Eine neue Mutter für uns drei - Susanne Svanberg - E-Book

Eine neue Mutter für uns drei E-Book

Susanne Svanberg

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Das graubraune Wasser des Flusses klatschte sanft ans Ufer. Kleine Zweige trieben rasch vorbei. »So breit war er noch nie«, sagte der siebenjährige Henrik staunend. »Ist ja auch Hochwasser«, belehrte ihn Nick, der ältere Bruder. Er war schon fünfzehn und fühlte sich für Henrik und die Kameraden, die mitgekommen waren, verantwortlich. Denise von Schoenecker hatte ihnen diesen kleinen Radausflug erlaubt, weil heute so schönes Wetter war. »Im Frühjahr kommt das oft vor. Manchmal überschwemmt der Fluss sogar die Wiesen hier.« »Und woher hat er das viele Wasser?«, fragte Henrik. »Wenn der Schnee schmilzt, nehmen die Bäche im Gebirge das Wasser auf und führen es dem Fluss zu.« »Schau mal, was dort schwimmt!«, rief Angelika und deutete flussaufwärts. »Eine Flasche«, sagte Pünktchen sachlich. Mit ihren zwölf Jahren war das blonde Mädchen mit der kessen Stupsnase schon sehr vernünftig. Die vielen lustigen Sommersprossen hatten Angelika Domin den Spitznamen ›Pünktchen‹ eingebracht. Gestört hat sich die Kleine nie daran. Sie mochte es gern, wenn man sie so nannte. »Eine Flaschenpost«, widersprach Angelika aufgeregt. »Das gibt es doch nur in Abenteuerbüchern«, sagte Pünktchen. Nick kniff die Augen zusammen und sah angestrengt zu dem Punkt hinüber, auf den Angelikas ausgestreckter Finger wies. Die Flasche war verschlossen. »Wir werden gleich wissen, ob was in der Flasche ist«, sagte Nick, der immer dafür war, geheimnisvollen Dingen auf den Grund zu gehen. »Wie denn?« »Wir angeln sie einfach heraus.« Henrik sah seinen großen Bruder bewundernd an. »Und wie willst du das anstellen? Der Fluss ist ja so breit, und die Flasche schwimmt ganz drüben. Willst du hineinspringen?« »Nein, ist doch noch viel zu

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Sophienlust – 150–

Eine neue Mutter für uns drei

Was Sita und ihre Schwestern in Sophienlust erlebten ...

Susanne Svanberg

Das graubraune Wasser des Flusses klatschte sanft ans Ufer. Kleine Zweige trieben rasch vorbei.

»So breit war er noch nie«, sagte der siebenjährige Henrik staunend.

»Ist ja auch Hochwasser«, belehrte ihn Nick, der ältere Bruder. Er war schon fünfzehn und fühlte sich für Henrik und die Kameraden, die mitgekommen waren, verantwortlich. Denise von Schoenecker hatte ihnen diesen kleinen Radausflug erlaubt, weil heute so schönes Wetter war. »Im Frühjahr kommt das oft vor. Manchmal überschwemmt der Fluss sogar die Wiesen hier.«

»Und woher hat er das viele Wasser?«, fragte Henrik.

»Wenn der Schnee schmilzt, nehmen die Bäche im Gebirge das Wasser auf und führen es dem Fluss zu.«

»Schau mal, was dort schwimmt!«, rief Angelika und deutete flussaufwärts.

»Eine Flasche«, sagte Pünktchen sachlich. Mit ihren zwölf Jahren war das blonde Mädchen mit der kessen Stupsnase schon sehr vernünftig. Die vielen lustigen Sommersprossen hatten Angelika Domin den Spitznamen ›Pünktchen‹ eingebracht. Gestört hat sich die Kleine nie daran. Sie mochte es gern, wenn man sie so nannte.

»Eine Flaschenpost«, widersprach Angelika aufgeregt.

»Das gibt es doch nur in Abenteuerbüchern«, sagte Pünktchen.

Nick kniff die Augen zusammen und sah angestrengt zu dem Punkt hinüber, auf den Angelikas ausgestreckter Finger wies. Die Flasche war verschlossen.

»Wir werden gleich wissen, ob was in der Flasche ist«, sagte Nick, der immer dafür war, geheimnisvollen Dingen auf den Grund zu gehen.

