine Klasse war tatsächlich besser, Nick. Es lag nur an der Ungerechtigkeit des Schiedsrichters, dass ihr verloren habt.« Pünktchen hielt immer zu ihrem großen Freund Nick.
»Ja. Er hat nicht gesehen, dass einer aus eurer Mannschaft festgehalten wurde«, mischte sich nun auch Fabian, ein schmächtiger mittelblonder Junge mit graugrünen Augen ein.
»Es war ein einwandfreies Foul!« Nick ballte wütend die Hände zu Fäusten.
»Ist das denn so wichtig?«, erkundigte sich Vicky und stieß gelangweilt einige Steinchen am Boden los. Sie wollte viel lieber spielen. Der große Park von Sophienlust bot wundervolle Möglichkeiten dazu.
»Hast du eine Ahnung«, brüllte Nick. »Die Kerle von der B geben jetzt mächtig an. Aber wir werden es ihnen schon noch zeigen. Wir fordern ein Rückspiel!«
»Was ist denn das?«, wollte die kleine Heidi wissen.
»Revanche!«
Damit konnte Heidi erst recht nichts anfangen. Überhaupt langweilte sie das Gespräch der Großen.
»Beim nächsten Spiel gewinnt ihr bestimmt.« Pünktchens blaue Augen strahlten Nick bewundernd an. Der hübsche Junge war ihr heimlicher Schwarm. Doch davon sollte niemand etwas wissen. Nicht einmal ihre beste Freundin Angelika.
»Tante Andrea hat einen Papagei«, rief Heidi laut dazwischen.
»Wie kommst du denn darauf?« Vicky sah die Kleine ein bisschen mitleidig an.
»Sie hat es Ma am Telefon erzählt.«
Tante Ma nannten die Kinder die mütterliche Heimleiterin, Frau Rennert.
»Du schwindelst wieder einmal.« Pünktchen hob mahnend den Zeigefinger.
»Überhaupt nicht«, ereiferte sich Heidi. Ihre blonden Zöpfe schaukelten. »Es ist wahr! Du kannst ja Schwester Regine fragen. Sie weiß es auch.« Heidi deutete auf die Kinderschwester, die sich eben darum bemühte, ein weinendes Zwillingspärchen zu trösten.
»Das nächste Mal gewinnen wir haushoch«, prophezeite Nick, der sich noch immer nicht beruhigt hatte und an nichts anderes als an das verlorene Fußballspiel denken konnte.
»Einen Papagei wie unser Habakuk?«, fragte Fabian die Kleine.
Endlich war es Heidi gelungen, die Aufmerksamkeit der Großen auf sich zu ziehen. Wer konnte ihr verdenken, dass sie nun ein bisschen schummelte? »Noch viel größer und schöner«, schwindelte sie. »Und sprechen kann er so gut wie wir!«
»Das müssen wir uns ansehen«, entschied Fabian.
»Natürlich müsst ihr euch das nächste Spiel ansehen. Alle müssen kommen, sogar Justus.« Nick fuchtelte mit den Armen.
»Es geht ja gar nicht mehr um dein Fußballspiel, sondern um den neuen Papagei«, klärte Henrik seinen Bruder schadenfroh auf. Im nächsten Moment lief er den Kameraden nach.
Nick, sonst fast immer Anführer der kleinen Gruppe, sah sich plötzlich allein gelassen. Hastig lief er den anderen nach. »Moment! Wohin geht ihr denn?«
»Zum Tierheim!«
Nick hatte die Kameraden bereits eingeholt. »Ich komme mit. Aber sagt Andrea und Hans-Joachim nichts von dem verlorenen Spiel.«
»Du kannst doch nichts dafür«, versuchte Pünktchen ihn zu trösten.
»Er schämt sich trotzdem. Und er hat Angst, dass sie ihn auslachen!« Henrik, der die Rache des Älteren fürchtete, rannte voraus.