»Wie denn?«

»Wir angeln sie einfach heraus.«

Henrik sah seinen großen Bruder bewundernd an. »Und wie willst du das anstellen? Der Fluss ist ja so breit, und die Flasche schwimmt ganz drüben. Willst du hineinspringen?«

»Nein, ist doch noch viel zu kalt. Wir laufen einfach zur nächsten Brücke. Dort liegen einige Fischerboote, und von dort aus …« Nick rannte bereits los.

Angelika und Henrik folgten ihm voll Begeisterung. Nur Pünktchen zögerte. Unschlüssig sah das Mädchen auf die abgestellten Fahrräder und dann wieder auf die Kameraden.

»Pünktchen, besorg mir einen langen Stock!«, rief Nick über die Schulter zurück.

Eifrig schaute sich das Mädchen um. Lag dort drüben im Gras nicht ein dürrer Ast?

Nick lief, als gelte es, eine Wette zu gewinnen. In Rekordzeit erreichte er die Brücke. Längst waren Henrik und Angelika zurückgeblieben. Mit einem Satz sprang er in eines der Fischerboote, die unterhalb der Brücke festgebunden waren. Der Kahn schaukelte beträchtlich, doch Nick hatte keine Angst. Er war ein guter, geübter Schwimmer, und er kannte diesen Fluss recht genau.

Pünktchen kam angelaufen. Keuchend schleppte sie den Ast hinter sich her.

»Geht das?«, rief sie dem Kameraden zu.

»Ich glaube schon. Warte noch! Ich springe auf das letzte Boot, dann reichst du mir den Stock von der Brücke herunter.«

Das letzte Boot war am mittleren Pfeiler festgebunden. Geschickt balancierte Nick an die äußerste Kante des Kahns und sprang hinüber – keine Minute zu früh, denn eben kam die geheimnisvolle Flasche angeschaukelt. Mit Hilfe des Stocks dirigierte Nick sie dicht an die Bordwand und konnte sie dann mühelos herausholen. Es war eine Saftflasche mit Schraubverschluss. Neugierig betrachtete Nick seinen Fund von allen Seiten.

»Nick, mach sie auf!«, kreischten Henrik und Angelika, die eben, völlig außer Atem, auf die Holzbrücke polterten.

Der große Junge mit den intelligenten dunklen Augen ließ den Stock schwimmen und sprang, von einem Boot aufs andere, ans Ufer zurück.

»Hier, für euch!«, sagte er und reichte den jüngeren Kindern gönnerhaft den Fund.

»Angelika hat sie zuerst gesehen. Also darf sie die Flasche öffnen.« ­Henrik drängte sich dicht an das Mädchen. Er hielt den Atem an, als Angelika den Schraubverschluss herunterdrehte. Schmutzigbraunes Wasser floss heraus. Angelika war sichtlich enttäuscht. Mit aller Kraft schüttelte sie den Glasbehälter. Und da rutschte etwas in die Öffnung – ein durchnässtes Stück Papier.

»Das ist ein Brief!«, rief Henrik aufgeregt.

»Also doch eine Flaschenpost«, sagte Angelika triumphierend.

»Lass mal sehen!« Nick nahm Angelika das glitschige Papier ab und faltete es auseinander.

»Wer schreibt mir? Ich bin vierzehn Jahre alt und wohne in Enzdorf, Waldweg 4«, las Nick laut vor. »Der Name ist leider vom Wasser verwischt.«

»Lass mal sehen!« Vier Köpfe mit zerzausten Haaren beugten sich über den Zettel, der aus einem Schulheft zu stammen schien.

»Da ist doch ein Name.«

»Aber das Wort zuvor ist unleserlich.«

»Mmm-ar-tin«, buchstabierte Henrik, der erst seit etwa einem halben Jahr die Schule besuchte.

»Na klar. Das heißt Martin«, stimmte Angelika eifrig zu.

Nick war nicht ganz zufrieden. Aber auch er konnte nicht mehr entziffern.

»Wir schreiben ihm! Wir schreiben ihm!« Henrik hüpfte auf und ab wie ein Gummiball.