*
Ängstlich drückte Susanne Mikkos ihr Kind an sich. Sie hatte gewusst, dass ihr die Heimat ihres Mannes fremdländisch erscheinen würde. Doch so schlimm hatte sie es sich nicht vorgestellt.
Das Dorf, in dem Ahmet zu Hause war, bestand aus siebzehn Lehmbauten und einer staubigen Straße. Die heiße Sonne Marokkos brannte gnadenlos vom Himmel und versengte mit ihrer verzehrenden Glut auch das letzte Grün. Einige struppige Palmen waren die einzigen Gewächse im näheren Umkreis. Doch auch sie spendeten kaum Schatten. Das Land glich einer gelbbraunen Wüste. Das Weiß der Lehmbauten war in den Sandstürmen schmutzig geworden. Ein bisschen unheimlich wirkten die fensterglaslosen Öffnungen, die fast überall mit Stofffetzen verhängt waren.
Selbst auf den einjährigen Karim schien das alles einen trostlosen Eindruck zu machen. Er begann leise und jämmerlich zu weinen. Sicher war ihm auch zu heiß. Das weiße Baumwollhemdchen klebte feucht an seinem Körper. Schweißnass glänzte das hübsche, runde Kindergesichtchen mit den schwarzen Kulleraugen.
Ein älterer Mann trat aus dem Haus, in dessen Nähe Ahmet Mikkos sein Auto abgestellt hatte. Das weiße Gewand dieses Mannes war ein kleiner Lichtblick.
»Mein Vater«, stellte Ahmet vor. Er umarmte den Mann und redete ihn in seiner Muttersprache an.
Susanne verstand kein Wort davon. Ahmet sprach ein einwandfreies Deutsch, und wenn sie sich zu Hause mit seinen Freunden trafen, verständigte man sich auf englisch.
Die weite Autofahrt auf schlechten holperigen Straßen war ungeheuer anstrengend gewesen. Hinzu kam die mörderische Hitze, an die Susanne nicht gewöhnt war. Sie war zum Umfallen müde. Trotzdem lächelte sie tapfer.
Die Begrüßungszeremonie dauerte lange. Sämtliche näheren Verwandten umringten und umarmten Ahmet. Susanne wurde von niemand beachtet. Nur das Kind auf ihrem Arm wurde wie ein kleiner Prinz gefeiert. Man wollte es ihr abnehmen, doch Karim begann sofort laut und durchdringend zu schreien.
Beruhigend strich Susanne über das dunkle Lockenköpfchen. Liebevoll sprach sie auf den Kleinen ein.
Endlich kam jemand, um Susanne ins Haus zu führen. Der Kleidung nach musste es eine junge Frau sein. Ihr Kopf war vermummt, nur das runde dunkle Gesicht war frei.
Man bedeutete Susanne, sich auf der Matte am Boden niederzulassen.
Die Müdigkeit zwang die junge Deutsche, der Aufforderung nachzukommen. Es war hier drinnen kaum weniger heiß als draußen, doch war man wenigstens vor den schmerzhaften Strahlen der Sonne geschützt.
Befremdet sah sich Susanne in dem kleinen Raum um. Außer einem niedrigen Tischchen und einem Regal an der Wand gab es keinerlei Möbel. In einem kleinen, etwas abgetrennten Raum baumelten zwei handgeknüpfte Hängematten.
Wo war eigentlich Ahmet?
Die junge Marokkanerin brachte Susanne ein süßliches Getränk. Es war lauwarm und schmeckte sehr merkwürdig. Trotzdem leerte Susanne den Becher gierig. Karim war vor Erschöpfung in ihren Armen eingeschlafen.
Die junge Frau, die Susanne ins Haus gebracht hatte, streckte die Hände nach dem Kind aus und bedeutete Susanne, ihr das Baby zu geben.