»Warum nicht?« Nick war für solche Dinge immer zu haben. »Vielleicht schicken wir ihm eine Fotografie von Sophienlust mit. Und schreiben ihm, dass alle Leute hier Sophienlust das Haus der glücklichen Kinder nennen.« Nick war unheimlich stolz auf den Besitz, den ihm die Großmama seines verunglückten Vaters vererbt hatte. Doch damals war Nick noch so klein gewesen, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Seine Mutti hatte den letzten Willen der alten Dame erfüllt und aus dem früher herrschaftlichen Gut ein Heim für elternlose Kinder gemacht.

»Glaubst du, er kommt uns besuchen?« Angelikas blaue Augen leuchteten.

»Vielleicht ist er längst erwachsen und erinnert sich gar nicht mehr an diesen Zettel«, wandte Pünktchen ein.

Nick hielt die Flasche gegen das Licht und betrachtete sie aufmerksam von allen Seiten. »Sie liegt nicht länger als einige Wochen im Wasser, das ist sicher.«

*

Geschickt wie eine erfahrene Hausfrau verteilte Sita das Essen. Es gab Bratkartoffeln, Salat und für jeden ein Glas Milch. Das einfache Mahl war lecker zubereitet und appetitlich angerichtet. Für Sita selbst blieb nur ein kleiner Rest. Doch das zarte schmale Mädchen war damit zufrieden. Längst war es für die Vierzehnjährige zur Selbstverständlichkeit geworden, stets zuerst an den Vater und die jüngeren Geschwister zu denken.

»Hm, schmeckt fein!« Die zehnjährige Karla kaute mit vollen Backen und klopfte sich genussvoll ihr rundes Bäuchlein. Karla hatte einen gesegneten Appetit und wurde nie müde, die Kochkünste ihrer Schwester zu loben. Sie hatte sich, als die Mutter im vergangenen Herbst gestorben war, am schnellsten mit der veränderten Situation abgefunden. Denn ihr bot Sita einen vollwertigen Ersatz. Sita steckte ihr manchmal heimlich Süßigkeiten zu und saß abends an ihrem Bett, um ihr Geschichten vorzulesen.

Sita selbst stocherte lustlos in ihren Kartoffeln. Nicht, dass sie keinen Hunger gehabt hätte. Es gab ein Anliegen, das sie beschäftigte, und sie hatte Angst, es vorzubringen. Immer wieder sah sie auf den Vater, der völlig hinter einer großen Zeitung verschwunden war. Es schien, als habe er nicht bemerkt, dass seine Älteste das Essen aufgetragen hatte.

»Die Mädchen meiner Klasse machen eine Radtour mit der Französischlehrerin«, berichtete sie leise.

Max Martin reagierte nicht.

Ängstlich sah Katrin, die Zwölfjährige, ihre Schwester Sita an. Katrin war die Einzige, die wusste, was dieses schmächtige Mädchen mit den wundervollen blauen Augen leistete. Sie versuchte, Sita nach Kräften zu unterstützen. Doch viel konnte sie nicht helfen, da sie noch nichts von der Führung eines Haushalts verstand.

Sita war es, die frühmorgens, wenn alle anderen noch schliefen, schon das Einfamilienhaus am Waldrand sauber machte, die das Frühstück richtete und die Kleider für die Schwestern bereitlegte. Bevor sie mit den beiden zur Schule ging, kaufte sie noch für das Mittagessen ein. Nachmittags, wenn Sita in der Küche fertig war, gab es Wäsche zu waschen oder zu bügeln oder zerrissene Kleider auszubessern. Für die Schularbeiten blieb Sita nur sehr wenig Zeit. Trotzdem war das letzte Zeugnis ausgezeichnet. Katrin bewunderte ihre Schwester heimlich. Aber sie bedauerte Sita auch. Denn die große Schwester erhielt für all ihre Mühe keine Anerkennung.

Der Vater schimpfte täglich mit ihr, war launisch und gereizt. Weshalb, das wusste Katrin nicht. Wehmütig dachte sie manchmal an die Zeit, da ihre Mama noch gelebt hatte und alles anders gewesen war. Damals hatte Vati abends mit ihnen gespielt und gelacht. Doch das gab es schon lange nicht mehr.

»Sie hat uns alle eingeladen. Es kostet nichts. Und es ist auch nur für einen Tag.« Sitas Stimme klang bittend und demütig.

Der Mann hinter der Zeitung bewegte sich nicht.

»Vati, dürfte ich vielleicht …« Zaghaft schob Sita ihre schmale Hand über den Tisch. Noch bevor sie ihren Vater berühren konnte, ließ er ruckartig die Zeitung sinken.

»Einen schönen Tag willst du dir machen, willst dich vor allen Pflichten drücken. Das habe ich gern!«

»Ich würde das Essen vorrichten und vorher alles aufräumen«, versprach Sita. Französisch war ihr Lieblingsfach, und die Lehrerin mochte sie besonders gern. Auch Sitas Freundinnen Sabine und Susanne würden selbstverständlich mitkommen. Kurzum, es versprach ein vergnügter Tag zu werden.

»Nein!« Max Martins Faust donnerte auf die Tischplatte. Das Geschirr klirrte, und die Milch im Glas schwappte über.

»Aber, Vati, ich könnte doch …« Weiter kam Katrin, die ihrer Schwester beistehen wollte, nicht.

»Habt ihr denn nicht gehört, dass ich nein gesagt habe?«, rief Martin. Das Zusammenleben mit seinen Kindern wurde für ihn von Tag zu Tag unerträglicher. Denn sie alle glichen Margret, seiner verstorbenen Frau. Alle drei hatten ihr blondes Haar, ihre blauen Augen. Ganz besonders aber war Sita ihr ähnlich. Und fast schien es, als würde sie mehr und mehr zu Margrets Ebenbild. So zart und schmal und so unglaublich hübsch war sie gewesen, als er sie vor sechzehn Jahren in Holland kennengelernt hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Eine Liebe, die über den Tod hinaus bestehen blieb und die Max Martin zu einem verbitterten, haltlosen Menschen machte.

Wenn er Sita ansah, wurde er schmerzlich an Margret erinnert. Und oft ließ ihn das ungerecht werden. So war es auch heute.

Margret hatte gehen müssen. Die Kinder aber waren ihm geblieben. Die Kinder, die sie sich beide gewünscht hatten. Heute allerdings war Max das unverständlich. Denn wenn sie nicht gewesen wären, hätte Margret noch leben können. Margret, die Frau, mit der er so unendlich glücklich gewesen war.

Sita senkte traurig den Kopf. Niemals hätte sie es gewagt, sich gegen ihren Vater aufzulehnen. Statt an dem Ausflug teilzunehmen, würde sie eben zu Hause bleiben und die Arbeit tun wie jeden Tag. Sie hatte es ihrer Mutti gelobt, damals auf der Intensivstation des Krankenhauses. Sita würde nie vergessen, dass sie versprochen hatte, stets für die Geschwister und den Vater zu sorgen.

»Was ist das überhaupt für ein Essen?«, fragte Max Martin ungehalten. »Gibt es denn kein Fleisch?«

Sita schluckte. »Ich – ich habe fast kein Geld mehr«, stotterte sie verlegen.

»So? Habe ich dir nicht erst in der vergangenen Woche fünfzig Euro gegeben?« Martin lebte so sehr im Leid um die geliebte Frau, dass es ihm gar nicht bewusst wurde, Unmögliches von Sita zu verlangen. In seinem Kummer dachte er nicht daran, dass Sita mit dem wenigen Geld, das er ihr geben konnte, sehr sparsam und umsichtig wirtschaftete.

»Ich habe alles aufgeschrieben.« Sita ging zur Anrichte und nahm das Wirtschaftsbuch heraus, das sie gewissenhaft führte, obwohl ihr nur wenig Zeit dafür blieb.

»Natürlich, du hast wieder alles ausgegeben«, stieß Martin ärgerlich hervor. »Für Milch hat’s gerade noch gereicht. Aber nicht für ein Bier!« Ungestüm schob er das Glas zurück. Es kippte um. Ein großer nasser Fleck breitete sich rasch auf der Tischdecke aus.

»Die schöne Milch«, sagte Karla bedauernd und leckte sich verlangend die Lippen.

Max Martin stand auf. »Dann muss ich eben sehen, dass ich im Wirtshaus etwas Anständiges bekomme.« Drohend sahen seine dunklen Augen Sita an.

Unwillkürlich duckte sich das Mädchen, als habe es Angst vor Schlägen. Erst als Martin donnernd die Tür ins Schloss warf, wagte Sita wieder zu atmen.

»Ich werde Vatis Teller leer essen«, meldete sich Karla und sah begehrlich auf die große Portion. Sie hatte sich an die häuslichen Auseinandersetzungen bereits gewöhnt und nahm sie nicht so tragisch.