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Bitte, lassen Sie Karim hier. Er schläft. Wenn er aufwacht, würde er nur weinen.«
Beharrlich rückte die Fremde, die Susannes Worte nicht verstand, näher. Die braunen Hände griffen nach Karim.
Susanne drängte sie zurück. »Bitte, fassen Sie ihn nicht an! Sie wecken ihn auf!« Angstvoll wich Susanne bis zur Wand zurück. Sie hatte schon zuvor so stark geschwitzt, dass ihre helle Bluse nasse Flecken gezeigt und der bunte Rock an ihrer Haut geklebt hatte. Doch nun wurde ihr die Hitze unerträglich. Schweiß brach ihr aus allen Poren. »Nein!«, schrie sie zitternd, als die junge Frau wieder versuchte, ihr das Kind zu nehmen.
Endlich gab die Fremde ihr Vorhaben auf. Sie verschwand durch den niedrigen Eingang.
Einige Minuten später erschien Ahmet. Seine dunklen Augen sahen Susanne drohend an. Er murmelte etwas in der fremden Sprache und wirkte plötzlich ganz anders als zu Hause, in Tübingen, wo Susanne ihren Mann vor zwei Jahren kennengelernt hatte. Er war der charmanteste, zärtlichste Verehrer gewesen, den die junge Krankenschwester sich hatte wünschen können. Er hatte Susanne sofort gefallen. Seine von Temperament sprühenden dunklen Augen, seine pechschwarzen Haare, seine imponierende Größe und sein fremdländischer Charme hatten ihr Ahmet wie einen Märchenprinzen erscheinen lassen.
Schon kurze Zeit später waren sie verheiratet, und Ahmet war der liebevollste, aufmerksamste Ehemann geworden, der Susanne mit Geschenken und mit seiner Zärtlichkeit verwöhnte. Als das Söhnchen Karim zur Welt gekommen war, hatte es keinen stolzeren Vater gegeben.
Doch nun schien sich Ahmet von einer Minute zur anderen verwandelt zu haben. Erloschen war das freundliche Lächeln um seinen Mund, erloschen die Zärtlichkeit in seinem Blick. Selbst seine Stimme klang anders als sonst. Seine Haltung drückte Selbstherrlichkeit aus.
Vorsichtig, um das Kind in ihren Armen nicht zu wecken, erhob sich Susanne. »Ich bin froh, dass du kommst«, meinte sie, in der Hoffnung, sich getäuscht zu haben. Vielleicht war es nur die fremde Umgebung, die ihr Ahmet so anders erscheinen ließ?
»Warum hast du Alia den Jungen nicht gegeben?«, herrschte Ahmet sie an. »Sie wollte ihn ins Haus meiner Mutter bringen.«
»Aber, Ahmet, du weißt doch, dass Karim fremdelt. Er würde nur weinen.« Susanne ging auf ihren Mann zu. Sie wusste, er war in dieser Umgebung der einzige Schutz für sie.
»Das Kind wird sich an sie gewöhnen.« Ahmet machte keine Anstalten, seine Frau in die Arme zu nehmen, wie er es sonst gern tat.
»Ich kann ja später mit ihm zu deiner Mutter gehen«, schlug Susanne versöhnlich vor. In ihrer Erschöpfung und mit dem hochroten Gesicht wirkte sie hilflos. Hilflos fühlte sie sich auch in dieser Umgebung, in der ihr nichts vertraut war, in die sie nur Ahmet zuliebe gekommen war.
Der Mann hingegen ertrug die Hitze viel besser. Er schien sich sogar ausgesprochen wohlzufühlen. Ein bisschen spöttisch betrachtete er Susanne. Vielleicht erinnerte er sich dabei an jene Zeit, als er als Student nach Deutschland gekommen war und sich zuerst auch nicht zurechtgefunden hatte. Damals hatte es viele gegeben, die über ihn gelacht hatten. Doch warum ließ er seine Rachegefühle gerade an Susanne aus, die immer gut zu ihm gewesen war?