Katrin dagegen war der Appetit vergangen. »Warum hat Vati nicht mehr so viel Geld wie früher?«, fragte sie aufgebracht.

»Ich weiß nicht.« Sita stellte bereits die Teller zusammen. Wehmütig dachte sie daran, welch glückliche Familie sie doch vor einem Jahr gewesen waren. Damals wurde hier viel gelacht. Jetzt gab es nur noch böse Worte und Tränen.

»Aber ich weiß es. Weil Vati immer im Gasthaus sitzt, statt in seinem Büro zu arbeiten.« Herausfordernd sah Katrin auf ihre ältere Schwester.

»Aber so etwas darfst du doch nicht sagen«, wehrte Sita erschrocken ab. Sie wusste, dass Katrin recht hatte. Trotzdem hätte sie es vor den jüngeren Geschwistern nie zugegeben. »Als Architekt führt Vati oft Verhandlungen im Gasthaus«, erklärte sie ruhig.

»Und warum hat er das früher nie getan?«, erkundigte sich Katrin skeptisch.

»Wir wussten eben nichts davon«, log Sita. Scheinbar ruhig ließ sie in der Küche Spülwasser ins Becken laufen.

Karla, die eben die zweite Portion in sich hineingestopft hatte, legte die Gabel weg, rutschte vom Stuhl und lief hinüber in die kleine Küche. Liebevoll schmiegte sie sich an Sita, schlang die Arme um ihre schmale Taille. »Bist du traurig, dass du nicht mit dem Rad wegfahren darfst?«

»Ja, das siehst du doch«, antwortete Katrin an Sitas Stelle. »Vati ist gemein, richtig gemein.«

Strafend sah Sita ihre Schwester an. »Er ist traurig, das ist alles«, sagte sie leise.

»Gut, dass du uns hast, nicht wahr, Sita?«, schmeichelte Karla. »Ich helfe dir beim Geschirr abtrocknen. Und nachher hole ich Blumen für dich. Oben am Waldrand blühen Veilchen.«

Zärtlich fuhr Sita ihr über das strohblonde Haar. »Lieb von dir, Dicke«, sagte sie und lächelte tapfer.

Karla war wohl kräftig, aber nicht übergewichtig. Trotzdem ließ sie sich den Spitznamen ›Dicke‹ gern gefallen. Sie nahm ein Geschirrtuch und wedelte eifrig damit hin und her.

*

»Wo ist Hans-Joachim?«

Andrea von Lehn, die junge Frau des Tierarztes, sprang geschickt zur Seite, da Nick sie sonst rücksichtslos umgerannt hätte. Keuchend lief er zur Tür, die in die Praxis führte.

Andrea sah verwundert auf ihren Stiefbruder. Eigentlich hatte sie ihn noch nie so unbesonnen erlebt. »Hans-Joachim ist zum Leuchtnerhof hinübergefahren. Dort kalbt eine Kuh, die der Bauer teuer bezahlt hat.«

»Er ist nicht da?«, schrie Nick und schlug sich mit der flachen Hand vor den Kopf.

»Leider.« Andrea, die sonst so gern lachte, blieb ernst.

»Du musst ihn sofort anrufen!«, forderte der Junge.

»Was gibt es denn?«

»Die Ponys sind krank. Der alte Justus meint, es könnte eine Seuche sein.« Nick war so aufgeregt, dass ihm der Schweiß über den Rücken lief. Das Hemd klebte feucht an der Haut. »Du weißt doch, Justus versteht viel von Pferden. Er irrt sich in solchen Sachen nie.« Nicks ganzes Herz hing an den niedlichen Pferdchen, die zum Teil in Sophienlust gezüchtet worden waren. Für Nick gehörten sie zur großen Gemeinschaft des Kinderheims. Es verging kein Tag, an dem er seine Lieblinge nicht besuchte, kein Tag, an dem er ihnen nicht einige Leckerbissen brachte. Als er heute in den Stall gekommen war, hatte Nicki, sein lieber alter Nicki, den Kopf zur Seite gedreht und müde die Augen geschlossen.

»Milan hat auf der Streu gelegen und konnte gar nicht auf den Beinen stehen«, berichtete der Junge aufgeregt. »Hans-Joachim muss sofort kommen.«

»Ich werde sehen, dass ich ihn erreichen kann.«

Auch Andrea hatte die Ponys von Sophienlust von Herzen gern. Schon oft hatte sie mit Begeisterung zugesehen, wenn die Kinder auf ihnen ritten. Es waren treue, genügsame Kameraden, gutmütig und nie nachtragend.

»Vielleicht ist es auch nur eine harmlose Krankheit«, versuchte sie ihren Stiefbruder zu trösten.

Nick schüttelte traurig den Kopf. »Ich laufe jetzt wieder hinüber. Grüß bitte Peterle von mir. Hoffentlich kann Hans-Joachim schnell kommen.«

»Gehst du denn nicht mit hinein?«, fragte Andrea verwundert. Eigentlich war Nick noch nie gekommen, ohne sich einige Minuten mit dem kleinen Peterle zu befassen. Richtig stolz war Nick auf seinen kleinen Neffen.

»Keine Zeit!«

Nick lief zurück. Keuchend kam er zu den Stallungen. Alexander von Schoenecker, Nicks Stiefvater, trat gerade aus dem langgestreckten Bau.

»Wie geht es den Ponys, Vati?« Angstvoll sah Nick zu dem großen, breitschultrigen Mann auf. Sie verstanden sich ausgezeichnet. Und eigentlich hatten sie längst vergessen, dass sie nicht Vater und Sohn waren.

»Nicht sehr gut«, erwiderte Alexander von Schoenecker bekümmert. »Wir können nicht viel tun. Wir müssen abwarten, bis Hans-Joachim hier ist.«

»O Vati, wie konnte das nur passieren? Sind sie denn alle krank?«

»Ich fürchte ja. Vielleicht wäre es besser, du würdest gar nicht hineingehen«, sagte Alexander besorgt.

»Aber ich kann sie doch jetzt nicht allein lassen, Vati.«

»Trotzdem müssen wir sehr vorsichtig sein. Denn wir müssen verhindern, dass die Seuche auch nach Schoeneich hinübergetragen wird.«

»Um Gottes willen, Vati.« Nick wurde noch bleicher. Er wusste, dass der Pferdebestand auf Gut Schoeneich, dem Besitz Alexander von Schoen­eckers, einen unschätzbaren Wert darstellte. »Es wäre schrecklich.«

»Vielleicht kann Hans-Joachim unsere Tiere impfen. Ich hoffe nur, dass es noch nicht zu spät ist.«

»Ich kann ja so lange hier in Sophienlust schlafen«, schlug der Junge vor. Heimlich dachte er natürlich daran, zu jeder Zeit bei seinen Ponys sein zu können.

»Gut. Pass aber auf, dass keines der anderen Kinder in den Stall kommt. Wechsle Schuhe und Kleidung und desinfiziere deine Hände. Hans-Joachim wird dir alles genau erklären.«

»Ja, Vati.« Nur mühsam konnte Nick die Tränen zurückhalten.

»Kopf hoch! Hans-Joachim ist ein tüchtiger Arzt. Er wird uns schon helfen.« Alexander von Schoenecker schlug Nick kameradschaftlich auf die Schulter.

Betrübt ging der Junge in den Stall. Justus war gerade dabei, die schweißnassen Tiere mit einem großen Tuch trockenzureiben. Sein runzliges Gesicht war traurig.

»Milan hat es besonders schwer erwischt«, sagte der alte Mann und sah nicht auf.

Nick war es, als wäre er selbst schwer krank. Er ließ den Kopf hängen.

Die munteren kleinen Ponys, die den Kindern von Sophienlust schon so viel Freude bereitet hatten, waren nicht wiederzuerkennen. Sie, die gewöhnlich fröhlich wieherten, sobald eines der Kinder in den Stall kam, standen teilnahmslos in den Boxen, mit verschwollenen Augen, schweißnassem Fell und Schaum vor dem Maul.

Nick tat dieser Anblick fast körperlich weh. Ihm war ganz schlecht vor Angst und Kummer. »Es ist ja noch schlimmer geworden. Geht denn das so schnell?« Nick streichelte eine junge Stute, die in einigen Wochen ihr erstes Fohlen bekommen sollte. Sie atmete schwer. Feucht fühlte sich ihr stumpf gewordenes Fell an.

»Milan hat es am schlimmsten er­wischt«, wiederholte der alte Justus. Seit dreißig Jahren pflegte er die Tiere von Sophienlust. Doch so etwas war noch nie vorgekommen.